Aufstand, Stadtguerilla, Volkskrieg – oder dialektische Weiterentwicklung?

Die an sich offenkundige Geschichtsfälschung, wonach die Oktoberrevolution mittels eines einmaligen Akt des Aufstands verwirklicht wurde, wird von interessierten bürgerlichen Kreisen immer wieder neu unter das Volk gebracht. Erstaunlicherweise hält sich diese Legende auch in kommunistischen und revolutionären Kreisen hartnäckig. Dabei sollte man dort doch zumindest die Kenntnis über den gescheiterten Moskauer Aufstand 1905 und die erfolgreiche bürgerlich-demokratische Revolution vom Februar 1917, die den Zar stürzte, voraussetzen können. Zwei revolutionäre Zusammenstöße der gesellschaftlichen Klassen in Russland, ohne die es die Oktoberrevolution nie gegeben hätte. Wie man den Sturm auf den Winterpalast von dem sich daran unmittelbar anschließenden dreijährigen Bürgerkrieg trennen will, kann kein Historiker mit Argumenten begründen.

Aber selbst wenn es keinen Bürgerkrieg, keinen Aufstand 1905 und keine demokratische Revolution im Februar 1917 gegeben hätte, kann man die Machtergreifung durch den Aufstand von der langjährigen Vorarbeit trennen? Das ist doch genauso unsinnig, wie wenn man nach dem im Elfmeterschießen entschiedenen Fußball-Match behaupten würde, das Spiel habe nur wenige Minuten gedauert.

Militärstrategisch betrachtet ersetzt der Aufstand im asymmetrischen Partisanenkrieg zwischen den Rebellen und der Staatsmacht die Entscheidungsschlacht im konventionellen Krieg zwischen Staaten. Die Entscheidungsschlacht lässt sich aber in beiden Fällen nicht vom gesamten Kriegsverlauf trennen, aus dem heraus sie ja erst entsteht!

Wissenschaftlich korrekt muss man festhalten, dass die Oktoberrevolution ein Wendepunkt in einem einheitlichen gesellschaftlichen Prozess des Klassenkampfs in Russland gewesen ist, der eine Zeitspanne von ungefähr 20 Jahren umfasst. Den Beginn kann man ungefähr mit 1901 festlegen, als Lenin in seinem Text ‚Womit beginnen‘ als Vorarbeit zu ‚Was tun?!‘ angefangen hat, die bolschewistische Revolutionsstrategie theoretisch zu entwickeln und praktisch umzusetzen. Das Ende liegt ungefähr im Jahr 1920, als der Krieg gegen die innere und äußere Konterrevolution gewonnen war.

Bereits in ‚Was tun?!‘ entwickelt Lenin in der Auseinandersetzung mit dem Ökonomismus die Zurückweisung der Stadientheorie als falsches strategisches Konzept. Diese Polemik richtete sich keineswegs nur gegen die falsche Auffassung, man müsse zunächst nur ökonomische Propaganda zu den unmittelbaren Tagesnöten der ArbeiterInnen entfalten und könne erst in einem späteren Stadium zu umfassender politischer Propaganda übergehen. Diese Streitfrage war nur der unmittelbare Anlass der Debatte und das bekannteste Beispiel in der kommunistischen Bewegung Russlands um die Jahrhundertwende, welches Lenin aufgegriffen hat. Tatsächlich folgten die Bolschewiki in jeder Phase zwischen 1901 und 1920 immer einer einheitlichen politisch-militärischen Gesamtstrategie.

Diese dialektische Sichtweise muss gegen bürgerliche (d.h. konkret vor allem gegen sozialdemokratische und revisionistische) Sichtweisen verteidigt werden, die metaphysisch an die Frage herantreten. In der Revolutionsstrategie der Bolschewiki kann man ebenso wenig das Politische vom Militärischen trennen wie man das Militärische auf die Entscheidungsschlacht (d.h. den kurzen Aufstand im Oktober 1917) reduzieren kann. Ein schlagender Beweis gegen die metaphysischen Etappentheoretiker und „Aufstandsfetischisten“, die das Militärische ausschließlich in einer möglichst kurzen Aufstandsphase gelten lassen wollen, um so letztlich ihre bürgerliche Bequemlichkeit einer (mehr oder weniger) legalen Politik zu erhalten, ist die umfassende Militärstrategie der Bolschewiki (siehe Kasten: Der Partisanenkampf bei Lenin).

Der Aufstand als Teil
der Revolutionsstrategie

Die Fehlinterpretation bzw. Umdeutung der bolschewistischen Revolutionsstrategie zum dogmatisch verengten ‚Aufstandstheorem‘ lässt sich auch anhand der Dokumente zurückweisen. 

Im Frühjahr 1928 fand in Moskau eine Besprechung des Organisationsleiters der Kommunistischen Internationalen (KI) mit hochrangigen revolutionären Militär-Experten statt. Dabei ging es darum, ein illegales Lehrbuch der KI zum bewaffneten Aufstand zu verfassen. Im 2. Kapitel „Der Bolschewismus und der Aufstand“ wird die Haltung des Marxismus-Leninismus zusammenfassend dargestellt. 

Es ist nun notwendig, noch auf eine prinzipielle Frage, nämlich die Teilaufstände des Proletariats, einzugehen (…)Engels sagt irgendwo, daß geschlagene Armeen ausgezeichnet lernen. (…) Und gerade unter diesem Gesichtspunkt muß die Frage des Teil- (nicht General-)aufstandes, des teilweisen (nicht überall einsetzenden) bewaffneten Kampfes des Proletariats und der unterdrückten Bauernschaft gegen die herrschenden Klassen betrachtet werden (…)

Überhaupt darf man nicht glauben, daß das bewaffnete Losschlagen des Proletariats nur zulässig ist, wenn eine hundertprozentige Garantie für den Sieg besteht. Das ist eine Illusion. Der bewaffnete Aufstand ist eine Gefechtsoperation, die sich `auf die Regeln der Kriegskunst´stützt, und sie kann als solche (wie jede Gefechtsoperation) keine volle Garantie für den Sieg bieten (…)

Die Kommunistische Partei nimmt den leidenschaftlichsten Anteil an jedem Massenkampf, an jedwedem bewaffneten Kampf der Massen, stellt sich an die Spitze der Massen und führt sie in diesem Kampf, unabhängig davon, unter welchen Umständen der Kampf vor sich geht und davon, ob es 100 Prozent Aussicht auf den Sieg bietet, oder ob diese Aussichten nicht bestehen.

Die Partei, als die Avantgarde der Klasse, ist verpflichtet, die Frage der Zweckmäßigkeit oder der Unzweckmäßigkeit einer jeweils sich vorbereitenden Aktion – vor Beginn des Kampfes zu entscheiden und dementsprechend die Agitation in den Massen zu betreiben. Hat der bewaffnete Kampf einmal begonnen, darf es bei der Partei Schwankungen darüber, ob der Kampf zu unterstützen bzw. zu führen ist oder nicht, nicht mehr geben. Die Partei muß in solchen Fällen ebenso handeln, wie Marx während der Pariser Kommune (…)

Aufstände gibt es folgende: siegreiche Aufstände, Massenaufstände, die aber Niederlagen erleiden, den Partisanenkleinkrieg (kleine Geplänkel) und Putsche, d.h. solche Aufstände, die nur von der Partei oder irgend einer anderen Organisation, ohne Beteiligung der Massen, durchgeführt werden.

Die Grundeinstellung, das Kriterium, von der die Partei in ihrer Haltung zu allen diesen Arten des Aufstandes ausgeht, wird dadurch bestimmt, ob an ihnen Massen beteiligt sind oder nicht. Die Partei lehnt Putsche als eine Erscheinungsform kleinbürgerlichen Abenteurertums ab. Die Partei unterstützt und führt den gesamten Massenkampf, u.a. auch kleine Geplänkel (Partisanenwesen), wenn es sich wirklich um Massenkämpfe handelt. (…) Die Partei unterstützt jedweden Massenaufstand. Wenn jedoch der Aufstand nicht spontan entsteht, sondern von der Partei organisiert wird, wenn die Massen auf den Aufruf der Partei hin den bewaffneten Kampf aufnehmen, trägt letztere vor dem Proletariat die Verantwortung für die richtige Wahl des Momentes des Aufstandes, für die Führung des Kampfes.“1

Soweit die KI zur Frage der Teilaufstände und des bewaffneten Kampfes. Trotz dieser glasklaren Haltung, die von jedem Menschen leicht erfasst werden kann, hat sich in der revolutionären und kommunistischen Weltbewegung in den letzten 100 Jahren ein falsches Verständnis durchgesetzt. 

Die Revolutionsstrategie wird entweder als kurzer bewaffneter Aufstand nach einer langen politischen Vorbereitungsphase oder als Guerillakrieg im Sinne des Maoismus verstanden. Beides kann die brennende Frage nicht beantworten, wie in einem imperialistischen Zentrum die politische Macht erobert werden soll. Das Stadtguerilla-Konzept hat geschichtlich gesehen ab den 1960er und 70er Jahren versucht, diese Lücke zu füllen. Im nächsten Kapitel stellen wir einige Elemente der genannten Strategien im Überblick dar.

Entwicklung der Revolutionsstrategie in den vergangenen 100 Jahren

Aufstandsstrategie als
zeitliche Etappentheorie

Unter Menschen, die sich als „Marxisten-Leninisten“ bezeichnen, wird der Zusammenhang zwischen revolutionärer Politik und bewaffnetem Aufstand selten offen geleugnet. Stattdessen wird von einigen Organisationen eine Etappentheorie vertreten, wonach in einer sehr langen Vorbereitungszeit nur politische Arbeit zur Gewinnung der Massen auf der Tagesordnung stünde. Stellvertretend für diese Strömung führen wir ein Zitat der inzwischen aufgelösten KPD „Roter Morgen“ aus ihrer theoretischen Schriftenreihe an: 

Reift eine revolutionäre Situation heran, so muß eine kommunistische Partei die Aufmerksamkeit der Massen auf die sozialistischen Aufgaben des Proletariats lenken (…)

Diese Vorbereitung sofort zu beginnen – das eben ist die Aufgabe in der Periode der herannahenden revolutionären Krise: die Losung nach Enteignung der Banken und Großbetriebe (…)  muss den Massen als konkrete Perspektive vermittelt werden.

Ist die revolutionäre Krise herangereift, so werden derartige Losungen zu Aktionslosungen. Aufgabe der politischen Partei des Proletariats ist es dann, den unmittelbaren Angriff zum Sturz der bürgerlichen Herrschaft zu organisieren. Der Aufruf zum Sturz der Bourgeoisherrschaft wird schließlich zur Tageslosung, und der politische Kampf mündet in den militärischen.“2

Lenin hat seine generelle Haltung zu dieser wichtigen Frage schon recht früh im Zusammenhang mit der gescheiterten Revolution 1905/1906 formuliert. Gerade weil wir heute sehr weit von einer Revolution entfernt sind, ist es sinnvoll, sich diese frühen Texte von Lenin3 anzuschauen, um der revisionistisch-reformistischen Ideologie und konkret der Etappentheorie entgegen zu treten.

Lenin betont aufgrund der Erfahrung des Moskauer Aufstands 1905 immer wieder, dass der bewaffnete Aufstand vorbereitet werden muss. Partisanenkampfaktionen sind ein unverzichtbares Mittel der KommunistInnen. Partisanenkampf – oder wie wir heute sagen: der „bewaffnete Kampf“ – ist nach Lenin kein individueller Terror, keine Abgleiten in den Anarchismus oder Abenteurertum, sondern eine notwendige Vorbereitung, um dem Aufstand eine Massenbasis zu geben und der Partei sowie den Massen die notwendigen militärischen Fähigkeiten und Kader zu verschaffen.

Halten wir fest: Während Lenin also eine eindeutige und grundsätzlich positive Haltung gegenüber dem bewaffneten Kampf eingenommen hat, hat sich in einem Teil der sich auf den Marxismus-Leninismus beziehenden Bewegung in einem geschichtlich widersprüchlichen Prozess das genaue Gegenteil durchgesetzt: eine zeitliche Etappentheorie, die strategisch die politische Arbeit in einer ersten Phase von einer – mehr oder weniger als unvermeidlich und bedauerlich angesehenen – zweiten, kurzen militärischen Phase unmittelbar bei der Machtergreifung durch den Aufstand trennt.

Volkskrieg als räumliche Etappentheorie

Der langandauernde Volkskrieg besteht aus einer Analyse der Gesellschaft, aus einem revolutionären Programm und einer politisch-militärischen Strategie, die sich aus Guerillakrieg, Bewegungskrieg und Stellungskrieg zusammensetzt. Strategisches Ziel ist der Aufbau von Stützpunktgebieten, die sich in einem langandauernden Kampf immer weiter ausdehnen und schließlich die metropolitanen Zentren umzingeln.“4

Der von Mao Tse-Tung als Führer der KP Chinas entwickelte „langandauernde Volkskrieg“ stellt eine Revolutionstrategie dar. Er kann nicht, wie das einige bürgerliche Autoren tun, auf eine Strategie des Guerillakriegs verkürzt werden, auch wenn das Militärische beim Volkskrieg zentralen Raum einnimmt. Er stützt sich militärisch auf den Guerillakrieg und arbeitet ihn in all seinen Aspekten umfassend aus.

Die Guerilla war keine Erfindung von Mao. Historisch gesehen sind Guerillakriege in Europa erstmals im Partisanenkrieg der Spanier gegen Napoléon Bonaparte Ende des 18. Jahrhunderts aufgetaucht. Das Neue und Originelle bei Mao ist also nicht die Erfindung der Guerilla, sondern das er diese Kampfform (praktisch und theoretisch) vollständig erfasst, sie entwickelt und so die Potenziale der Guerilla erst mals voll ausschöpft. 

Der Volkskrieg bei Mao basiert auf einer Landguerilla. Das strategische Ziel und eine der wesentlichen Neuerungen des Guerillakriegs im Volkskrieg besteht in den Stützpunktgebieten. 

Die Kriegsführung dient dem übergeordneten Ziel, die politische Macht im Staat zu erobern. Dies geschieht, indem zunächst in entlegenen und geografisch geeigneten Gebieten (Gebirge, Flussmündungen, Urwälder) ein Territorium erobert und dauerhaft gegen den Feind gehalten wird. In diesen Gebieten wird dann die revolutionäre Neue Macht errichtet, deren politische Maßnahmen (z.B. Bodenreform) wiederum Basis für die weitere Ausdehnung der Partisanenbewegung sind. Darüber hinaus bilden die Stützpunktgebiete militärisch das Hinterland, welches der Roten Armee der Partisanen alles für ihre Existenz und ihr Wachstum Notwendige beschafft (Menschen, Material, sicheres Versteck für die Führung usw.). 

Der Volkskrieg strebt die Eroberung der Macht im gesamten Land an, indem die Stützpunktgebiete allmählich ausgeweitet werden und die verschiedenen Stützpunktgebiete langfristig verbunden werden. Plakativ wird diese Strategie in die Formel gefasst: Die Dörfer kreisen die Städte ein. Am Ende dieses Prozesses steht der bewaffnete Aufstand in den Städten.

Der Volkskrieg als revolutionäre Strategie zur Eroberung der politischen Macht in einem Land wurde in China erfolgreich angewandt, wo die Massen unter Führung Maos und der Kommunistischen Partei ihre Befreiung erkämpften. 

Als Militär- und Revolutionsstrategie erfolgreich war der Volkskrieg auch in einer Reihe von antikolonialen und antiimperialistischen Kriegen unter Führung der nationalen Bourgeoisie. In einer ganzen Reihe von Fällen gelang es dem Imperialismus jedoch durch militärische Gegenstrategien der „Aufstandsbekämpfung“ (engl. counter-insurgency), die Aufstandsbewegung zu zerschlagen. 

Dennoch kämpfen auch heute – und in einigen Fällen seit Jahrzehnten (Phillipinen, Indien) – Teile der unterdrückten Volksmassen unter dem Banner des klassischen Maoismus für ihre Befreiung.

Ausgehend von dem Verständnis des Volkskriegs als ‚Einkreisung der Städte durch die Dörfer‘ versuchen verschiedene maoistische Strömungen bzw. Parteien, einerseits Stützpunkte der „Roten Macht“ aufzubauen und andererseits den Städten eine mehr oder weniger ausgedehnte Hilfsfunktion als „Nebenkriegsschauplatz“ zu geben. Das reicht von rein legaler politischer Unterstützungsarbeit, über logistische Unterstützung des Volkskriegs bis hin zu Elementen einer maoistischen Stadtguerilla in Verbindung mit lokalen Milizen, wie sie z.B. von der KP Perus unter ihrem Vorsitzenden Gonzalo entwickelt wurden.

Alle maoistischen Bewegungen stehen jedoch letztlich vor dem strategischen Problem der Eroberung der Städte. Die nepalesische maoistische Partei konnte nach der erfolgreichen Umzingelung der Hauptstadt durch einen zehnjährigen Volkskrieg zwischen 1996 und 2006 deshalb nicht von der Phase des strategischen Gleichgewichts in die Phase der strategischen Offensive und des bewaffneten Aufstands in den Städten übergehen. Das Endresultat war der offene Verrat durch den maoistischen Guerilla-Führer Prachanda, der dem Sozialismus abschwor und Premier der neu gebildeten bürgerlich-demokratischen Republik wurde.

Der Mangel an Konzepten für diese Frage hängt in revolutionsstrategischer Hinsicht auch mit den geschichtlichen Besonderheiten des chinesischen Bürgerkriegs und seiner letzten Phase von 1945 bis 1949 zusammen. Militärisch eroberte Mao die Macht, indem er die Guerilla in eine reguläre Rote Armee verwandelte, die ganz klassisch einen konventionellen Krieg führte und gewonnen hat. Politisch konnte er 1948/49 die „Städte“ wie reife Früchte pflücken, da sein Gegner, die Kuomintang, politisch und moralisch völlig zersetzt war. 

Doch nicht nur die Frage der Eroberung der Städte in neokolonialen Ländern nach erfolgreichen „Volkskriegen“ bleibt offen.

Auch die Frage der weltweiten Revolutionstheorie, das heißt wie die Hauptschlacht zu führen sei, nämlich die Eroberung der „Städte“ im Weltmaßstab und damit der imperialistischen Zentren, bleibt offen. Dies bleibt die entscheidende Schwäche der Revolutionstheorie des Maoismus! 

Seit Maos Tod haben verschiedene sich auf seine Ideen beziehende Organisationen versucht, dieses Problem zu lösen, indem sie seine Theorien dogmatisierten und als „universell gültig“ erklärten. Im Jahr 1993 wurde dann der „Marxismus-Leninismus-Maoismus“ in einer Erklärung des 1984 gegründeten Revolutionary Internationalist Movement (RIM) von einer größeren Anzahl von Organisationen als allgemeingültig anerkannt. Mit ihrer Analyse, dass heute der „Maoismus“ die höchste Stufe der proletarischen Ideologie sei, wurde auch der „Volkskrieg“ als universell anwendbar erklärt: „Mao erkannte, dass die Politik der Gewinnung von Stützpunktgebieten und der systematischen Errichtung politischer Macht der Schüssel zur Entfesselung der Massen, zum Ausbau der bewaffneten Kräfte des Volkes und zur wellenförmigen Ausbreitung seiner politischen Macht ist. (…) Mao Tse-tungs Theorie des Volkskriegs ist universell in jedem Land der Welt anwendbar. Dennoch muss sie anhand der konkreten Situation des jeweiligen Landes angewendet werden, sowie insbesondere die unterschiedlichen Wege zur Revolution in den zwei Haupttypen von Ländern, die es heute auf der Welt gibt – imperialistische und unterdrückte Länder – betrachten.“5

Damit gingen sie weit über die eigenen Auffassungen Maos hinaus. Er ging davon aus, dass Ursachen für Entstehen und Existenz von Stützpunktgebieten („Rote Macht“) den eigentümlichen Bedingungen in China entsprangen. Die Rote Macht könne es „weder in irgendeinem imperialistischen Staat geben, noch in einem Kolonialland, das direkt unter imperialistischer Herrschaft steht. Nur in dem wirtschaftlich rückständigen, halbkolonialen China, das vom Imperialismus indirekt beherrscht wird, kann es sie geben. Denn eine derart seltsame Erscheinung muß von einer anderen seltsamen Erscheinung begleitet sein, nämlich von Kriegen innerhalb des weißen Machtbereichs. Eines der Merkmale des halbkolonialen China besteht darin, daß seit dem ersten Jahr der Republik (1912) die verschiedenen Cliquen der alten und neuen Militärmachthaber mit Unterstützung des Imperialismus sowie der einheimischen Kompradorenklasse und Feudalherrenklasse unausgesetzt gegeneinander Krieg führen. Eine solche Erscheinung kommt nicht nur in keinem einzigen imperialistischen Land vor, sondern auch in keiner direkt unter imperialistischer Herrschaft stehenden Kolonie; sie existiert lediglich in einem Land wie China, das unter der indirekten Herrschaft des Imperialismus steht. Für das Entstehen dieses Phänomens gibt es zwei Ursachen, nämlich eine lokal begrenzte Agrarwirtschaft (keine einheitliche kapitalistische Wirtschaft) und die Spaltungs- und Ausbeutungspolitik der Imperialisten, die China in Einflußsphären aufgeteilt haben. Die anhaltenden Zwistigkeiten und Kriege innerhalb des weißen Machtbereichs haben Voraussetzungen dafür geschaffen, daß ein oder mehrere kleine rote Gebiete unter der Führung der Kommunistischen Partei in einer völligen Einkreisung durch das weiße Regime entstehen und sich behaupten können.“6

Die heutigen „maoistischen“ Organisationen gehen nicht nur davon aus, dass der Volkskrieg in allen unterdrückten Ländern angewendet werden muss, sondern universell, in jedem Land.

Für die Frage der Strategie der proletarischen Weltrevolution bedeutet diese Antwort: Einkreisung der Welt-„Städte“ durch das Welt-„Dorf“. Die Perspektiven für die Revolution werden in den unterdrückten Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika gesehen: Erst wenn diese „gefallen“ seien, könne die Revolution in imperialistischen Zentren gelingen – auch weil somit die Möglichkeit der Bestechung der Arbeiterklasse durch Extraprofite wegfalle. 

Faktisch handelt es sich beim heutigen Maoismus damit um eine räumliche Etappentheorie durch die Verlagerung der Revolution und des Volkskriegs in die unterdrückten Nationen.

Dies gilt nicht nur für den „Mainstream“ der heutigen Maoisten, die, wie z.B. die türkische TKP-ML es ganz offen vertritt, für die imperialistischen Zentren nur demokratische Aufgaben sehen. Auch der Teil der Maoisten, die unter Berufung auf die KP Perus und Gonzalo eine ‚militarisierte Partei‘ anstreben und in den imperialistischen Zentren auf eine maoistische Stadtguerilla orientieren7, sehen die strategische Hauptseite im Volkskrieg der Bauernmassen und dem Aufbau von Gebieten der Neuen Macht in den unterdrückten Nationen. 

Selbst wenn nach diesen, sich im Detail durchaus unterscheidenden Revolutionsstrategien die unterdrückten Länder befreit werden könnten, was wir aus verschiedenen Gründen anzweifeln, könnte daraus kein Sozialismus im Weltmaßstab erwachsen. Schlicht und einfach, weil der Imperialismus nicht zuschaut, wie die (revolutionären) Dörfer seine Zentren (der Macht) einkreisen. Solange der Imperialismus aber in den Zentren die Macht innehat, hat er zugleich auch die Macht, die „Dörfer“ notfalls dem Erdboden gleich zu machen. Die letzten Jahrzehnte der Menschheitsgeschichte haben eindrücklich bewiesen, dass der Imperialismus keine Sekunde zögert, diese Option zu ziehen, wenn er ernsthaft auf irgendeinem Flecken dieses Planeten in die Enge getrieben wird. Die unverhohlene Drohung des US-Imperialismus durch Trumps Rede vor der UN-Generalversammlung, das nordkoreanische Volk mittels Atomkrieg zu vernichten, ruft dies eindringlich in Erinnerung!

Internationale sozialistische Revolution”

Auf den ersten Blick scheint die „Internationale sozialistische Revolution“ der „Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands“ (MLPD) als Revolutionsstrategie keine Trennung in räumliche oder zeitliche Etappen zu kennen. Sie kommt somit nicht nur „modern“, sondern auch als aus einem Guss daher. Auch aufgrund der ideologischen Schwäche der marxistisch-leninistischen Parteien weltweit, kann die MLPD damit auch auf internationaler Ebene im Rahmen der ‚International Coordination of Revolutionary Parties and Organisations‘ (ICOR) punkten.

Die MLPD bzw. ihre Vorläuferorganisation KABD war, wie alle nach 1968 gegründeten marxistisch-leninistischen Organisationen in Deutschland, ursprünglich an den „Mao Tse-tung-Ideen“ orientiert. In den letzten zwanzig Jahren hat sie im Rahmen einer umfassenden Theoriearbeit eine eigenständige politische Ideologie entwickelt. Dies zeigt sich auch in der hier untersuchten Frage der Revolutionsstrategie. Im bewussten Bruch mit der leninistischen Begrifflichkeit der „proletarischen Weltrevolution“ wird mit der „Internationalen sozialistischen Revolution“ nicht nur ein neuer Begriff benutzt, sondern eine inhaltlich eigenständige, neue Revolutionsstrategie vorgeschlagen:  

Der Prozess der Internationalisierung der Produktion entstand schon mit dem Kapitalismus selbst. Heute aber produzieren die Monopole hauptsächlich für den Weltmarkt und im Rahmen eines internationalen Systems von Produktion und Handel.

In den weltweiten Produktionsverbünden ist ein internationales Industrieproletariat entstanden, eine besondere Schicht der internationalen Arbeiterklasse also, die in ihrer Produktionsweise vor allem in einer länderübergreifenden Arbeitsteilung und Arbeitszentralisation organisiert ist.        

Als Hauptkontrahenten des weltweiten Klassenkampfs stehen sich dieses internationale Industrieproletariat und das allein herrschende internationale Finanzkapital mit seinen internationalen Übermonopolen und seinen imperialistischen Staatsapparaten gegenüber.

Das internationale Industrieproletariat ist hauptsächlicher Träger einer künftigen sozialistischen Produktionsweise in den vereinigten Staaten der Welt.

Die Revolution nimmt auf der Basis der internationalisierten Produktion künftig den Charakter einer internationalen sozialistischen Revolution an.“8

Naheliegende Kritiken, dass sie damit bei der trotzkistischen Weltrevolution und der Unmöglichkeit des Aufbaus des Sozialismus in einem Land angelangt seien, weist die MLPD empört zurück. Formell räumt die MLPD auch ein, dass die internationale sozialistische Revolution nicht homogen ist, „sondern von Land zu Land unterschiedlich, und wohl auch zeitversetzt, je nach Stand der Produktivkräfte und des Klassenkampfs in den einzelnen Ländern“ stattfinden wird. Trotzdem bleibt das Ganze ziemlich nebulös. Nimmt man die jüngst erfolgte Programmänderung dazu, wonach Gewaltanwendung bei der Eroberung der politischen Macht nur noch „gegebenenfalls“ notwendig sein wird,9 so wird auch in Verbindung mit der gesamten Politik der MLPD – zuletzt bei ihrer Positionierung zu den Kämpfen gegen den G20-Gipfel in Hamburg10 – deutlich, wohin die Reise geht. 

Letztlich muss man die „Internationale sozialistische Revolution“ wohl als eigenartig gelungene Synthese aller Etappentheorien interpretieren. Zeitlich wird die Revolution in eine fernere Zukunft verlegt und räumlich auf die gesamte Welt und damit ins Abstrakte verschoben. Womit theoretisch eine gewisse Sicherheit entsteht, dass ganz praktisch die „hässliche“ Gewaltfrage in den nächsten Jahrzehnten in Deutschland jedenfalls nicht konkret beantwortet werden muss. 

Dass die MLPD mit dieser Strategie schon heute auf der Bremse steht, wenn die objektiven Bedingungen des Klassenkampfs die Frage der revolutionären Gewalt und des Aufstandes auf die Tagesordnung setzen, konnten wir live in Tunis 2016 während des Vereinigungsparteitags der PPDS (Watad) miterleben. Dort hatten die tunesischen GenossInnen gerade einen erfolgreichen demokratischen Volksaufstand zum Sturz einer 30-jährigen faschistischen Diktatur hinter sich, dem die Führung durch eine Kommunistische Partei gefehlt hat. Deswegen hatten sie das Thema „Aufstand“ nicht nur aus der theoretischen Perspektive auf die Tagesordnung gesetzt. Ihnen so zu antworten, wie Stefan Engel dies in seinem Referat getan hat (s.o.), ist nicht einfach nur ein diplomatischer Fehltritt ersten Ranges. Die GenossInnen haben den internationalen Gästen berichtet, dass in Tunesien eine konkret revolutionäre Situation besteht. Wie kann man dann den vehement vorgetragen Hinweis auf die Notwendigkeit einer „Internationalen Sozialistischen Revolution“, deren Bedingungen erst langsam heranreifen, anders verstehen als die wenig verblümte Aufforderung der MLPD, in Tunesien jetzt keine sozialistische Revolution zu versuchen, wenn man dazu die Möglichkeit hätte? 

Stadtguerilla

Geschichtlich gesehen waren die Stadtguerilla bzw. der bewaffnete Kampf als Revolutionsstrategie die Antwort eines internationalen revolutionären Aufschwungs, den sogenannten „68ern“, auf die offensichtlichen Schwächen der kommunistischen Weltbewegung. Die Lüge vom „friedlichen Übergang zum Sozialismus“ hatte die Aufstandsstrategie und vor allem die leninistische Revolutionsstrategie (inklusive des Partisanenkampfes) im Revisionismus völlig in den Hintergrund gedrängt. Gleichzeitig konnte der Maoismus mit dem Volkskrieg zwar in den antiimperialistischen und antikolonialen Befreiungskämpfen als brauchbares Konzept punkten, aber für die jungen RevolutionärInnen in den Metropolen keine befriedigende Antwort auf ihr Drängen nach der Revolution liefern.

Die Stadtguerilla als Revolutionskonzept tauchte zuerst in Lateinamerika auf, zunächst in Argentinien, wo die ‚Tupamaros‘ inspirierend auf eine ganze Generation von RevolutionärInn en weltweit wirkten. Aufbauend auf lokalen Traditionen revolutionärer Volksführer und Aufstände vereinigt die Stadtguerilla Elemente des Foquismus (deutsch: Fokustheorie), wie er durch das Leben und den Kampf des Revolutionärs Che Guevara repräsentiert wird, mit dem maoistischen Volkskrieg. Militärisch werden bei der Stadtguerilla die Partisanen des langandauernden Volkskriegs in die Städte verpflanzt. Politisch wird die entschiedene Tat eines revolutionären Kerns (des Fokus), der losgelöst von den Massen durch sein Vorbild als „Funke einen Steppenbrand“ entfacht, in den Mittelpunkt der Strategie gerückt. 

Die Stadtguerilla bzw. der bewaffnete Kampf entfalteten eine enorme Anziehungskraft im gesellschaftlichen Aufbruch der vom Vietnamkrieg des US-Imperialismus radikalisierten 68er Generation, insbesondere in den imperialistischen Zentren in den USA, Japan und Westeuropa. Die Strategie des bewaffneten Kampfes wurde durch dutzende Guerillaorganisationen weltweit in allen Facetten praktisch erprobt. Militärisch reicht die Spannbreite von Organisationsstrukturen mit Milizcharakter, wie die Selbstverteidigungsstrukturen der Black Panther Party, über an Massenkämpfen orientierte Strukturen wie z.B. bei den Revolutionären Zellen (RZ) in Deutschland bis hin zu strikt konspirativ im Untergrund agierenden militärischen Strukturen mit dem Charakter kleiner Verschwörerorganisationen. Politisch wurde das Konzept Stadtguerilla mit den unterschiedlichsten Weltanschauungen und Ideologien vom bürgerlichen Existenzialismus über den Operaismus und Anarchismus bis zum Marxismus-Leninismus verbunden.

Letztlich ist der bewaffnete Kampf als Revolutionsstrategie in den 70er und 80er Jahren weltweit gescheitert. Die allermeisten Organisationen wurden entweder zerschlagen oder lösten sich wie die RAF selbst auf. Die DHKP-C in der Türkei ist heute eine Vertreterin des in den letzten Jahren wieder vermehrt diskutierten Konzepts der Stadtguerilla, an der sich auch einige neu entstehende Gruppen und Zirkel in den imperialistischen Zentren vor allem in Europa orientieren.     

Die tiefere Ursache für das Scheitern dieses Ansatzes liegt unserer Einschätzung nach in seiner Begrenztheit. Letztlich überträgt die Stadtguerilla nur die Militärstrategie Maos (Guerillakrieg) auf die imperialistischen Zentren, ohne eine umfassende Revolutionsstrategie zu entwickeln. Wie die Massen erobert und organisiert werden sollen, die für die Eroberung der politischen Macht im Bürgerkrieg unerlässlich sind, wird entweder falsch – im anarchistisch-idealistischen Sinne des Foquismus – oder gar nicht beantwortet.   

Revolutionsstrategie
– die Praxis eilt der Theorie voraus

Oberflächlich betrachtet scheinen zum 100. Jubiläum der großen proletarischen Oktoberrevolution also alle strategischen Ansätze der revolutionären und kommunistischen Weltbewegung gescheitert zu sein. Sollte am Ende doch der Imperialismus Recht behalten und die Aussage vom ‚Kapitalismus als Ende der Geschichte‘ stimmen?

Das hätten die Herrscher der Welt zwar gerne, aber die gesellschaftliche Realität sieht ganz anders aus. Damit sprechen wir jetzt nicht die weltweit spontan entstehenden Aufstandsbewegungen und Kämpfe an, die gerade in den letzten Jahren zunehmen. 

Uns geht es hierbei vielmehr um eine selten verstandene objektive gesellschaftliche Dialektik, die von den KommunistInnen aufgrund ihrer subjektiv stark wahrgenommenen Schwäche oft nicht erkannt wird. Dass die Konterrevolution so stark ist und ihre Herrschaftsmethoden immer weiter perfektioniert, bedeutet dialektisch zugleich, dass die kommunistische und revolutionäre Bewegung im politischen Kampf zur theoretischen wie praktischen Überwindung ihrer Schwäche, nämlich der fehlenden Revolutionsstrategie für die imperialistischen Zentren, gedrängt wird. 

Kampf in Stadt und Land
– kommunistischer Flügel der Stadtguerilla

Wenn wir unseren Blick aus den Büchern und Dokumenten heben und der gesellschaftlichen Praxis zuwenden, sehen wir, dass bei der Suche der kommunistischen und revolutionären Weltbewegung nach Antworten bereits Ansätze von weiterführenden Lösungen auf unser Problem der Revolutionsstrategie im Entstehen begriffen sind.

Alle maoistischen Parteien, die heute noch kämpfen, müssen sich mit dem strategischen Dilemma des „blockierten Wachstums“ auseinandersetzen. Der Volkskrieg ist eine Revolutionsstrategie, in der der Partisanenkrieg der Bauernmassen darauf abzielt, die feindliche Macht taktisch zu vernichten, um so langfristig die eigene Macht zu akkumulieren. Das alles folgt der strategischen Maßgabe „Überleben, um zu wachsen“. Was aber, wenn die Guerilla ihre strategische Initiative verliert und der ganze Krieg zum „Stellungskrieg“ im strategischen Patt wird, den keine der beiden Seiten auf absehbare Zeit gewinnen kann? Was eine imperialistische Armee, vor allem wenn die Verluste und Kosten einen erträglichen Rahmen nicht übersteigen, auf Jahrzehnte durchhalten kann, ist für den Volkskrieg eine strategische Falle allerersten Ranges. Wenn es keine Aussicht auf Sieg gibt, wird früher oder später die Unterstützung der Massen schwinden, Kriegsmüdigkeit macht sich breit und die Integrationsangebote durch Friedensverhandlungen und demokratische Teilhabe fallen auf fruchtbaren Boden.

In den Kämpfen der unterdrückten Massen, wie sie z.B. in Indien und auf den Philippinen unter maoistischer Führung stattfinden, wie in den theoretischen Überlegungen der maoistischen Parteien lautet die strategische Antwort darauf: Wir müssen in die Städte eindringen!

Den teilweise umgekehrten Weg – Aufbau einer Landguerilla neben den Milizen in den Städten – geht bemerkenswerterweise eine Partei aus der Tradition des „hoxhaistischen“ Flügels der marxistisch-leninistischen Bewegung, die nicht im Sumpf der Etappentheorie samt Liquidation der illegalen Strukturen als Kern der Kommunistischen Partei versunken ist. Die MLKP Türkei/Kurdistan baut, neben ihren eigenen Parteimilizen, zusammen mit der kurdischen Befreiungsbewegung, mit der sie seit vielen Jahren in einem strategischen Bündnis verbunden ist, einen militärischen Arm auf. Zunächst in Rojava und seit 2016 mit der HBDH (Halklarin Birlesik Devrim Hareketi, dtsch: Vereinigte Revolutionsbewegung der Völker) in der Türkei selbst.11

Last but not least muss der „kommunistische Flügel“ im Spektrum der Stadtguerillaströmung erwähnt werden. Die ‚Roten Brigaden‘ in Italien sind das vielleicht bekannteste Beispiel für den Versuch, die militärische Strategie der Stadtguerilla mit den Massenkämpfen und der ArbeiterInnenbewegung zu verknüpfen.  

Während sich Dogmatiker in der Internationalen Kommunistischen Bewegung im Ungefähren der Etappentheorie verloren und in genauso endlosen wie fruchtlosen akademischen Debatten von Aufstand versus Guerilla festgebissen haben, weist die revolutionäre Praxis eine ganz andere Entwicklungstendenz auf. 

Es entstehen hybride Strategien und Kampfformen, die das Politische und Militärische, die Partisanen und die Massen, die Städte und das Land dialektisch zu einem einzigen revolutionären Klassenkrieg verschmelzen. 

Hybride Kriegsführung

Eine vergleichbare Entwicklung lässt sich auch auf Seiten der Konterrevolution feststellen. Die Oktoberrevolution 1917 konnte man aus Sicht der Bourgeoisie als eine Art Betriebsunfall begreifen, den der Imperialismus ja auch zunächst erfolgreich auf das Gebiet der Sowjetunion eindämmen konnte. Die Rolle der Partisanen im 2. Weltkrieg und vor allem der Sieg der KP Chinas 1949 nach 25 Jahren Bürgerkrieg waren strategisch gesehen dagegen der Super-GAU. Hier war etwas Undenkbares geschehen, nämlich dass der Schwächere den vielfach überlegenen Gegner besiegt hatte. Das Gesetz der Zahl im Krieg, auf das sich die Imperialisten mit ihrer überlegenen Feuerkraft regulärer Armeen samt modernster Kriegstechnologie stützen, schien durch Maos Revolutionsstrategie des langandauernden Volkskriegs außer Kraft gesetzt zu sein. 

Abhilfe musste her, umso mehr, als Maos Volkskrieg in den antikolonialen Befeiungskriegen der 50er und 60er Jahren noch mehrfach seinen Erfolg wiederholen konnte. Militärs, Politiker, Psychologen, Strategen u.a. studierten intensiv diese Erfahrungen wie die theoretischen Konzepte der revolutionären Seite. Im Ergebnis entstand eine ganz neue Wissenschaftsgattung der Aufstandsbekämpfung (engl. counter-insurgency). Dies brachte der Welt einige perfide Erfindungen wie z.B. die Entwicklung der Droge LSD und der „weißen Folter“ von politischen Gefangenen durch systematischen Entzug aller Sinnesreize (sogenannte sensorische Deprivation) in speziellen Isolationsgefängnissen. 

Daneben war ihre strategische Ausrichtung vor allem darum bemüht, den Militärs das politische Denken beizubringen. Elemente wie die Neugestaltung der sozialen Beziehungen in Aufstandsgebieten, der Gewährleistung rudimentärer staatlicher Grundfunktionen (z.B. Sicherstellung einer Ernährung) und umfassende psychologische Operationen im Sinne einer sehr weit gefassten Propaganda wurden als direkte Aufgaben und Funktionen einer imperialistischen Armee im Kampf gegen eine subversive Aufstandsbewegung entwickelt. Parallel dazu wurden ab den 70er Jahren Polizei und Justizapparate grundlegend neu ausgerichtet und auf die Bekämpfung des inneren Feinds und den kommenden Bürgerkrieg getrimmt. Die Schlagworte der Militarisierung der Polizei und der Verpolizeilichung der Krieges deuteten schon damals eine Verschmelzung an, die heute mit der ‚hybriden Kriegsführung‘12 ihre Vollendung gefunden hat. 

Der „hybride Krieg“ ist ein totaler Krieg, bei dem der Unterschied zwischen Soldaten und Zivilisten verschwindet und alle Mittel und Ressourcen eingesetzt werden zur Erreichung der militärischen Ziele und der politischen Zwecke des Krieges. Das gilt im Kampf gegen die revolutionäre Seite ebenso wie in der innerimperialistischen Konkurrenz mit gegnerischen Staaten. So schreibt z.B. Valery Gerasimov, Chef des Generalsstabs der russischen Armee:

Die Regeln der Kriegsführung haben sich verändert. Die Bedeutung der nicht-militärischen Mittel zur Erreichung politischer und strategischer Ziele ist gewachsen und sie hat sogar in vielen Fällen die Bedeutung der Macht der bewaffneten Streitkräfte und ihrer Effektivität überholt.“13

  Weniger abstrakt und ganz nah an die gesellschaftlichen Realität des Klassenkampfs angelehnt üben EU und NATO im September 2017 sechs Wochen lang die Abwehr hybrider Bedrohungen und die Stabilität der staatlichen Strukturen beim Krisenmanagement.14Als Gefahren/Angriffe, die es abzuwehren gilt, werden dabei u.a. durchgespielt:

– der konkurrierende Großstaat ‚Froterre‘, der über beachtliche offensive Cyberfähigkeiten verfügt

– anonyme Hackergruppen ‚APT Fabelwolf‘ und ‚APT Schimärenwolf‘, hinter denen ‚Froterre‘ stecken soll

– ein ‚Neugeborener Extremistenstaat (NEXSTA), der als religiöse Sekte ein weltweites Kalifat erschaffen will und dazu mittels digitaler Propaganda und Terroranschlägen in Europa agiert

– eine ‚Antiglobalisierungsgruppe‘ (AGG), eine internationale Bewegung, deren besondere Spezialität im Organisieren von Krawallen liegt, die sich als Demonstrationen tarnen

– illegale MigrantInnen, die in Massen übers Mittelmeer in die EU eindringen und deren Abwehr durch antirassistische und antimilitaristische NGO‘s erschwert wird, die wiederum durch die AGG finanziert werden, um die EU zu schwächen

Geübt werden koordinierte strategische und operative Gegenmaßnahmen der EU und NATO gegen diese fünf großen Bedrohungen. Das Bemerkenswerteste an diesem Kriegsspiel ist die Tatsache, dass die einzigen dort vorkommenden Gewaltakte bzw. bewaffneten Angriffe („militärische Aktivitäten“) vereinzelte Terroranschläge von NEXSTA-Anhängern sind, die faktisch nur eine untergeordnete Rolle spielen.

Revolutionärer Klassenkrieg

Wenn Revolution wie Konterrevolution als Ergebnis der gesellschaftlichen Praxis der letzten einhundert Jahre übereinstimmend dazu tendieren, das Politische und das Militärische sowie die psychologische Ebene und die Kommunikation zur Beeinflussung der Moral der kämpfenden Seiten zu einer einheitlichen Gesamtstrategie im revolutionären Klassenkrieg zu verschmelzen, sind wir wieder am Ausgangspunkt angelangt – nämlich jener genialen, ihrer Zeit weit voraus eilenden, alle Aspekte des sozialen Lebens umfassenden Revolutionsstrategie, die Lenin theoretisch entwickelt und praktisch in die Tat umgesetzt hat.

Ein vorläufiges Fazit:
Wo stehen wir heute?

Mit historischen Analogien zu arbeiten hat seine Tücken. Auch wenn es streng wissenschaftlich gesehen unzulässig ist, wollen wir als Bild zur Erläuterung die Frage aufwerfen, wo wir heute stehen würden, wenn wir 100 Jahre früher leben würden. Verglichen mit der Geschichte der KPDSU (B) befänden wir uns dann heute eher 1895 in einer Vorphase, 1901/1902 als ‚Was tun?!‘ geschrieben und die Iskra als leitendes Zentrum entsteht, 1904 kurz vor dem Moskauer Aufstand oder gar schon 1913 am Ende der reaktionären Phase der sogenannten Stolypinschen Reaktion und kurz vor Ausbruch des Weltkriegs, an dessen Ende der Sieg der sozialistischen Revolution stehen sollte? 

Die Antwort auf dieses Gedankenexperiment muss offensichtlich je nach Land unterschiedlich ausfallen, zu verschieden sind die Entwicklungen des Klassenkampfs z.B. in Kurdistan, der Türkei, Tunesien, Spanien und Deutschland, als dass es eine einzige Antwort geben könnte.

Vor allem aber muss die Antwort lauten, dass es keine in Stein gemeißelte Antwort gibt. Die Zukunft ist offen. Die gesellschaftlichen Widersprüche treiben die Entwicklung immer wieder in neue Richtungen voran, die keiner geschichtlichen Analogie folgen und sich keinen starren Schemata aufeinander folgender Etappen unterwerfen.

Wir können weder ‚Was tun?!‘ noch den ‚Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPDSU (B)‘ noch das Lehrbuch der KI zum Aufstand noch die militärischen Schriften Maos oder die Erfahrungen einzelner Volkskriege als „Kochrezepte“ begreifen, die wir einfach nur auf heute anwenden müssten.

Was wir aus der Oktoberrevolution im Besonderen und dem Marxismus-Leninismus im Allgemeinen lernen müssen, ist die dem bürgerlichen Denken schwer zugängliche abstrakte Wahrheit zu begreifen, dass die Revolutionsstrategie ein einheitliches Gesamtkunstwerk darstellt. Wir dürfen die politische „Kunst, Macht zu schaffen“ nicht in einzelne Etappen und getrennte Bereiche zerlegen. 

Wir haben hier einige Grundzüge der Revolutionsstrategie auf abstrakter, teils fast schon philosophische Ebene, erörtert. Die praktisch orientierten GenossInnen werden jetzt vielleicht fragen: Was bedeutet das konkret? Wie sieht unsere Strategie für die sozialistische Revolution in Deutschland aus?

Die Antwort darauf werden wir in keinem Buch der Weltgeschichte finden. Bücher, die die praktischen Erfahrungen unserer VorgängerInnen theoretisch verallgemeinern, liefern uns nur das Handwerkszeug, die allgemeinen Grundsätze der Strategie. 

Wie der Weg zum Ziel unter den heutigen Bedingungen aussieht, das müssen wir – so wie Lenin und die Bolschewiki es vormachten – in der Praxis selbst herausfinden. Orientierung dafür mag uns ein dialektischer Merksatz bieten, mit dem wir den Kreis schließen möchten:

„Revolutionäre Politik heißt Krieg führen, immer und überall – auch wenn wir in unserem ganzen Leben keinen einzigen Schuss abfeuern!“

 

1 Der bewaffnete Aufstand, Nachdruck der Europäischen Verlagsanstalt , 1971, Frankfurt/Main, S. 36 – 40

2 Die Welt begreifen und verändern, (sogenannte „Graue Reihe“), Die kommunistische Partei, Heft 26/27, Zeitungsverlag Roter Morgen, Stuttgart, Januar 2000,  S. 39 – 41

3 Wichtige Texte sind u.a. „Die Aufgaben der Abteilungen der revolutionären Armee“ (LW 9; S. 423 – 427), die Resolution 2 „Der Bewaffnete Aufstand“ und Resolution 3 „Partisanenkampfaktionen“ der Taktischen Plattform zum Vereinigungsparteitag der SDAPR (LW 10, S. 144 – 147) sowie „Der Partisanenkrieg“ (LW 11, S.209 – 214)

4 Urban Perspective. Ein Dokument der Communist Party of Imdoa (Maoist), Internationale Debatte, Vorwort der HerausgeberInnen; Zitat stammt also nicht von CPI (Maoist)

5 “Es lebe der Marxismus-Leninismus-Maoismus” http://mlm-kommunismus.blogspot.de/2015/09/es-lebe-der-marxismus-leninismus.html

6 Mao Tse-Tung: “Warum kann die chinesische Rote Macht bestehen?”, http://infopartisan.net/archive/maowerke/MaoAWI067_2.html

7 Zur Unzulänglichkeit dieser Strategie siehe den Abschnitt zu „Stadtguerilla“.

8 Stefan Engel, Rede auf dem Vereinigungsparteitag der „Parti Patriotic Demokratique Socialiste – Watad“ (PPDS), Tunis, Februar 2016

9 siehe dazu: Die Bundestagwahlen 2017, Kommunismus Nr. 8, Abschnitt Internationalistische Liste / MLPD und insbesondere S. 9f, wo wir in einer Fußnote ausgeführt haben: „Konsequenterweise führt die MLPD ihre Politik der ‘Entschärfung’ bei der Änderung in einer prinzipiellen Frage in ihrem Parteiprogramm fort. So hieß es in ihrem Parteiprogramm von 2014 zur Frage der Revolution zumindest auf dem Papier noch: “Die Arbeiterklasse wünscht, dass sich die Revolution ohne Gewaltanwendung durchsetzen würde. Doch die Frage der Gewalt stellt sich unabhängig vom Willen des Proletariats. Wenn die Kämpfe einen revolutionären Aufschwung nehmen, werden die Monopole nach allen geschichtlichen Erfahrungen versuchen, ihre Macht mit brutaler Gewalt aufrechtzuerhalten. Deshalb muss sich die Arbeiterklasse unter Führung ihrer Partei zum bewaffneten Aufstand erheben.” In ihrem 2016 veränderten Parteiprogramm wurde dann das unscheinbare aber bedeutetende Wort „gegebenenfalls“ hinzugefügt. So heißt es jetzt “(…) muss sich die Arbeiterklasse unter Führung ihrer Partei gegebenenfalls zum bewaffneten Aufstand erheben.”

10 Siehe dazu Rote Fahne vom 9.07.2017, ‘Von Krawall, Provokationen und gerechtem Widerstand’ und vom 12.07.2017, ‘Reaktionäre, antikommunistische Medienkampagne gegen “Linksradikalismus”’, wo die Kämpfe und militanten Aktionen undifferenziert als massenfeindliche Randale eingeschätzt werden

11 Zu den dahinter stehenden strategischen Überlegungen siehe ‘Rojava Report’, Hrsg. Revolutionärer Aufbau Schweiz, 2017, insbesondere den Einleitungstext ‘Zur Situation in der Türkei’, S. 10 bis 17.

12 Siehe dazu ‘Sun Tsu besucht Garmisch – Hybride Kriegsführung im 21. Jahrhundert, Kommunismus Nr. 3, November 2015

13 The Value of Science is in the Foresight, New Challenges Demand Rethinking the Forms and Methods of Carrying out Combat Operations, freie Übersetzung von uns aus dem Englischen nach: Military Review, January-February 2016, russisches Original veröffentlicht am 27.02.2013, www.theatlantic.com/education/archive/2015/10/complex-academic-writing/412255/

14 Der Westen probt den hybriden Aufstand, Telepolis 27.07.2017, www.heise.de/tp/features/Der-Westen-probt-den-hybriden-aufstand-3884080.html; Das geleakte Original des Übungsszenarios findet sich auf der Webseite der englischen Bürgerrechtsorganisation Statewatch unter www.statewatch.org/news/2017/jul/eu-council-exercise-exinst-nato-11256-17.pdf