Gipfelprotest – ein Achtungserfolg für die aktionsorientierte politische Widerstandsbewegung?

Wenn wir uns den konkreten Verlauf der Gipfelproteste anschauen, so kommen wir nicht umhin anzuerkennen, dass wir unsere materiellen Ziele der Störung des Gipfelspektakels durch Blockaden und direkte Aktionen („Gipfelsturm“) nicht erreicht haben. An dieser nüchternen Gesamtbetrachtung ändert auch die einzig erfolgreiche Blockade der B2 durch gewaltfreie BlockiererInnen am frühen Sonntag nichts wesentliches. Andererseits gilt ebenso die Feststellung, dass wir in massiver Unterzahl einer Bürgerkriegsarmee von 25.000 bis 30.000 Mann Paroli geboten haben. Die noch eine Woche vor Gipfelbeginn durchaus mögliche Option des faktischen Totalverbots bzw. der polizeilichen Unterbindung aller Proteste wurde durch die Entschlossenheit und die Solidarität der GipfelgegnerInnen abgewehrt. Wir haben uns vor Ort „zentimeterweise“ politische Handlungsspielräume im „Kampf“ mit der Polizei zurückerobert, darunter solche für bayrische Verhältnisse Ungeheuerlichkeiten wie z.B. stabile, verknotete Seitentranspis. Daher halten wir es für zutreffend, bezüglich der taktischen Ebene von einem Achtungserfolg zu sprechen.

Diese Einschätzung der Gipfelproteste als Achtungserfolg bedeutet nicht, dass wir der berechtigten Kritik z.B. des Revolutionären Aufbaus Schweiz widersprechen, wonach auch unter den konkreten Verhältnissen mehr möglich und notwendig gewesen wäre: Z.B. das Herumlungern der „Kommunikationsbullen“ direkt vor Campeingang zu unterbinden. Es soll damit auch nicht von unseren Fehlern und Schwächen abgelenkt oder Dinge schön geredet werden. Doch bevor wir zu der notwendigen Selbstkritik kommen, wollen wir feststellen, dass eine politische Einschätzung eines Zusammenstoßes zwischen Bourgeoisie und Proletariat nicht bei der taktischen Ebene stehen bleiben darf. Vielmehr gilt es, auch die mittel- und langfristigen Folgen und strategischen Wirkungen der Aktion einzuschätzen, womit wir uns im zweiten Teil beschäftigen werden.

Dies gilt umso mehr für die Gipfelproteste in Garmisch und Elmau, weil wir das scheinbar paradoxe Ergebnis haben, dass wir taktisch eine Niederlage, strategisch aber einen gewissen Sieg errungen haben. Letzteres wird verständlich, wenn wir uns die Worte von Karl Marx aus ‚Lohn, Preis und Profit‘ zur Rolle der Tageskämpfe für das Proletariat vergegenwärtigen: Es geht nicht in erster Linie um das konkrete Ergebnis der Kämpfe, sondern um die gemachten Erfahrungen im Klassenkampf und die fortschreitende Vereinigung der ArbeiterInnen als Voraussetzung für die Revolution. (Karl Marx, „Lohn, Preis und Profit“, siehe: Marx/Engels, Werke, Band 16, S. 152

Bei der immer weiter voranschreitenden Vereinigung des Proletariats und in der Schule des Klassenkampfs haben wir im Juni 2015 in Bayern deutlich mehr erreicht als bei dem diesmal noch gescheiterten Versuch des Gipfelsturms. Aber eins ist klar:

Heute ist nicht alle Tage, wir kommen wieder, keine Frage!

Eine notwendige Selbstkritik

Vorweg möchten wir gegenüber der revolutionären Bewegung wie den breiten Bewegungsmassen eine öffentliche Selbstkritik für unsere ideologische Unreife und die damit zusammenhängenden Schwächen leisten, die in der direkten Konfrontation mit dem Feind deutlich geworden sind. Soweit es unsere GenossInnen betrifft, übernehmen wir die politische Verantwortung für die gescheiterte Umsetzung der uns bei der Großdemonstration am Samstag übertragenen Aufgabe.

Eine weitere Selbstkritik ist für unsere Zustimmung zur Entscheidung zu leisten, die zweite Welle für Sonntagmorgen wegen der weitgehend zusammengebrochenen Moral der Kräfte des revolutionären Pols abzusagen. Bei 1.500 bis 2.000 entschlossenen ProtestiererInnen auf allen Aktionen am Sonntag zusammengezählt, ist es offensichtlich, dass diese Entscheidung falsch gewesen ist.

Neben diesen beiden schweren politischen Fehlern gab es weitere und teils damit zusammenhängende konkrete Dinge, die im entsprechenden Rahmen geklärt werden müssen und hier nicht weiter ausgeführt werden können.

Selbstkritik im kommunistischen Verständnis ist eine Methode, um aus den Fehlern für die Zukunft zu lernen. Daher reicht es nicht aus, Fehler festzustellen, sondern wir müssen die tieferen Ursachen ebenso wie die Methoden zur Überwindung der festgestellten Schwächen herausarbeiten. Unsere größte Schwäche liegt dabei in der Begrenzung des Klassenbewusstseins, das einer direkten Konfrontation mit der Konterrevolution noch nicht ausreichend standhält. Dies verhindert, dass unseren Worten (revolutionärer Klassenkrieg) die entsprechenden entschlossenen Taten in allen Situationen folgen, z.B. wenn wir in einer Unterzahl von 1:5 am „Arsch der Welt“ der Bürgerkriegsarmee des Feindes gegenüberstehen.

Zur Bedeutung des moralischen Faktors – oder: Woran es der Bewegung noch gefehlt hat

Wir sehen diesbezüglich die folgenden, wesentlichen Elemente:

1. Der aktionsorientierte Widerstand, bestehend aus der Breite der revolutionären Bewegung mitsamt eines gewissen Spektrums von entschlossen radikalen, reformistischen Kräften, ist heute noch im wesentlichen von einer konsequenten Protesthaltung gekennzeichnet, die defensive Militanz und Selbstverteidigung einschließt. Wir gehen davon aus, dass die fortgeschrittensten Teile der Massen bereits heute in diesem Punkt bereit sind, weiter zu gehen als die politische Widerstandsbewegung, uns eingeschlossen.

2. Objektiv wird damit für die politische Widerstandsbewegung die Frage aufgeworfen, vom Protest zum Widerstand überzugehen, d.h. unsere vorläufig begrenzten Teilziele – wie die Störung des Gipfels – auch materiell durchzusetzen. Als ausschlaggebend dafür, dass dies nicht oder nur unzureichend geschieht, sehen wir die ideologische Begrenztheit der Bewegung in der Frage der revolutionären Gewalt und der dafür notwendigen Strukturen sowie dem dafür notwendigen ideologischen und organisatorischen Niveau der politischen Kader an.

Als Vorschlag für die Aktionsformen in der nächsten Etappe des ‚Kampfs auf der Straße‘ wird in diesem Heft ein neuer Aktionskonsens in dem Text ‚Ob friedlich oder militant, gemeinsam und koordiniert organisieren wir den Widerstand‘ zur Diskussion gestellt.

3. Die Strategie des Klassenfeindes, wie sie in seiner konkreten taktischen Herangehensweise bei den G7-Protesten zum Ausdruck kam (siehe hierzu den Artikel „Sun Tsu besucht Garmisch‘, S. 19), will vor allem verhindern, dass die revolutionäre Bewegung genau diesen qualitativen Sprung durchführt. So lange wir protestieren (und sei es auch sehr konsequent und offensiv), sind wir letztlich beherrschbar, ein störendes Übel, aber eben nicht mehr. Wenn wir den Schritt zum Widerstand gehen, wird es bei der untergründigen Gärung in den Massen für die Herrschenden kritisch. Und zwar nicht, weil Gipfel unverzichtbar wären – das Gegenteil ist der Fall – sondern weil die Wut der Massen mit dem Zeichen der Entschlossenheit der revolutionären Avantgarde politisch zusammen kommen könnte.

4. Die Herangehensweise des Klassenfeindes bei G7 war deshalb darauf gerichtet, die Moral unter den revolutionären Kräften anzugreifen, was teilweise geschafft wurde. Dazu sollte am Ende das Bild entstehen, dass der Staat die Lage rund um Schloss Elmau durchgehend unter Kontrolle hatte. Dies ist in Bezug auf die breite Öffentlichkeit gelungen. Letztlich sollen mit diesem Vorgehen auch die Legenden von der „Unerschütterlichkeit“ des deutschen Staates und der „Überlegenheit der Demokratie“, von der Toleranz der Bourgeoisie gegenüber friedlichem Protest in der Öffentlichkeit transportiert werden. Ein Beispiel hierzu: Sicherlich wäre es dem USK zusammen mit weiteren Kräften des Feindes samt der vorbereiteten Waffen militärisch möglich gewesen, den antikapitalistischen Block beim Rückzug anzugreifen und zu zerschlagen. Aber das hätte in der Situation eine Massivität des Angriffs erfordert, die womöglich in einer heftigen Straßenschlacht geendet hätte. Auch wenn sie diese Gegenwehr bei den gegebenen Kräfteverhältnissen hätten brechen können, der politische Preis wäre zu hoch gewesen.

5. Für die revolutionäre Seite ist es aus diesem Grund heute zentral, ihre Aufmerksamkeit auf die „moralischen Faktoren“ zu richten: D.h. ihre ideologische Schwäche zu überwinden und in ihren Reihen eine offensive, entschlossene Haltung gegenüber dem Staat zu entwickeln. Diese muss der praktischen Offensive vorausgehen und in dieser weiterentwickelt werden. Dazu bedarf es neben der Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen im leninistischen Sinne insbesondere der Ausbildung und Entwicklung politischer Führungspersonen in Form von Kadern, welche die notwendige Festigkeit für die Konfrontation mit dem Staat in den praktischen Kämpfen wie Blockupy und G7 erwerben und vorleben. Hinsichtlich dieser Aufgabe stehen wir noch am Anfang.

Strategische Folgen der Proteste

In welcher Hinsicht können wir davon sprechen, dass die gesamte „Stop-G7“-Kampagne im Ergebnis trotz einer taktischen Niederlage der Proteste vor Ort als strategischer Sieg bewertet werden muss? Hier sehen wir die folgenden Punkte als ausschlaggebend an:

1. Auch wenn wir viele Fehler gemacht haben, darunter auch schwerwiegende Fehleinschätzungen und falsche Entscheidungen, haben sich die KommunistInnen in der Kampagne und im Zuge der Proteste in der Praxis als Avantgarde im direkten Kampf mit der Konterrevolution und damit als relevanter Faktor in der politischen Widerstandsbewegung in der BRD bewiesen. Diese Einschätzung ist zutreffend, auch wenn wir gleichzeitig unsere sichtbar gewordene ideologische Unreife feststellen und die sich daran entwickelnde berechtigte Detailkritik vieler GenossInnen an unserem Handeln selbstkritisch anerkennen. Für die Organisation der Gipfelproteste hat sich ein Bündnis von revolutionären und fortschrittlichen Kräften formiert, das die politische Führung übernommen und nicht z.B. bei der Auseinandersetzung um den Ort der Proteste (Garmisch oder München)den Reformisten überlassen hat – trotz finanzieller Lockangebote der Sozialdemokratie. Noch in Heiligendamm 2007 spielte die revolutionäre Bewegung eine wichtige Rolle bei den Protesten und hat sich dabei weiterentwickelt. Die Organisation der großen Aktionen hatten damals jedoch reformistische Kräfte in ihren Händen konzentriert. Heute ist die revolutionäre Bewegung in Deutschland in der Lage, Massenproteste selbst zu organisieren, gegenüber den Angriffen des Staates zusammenzuhalten und dabei ihre Linie beizubehalten. Die KommunistInnen innerhalb der revolutionären Bewegung haben darin eine führende Rolle eingenommen. Damit wurde die ideologische Einkreisung durch den Anti-Kommunismus ein Stück weit erfolgreich durchbrochen.

2. Im Zusammenhang hiermit wurde das Sektierertum im revolutionären Spektrum und in der aktionsorientierten politischen Widerstandsbewegung durch den gemeinsamen Kampf gegen den Feind überwunden.

3. Die Proteste haben – trotz der erwähnten ideologischen Schwäche – gezeigt, dass ein Kampf in Unterzahl möglich ist, wenn man organisiert und gemeinsam handelt. Es haben Blockaden dazu geführt, dass Journalisten per Helikopter zum Tagungsort gebracht werden mussten. Es ist einigen DemonstrantInnen gelungen, bis vor das Schloss zu gelangen. In strategischer Hinsicht muss betont werden, dass die Gesetzmäßigkeiten asymmetrischer Kriegsführung die schwächere Seite begünstigen. Es stellt sich der revolutionären Bewegung in der Zukunft die Aufgabe, aufbauend auf diese Erkenntnisse den offensiven Kampf gegen den Klassenfeind zu organisieren.

4. Die vom Staat versuchte Spaltung zwischen der Protestbewegung und der ansässigen Bevölkerung konnte an vielen Stellen überwunden werden. Das ist umso bemerkenswerter, weil es sich bei der Region rund um Garmisch-Partenkirchen um eine Gegend handelt, die als eine der konservativsten in Deutschland gilt. Trotzdem haben AnwohnerInnen den DemonstrantInnen nach einem schweren Unwetter Schlafplätze angeboten und Material für das Camp zur Verfügung gestellt. Der Belagerungszustand durch die Polizei wurde von der Bevölkerung als zunehmend unerträglich empfunden. Es ist möglich und notwendig für die revolutionäre Bewegung, die Verbindung zu den Massen herzustellen. Die Aufgabe, dies zu tun, hat sich im Zuge der G7-Proteste in der Praxis gestellt.

5. Wie in dem Erfahrungsbericht und Diskussionsbeitrag von Hans Kippenberger ‚Sun Tsu besucht Garmisch‘ herausgearbeitet wird, ist der G7-Gipfel in Elmau auch ein Testfeld für hybride Kriegsführung im Inneren gewesen. Dies gilt aber nicht nur für den Feind, sondern auch auf unserer Seite der Barrikade.

Der revolutionäre Pol hat einen spürbaren Sprung in der Organisiertheit nicht nur der eigenen Kräfte, sondern der gesamten Aktion geschafft. Die Bedeutung der ’nicht-militärischen‘ Elemente der Kriegsführung wurde sowohl in den Stärken wie z.B. der Pressearbeit, wie in den Schwächen wie z.B. der Panikstimmung bei dem Unwetter vor aller Augen sichtbar. Die gemachten Erfahrungen einer hybriden Kriegsführung im Sinne der totalen Mobilisierung ganz unterschiedlicher Ressourcen des Feindes gegen unseren Protest und Widerstand, können und müssen wir nutzen, um unseren Rückstand auf diesem Gebiet schnell aufzuholen. Der Feind hat hinsichtlich der ’nicht-militärischen‘ Elemente bereits weite Teile dessen ausgespielt, was ihm an Mitteln zur Verfügung steht. Eine Weiterentwicklung der Auseinandersetzungen wird von seiner Seite aus nur mit einer Steigerung des Gewaltpotentials (mehr Eskalation, Einsatz der Armee o.ä.) zu bewerkstelligen sein. Offensichtlich wird der Feind nicht zehnmal so viele PolizistInnen zusammenziehen können, wenn beim nächsten Mal zehnmal mehr DemonstrantInnen den Herrschenden beim Gipfelsturm näherkommen.

Die Erhöhung des eingesetzten Gewaltpotentials der Konterrevolution wird den Feind jedoch strategisch schwächen, weil er damit zugleich seinen derzeit größten strategischen Vorteil selbst untergraben muss: Nach 70 Jahren gesellschaftlicher Stabilität und einer aus revolutionärer Sicht relativen ‚Friedhofsruhe‘ im Herzen der imperialistischen Bestie glauben selbst viele revolutionäre GenossInnen nicht wirklich an die Revolution in Deutschland. Wir kämpfen dafür, aus Überzeugung, aus Klassenhass usw. aber wir glauben nicht daran, dass unser Traum in unserem Leben in diesem Land Wirklichkeit wird. 70 Jahre Gewöhnung an bürgerlichen Legalismus und Abwesenheit von Faschismus haben in allen revolutionären Organisationen tiefe Spuren im Bewusstsein hinterlassen.

Wenn der Feind nun in der repressiven Praxis mit einer Eskalation der Gewalt die von ihm mühsam und langwierig in unsere Köpfe hineingetragene Illusion über die ‚bürgerliche Demokratie‘ zerstört, wird er damit dialektisch seinen strategischen Vorteil zerstören, dass sein Gegner (also wir: die Revolutionäre sowie die unzufriedenen Massen) die Realität und Regeln des revolutionären Klassenkriegs nicht erkennen oder wo wir sie erkennen, diese nicht auf uns und unsere politische Arbeit beziehen.

Es ist Teil der objektiven Dialektik des Widerspruchs Revolution – Konterrevolution, wenn im Diskussionsbeitrag (‚Sun Tsu besucht Garmisch‘, siehe dazu isbs. Abschnitt 19: ‚Schattenboxen und die Nicht-Reproduzierbarkeit von Garmisch 2015‘, wo diese These entwickelt wird.) von Hans Kippenberger zusammenfassend festgestellt wird: Einen größeren Gefallen als der revolutionären Seite in der Praxis das militärische Denken beizubringen, kann der Feind uns gar nicht tun. Eine größere strategische Niederlage als das ruhige Hinterland selbst in ein Kriegsgebiet zu verwandeln, kann er gar nicht erleiden.