Beginnend mit dem Massaker von Suruç haben die Türkei, Kurdistan und Syrien, sowie die weltpolitische Bühne in den letzten Tagen des Juli in verdichteter Form so starke Veränderungen durchgemacht, dass sie eine eigenständige Analyse rechtfertigen. Wir werden zuerst in geraffter Form die Ereignisse der letzten Julitage darstellen und in die Strategie der Türkei einordnen. Später werden wir uns mit der Bedeutung der jüngsten Entwicklungen für die imperialistischen Widersprüche einerseits zwischen NATO und dem Block der Shanghai Cooperation Organization1 (SCO) und andererseits innerhalb der NATO – insbesondere zwischen Deutschland und den USA – beschäftigen. Zuletzt werden wir uns der Frage widmen, welche Entwicklungsperspektiven es für die weitere Entwicklung des Kriegs in Syrien und Kurdistan gibt und welche Aufgaben sich daraus für uns KommunistInnen und Revolutionäre ableiten.

Suruç und die Folgen

Am 20. Juli werden den Reihen der türkischen und kurdischen Revolutionäre durch ein faschistisches Bombenattentat auf eine Solidaritätsdelegation nach Rojava der SGDF (Förderation der Sozialistischen Jugendvereine) 31 Leben entrissen. Die fortschrittlichen und revolutionären Kräfte in der Türkei und in Rojava verstehen das als das was es war: Einen Angriff auf die Verbindung der Revolutionäre aus der Türkei mit der Rojava Revolution. Die Reaktionen fallen dementsprechend heftig und geschlossen aus. Noch am Abend des 20. Juli strömen zehntausende in Istanbul auf die Straßen2 und die ganze Woche über kommt es Nacht für Nacht in den verschiedensten Städten der Türkei zu Straßenschlachten. Am 22. Juli erklärt die HPG, in einer Bestrafungsaktion zwei türkische Polizisten getötet zu haben.3 Auch die TİKKO (der bewaffnete Arm der TKP/ML) rächt mit einer bewaffneten Aktion die Ermordeten,4 die hauptsächlich Anhänger einer anderen revolutionären Strömung waren. Im Stadtteil Gazi in Istanbul brechen unterdessen Barrikadenkämpfe mit der Polizei los und bewaffnete Demonstrationen finden statt. MLKP-, TKP/ML-,BÖG- und PKK-Milizen greifen gemeinsam Polizeistationen an und werden dabei von Kräften der DHKP-C unterstützt.5 Das Massaker von Suruç und die folgenden Ereignisse lassen Konflikte unter den Revolutionären in den Hintergrund treten, die eine Zusammenarbeit im letzten Jahr teilweise verhindert hatten.

Die Türkische Regierung reagiert koordiniert mit drei zentralen Maßnahmen am Freitag, dem 24. Juli. Erstens erklärt sie, nun auch militärisch dem IS gegenüber in die Offensive zu gehen. Sie gestattet den USA erstmalig die Nutzung ihres Militärflughafens Incirlik und fliegt selbst Luftangriffe gegen die Stellungen des IS. Zweitens kündigt sie zwar nicht den seit 2013 vereinbarten Waffenstillstand mit der PKK, bricht ihn aber praktisch, in dem sie in der Nacht von Freitag auf Samstag mit massiven Bombardements der Guerilla-Verteidigungsgebiete im Nordirak beginnt. Die erste Welle dieser Bombardements dauert über zwölf Stunden an.6 Drittens beginnt am Morgen des 24. Juli eine massive Repressionswelle gegen die türkischen und kurdischen Revolutionäre und gegen die kurdische Befreiungsbewegung. Allein am Freitagmorgen werden bei großangelegten Polizeioperationen etwa 300 AktivistInnen inhaftiert und die Zahl der Inhaftierten steigt in den folgenden Tagen kontinuierlich auf über 1000 am Dienstag, den 28. Juli an.7 Bei diesen Operationen wird auch die Anhängerin der DHKP-C Günay Özarslan exekutiert.

Die Spur von Suruç führt nach Ankara

Für die Revolutionäre in der Türkei und ihre SympathisantInnen war die Komplizenschaft der AKP beim Massaker von Suruç vom ersten Moment an offensichtlich. In den massenhaft gerufenen Parolen „Der Mörder-Staat wird Rechenschaft leisten“ fand das seinen prägnanten Ausdruck auf der Straße.

Dafür dass der Staat hinter dem Massaker von Suruç steckt sprechen erstens eine Vielzahl von Belegen und konkreten Indizien, zweitens aber die Ereignisse, die Suruç nach sich zog und die Tatsache, dass sich dieses Attentat äußerst harmonisch in die Strategie der AKP einfügt.

Die konkreten Belege sind folgende: Die türkische Regierung ist für ihre Kooperation mit dem IS über die letzten Jahre hinweg bekannt, sie versorgt IS Kämpfer in ihren Krankenhäusern, gestattet ihnen freien Grenzübertritt, versorgt sie mit Waffen und Munition und ihr Militär schützt die Kämpfer des IS vor der Rache des kurdischen Volks in der Türkei.8 Sprechen wir konkret über das Attentat von Suruç, so wurden mehrere Kontrollposten des türkischen Staats errichtet und die TeilnehmerInnen an der Solidaritätsdelegation nach Rojava genauestens durchsucht. Der Attentäter wurde aber nicht gefunden.9

Wir belassen es bei dieser gerafften Aufzählung. Bevor wir die Ministerien des bürgerlichen Staates erobert haben, werden wir niemals in die Lage kommen, alle verdeckten und geheimdienstlichen Tätigkeiten vollständig aufzudecken. Ob wir derartige Hinweise haben, auf die wir uns berufen können und wie viele, ist also vor allem ein Gradmesser dafür wie sorgfältig und erfolgreich der Staat seine Machenschaften vertuschen konnte. Entscheidender für uns ist die Frage, warum und wann unser Feind zu solchen Mitteln greift. So können wir uns seine Strategie verständlich machen.

Zunächst das offensichtlichste: Die meisten der Ermordeten von Suruç waren Mitglieder der SGDF oder der ESP und somit Anhänger einer marxistisch-leninistischen kommunistischen Kraft aus der Türkei und Kurdistan. Diese wiederum spielte und spielt eine führende Rolle beim Beitrag der Kommunistischen Weltbewegung zur Verteidigung der Rojava Revolution und ruft die KommunistInnen aller Länder dazu auf, sich dem internationalen Batallion, das in Rojava kämpft, anzuschließen.10 Suruç war also nicht etwa ein Angriff auf die Türkei, sondern ein Angriff auf die kommunistische Bewegung und auf ihren Beitrag zur Verteidigung Rojavas.11

Zweitens nutze der türkische Staat Suruç als Rechtfertigung für seine angeblich gegen den IS gerichtete Offensive die Durchsetzung einer NATO-kontrollierten Pufferzone in Syrien.

Drittens diente Suruç als Provokation, die entsprechenden Antworten der Massen und der Revolutionäre wurden als Rechtfertigung herangezogen, um neben dem IS auch die PKK Stellungen in Irak und Türkei anzugreifen und die oben erwähnte Verhaftungswelle loszutreten.

Kriegserklärung

Wir können Suruç als Kriegserklärung der Türkei an die Revolutionäre und die kurdische Bewegung zusammenfassen. Das Massaker war der staatlich organisierte Anlass, um einen Friedensprozess, der schon vor Monaten zum Erliegen gekommen war, endgültig zu beerdigen und einen erneuten Kriegsausbruch zu erzwingen.

Obwohl das Vorgehen der Türkei äußerst aggressiv ist, muss betont werden, dass sie aus einer Position der Schwäche handelt.

Innenpolitisch ist die AKP-Regierung durch den Wahlsieg der HDP und ihren Einzug ins Parlament in eine Krise geraten. Eine Koalition, die ihr erlauben würde, Erdoğan wie geplant eine Präsidialdiktatur einzurichten, ist nicht in Sicht. Hält die AKP an ihren Zielen fest, dann ist ihre momentane Politik die logische Konsequenz: Einerseits Chaos und Terror im Land verbreiten, um den Ruf nach Erdoğans harter Hand und Neuwahlen aufkommen zu lassen und andererseits den Friedensprozess beenden und somit die HDP in eine politische Sackgasse zwingen, war doch der Wunsch nach Frieden sowohl im türkischen wie im kurdischen Volk ein zentraler Grund für ihren Wahlerfolg. Wert legt die AKP bei ihrem Vorgehen logischerweise darauf, nicht selbst als die Angreifer und Kriegstreiber dazustehen, sondern diese Rolle der PKK zuzuschustern.

Das alleine ist aber keine plausible ausreichende Begründung, um die Offensive der AKP-Regierung auch in außenpolitischer Hinsicht zu erklären. Hierzu ist eine Analyse der momentanen Lage im Syrien-Krieg und der türkischen Interessen in der Region notwendig. Wir müssen somit die Lage nun vom geopolitischen Standpunkt analysieren. Sobald wir die Politik der Türkei in dieser Hinsicht analysieren, kommen wir aber auch nicht mehr darum herum, sie in ihrer Wechselwirkung mit den Interessen der hinter ihr stehenden NATO-Imperialisten – allen vor ran den USA – zu betrachten. Wohl kaum werden die führenden Mächte der NATO auf absehbare Zeit der Türkei außenpolitische Alleingänge zugestehen, schon gar nicht im Nahen Osten.

Der Kriegsplan der USA und der Türkei

Wie bei der NATO-Konferenz am 28. Juli am Dienstag klar wurde, sind die NATO-Staaten voll des Lobes für den „Umschwung“ in der türkischen Politik gegenüber dem IS. Besonders Deutschland begrüßt die Abkehr von einer falschen Politik der Unterstützung und Toleranz gegenüber dem IS und die Hinwendung zu seiner militärischen Bekämpfung. Auch die Türkei scheint sich in dieser Rolle zu gefallen, so sprach Ministerpräsident Davutoğlu davon, die Türkei könne „eine Spielwende“ bewirken.12 Der von ihm gewählte Begriff bringt ziemlich passend auf den Punkt, was die Türkei gerade unter dem Druck der USA tut: Sie geht von der ersten Phase ihrer Syrien-Politik in die zweite über.

Rückblickend betrachtet erscheint es logisch, dass die Türkei nicht ewig ihre Politik, den IS mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu fördern, fortführen konnte. Spätestens mit den massiven Gebietsgewinnen im Irak und der Absorption eines Großteils der sunnitischen Streikräfte des Iraks hat der IS einen Charakter angenommen, der für die Imperialisten nur noch indirekt steuerbar ist. Der IS ist und bleibt aber ein Instrument des Imperialismus, auch hier können zahlreiche Belege und Indizien angeführt werden.13 Er ist jedoch kein Instrument zur Errichtung imperialistischer Herrschaft in der Region, sondern erstens zur Zerstörung jeglichen Einflusses von imperialistischen Konkurrenten und zweitens allgemein zur de facto Zerteilung der früheren Staaten der Region in ein Mosaik aus Einflusszonen. Beides bereitet den Boden für eine Neuverteilung der Einflussgebiete in der Region.14 Solange die Türkei als Regionalmacht das Ziel, Assads Syrien zu beseitigen und ihren eigenen Einfluss nach Süden hin auszuweiten, verfolgte, musste sie früher oder später in Widerspruch mit ihrem Zögling dem IS geraten.

Was sieht nun das Abkommen auf das sich die USA und Türkei geeinigt haben vor? Kernpunkt ist die Einrichtung einer von der NATO kontrollierten Schutzzone an der türkisch-syrischen Grenze. Vor dem Hintergrund des gerade gesagten ist die erste Funktion dieser Zone aus Sicht der Türkei, einen Hort für die Ausbildung und Entfaltung sogenannter „gemäßigter Oppositioneller“ zu bieten. Wie es in Zeiten des Neokolonialismus üblich ist, strebt die Türkei an, ihren Einfluss nach Süden hin nicht etwa über eine formale Grenzverschiebung zu erreichen, sondern in dem sie auf einem Teil oder auf dem ganzen Territorium des alten Syriens einen von ihr politisch und ökonomisch abhängigen Staat errichtet. Offenbar gibt es auch tatsächlich in den Reihen der FSA Kräfte, die für solche Projekte empfänglich sind und in den von ihnen kontrollierten Gebieten die Einführung der türkischen Lira als Währung planen. Dass die führenden Imperialisten der NATO einen solchen Einflusswachstum der Türkei nicht unbedingt gerne sehen steht freilich auf einem anderen Blatt15

Die imperialistischen Widersprüche im Syrien-Krieg

Die NATO-Mächte haben den legitimen Aufstand der SyrerInnen gegen das Assad-Regime durch ihre militärische Unterstützung (in Form von Waffen oder sonstiger Logistik) für bestimmte Teile der Aufständischen Stück für Stück zu einem imperialistischen Stellvertreterkrieg gemacht. Ihr Hauptgegner ist Russland, das bis heute hinter dem Assad-Regime steht und es seit Jahrzehnten seinerseits mit Waffen beliefert.16 In den derzeitigen Entwicklungen hält sich Russland auffallend stark zurück und es mehren sich die Gerüchte, dass der russische Imperialismus nach einer Alternative zu Assad sucht. Dem selbst bleibt nicht viel mehr übrig, als der Form halber gegen die Verletzungen von Syriens territorialer Einheit durch eine solche Sicherheitszone zu protestieren.

Es liegen für die nächsten Jahre verschiedene Optionen auf dem Tisch. Die von der NATO gedeckten „gemäßigten Teile“ der FSA könnten Syrien zum Teil oder ganz beanspruchen und Russland und der Iran können sich einer solchen Entwicklung mehr oder weniger entschieden entgegenstellen. So oder so, wird dabei aber herauskommen, dass der russische Einfluss in der Region zurückgedrängt wird und die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen diesen beiden Lagern (auf dem Weg zu einem neuen großen imperialistischen Weltkrieg) auf eine neue Stufe gehoben werden.

Weniger einfach einzuordnen sind die Widersprüche zwischen Deutschland und der USA im derzeitigen Vorgehen. Die zögerliche Unterstützung Deutschlands für die momentanen Pläne der Türkei und der USA und seine öffentlich geäußerte Kritik an den Angriffen auf die kurdische Bewegung17 ergeben sich aus der unterschiedlichen geografischen, ökonomischen und politischen Lage der USA und Deutschlands.

Die USA sind zwar noch immer die größte Militärmacht der Welt, sehen sich jedoch der wachsenden Konkurrenz anderer aufsteigender imperialistischer Räuber ausgesetzt – allen vor ran China und Russland. Der Nahe und Mittlere Osten hat nach der offiziell von den USA verkündeten Strategie des 21. Jahrhunderts für sie an Relevanz gegenüber Asien verloren.18 Dies erklärt sich unter anderem dadurch, dass die USA auf ihrem eigenen Territorium mithilfe des Frackings Zugriff auf ausreichend Öl für Jahrzehnte haben.19 Aus Amerikas Sicht, das buchstäblich am anderen Ende der Welt von Syrien liegt, ist klar, dass sie nicht dauerhaft die Stärke entwickeln können, den Nahen Osten zu beherrschen. Sein Hauptinteresse liegt darin, sicher zu stellen, dass es seine größten imperialistischen Konkurrenten nicht beherrschen. Gleichzeitig geraten die USA gegenüber diesen Konkurrenten überall auf der Welt mehr und mehr unter Druck. Das nach Asien und Südamerika strömende chinesische und russische Kapital macht ihm nämlich seine wichtigsten Anlagesphären streitig.

Für Deutschland dagegen stellt sich die Situation noch anders dar. Es ist deutlich näher an der Region gelegen und offensichtlich ist, dass eine Ausdehnung der deutschen Einflusszone über die EU hinaus erstmal vor allem Richtung Afrika und in Richtung des Nahen Ostens möglich ist. Gleichzeitig hat sich Deutschland als imperialistische Macht gerade in der Euro-Krise massiv stärken können; seine militärischen Kapazitäten hinken dem aber noch weit hinterher. Präsident Gauck macht das mit seinem Ruf nach mehr deutscher Verantwortung in der Weltpolitik bewusst.

Knapp zusammengefasst liegt ein relativer Unterschied zwischen den USA und Deutschland darin, dass die USA militärisch bereit sind für den Krieg und wissen, dass sie mit jedem weiteren verstrichenen Jahr mächtigeren Gegnern gegenüberstehen werden, während Deutschland noch nicht bereit ist für den Krieg. Für die USA ist die Türkei ein Instrument, um die Region seinen Konkurrenten streitig zu machen, für Deutschland spielt die Türkei viel mehr auch die Rolle eines potentiellen Konkurrenten. Aus all dem folgt, dass Deutschland kein Interesse an der Eskalation sämtlicher Widersprüche in der Region hat. Die mit dem Friedensprozess nun gescheiterte Einigung zwischen kurdischer Freiheitsbewegung und dem türkischen Staat wäre für den deutschen Imperialismus deutlich leichter zu akzeptieren gewesen, als ein imperialistischer Stellvertreterkrieg, der sich mit Aufständen eines 40 Millionen zählenden Volks verbindet.

Die Sicherheitszone richtet sich gegen Kurdistan

Sehen wir uns die von USA und Türkei geplante Sicherheitszone an, so fällt auf, dass sie in erster Linie bedeutet, dass die NATO den letzten noch nicht von der YPG/YPJ eroberten Teil Westkurdistans militärisch kontrolliert. Während die Fortführung des Krieges der YPG/YPJ gegen die Truppen des IS auf dem Verbindungsstück zwischen Afrin und Kobane zuvor möglich gewesen wäre, um ganz Westkurdistan zu befreien, würde ein Krieg der YPG/YPJ mit der türkischen Armee sofort den Einmarsch der Türkei in Rojava nach sich ziehen. Die Sicherheitszone ist ein Mittel, die Umkreisung der Rojava-Revolution noch enger zu ziehen mit dem Ziel sie zu ersticken.

Für die kurdische Bewegung entsteht eine Zwickmühle, sie kann sich in Syrien nicht wie geplant entwickeln und wird in Nordkurdistan von der Türkei in den Zwei-Frontenkrieg gegen Türkei und IS zugleich gezwungen, den sie durch die Fortführung des festgefahrenen Friedensprozesses vermeiden wollte. Ohne Zweifel liegt es im Interesse der Türkei der Rojava-Revolution auch durch einen direkten Einmarsch ein Ende zu bereiten; es gibt jedoch zwei Faktoren, die dem im Wege stehen: Erstens die Imperialisten weisen die Türkei immer wieder bei ihren regionalen Kriegsambitionen in ihre Grenzen. Zweitens macht der Widerstand der KurdInnen und der Revolutionäre in der Türkei einen Frontalangriff auf die Rojava Revolution zu einem innenpolitischen Problem.

Präventivschlag gegen die Revolutionäre und Friedensbewegung

Die logische Konsequenz aus der Strategie der Türkei, die Völker in einen Krieg zu zwingen, ist, dass überall in der Türkei die Menschen massenhaft aufstehen, um sich den Kriegsplänen der Türkei entgegenzustellen. Durch seine eigene Assimilations- und Vertreibungspolitik gegenüber dem kurdischen Volk hat sich der türkische Staat im vergangenen Jahrhundert selbst in die Situation gebracht, dass es für ihn im Krieg gegen Kurdistan kein ruhiges Hinterland mehr gibt.20 Die Errungenschaften der Rojava-Revolution, die gemeinsamen Kämpfe der Massen mit den Revolutionären beim Gezi-Aufstand 2013 und die Kriegsmüdigkeit aller Völker der Türkei machen das momentane extrem aggressive Vorgehen der türkischen Regierung auch zu einem sehr riskanten Vorgehen. Am handgreiflichsten kam das in den schwersten Stunden der Verteidigung Kobanes im letzten Oktober zum Ausdruck. Das kurdische Volk strömte in der ganzen Türkei auf die Straßen und ließ seiner Wut freien Lauf, dieser Gewaltausbruch (bekannt als Serhildan des 6. bis 8. Oktober) zeigte der Türkei klare Grenze auf und zwang sie letztlich die Grenze zu Kobane zu öffnen. Dass sich die Türkei dieses Risikos sehr wohl bewusst ist, kommt in der seit Ende Juli laufenden massiven Repressionswelle zum Ausdruck. Nicht nur das binnen weniger Tage etwa tausend AktivistInnen verhaftet wurden, es gibt auch mehrere Berichte von flächendeckender Folter im Gefängnis, die offenbar dienen soll, den Willen der politischen Gefangenen zu brechen.21 Mag sein, dass der türkische Staat einige der gefangenen Revolutionäre nach einigen Monaten wieder frei lässt. Für den Moment aber setzt er sich das Ziel, den Revolutionären die Verbindung zu den Massen zu rauben und somit den Widerstand gegen seine Pläne zu begrenzen.

Besonders hervorgehoben werden sollte, dass in der Nacht von Sonntag auf Montag, den 27. Juli, der traditionell von Revolutionären beherrschte Istanbuler Stadtteil Gazi von der Antiterror-Spezialpolizei gestürmt wurde.22 Auch dieser Schritt muss in das taktische Vorgehen des Staates eingeordnet werden, dass darauf basiert Schockmomente auszunutzen und die psychologische Überlegenheit zu erlangen.

Schlußfolgerungen

Aus kommunistischer Sicht sind zwei wesentliche Schlußfolgerungen zu ziehen und ein strategisches Dilemma zu lösen.

Das angeblich gegen den IS gerichtete Vorgehen der NATO entlastet die Rojava Revolution in keinster Weise, im Gegenteil durch die Eröffnung einer zweiten Front in Nordkurdistan, durch die vollständige Blockade der türkisch-syrischen Grenze mit türkischen Elitesoldaten und durch die geplante Sicherheitszone innerhalb von Rojava wird ihre Situation nur noch um ein vielfaches schwieriger. Zu den zahlreichen Aufgaben, die die Rojava Revolution uns stellt, kommt deshalb nun, sich den Kriegsplänen der NATO in Syrien entgegenzustellen.

Zweitens läuft diese Offensive der NATO auf eine Verschärfung der imperialistischen Widersprüche mit China und Russland hinaus. Mag sein, dass Russland Assad fallen lässt und einen Deal mit der NATO schließen kann. Mag sein, dass Russland zurück weicht und sich nach der Ukraine ein weiteres Einflussgebiet nehmen lässt. Jedoch kann diese Politik im Imperialismus nicht von Dauer sein. Die nächste große Wirtschaftskrise kündigt sich an23 und wird den Spielraum aller Imperialisten extrem verengen. Die Zunahme von direkten und Stellvertreterkriegen zwischen den Lagern der USA und Russland / China werden früher oder später in einen neuen Weltkrieg münden. Sobald es zu dieser Eskalation kommt, wird Deutschland und auch kein anderer Imperialistischer Staat dem Schlachtfeld fernbleiben können, ob sie sich bereit fühlen oder nicht. Gerade aus diesem Grund haben wir keinen Platz für die tröstende Illusion, dass die Imperialisten sich von Konflikt zu Konflikt noch irgendwie verständigen werden. Im Vorlauf zum nächsten großen Krieg wird uns nichts helfen außer einer Kommunistischen Partei, die Karl Liebknechts Aufruf „Krieg dem Krieg“ in brennenden Buchstaben auf die Straßen schreibt und in der Praxis verkörpert.

Es besteht kein Zweifel selbst ein Krieg im nahen Osten, der vorerst im Rahmen der Region verbleibt, wird ein gewaltiges Echo in Europa und besonders in Deutschland haben. Mehrere Generationen von MigrantInnen aus der Region sind mit den dort eskalierenden Widersprüchen verbunden. Die Kriegsflüchtlinge aus Syrien tragen sie in brandaktueller und für die „Friedhofsruhe“ im Herzen der Bestie brandgefährlicher Form nach Deutschland.

Das strategische Dilemma der kommunistischen Kerne und aller ehrlichen Revolutionäre im Herzen der Bestie in Deutschland besteht darin, dass wir – wieder einmal – viel zu spät dran sind. Der reale Stand des Prozesses zum Aufbau einer Kommunistischen Partei wie der Herausbildung eines revolutionären, strömungsübergreifenden Pols ist sehr anschaulich in den Protesten gegen den G7-Gipfel zum Ausdruck gekommen. Wir sind als eigenständige Kraft imstande gewesen einige tausend Menschen zu mobilisieren und mit 1.000 bis 2.000 AktivistInnen halbwegs organisiert einer Polizeiübermacht von 30.000 Mann Paroli zu bieten, einzelne offensive Akzente zu setzen und in Summe einen kleinen Achtungserfolg zu erreichen. Nicht mehr und nicht weniger. Das ist an sich gar nicht so wenig, wenn man überlegt aus welchem tiefen Tal wir in den letzten 20 Jahren gekommen sind.

Das ist aber leider gar nichts gegen einen Feind, der beschlossen hat unsere GenossInnen und uns militärisch und mit offen faschistischen Methoden anzugreifen. Die zunehmende Zuspitzung der Kriege kommt für uns viel zu früh, da wir nicht einmal ansatzweise vorbereitet sind, uns mit den notwendigen Mitteln gegen die feindlichen Angriffe zu verteidigen.

Gleichzeitig gärt es in Deutschland unter der Oberfläche in den Massen. Dass die Rapper von ‚K.I.Z.‘ – man mag von ihnen halten was man will – mit einem Rap-Track wie „Boom, Boom, Boom“, wenn man den Text ernst nimmt, die offensivste revolutionäre Propaganda seit Jahrzehnten entfalten und dabei von einer ganzen Generation gefeiert werden, sagt so einiges aus. Jeder Polizistenmord in einem industriellen städtischen Ballungszentrum von Sao Paolo über Ferguson, London, Paris, Stockholm und zuletzt Den Haag hat mittlerweile das Potenzial, spontane Aufstände auszulösen. Den intelligenten Strategen des Feindes dürfte schon lange klar sein, dass die Ruhe im imperialistischen Kernland sehr brüchig ist und strategisch nur gesichert werden kann, wenn es ihnen möglichst lange gelingt, die Entstehung einer kommunistischen Avantgarde zu blockieren und zu verhindern, dass die Kampfbereitschaft der Massen mit einer organisierten revolutionären Strategie in Form einer Kommunistischen Partei in Verbindung kommt. Weil der Feind sehr gut verstanden hat, was viele GenossInnen in der antikapitalistischen und revolutionären Bewegung noch nicht sehen können, lesen wir dann z.B. folgende Einschätzung:

Gefährlich wäre es hingegen, die Kurden zurück in den bewaffneten Kampf mit der Türkei zu treiben. Das würde wie ein Rekrutierungsprojekt für die Terroristen von morgen wirken.“24

Der letzte Satz bezieht sich keineswegs nur auf Kurdistan und die türkischen Metropolen, sondern gilt noch viel mehr für das imperialistische Zentrum. Weil die objektiven Bedingungen für äußerst sprunghafte, heute noch weitgehend unvorstellbare Entwicklungen heranreifen, müssen wir Vertrauen fassen, in uns selbst aber vor allem in unsere Klasse und in die aufständischen Völker in aller Welt. Wie der Feind müssen wir nicht unsere momentane Anzahl, unsere momentanen Möglichkeiten als Keim der kommunistischen Bewegung in den Vordergrund stellen, sondern das Potential, das in unseren Klassengeschwistern schlummert. Es begegnet uns tagtäglich, wenn wir unsere freiwillige Selbstbegrenzung überwinden und uns in unserer Praxis offensiv nach außen wenden.

 

Eine designte Version des Artikels zum Ausdrucken findet ihr hier.

Endnoten und Quellen

1Shanghai Coorporation Organization; ein militärisches und ökonomisches Staatenbündnis; führende Mitglieder sind die Imperialisten Russland und China; die SCO trägt somit gewissermaßen den Charakter einer „Gegen-NATO“.

2www.etha.com.tr/Haber/2015/07/20/guncel/katliama-buyuk-tepki-akpden-hesabini-soracagiz/

3anfenglish.com/kurdistan/hpg-two-police-officers-punished-by-apoist-team-of-self-sacrifice

4anfenglish.com/kurdistan/retaliatory-attack-by-tikko-guerillas-in-response-to-suruc-massacre

5www.etha.com.tr/Haber/2015/07/20/guncel/gazi-mahallesinde-milislerden-eylem/

6anfenglish.com/kurdistan/hpg-three-guerillas-martyred-in-yesterday-s-airstrikes-by-turkish-army

7Junge Welt: NATO vor dem Bündnisfall; 28. Juli 2015

8rote-aktion.org/delegation-grenzenloser-widerstand-zweite-erklarung

9siyasihaber.org/demirtas-saldirinin-birinci-sorumlusu-huumettir

10https://en.wikipedia.org/wiki/International_Freedom_Battalion

11Siehe „Lassen wir die Gefallenen in unserem Kampf weiterleben! Tod dem Faschismus!“, Kommunistischer Aufbau Juli 2015

12Der Tagesspiegel: Angriff auf Kurden – Türkei in der Kritik, Dienstag 28. Juli

13www.globalresearch.ca/isis-leader-abu-bakr-al-baghdadi-trained-by-israeli-mossad-nsa-documents-reveal/5391593

14Eine offene Aufgabe ist es, die massive Verbreitung des fundamentalistischen Terrors (durch den IS und seine ideologischen Zwillingsbrüder) über weite Teile Afrikas, zu analysieren.

15Vgl german-foreign-policy.com: Ankaras Krieg, 27. Juli 2015

16https://en.wikipedia.org/wiki/Russia-Syria_relations

17Dass sich die USA andererseits ganz offensiv hinter die Luftangriffe auf die PKK-Stellungen durch den türkischen Staat stellen, zeigt nur ein weiteres Mal, dass sie so wie alle Imperialisten bereit sind, taktisch die KurdInnen gegen den Vormarsch des IS zu unterstützen, sie aber auch genauso schnell wieder fallen lassen werden, wenn es ihren Interessen entspricht.

18Vgl. german-foreign-policy.com: Das pazifische Jahrhundert, 18. November 2011

19Politico.eu: ISIL is a problem, but not America’s problem, 25. Juli 2015

20Beispielsweise sind etwa 20% der 20 Millionen in Istanbul lebenden Menschen KurdInnen.

21www.birgun.net/haber-detay-iskence-gordu-simdi-sikayetci-olmamasi-icin-baski-altinda-85795.html

22www.etha.com.tr/Haber/2015/07/26/guncel/gazide-polis-teroru-suruyor/

23Symptome wie der Börsencrash in China oder die Ankündigungen aus den verschiedensten Branchen, dass der Markt nicht wie erwartet wachse sprechen dafür.

24Erdogans Kriegskalkül, Leitartikel von Christoph von Marschall, Tagesspiegel 28. Juli 2015