Wie westliche und östliche Imperialisten um Einfluss kämpfen

Die Spannungen auf der koreanischen Halbinsel sind seit etwa einem Jahr ein Dauerthema in den Nachrichten. Die militärische Bedrohung Nordkoreas durch die USA, Südkorea und Japan und das nordkoreanische Atomprogramm als Antwort darauf bieten das Potenzial für einen regionalen Krieg mit Millionen Toten oder gar das direkte feindliche Aufeinandertreffen Chinas und der USA, das zu einem Dritten Weltkrieg eskalieren könnte. Und doch bildet dieser Konflikt nur ein Puzzlestück in dem weitaus größeren und komplexen Machtkampf verschiedener kapitalistischer Staaten in Ostasien, der wiederum nur ein Ausschnitt der Machtkämpfe im imperialistischen Weltsystem ist. Über diesen ostasiatischen Machtkampf und die daraus resultierenden Konflikte wollen wir im folgenden einen Überblick geben. Neben den objektiven geopolitischen Bedingungen und zwischen-imperialistischen Konkurrenz- und Kräfteverhältnissen müssen wir dabei auch den subjektiven Faktor in den Blick nehmen. Im Gegensatz zu den heutigen Verhältnissen in Europa besteht nämlich mit der kämpferischen und gut organisierten südkoreanischen ArbeiterInnenbewegung eine potenziell revolutionäre Kraft. Deren relative Stärke und weitere Entwicklung muss schon heute von den Imperialisten und ihren regionalen Partnern bei all ihren Schachzügen berücksichtigt werden.   

Dynamische Kräfteverhältnisse zwischen den imperialistischen Staaten

Wer die Welt beherrschen will, muss das eurasische Landmassiv beherrschen. Dieses Statement des amerikanischen Geostrategen Zbigniew Brzezinski aus seinem Buch „Das große Schachbrett” leuchtet bereits bei einem kurzen Blick auf eine Weltkarte ein. Eurasien bildet die größte zusammenhängende Landmasse, um die sich die anderen Kontinente quasi wie Satelliten positionieren. Es beherbergt mit 4,7 von rund 7,5 Milliarden Menschen mehr als sechzig Prozent der Weltbevölkerung. Über die Hälfte des weltweiten Bruttoinlandsprodukts stammt heute – mit steigender Tendenz – aus Europa und Asien. Auch wenn Afrika und Südamerika wichtige Rohstoffquellen und Absatzmärkte für den Weltkapitalismus sind und bleiben, und auch wenn Nordamerika neben der immer noch dominierenden Weltmacht USA den G7-Staat Kanada und den G20-Staat Mexiko beherbergt: Die Entscheidung über die Vorherrschaft über die Welt fällt heute, ebenso wie historisch, am Ende in Eurasien. Die Vorherrschaft über die Welt, mindestens aber einen Teil von ihr ist das letztendliche Ziel aller großen oder aufstrebenden kapitalistischen Staaten, von denen eine ganze Reihe (Deutschland, Frankreich, Russland, China, Indien, Golfstaaten) auch in Eurasien liegt. 

Die USA sind seit dem Zerfall der Sowjetunion bis heute der Staat, der die Vorherrschaft über die Welt in ökonomischer, politischer und militärischer Hinsicht tatsächlich innehat. Die größten Schlachtschiffe auf den weltweiten Finanzmärkten (Blackrock, Vanguard, Blackstone, Carlyle, u.w.), die Kapital im Volumen von mehreren Billionen Dollar bewegen und Beteiligungen auf der ganzen Welt halten1, segeln ebenso unter amerikanischer Flagge wie die Technologiegiganten Apple, Alphabet, Amazon und Facebook. Die USA haben die größten Anteile und Stimmrechte in Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF), sind Vetomacht im UN-Sicherheitsrat und dominieren die NATO, in der sie mit den europäischen Staaten (u.a. Deutschland, Frankreich, England, Spanien, Türkei) militärisch zusammengeschlossen sind. Sie unterhalten nach Schätzungen2 faktisch 1000 Militärstützpunkte auf dem gesamten Globus, mit denen sie ihre wichtigsten strategischen Gegner, vor allem die aufstrebende Volksrepublik China und Russland, den Rumpfstaat und Überrest des alten Sowjetreichs, in ihren Expansionsmöglichkeiten eindämmen und mit Krieg bedrohen. Seine Aggressivität hat der US-Imperialismus in den vergangenen zwanzig Jahren in zahlreichen Angriffskriegen (u.a. Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen), niedrigschwelligen Militäraktionen (u.a. Drohneneinsätze in Pakistan) und Drohgebärden gegen weitere Staaten (Iran, Nordkorea) unter Beweis gestellt.

Dennoch ist die weltweite Dominanz der USA bedroht. Zum einen läßt sich historisch beobachten, dass die im Zuge des 2. Weltkriegs in den 1950/60er Jahren vorhandene sehr weitgehende Hegemonie der USA im westlichen Imperialismus sich teilweise abschwächt. Zwar ist das NATO-Bündnis weiterhin einigermaßen stabil. Die Verfolgung eigener, regionaler geopolitischer Ambitionen durch die Bündnispartner hat jedoch zugenommen (z.B. Deutschland, Frankreich, Türkei). Zum anderen streben die Rentierstaaten Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate und Katar heute ihre wirtschaftliche Diversifizierung (Verbreiterung der Produktion auf neue Sektoren) an, drängen mit eigenen Staatsfonds auf die Finanzmärkte. Sie betreiben ebenfalls ihre eigene Geopolitik, deren Folgen am Krieg im Jemen und der Rolle Saudi-Arabiens darin zu sehen sind. 

Der Höhepunkt des wirtschaftlichen Aufschwungs der asiatischen Staaten Japan und Südkorea liegt mit den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts zwar schon eine Weile zurück. Vor allem das High-Tech-Land Japan, das nach Bruttoinlandsprodukt laut Schätzungen des IWF auf Rang 3 der wirtschaftlich stärksten Länder liegt3, drängt jedoch unter der Regierung von Shinzo Abe auf eine neue nationale Strategie, welche die Abkehr von der jahrzehntelangen Beschränkung der eigenen militärischen Stärke beinhaltet. Japan dürfte mittel- bis langfristig anstreben, die Anlehnung an die bisherige Schutzmacht USA zu überwinden und selbst zur Atommacht zu werden. 

Auch die indische Regierung unter dem Hindu-Nationalistenführer Narendra Modi steht für ein verstärktes Großmachtstreben4. Indien hat 1,3 Milliarden EinwohnerInnen und verfügt über eine aufstrebende Industrie, u.a. Unternehmen, die weltweit Spitzenplätze einnehmen (u.a. Infosys, HCL, Tata). Die ehemalige englische Kolonie liegt nach BIP heute auf Platz 75, direkt hinter Großbritannien. Das Land ist zudem bereits Atommacht. 

Die Entwicklung zeigt also Bewegung in den Kräfteverhältnissen der betrachteten Länder. Das bedeutendste Moment für die Bedrohung der amerikanischen weltweiten Hegemonie ist jedoch ohne Zweifel der Aufstieg Chinas.

China: Weltmacht im Wartestand

Nach der oben bereits genannten ökonomischen Auflistung des IWF liegt China mit einem BIP von 11,9 Billionen US-Dollar auf Rang zwei hinter den USA (mit 19,4 Billionen USD) und hält einen weiten Vorsprung vor dem drittplatzierten Japan (4,9 Billionen USD)6. Aktuelle Einschätzungen des Londoner Centre for Economics and Business Research sehen das Land bis 2032 an den Vereinigten Staaten vorbeiziehen7 (während Indien demnach schon 2027 auf Platz 3, das heißt vor Deutschland und Japan aufrücken würde). In der Liste Forbes Global 2000, einem Ranking der größten börsennotierten Unternehmen der Welt, liegen die vier chinesischen Großbanken Industrial and Commercial Bank of China, China Construction Bank, Agricultural Bank of China und Bank of China in den Top Ten, die beiden erstgenannten auf den Plätzen eins und zwei8. Das in absoluten Zahlen weltgrößte Exportland ist zugleich der größte Handelspartner Afrikas, der zweitgrößte Europas und wichtigstes Importland für Deutschland, Japan und die USA. 

Chinesische Konzerne kaufen sich weltweit in Firmen ein, darunter auch gezielt in Europa9. Während die staatlichen Konzerne vor allem politisch-strategisch einkaufen, z.B. ausländische Rohstoffunternehmen, kämpfen private Unternehmen aus China wie Wanda, Geely, Alibaba oder der Deutsche-Bank-Aktionär HNA laut einer Einschätzung des Manager-Magazins „aggressiv” um „Brands (Marken, Anm. d. Red.), Marktanteile und Technologie”10. Chinesische Investoren gelten in der Kapitalbeteiligungsbranche als langfristig orientiert und sind daran interessiert, unternehmerische Abläufe und Geschäftsmodelle ebenso zu lernen wie die technischen Entwicklungen. 

In den sehr wichtigen Schlüsselsektoren für die zukünftige Entwicklung der Weltwirtschaft – Internet, Digitaltechnik, Daten – bauen die chinesischen Technologiefirmen, darunter der Online-Händler Alibaba und Tencent (der Betreiber des What‘s App-Konkurrenten WeChat) ihre Stellung zur Zeit massiv aus. Sie profitieren dabei von der staatlichen Abschottungspolitik gegenüber US-Monopolen wie Google und Facebook ebenso wie vom staatlich organisierten ungehinderten Zugriff auf die Daten von 1,4 Milliarden Menschen im Land 11. Auf der Grundlage dieser Wirtschaftspolitik will China bis 2030 auch die weltweite Führerschaft im Bereich der künstlichen Intelligenz erzielen12. Die Führerschaft in den zehn wichtigsten Schlüsselsektoren der Industrie ist das erklärte Ziel der Strategie „Made in China 2025”. Bei Elektroautos rief das Handelsblatt China schon zur „Weltmacht” aus13. Ein China-Kenner fasste es in der Wirtschaftspresse so zusammen: „China klettert mit Riesenschritten die Wertschöpfungsleiter empor und macht der deutschen Wirtschaft in ihrem Kern Konkurrenz – bei der Produktion technologisch hochwertiger Güter. (…) Bei dem derzeitigen Entwicklungstempo (…) wird China uns in spätestens zehn Jahren in nahezu allen Zukunftsbranchen überholt haben. Schon heute liegen wir hier teilweise hinten.”14

Man könnte zugespitzt sagen, dass die ökonomische Entwicklung auf der Welt auf einen Zweikampf zwischen chinesischem und US-amerikanischem Kapital hinausläuft, während Indien auf Platz 3 strebt und die europäischen kapitalistischen Staaten und Japan vor allem ihre Stellung verteidigen müssen. Das Wort vom Handelskrieg wurde mit dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump offiziell salonfähig. Die Trump-Regierung hat auch in der Praxis mit der Erhebung von Strafzöllen wichtige Schritte hin zu einer protektionistischen Politik eingeleitet. Das Ganze findet übrigens vor dem Hintergrund massiver gegenseitiger Abhängigkeit statt: China besitzt amerikanische Staatsanleihen im Wert von mehr als einer Billion Dollar und ist damit weltweit der größte Gläubiger der USA außer der US-Notenbank15 – eine Verbindung durch chinesischen Kapitalexport, die beiden Seiten Macht über den anderen verleiht. 

Den ökonomischen Aufstieg treibt der chinesische Staat durch die Schaffung von internationalen Institutionen voran, die sehr direkt die US-Hegemonie angreifen. Dazu gehört die BRICS-Vereinigung (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) ebenso wie die 2014 als Gegenentwurf zum US-geführten IWF gegründete Asiatische Infrastrukturinvestmentbank (AIIB), an der auch Deutschland sein Beitrittsinteresse bekundet hat. Die „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit” (SOZ), die vor allem der „sicherheitspolitischen Zusammenarbeit” ihrer Mitgliedstaaten China, Russland, Usbekistan, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und (seit 2017) Indien und Pakistan dienen soll, dürfte das Bündnis mit Russland ebenso gestärkt haben wie den geopolitisch sehr wichtigen Einfluss Chinas in Zentralasien. 

Das zentrale geostrategische Projekt Chinas ist jedoch die „Initiative Neue Seidenstraße”, mit der das Land den gesamten eurasischen Wirtschaftsraum für sich erschließen will. Das Projekt beinhaltet Straßenbauprojekte ebenso wie Hochgeschwindigkeitszugstrecken und Häfen und soll ein Investitionsvolumen von bis zu 900 Milliarden Dollar umfassen. Analysten sprechen von einer Größe der Iniative, die selbst die Rolle der G7 oder der G20 in den Schatten stellen könnte16. Überspitzt könnte man sagen: Während wir in den vergangenen zwei Jahrzehnten vor allem von gescheiterten Pipeline-Projekten des Westens in Zentralasien und dem Mittleren Osten gelesen haben (wie z.B. dem „Nabucco”-Projekt), rollt bereits seit 2012 der Güterverkehr auf direkter Strecke zwischen Duisburg und Chongqing und chinesische Bagger rücken in Richtung Kasachstan vor…

Nicht zuletzt plant China den Aufbau einer „Armee von Weltklasse”, wie es Präsident Xi Jinping anlässlich des 90. Jahrestags der Gründung der Volksbefreiungsarmee ausdrückte17. Das Land, das bereits seit Jahrzehnten über Atomwaffen verfügt, baut gerade insbesondere seine Marine (Flugzeugträger, U-Boote) und Luftwaffe (Tarnkappenbomber) aus und hat im Juli 2017 seine erste ausländische Militärbasis im ostafrikanischen Dschibuti eröffnet, von der aus die Marineeinsätze vor den Küsten Jemens und Somalias versorgt werden sollen. Mit Rüstungsausgaben von 215 Milliarden Dollar jährlich (Stand: 2016) liegt China ebenfalls auf Platz zwei hinter den USA (611 Milliarden Euro) und vor Staaten wie Russland, Saudi-Arabien, Indien und Frankreich, die sich im Bereich von 55 bis 70 Milliarden Dollar bewegen18

Neuralgische Punkte auf
der eurasischen Landkarte

Um seinen Status als Weltmacht zu verteidigen, ist der US-Imperialismus erheblich daran interessiert, ein Zusammengehen seiner großen eurasischen Konkurrenten – Europa (insbesondere Deutschland, Frankreich), Russland und China – zu verhindern. Das transatlantische Bündnis zwischen den USA und den europäischen NATO-Staaten ist daher seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 ergänzt und geprägt von einer Politik der aggressiven militärischen Einkreisung Russlands (z.B. durch die schrittweise Osterweiterung der NATO durch Aufnahme Polens, Tschechiens und Ungarns (1999), Bulgariens, Estlands, Lettlands, Litauens, Rumäniens, der Slowakei und Sloweniens (2004), Albaniens und Kroatiens (2009) und Montenegros (2017)).  Gleichzeitig ist die Bündnispolitik der USA in der Westpazifikregion insbesondere mit Japan und Südkorea, aber auch Indonesien, den Philippinen und anderen Staaten darauf ausgerichtet, Chinas Entwicklung zu hemmen und den eigenen Einfluss in diesem Gebiet aufrechtzuerhalten. 

Vor diesem Hintergrund und infolge des dynamischen Kräfteverhältnisses zwischen allen imperialistischen Staaten haben sich in den letzten Jahrzehnten in Eurasien drei Regionen mit neuralgischen Punkten herausgebildet, an denen die Interessen verschiedener Mächte direkt miteinander kollidieren und teilweise in Kriege umgeschlagen sind: Das ist erstens die Region Osteuropa, vom Baltikum bis hinunter zum Balkan, und dort speziell die Ukraine, in deren Osten die pro-westliche ukrainische Armee mit der Hilfe von Milizen seit 2014 einen konventionellen Krieg gegen Separatisten führt, die inoffiziell von russischen Soldaten unterstützt werden. Letztlich stehen sich hier also die NATO und Russland gegenüber. Das ist zweitens der Mittlere Osten/Westasien, seit Jahrzehnten Schauplatz blutiger Kriege und imperialistischer Interventionen, und dort heute speziell Syrien – mit einer Vielzahl von lokalen (syrisches Regime, kurdische Befreiungsbewegung), regionalen (Türkei, Iran, djihadistische Milizen) und internationalen Akteuren (USA, Russland). Das ist drittens die Region Ostasien, mit einer ganzen Reihe von Konfliktpunkten, die bislang unterhalb der Schwelle offener Kriege geblieben sind, jedoch ein beträchtliches Eskalationspotential bis hin zum Ausbruch eines Weltkriegs bieten. Auch hier gibt es eine Vielzahl von Akteuren mit jeweils eigenen Interessen (China, Indien, USA, Japan, Südkorea, Nordkorea). 

Verschiebung des geopolitischen Kraftzentrums nach Osten

Im Jahr 2011 erklärte die damalige US-Außenministerin Clinton das 21. Jahrhundert zum „pazifischen Jahrhundert” und formulierte die strategische Ausrichtung der neuen Außenpolitik der Obama-Regierung – hier in einem Beitrag der Zeitschrift „Internationale Politik”: „Zu unseren vornehmlichen Aufgaben wird es gehören, mehr ökonomische, diplomatische und strategische Ressourcen auf den asiatisch-pazifischen Raum zu lenken. Diese Region ist zu einem Motor der Weltpolitik geworden. Sie umfasst zwei Ozeane, den pazifischen und den indischen, die strategisch und über ihre Schifffahrtsrouten immer stärker miteinander verbunden sind. Dort lebt fast die Hälfte der Weltbevölkerung; dort befinden sich einige der wichtigsten Schwungräder der Weltwirtschaft, die größten Produzenten von Treibhausgasen, einige unserer wichtigsten Verbündeten und aufstrebende Mächte wie China, Indien und Indonesien. Nun, da die Region eine ausgereiftere Sicherheits- und Wirtschaftsarchitektur errichtet, um Stabilität und Wohlstand zu schaffen, ist unser Engagement dort entscheidend.”19 Bis ins 19. Jahrhundert hinein war die gesellschaftliche Entwicklung in Europa weltweit die dynamischste. Während dort auf die griechische und römische Sklavenhaltergesellschaft der Feudalismus und der Kapitalismus folgten und im Zuge dieser Entwicklung der Produktionsweisen Revolutionen stattfanden und niedergeschlagen wurden, sowie verschiedene Weltreiche entstanden und wieder zerfielen, brachten die asiatischen Völker u.a. aufgrund geographischer Besonderheiten etwas andere Typen von Produktionsweisen hervor. Diese zeichneten sich u.a. durch die Abwesenheit des privaten Grundeigentums und verhältnismäßig starke Zentralstaaten mit stark ökonomischen Funktionen aus20. Die Entwicklung der Warenproduktion wurde in diesen Gesellschaften tendenziell gehemmt und der Kapitalismus schließlich vor allem durch die englischen Kolonialisten gewaltsam in weiten Teilen Asiens eingeführt. Dies führte u.a. zu einem zeitweisen Niedergang Chinas, das vorher jahrtausendelang das dominierende Reich in Ostasien gewesen war. Auf lange Sicht geschah jedoch etwas, womit die Kolonialherren im 19. Jahrhundert nicht gerechnet hatten: Das Zusammenbringen des Kapitalismus mit den riesigen Bevölkerungen Asiens führt heute sichtbar zur Verlagerung des weltweiten Kraftzentrums nach Osten. Es liegt auf der Hand, dass ein Land wie China mit einer Jahrtausende zurückreichenden Hochkultur und mit einer Bevölkerung von 1,4 Milliarden eine ganz andere wirtschaftliche Kraft als ein Deutschland mit bescheidenen 80 Millionen Menschen entfalten wird, wenn es die Kontrolle über international konkurrenzfähige Monopole hält und einmal das entsprechende Produktivitätsniveau erreicht hat (und es ist gerade mitten dabei, wie oben gesehen!). Hinzu kommt, dass China unter dem Etikett des „Sozialismus chinesischer Prägung” eine Form des Kapitalismus entwickelt hat, bei der die herrschende Klasse Elemente aus verschiedenen Produktionsweisen (asiatische Produktionsweise, Sozialismus, Kapitalismus) für den eigenen Aufstieg zur imperialistischen Weltmacht strategisch nutzt: Darunter den orientalischen Staat, der nach wie vor der Eigentümer zahlreicher wichtiger Betriebe ist, die wirtschaftliche Entwicklung plant und das gesellschaftliche Leben von oben herab bürokratisch steuert, oder aber die Zellen der „Kommunistischen Partei” in den chinesischen Betrieben (inklusive den Joint-Ventures mit ausländischen Firmen). 

Denkt man die heutige Entwicklung also einfach linear weiter, wird China die USA in ein paar Jahrzehnten als Weltmacht ablösen. Indien wird nachziehen und Japan möglicherweise hinter sich lassen, während das ganze kapitalistische Europa dasselbe Schicksal ereilt, das England schon heute erlebt: Ein verfallenes und abgeschlagenes ehemaliges Weltreich ohne geopolitische Machtoptionen zu werden21.

Eine solche lineare Entwicklung würde aber voraussetzen, dass alle beteiligten Staaten sich ihr mehr oder weniger fügen. Das Gegenteil ist aber der Fall – es gibt eine ganze Reihe von Ländern, die diese Entwicklung zu ihren eigenen Gunsten verhindern wollen: 

Deutschland betreibt den Aufbau der Europäischen Union in dem Wissen, dass ein möglichst fester Zusammenschluss mit anderen europäischen Staaten seine einzige Chance ist, ein “geostrategischer Spieler” zu bleiben. Dasselbe gilt, trotz gegenseitiger Konkurrenz, für Frankreich. 

Die USA wollen Chinas Macht ebenso eindämmen wie einen Wiederaufstieg Russlands, das als Bündnispartner militärisch und in Hinblick auf natürliche Ressourcen den Aufstieg Chinas beschleunigen könnte. Neben der militärischen Einkreisung und möglichen Versuchen, einzelne zentralasiatische Staaten von Russland und China abzuwenden, könnten die USA oder andere Konkurrenten geographische und vor allem ethnische Schwachstellen ausnutzen: In China sind das vor allem Tibet und die im Nordwesten lebenden Turkvölker (Uiguren). China, dessen größter Bevölkerungsteil sich auf die Gebiete östlich und südlich der Gebirgsregionen konzentriert, versucht seine Kontrolle über die tausende Kilometer entfernten, strategisch aber sehr wichtigen Gebiete im Westen und Nordwesten (Tibet, Xinjiang) durch den Bau von Straßen und Schienennetzen, die Ansiedlung von Han-Chinesen und die militärische Besetzung zu sichern. 

Japan wiederum hat eigene Weltmachtambitionen. Der Inselstaat unterhält enge wirtschaftliche Beziehungen mit China, ist geopolitisch aber, ebenso wie Indien dessen direkter Konkurrent. Die militärische Allianz mit den USA wird im Falle Japans durch etwa 47.000 dort stationierte US-Truppen gesichert, die zusammen mit 28.500 US-Truppen in Südkorea und 5650 auf der westpazifischen Insel Guam die strategischen Basen Amerikas in der Region bilden (von Guam aus starteten die USA z.B. ab 1944 die Luftoffensive im Zweiten Weltkrieg gegen Japan, später flogen von dort Bomber nach Korea und Vietnam). 

Zu diesen Akteuren kommt noch eine ganze Reihe an weiteren Staaten Ost-, Süd- und Südostasiens mit eigenen Interessen: Das sind Russland, Nord- und Südkorea, Taiwan, im Norden an China grenzend die dünn besiedelte Mongolei, im Süden Vietnam, Laos und Myanmar, Thailand, Kambodscha und Malaysia, die Philippinen, die aufstrebende Regionalmacht Indonesien, Osttimor und die Rentierstaaten Singapur und Brunei, sowie zwischen Indien und China noch Bhutan, Nepal, Bangladesch und im Westen Pakistan. 

In all diesen Staaten gibt es darüber hinaus Klassenauseinandersetzungen, die der regionalen Entwicklung eine andere Richtung geben können.

Die aktuellen Konflikte in Ostasien seien vor diesem globalen Hintergrund im folgenden kurz dargestellt.

Indisch-chinesische Grenze

Ein Konflikt, der in Europa kaum wahrgenommen wird, ist der schon Jahrzehnte alte Grenzkonflikt zwischen Indien und China in der Himalaya-Region, der erst im vergangenen Jahr wieder zu einer Zuspitzung zwischen beiden Staaten am Pangong-See in Ladakh und im Hochplateau von Doklam geführt hat22. Dort hatte China mit Arbeiten an einer strategischen Straße durch Bhutan begonnen, das wirtschaftlich und militärisch eng mit Indien verbunden ist. Seit dem vergangenen Jahr haben beide Staaten rund um das Grenzgebiet aufgerüstet23

Der Grenzstreit in der Region ist schon Jahrzehnte alt. 1962 hatten chinesische Truppen die Grenze zu Indien überquert und die Truppen des Nachbarlandes in einem einmonatigen Krieg besiegt. Schon vorher war der genaue Verlauf der Grenzlinie zwischen beiden Staaten umstritten und ist bis heute nicht völkerrechtlich verbindlich und abschließend geregelt. 

Es geht bei dem Konflikt um strategische Positionen: Mit der Straße durch Bhutan wären chinesische SoldatInnen 50 Kilometer an den Siliguri-Korridor herangerückt: Einen schmalen Streifen zwischen Nepal, Bhutan und Bangladesch, der die einzige Verbindung zwischen dem indischen Kernland und sieben nordöstlichen Bundesstaaten des Landes bildet, von denen einer, der Staat „Arunachal Pradesh”, auch von China beansprucht wird („Süd-Tibet”). China hätte damit also eine Position erworben, die es ihm vereinfachen würde, im Kriegsfall Indien von einem Teil seines Staatsgebietes abzutrennen24. Das nördlich der Grenze gelegene, dünn besiedelte Tibet bildet wiederum für China einen wenig erschlossenen, natürlichen geographischen Schutz, den vom Süden oder Westen heranrückende feindliche Truppen erst einmal durchqueren müssten, um in das dicht besiedelte chinesische Kernland vorzudringen25. Darüber hinaus entspringen im Hochland von Tibet einige wichtige Flüsse wie der Jangtsekiang, die das Gebiet für die Wasser- und Nahrungsmittelversorgung Chinas wichtig machen. 

Der indisch-chinesische Konflikt vermischt sich darüber hinaus mit dem indisch-pakistanischen: China will im Rahmen seiner Seidenstraßen-Initiative rund 60 Milliarden Dollar in den „China-Pakistan Economic Corridor” (CPEC) investieren, der das islamische Pakistan, den Erzfeind Indiens, ökonomisch, politisch und militärisch stärken würde. Der Korridor soll zudem durch das zwischen Indien und Pakistan umkämpfte Kaschmir führen. 

Die „Seidenstraßen”-Initiative dient China nicht zuletzt dazu, seinen Vorsprung gegenüber dem geopolitischen Konkurrenten Indien auszubauen, dessen Aufstieg zu hemmen und seinen eigenen Einfluss in der Region bis zum Indischen Ozean zu zementieren: „Das Seidenstraßenprojekt (…) macht (Indien) nicht nur wegen Pakistan zu schaffen. Sie fühlen sich regelrecht umzingelt. Seit Langem beunruhigt sie Chinas ‚Perlenkette‘ von Stützpunkten entlang der wichtigsten Seewege, vor allem in der Nähe der beiden Flaschenhälse, der Straße von Malakka und der Straße von Hormus. So haben die Chinesen in Myanmars Kyaukpyus und Bangladeschs Chittagong Tiefseehäfen gebaut, die sich militärisch nutzen ließen. Sie haben sich in Sri Lanka eingenistet, wo sie einen Großflughafen und den militärfähigen Hafen Hambantota im Süden der Insel in den Dschungel setzten. Ferner haben sie im westpakistanischen Gwadar einen Tiefseehafen erbaut, dessen Kontrolle sie sich für 40 Jahre sicherten. ‚Der Drache hat den Indischen Ozean erreicht‘, schrieb schockiert die India Times, als chinesische U-Boote 2014 zum ersten Mal in Sri Lanka andockten.”26 Indien reagiert darauf bislang mit einer Annäherung an die USA und einer Verstärkung der militärischen Zusammenarbeit mit Australien, Japan sowie Chinas südlichem Nachbarn Vietnam. 

Auch die Versuche des westlichen Imperialismus, einen Regimewechsel in Myanmar, das traditionell mit China verbunden ist, herbeizuführen – erst durch das Pushen der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi und dann, als das nicht die gewünschten Ergebnisse brachte, durch das Anheizen des ethnischen Konflikts der muslimischen Rohingya mit der Zentralregierung – sind in diesem geopolitischen Zusammenhang als Teil einer Eindämmung der chinesischen Expansion zu verstehen.

Meeresgebiete rund um China

China besitzt eine 9000 Kilometer lange Küstenlinie, die an das Gelbe Meer, das Ostchinesische und das Südchinesische Meer grenzt. Erhob das Land historisch lediglich Anspruch auf die küstennahen Gewässer in diesen Regionen, ist die Kontrolle über größere Meeresgebiete heute allein schon wegen seiner Exportabhängigkeit dringend notwendig für China27. Durch das Südchinesische Meer, das zwischen China, Vietnam, Malaysia und den Philippinen liegt, verläuft die wichtigste Seehandelsroute der Welt. 30 Prozent des Welthandelsvolumens von ca. 19 Billionen Dollar werden durch dieses Gebiet transportiert28. Der Konflikt zwischen den Anrainerstaaten konzentriert sich auf die Spratly- und Paracel-Inseln sowie das Scarborough-Riff. Bereits 2012 wäre es beinahe zum Krieg zwischen China und Vietnam gekommen, nachdem sich Kriegsschiffe beider Seiten ein kurzes Gefecht nahe dem Scarborough-Riff geliefert hatten. Im Jahr 2015 legte China künstliche Inseln in der Nähe der Spratly-Inseln an und errichtete dort militärische Außenposten mit Hafenanlagen und Landebahnen. Die USA reagierten mit der demonstrativen Entsendung eines Zerstörers in die Gegend. 

Einen ähnlich gelagerten Streit führen China und Japan um die Senkaku-Inseln im Ostchinesischen Meer, die an vermutete Gas- und Ölvorkommen grenzen. Die unbewohnten Inseln stehen faktisch unter japanischer Verwaltung. Erst im Januar schickte China ein atombetriebenes U-Boot in die Gegend, was zu Spannungen zwischen beiden Staaten führte. Von Südkorea beansprucht China zudem den ebenfalls im Ostchinesischen Meer liegenden Socotra-Fels. 

Bei der Erweiterung seiner maritimen Einflussgebiete geht es China nicht nur um die wirtschaftliche, sondern vor allem um die direkte militärische Dimension. Neben der geographisch ungeschützten Südgrenze mit Myanmar, Laos und Vietnam29 bildet die Küste Chinas verwundbarste Grenze. Angesichts der bis heute fortbestehenden Marine-Übermacht der USA ist Chinas strategisches Interesse darauf gerichtet, im Kriegsfall seinen Zugang zum Pazifik zu erhalten. Dafür will es die Inselgebiete rund um die Gewässer zu natürlichen Schutzringen machen. 

Die Londoner Wirtschaftszeitung „The Economist” fasste die militärische Dimension des chinesischen Meeresproblems in einem Spezialreport über die „Zukunft des Krieges” kürzlich dahingehend zusammen, dass die Siebte US-Flotte sogenannte „Freedom of navigation“-Operationen im Südchinesischen Meer abhält, um zu demonstrieren, dass Amerika keine chinesischen Ansprüche oder Aktionen in der Region akzeptieren wird, die seine nationalen Kerninteressen oder die seiner Verbündeten bedrohen. China für seinen Teil plane die Entwicklung seiner A2/AD-Kapazitäten30 (vor allem langreichweitige Anti-Schiff-Raketen und eine Marine mit Schiffen und U-Booten auf dem neuesten Stand der Technik), um die US-Navy zuerst hinter eine „erste Inselkette“ zu drücken und es schließlich zu gefährlich für sie zu machen, innerhalb einer „zweiten Inselkette“ zu operieren (s. Karte). Obwohl keiner dieser Züge unmittelbar bevorstehe, habe China bereits große Fortschritte erzielt und im Falle einer erneuten Taiwan-Krise würden die USA es heute – im Gegensatz zu 1996 – nicht mehr wagen, eine Flugzeugträger-Kampfgruppe durch die Straße von Taiwan zu schicken. Das Risiko für einen großen Konflikt des Westens mit China sei zwar geringer als mit Russland, aber nicht vernachlässigbar…31

Koreanische Halbinsel

Der koreanische Konflikt wiederum ist ein Überbleibsel des Kalten Krieges, das sich aufgrund des besonderen Aufeinandertreffens der Einflusssphären verschiedener Mächte auf der Halbinsel in bemerkenswerter Weise bis heute konserviert hat. Dazu gehört allein schon die Fortexistenz der 

Demokratischen Volksrepublik Korea” (DVRK) im Norden, die als letzter verbliebener Staat des sich auf den Sozialismus beziehenden Lagers in Asien (neben China und Vietnam) in annähernder Isolation und unter massiver Bedrohung eine ganz eigentümliche Gesellschaftsformation hervorgebracht hat: Augenscheinlich wohl ein dem klassischen orientalischen Despotismus verwandter Staat, in dem die herrschende Klasse mit der Bürokratie zusammenfällt, mit einer Familiendynastie an der Spitze, einer dezidiert nationalistischen Ideologie („Dschudsche”) und einiger sozialistischer Folklore. Die schrittweise Privatisierung, die China und Vietnam schon vor Jahrzehnten vorgenommen haben, geht hier erst seit wenigen Jahren und sehr vorsichtig voran. Während der Lebensstandard in der Hauptstadt Pjöngjang für staatliche Bedienstete recht passabel zu sein scheint32, ist das politische und ökonomische Hauptproblem der Staatsführung neben der Abwehr der äußeren Bedrohung die kontinuierliche Sicherung der Nahrungsmittelversorgung des Landes, das nur über überschaubare landwirtschaftliche Anbauflächen verfügt33 (die prekäre Lage des Agrarsektors steht übrigens im Gegensatz zur relativ gesicherten Energieversorgung). Zahlreichen Berichten zufolge ist die nordkoreanische Führung sehr erfahren und erfinderisch im Managen der andauernden wirtschaftlichen Blockadesituation. Neben den offiziellen Handelsbeziehungen, die vor allem mit China stattfinden, verdient das Land u.a. am organisierten digitalen Bankraub und am Schmuggel z.B. von Restbeständen sowjetischer Waffentechnik34, die auch die Basis des eigenen Raketenprogramms bildet.

Die Existenz Nordkoreas wird durch Südkorea, Japan und die USA bedroht. Nord- und Südkorea befinden sich seit 1953 offiziell im Waffenstillstand. Der Koreakrieg zwischen beiden Staaten zu Beginn der 1950er Jahre – in den die USA zugunsten des Südens intervenierten und der mehrere Millionen Menschen das Leben kostete – dauert formal also bis heute an. Zuvor war Korea vom Beginn des 20. Jahrhunderts an bis 1945 von Japan besetzt. Der nordkoreanische Staat ist aus dem antijapanischen Befreiungskrieg entstanden und 1948, damals unter sowjetischer Besatzung, gegründet worden. 

Angesichts der Umzingelung u.a. von gut 81.000 US-Truppen in der Region hält Nordkorea mit 1,2 Millionen Soldaten und 5,7 Millionen Reservisten heute eine der größten Armeen der Welt. In den Gebirgsregionen im Norden des Landes befinden sich umfangreiche Bunkeranlagen. Experten sind sich einig, dass Nordkorea in der Lage wäre, im Falle eines Krieges die südkoreanische Hauptstadt Seoul, die sehr weit nördlich in der Nähe der Grenze liegt, mit Artilleriefeuer dem Erdboden gleichzumachen und auch Japan massiv anzugreifen. 

Das alles zusammengenommen dürfte einen Eroberungskrieg selbst für eine US-Armee im Bündnis mit südkoreanischen und japanischen Truppen und selbst im (unwahrscheinlichen) Falle einer Neutralität Chinas alles andere als einfach machen. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde vielmehr ein langwieriger Krieg mit Millionen Toten (davon zehntausenden US-Soldaten) die Folge sein. 

Um seine Bestandsgarantie durchzusetzen, verfolgt Nordkorea jedoch schon seit Anfang der 1990er Jahre zusätzlich zum Unterhalt seiner regulären Armee ein eigenes Atomprogramm, bei dem es in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte erzielt hat. Seit den letzten Tests ist nicht mehr auszuschließen, dass atomar bestückte nordkoreanische Interkontinentalraketen bereits das Festland der USA erreichen könnten. Allem Anschein nach hat der erfolgreiche Verlauf der Atom- und Raketentests die US-Regierung nun gezwungen, diplomatisch auf Nordkorea zuzugehen, nachdem die USA noch im April 2017 ein neues Raketenabwehrsystem im Süden installiert und im selben Jahr gemeinsame Militärmanöver mit Südkorea und Japan abgehalten hatten. Gleichzeitig ist der Norden rund um die Olympischen Winterspiele im südkoreanischen Pyeongchang gegenüber Südkorea in die diplomatische Offensive gegangen. 

Eine dauerhafte Lösung der Situation auf der koreanischen Halbinsel ist angesichts der komplizierten Interessenlage der beteiligten Akteure trotzdem kaum denkbar:

Während der nordkoreanische Staat naturgemäß seine Weiterexistenz anstrebt, ist China daran interessiert, das Land als „Puffer” zwischen der eigenen Grenze und den US-Truppenbasen in Südkorea zu erhalten (dasselbe gilt im Prinzip für Russland, das ebenfalls an Nordkorea grenzt). Andererseits wirkt der permanente Unruheherd in Korea gleichzeitig hemmend auf Chinas sonstige geostrategische Aktivitäten – man nehme allein die ständige akute Belastung der Beziehungen zu Amerika und Japan aufgrund der Krise. Eine Wiedervereinigung Koreas unter amerikanischer und / oder japanischer Kontrolle muss aus der Sicht Chinas auf jeden Fall verhindert werden.  

Für Japan hingegen ist die bloße Existenz Nordkoreas ein Hemmnis für die eigenen Ambitionen in der Region: Will der Inselstaat eines Tages, wie schon im 20. Jahrhundert, Eroberungsfeldzüge auf dem asiatischen Kontinent starten, muss er seine Truppen über die koreanische Halbinsel schicken. Nordkorea ist dort im Weg. Ein Verschwinden dieses Staates würde zudem die latente Bedrohung japanischer Städte durch einen möglichen Raketenbeschuss beenden, die jedes aggressive Manöver Japans – einschließlich eines Kriegs in der jetzigen Situation – hochriskant macht. 

Die USA wiederum haben ein zwiespältiges Interesse. Einerseits verleiht schon die bloße Existenz Nordkoreas der Autorität des US-Imperialismus als Weltmacht in der pazifischen Region einen sichtbaren Kratzer. Ein bis an die Zähne bewaffnetes feindliches Land widerspricht schon bei rein regionaler Betrachtung massiv den strategischen Interessen der USA. Eine Situation, in der ein atomar bewaffnetes Nordkorea im Prinzip amerikanische Städte mit Raketen angreifen könnte, ist aus Sicht der USA in jedem Fall zu verhindern. Gleichzeitig wollen die USA jedoch Veränderungen in der Region vermeiden, welche die Präsenz der eigenen Truppen in Südkorea in Frage stellen könnten. Zbigniew Brzezinski fasste im Jahr 1997 die komplexe regionale Situation, die sich bis heute im Prinzip nicht geändert hat, wie folgt zusammen: „(…) die Beibehaltung der amerikanischen Präsenz in Südkorea wird besonders wichtig. Ohne sie ist es schwer, sich die Beibehaltung des amerikanisch-japanischen Verteidigungsarrangements in seiner gegenwärtigen Form vorzustellen, denn Japan müsste militärisch selbstständiger werden. Aber jede Bewegung in Richtung einer koreanischen Wiedervereinigung wird wahrscheinlich die Basis für die weitere US-Militärpräsenz in Südkorea stören. Ein wiedervereinigtes Korea könnte sich aussuchen, den amerikanischen militärischen Schutz nicht zu verlängern; das könnte in der Tat der Preis sein, den China dafür verlangt, sein entscheidendes Gewicht für eine Wiedervereinigung der Halbinsel in die Schale zu werfen. Kurz gesagt, das Management der USA seiner Beziehung zu China wird unvermeidlich direkte Folgen für die Stabilität der amerikanisch-japanisch-koreanischen Dreiecks-Sicherheitsbeziehung haben.” 35

Ohne das Bündnis mit Japan und Südkorea würden die USA in Ostasien und damit an einem der neuralgischen Punkte auf dem eurasischen Kontinent massiv an Einfluss verlieren, was ihre Position als Weltmacht bedrohen würde. Bei der Korea-Krise geht es für die USA im Endeffekt also um genau dieses strategische Dilemma. Das instabile Gleichgewicht der letzten 25 Jahre, das für den US-Imperialismus vor diesem Hintergrund noch “händelbar” war, kippt mit der atomaren Bewaffnung Nordkoreas. Die Atomwaffen, die Nordkorea als Bestandsgarantie benötigt, sind aus Sicht der USA eine rote Linie. Während alle Beteiligten am liebsten den Status Quo aufrecht erhalten würden, führen ihre subjektiven Anstrengungen genau zum Gegenteil. Alle Beteiligten wollen eigentlich zwar keinen Krieg. Die Dynamik des Konflikts scheint aber genau darauf hinauszulaufen: „Je näher Nordkorea der Fähigkeit kommt, langreichweitige Raketen abzufeuern, desto stärker wird der Druck auf die Vereinigten Staaten, zu agieren.”36

Nicht zuletzt stellen die amerikanischen Drohungen mit einer – so wörtlich – „Vernichtung des nordkoreanischen Volkes” auch eine Drohung gegenüber Südkorea dar. Die Aufrechterhaltung der regionalen „Dreiecks-Sicherheitsbeziehung” bedeutet aus Sicht der USA eben auch, südkoreanische Alleingänge hin zu einer friedlichen Einigung mit Nordkorea (und China) zu verhindern, bei denen die amerikanische Truppenpräsenz dort infrage gestellt werden könnte. Genau darauf scheint der Norden zu setzen. Dabei kann er sich der stillschweigenden Zustimmung von China und Russland sicher sein. Beide hätten sicher nichts dagegen, wenn der imperialistsche Konkurrent USA seine Truppen von der koreanischen Halbinsel abziehen müsste. 

Diese Gefahr besteht aus Sicht der USA aber gerade deshalb, weil ein weiterer Machtfaktor in der Region auf den Plan getreten ist, der die ganze Gemengelage dort noch einmal kräftig durcheinanderbringen könnte: Das ist die starke, antimilitaristische südkoreanische ArbeiterInnenbewegung, die Ende 2016 eine wesentliche Rolle bei der mehrere Millionen Menschen umfassenden Massenbewegung zur Absetzung der reaktionären Regierung Park gespielt hat37. Eine Bewegung, die eine Regierung zu Fall bringen kann, kann aber auch noch mehr: Zum Beispiel gegen die US-Militärpräsenz kämpfen, was auch schon geschieht. Wenn man die regionale, ja weltweite Signalwirkung mit einbezieht, die ein Sieg der koreanischen ArbeiterInnenbewegung in dieser Frage auslösen würde, wird deutlich, warum die ArbeiterInnenklasse in Korea und anderen ostasiatischen Ländern, über deren Kampf man in den Medien hier nur am Rande etwas erfährt, nicht nur in der Theorie, sondern ganz praktisch der Hauptfeind der Imperialisten in der Region ist.

Das letzte Wort in der Koreafrage haben also die Arbeiterinnen und Arbeiter.

Klassenkämpfe in Ostasien

Und die südkoreanischen ArbeiterInnen sind nicht die einzige unterdrückte Klasse, die sich in Ostasien auflehnt. In Japan gibt es eine zwar kleinere, aber sehr entschlossene und politische ArbeiterInnenbewegung, die sich gegen die Aufstiegspläne des eigenen Imperialismus und die Kriegsdrohungen gegen Korea wendet38. Und auch in China stehen die ArbeiterInnen auf: Der aufstrebende chinesische Imperialismus, der von einer angeblich “kommunistischen” Partei angeführt wird, ist heute eines der Länder mit den meisten Streiks39. Nicht anders sieht es in Indien aus40, wo mit den „Naxaliten“ zudem eine maoistische Guerrilla seit den 1960er Jahren einen bewaffneten Krieg gegen den Staat führt. 

 Weitere Beispiele ließen sich aus Indonesien, den Philippinen, Pakistan und anderen Staaten der Region anführen. Die ideologischen Strömungen, die in den unterdrückten Klassen dieser Länder vorherrschend sind, mögen sehr unterschiedlich sein. Das gemeinsame Merkmal ist, dass hier reale Bewegungen entstehen und kämpfen, welche die Spielräume der imperialistischen Staaten einengen und ihre Herrschaft in Frage stellen.

Sie sind es, die wir auch in Europa zukünftig näher in den Blick nehmen müssen.

 

1 U.a. ist der in der Öffentlichkeit wenig bekannte weltgrößte Vermögensverwalter Blackrock an allen DAX-Konzernen beteiligt, z.B. als größter Aktionär der Deutschen Bank (vgl. H.J. Jakobs, „Wem gehört die Welt? Die Machtverhätltnisse im globalen Kapitalismus”, Knaus 2016)

2 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Militärbasen_der_Vereinigten_Staaten_im_Ausland

3 Berechnung des Internationalen Währungsfonds für 2016, siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Länder_nach_Bruttoinlandsprodukt

4 Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger kam in seinem Buch „World Order” bereits 2014 zu der Vorhersage: „Mit Indien, Japan und China, die alle von starken und strategisch orientierten Administrationen geleitet werden, erweitert sich der Spielraum sowohl für intensivierte Rivalitäten als auch für potenzielle kühne Entschlüsse.” (Kissinger, „World Order”, Penguin Books 2014, Übersetzung aus dem Englischen).

5 Wikipedia, Länder nach BIP (s.o.)

6 Ebd.

7 „China überholt USA bis 2032, Deutschland fällt 2027 zurück”: www.welt.de/newsticker/bloomberg/article171926188/China-ueberholt-USA-bis-2032-Deutschland-faellt-2027-zurueck.html

8 Neben den genannten vier chinesischen Banken liegen in den Top Ten fünf US-amerikanische Firmen (Berkshire Hathaway, JPMorgan Chase, Wells Fargo, Bank of America, Apple) und das japanische Unternehmen Toyota  (de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_größten_Unternehmen_der_Welt). Es muss hinzugefügt werden, dass dies nur eines von vielen prominenten Rankings ist, die sich untereinander durch die angelegten Kriterien (Umsatz, Marktkapitalisierung usw.) unterscheiden und zu erheblich anderen Ergebnissen kommen. Die Rangfolge bei Forbes Global 2000 errechnet sich aus einer Kombination von Umsatz, Nettogewinn, Aktiva und Marktwert.

9 „‘Der Wert der bekannt gewordenen Übernahmen und Beteiligungen chinesischer Investoren in Deutschland summiert sich 2017 auf 12,1 Milliarden Euro. Im Jahr zuvor waren es rund elf Milliarden’, sagt Christian Rusche vom IW (…). Die 12,1 Milliarden sind eine Rekordsumme und zeigen, dass die Chinesen gezielter auf Akquisitionen gehen.” (www.welt.de/wirtschaft/article172920126/Bund-will-chinesische-Beteiligungen-verhindern.html)

10 „Chinas zehn aggressivste Konzerne”: www.manager-magazin.de/lifestyle/artikel/china-wanda-alibaba-und-fosun-sind-chinas-aggressivste-firmenjaeger-a-1135962.html

11 „In China ersetzt das Handy mehr und mehr den PC, den Laptop, das Tablet, den Fernseher und sogar das Portemonnaie. In den Städten kann man fast alles mit dem Handy bezahlen. (…) In China sind sämtliche Apps mit der Handynummer der NutzerInnen und damit mit ihrer Identität verbunden. Das ermöglicht dem chinesischen Staat im Prinzip eine nahezu lückenlose Profilerstellung samt detailliertem Bewegungsprofil eines jeden Handynutzers.” (http://perspektive-online.net/2017/10/chinesischer-traum-kapitalistischer-alptraum)

12 „So will Peking den Kalten Krieg der KI gewinnen”: www.faz.net/aktuell/wirtschaft/kuenstliche-intelligenz/peking-richtet-industriepark-fuer-kuenstliche-intelligenz-ein-15372208.html

13 „China Weltmacht bei Elektroautos”: www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/zukunft-der-mobilitaet-china-weltmacht-bei-elektroautos/20863684.html

14 „Deutschland braucht eine richtige Fernostpolitik”: www.handelsblatt.com/my/meinung/gastbeitraege/gastbeitrag-von-stefan-baron-deutschland-braucht-eine-richtige-fernostpolitik/20916516.html

15 „Wie China den Dollar knacken will” (www.handelsblatt.com/finanzen/maerkte/devisen-rohstoffe/neue-weltordnung-china-hat-die-usa-in-der-hand/7202-126-2.html)

16 „China plant wirtschaftliches Mammutprojekt in Eurasien”, http://perspektive-online.net/2017/05/china-plant-wirtschaftliches-mammutprojekt-in-eurasien

17 „Xi Jinping will ‘Armee von Weltklasse’ aufstellen”: www.zeit.de/politik/ausland/2017-08/china-xi-jinping-armee-militaer-ausbau

18 de.statistica.com/statistik/daten/studie/157935/umfrage/laender-mit-den-hoechsten-militaerausgaben

19 „Amerikas pazifisches Jahrhundert”, Hillary Clinton: https://zeitschrift-ip.dgap.org/de/ip-die-zeitschrift/archiv/jahrgang-2012/januar-februar/amerikas-pazifisches-jahrhundert

20 Genauere Untersuchungen hierzu finden wir u.a. bei Marx in dem Artikel „Die britische Herrschaft in Indien” (MEW 9, S. 127) oder in den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie” (MEW 42, S. 383 ff.)

21 Brzezinski zählte Großbritannien schon bei der Niederschrift des „Großen Schachbrett”, also Mitte der 1990er Jahre und damit zwanzig Jahre vor dem Brexit-Referendum nicht mehr zu den „geostrategischen Playern”: „It has fewer major options, it entertains no ambitious vision of Europe’s future, and its relative decline has also reduced its capacity to play the traditional role of the European balancer. (…) London has largely dealt itself out of the European game.” (Zbigniew Brzezinski, „The Grand Chessboard”, Basic Books (1997), S. 42)

22 „Kalter Krieg im 21. Jahrhundert”: www.zeit.de/politik/ausland/2017-08/indien-china-konflikt-spannungen-5vor8

23 „China-India border tension: Satellite imagery shows Doklam plateau build-up”: www.bbc.com/news/world-asia-china-42834609

24 Auch die indische maoistische Guerrilla (Naxaliten) war in den vergangenen zehn Jahren unweit des Korridors aktiv.

25 „China’s Geography Problem”: www.youtube.com/watch?v=GiBF6v5UAAE

26 Kalter Krieg im 21. Jahrhundert”, s.o.

27 Stratfor: „China’s Geographic Challenge”, www.youtube.com/watch?v=H8uWoBtCkg8

28 „Der wichtigste Seeweg der Welt wird zum Faustpfand”: www.fazn.et/aktuell/politik/ausland/asien/suedchinesisches-meer-der-wichtigste-seeweg-der-welt-wird-zum-faustpfand-13894106.html

29 Diese Staaten verfügen immerhin zusammen über Armeen in einer Stärke von einer Million Soldaten.

30 „Anti Access / Area Denial”

31 „Pride and prejudice”, Economist v. 27.02.18

32 Siehe z.B. den Dokumentarfilm „Meine Brüder und Schwestern in Nordkorea”, www.daserste.de/information/reportage-dokumentation/dokus/sendung/meine-brueder-und-schwestern-in-nordkorea-100.html

33 Stratfor: North Korea’s Geographic Challenge, www.youtube.com/watch?v=85rvUc6SP0E

34 „North Korea’s Economy: How does Kim Jong-un’s communist state survive financially?”: www.standard.co.uk/news/world/north-korea-do-sanctions-really-hurt-kim-jonguns-regime-how-does-the-states-economy-survive-a3623071.html

35 „Das Große Schachbrett”, S. 54 f. (Übersetzung aus dem Englischen)

36 „A Rational Path Toward War?” – https://worldview.stratfor.com/article/rational-path-toward-war

37 Vgl. „Neue Gewerkschaften. Neue Aktivitäten. Neue Forderungen: Die südkoreanische Gewerkschaftsbewegung erstarkt wieder”: www.labournet.de/internationales/kroea-rep/gewerkschaften-in-suedkorea/neue-gewerkschaften-neue-aktivitaeten-neue-forderungen-die-suedkoreanische-gewerkschaftsbewegung-erstarkt-wieder/?cat=7510

38 „Tausende ArbeiterInnen demonstrieren in Tokio gegen Ausbeutung und Krieg”: https://perspektive-online.net/2017/11/tausende-arbeiterinnen-demonstrieren-in-tokio-gegen-ausbeutung-und-krieg

39 „Streiks in China: 465 kollektive Arbeitskämpfe im ersten Halbjahr 2017”: http://perspektive-online.net/2017/08/streiks-in-china-464-kollektive-arbeitskaempfe-im-ersten-halbjahr-2017

40 www.labournet.de/category/internationales/indien