Vor einigen Jahren gab es auf YouTube ein Video zu sehen, das einen bemerkenswerten Eindruck von Jürgen vermittelte. Der Filmausschnitt zeigte die Anti-G8-Demo in Rostock am 2. Juni 2007. An diesem Tag griff die Polizei die Demonstration – und vor allem kommunistische und antiimperialistische Kräfte – mit massiver Gewalt an. Im Video sind die heftigen Auseinandersetzungen in Teilen zu sehen. Es ist ein Hin und Her von unzähligen Menschen. Polizist:innen mit Helmen und Schlagstöcken, junge und ältere Demonstrant:innen, die sich teils entschlossen zur Wehr setzen, teils auf dem Boden liegen. Und mittendrin, etwa bei Minute 1, sieht man einen freundlichen älteren Herrn ganz gelassen durchs Bild marschieren. Was nicht im Film zu sehen ist: Ein aufgeregter junger Genosse war in diesem Chaos zu ihm gelaufen und hatte ihn gewarnt: „Jürgen, bring Dich in Sicherheit!“. Doch Jürgen, damals schon gut über 70, ließ sich durch die Situation nicht aus der Fassung bringen: „Jajaaa!“ war seine Antwort.

Die Episode in Rostock bringt viele Aspekte von Jürgens Persönlichkeit auf den Punkt: Ein überzeugter Kommunist, der sich leidenschaftlich gegen das kapitalistische System und seine Verbrechen engagierte. Ein zutiefst politischer Mensch, der selbst im hohen Alter noch ganz selbstverständlich zu unzähligen Aktionen, Montagsdemos, Versammlungen fuhr, bis hin zu solchen Großereignissen wie den G8-Protesten. Ein lebenserfahrener Genosse und Freund, der auch in schwierigen Situationen die Ruhe behielt und für viele Jüngere ein kluger Ratgeber und eine moralische Stütze war.

Dass sich Jürgen von einer Bande prügelnder Cops nicht in Panik versetzen ließ, verwundert nicht, wenn man seinen Lebensweg betrachtet. Geboren und aufgewachsen in Sachsen zur Zeit des Hitlerfaschismus, überlebte Jürgen im Februar 1945 als Elfjähriger die Bombardierung von Dresden. Später erzählte er manchmal, wie er sich aus der brennenden Stadt an die Elbe retten konnte. Als junger Mann siedelte er aus der DDR, wo er Werkzeugmacher geworden war, nach Westdeutschland über. Dort studierte er in Bonn Psychologie. Im „Roten Jahrzehnt“ der Siebziger Jahre schloss sich Jürgen der KPD/ML an. Wer die Geschichte der Partei kennt, weiß, wie viele ehemals aktive Genoss:innen sich später aus der Politik zurückgezogen oder sogar die Seiten gewechselt haben. Jürgen dagegen behielt seinen Parteistandpunkt ein Leben lang bei, auch wenn der Wind stark in eine andere Richtung wehte. Als sich ein Großteil der KPD/ML 1985 in die VSP auflöste, arbeitete Jürgen mit an der Reorganisierung der Organisation als KPD (Roter Morgen), bei der er auch nach einer Spaltung im Jahr 2002 aktiv blieb. Zuletzt unterstützte er den „Kommunistischen Aufbau“ mit Rat und Tat. Jürgen war kein ideologischer Scharfmacher, der sich auf theoretische Debatten konzentrierte. Aber er hatte klare Prinzipien, eine eigene Meinung, war inhaltlich kenntnisreich und vielfältig interessiert – was man nicht zuletzt an seiner großen Bibliothek sehen konnte. Wahrscheinlich kann man ihn als Kommunisten am besten mit dem Begriff des „Parteiarbeiters“ beschreiben: Unermüdlich aktiv für die Sache, mit einem großen Engagement für die Einheit und das Fortkommen der Bewegung, auch bei heftigen Rückschlägen seinen Mut und Optimismus nicht verlierend. Und dabei immer mit einem großen Herz und Gehör für seine Genoss:innen und ihre Probleme. Jürgen konnte im fortgeschrittenen Alter zwar nicht mehr so gut hören, dafür aber umso besser zuhören. Dank seiner herzlichen Art und seines einmaligen, verschmitzten Humors hatte er die Fähigkeit, zu den unterschiedlichsten Menschen schnell Zugang zu finden. Gerade viele jüngere Freund:innen fanden Jürgen einfach irgendwie cool.

Obwohl Jürgen ein so politischer Mensch war, beschränkten sich sein Leben und seine Interessen jedoch keineswegs nur auf die Politik. Jürgen war leidenschaftlicher Schwimmer und Segler. Wenn irgendwo ein Meer in der Nähe war, musste er reinspringen. Wer näher mit ihm zu tun hatte, erinnert sich vielleicht an sein kleines Segelboot, das er aufgebockt im Garten stehen hatte. Nachdem das Boot von Unbekannten in Brand gesteckt und fast völlig zerstört worden war, machte sich Jürgen in jahrelanger Handarbeit an die Reparatur. Als sein Werk vollbracht war, vollzog er noch einige letzte Touren mit dem Boot. Er konnte außerdem sehr gut singen und Klavier spielen. Den Gesang gab er an seinem 80. Geburtstag zum Besten, den er mit Familie und Freund:innen bei einer Kanalschifffahrt im Ruhrgebiet groß feierte. Jürgen las gerne, z.B. Egon Erwin Kisch oder Lion Feuchtwanger. Von Beruf klinischer Psychologe, durften in seiner Büchersammlung auch die Werke des sowjetischen Pädagogik-Pioniers Makarenko nicht fehlen. Nicht zuletzt war Jürgen begeisterter Autofahrer und Motorrad-Fan. Bei seiner letzten größeren politischen Aktion, den Protesten gegen den G7-Gipfel 2015 in Garmisch-Partenkirchen, freundete er sich mit Aktivist:innen eines linken Biker-Clubs an, die ihn zu einer spontanen Spritztour mitnahmen. Zu dem Gipfelprotest wollte Jürgen trotz seiner 82 Jahre unbedingt hin und zeltete dort im strömenden Regen neben Jugendlichen. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass er nicht nur gegen den Kapitalismus Widerstand leistete, sondern auch gegen das Altern. Am Ende zollte es seinen Tribut und seine Gesundheit ließ nach. 87 Jahre alt wurde Jürgen schließlich.

Angesichts der vielen Menschen, die er allein in den letzten Jahren noch kennen gelernt und geprägt hat, sind wir sicher, dass sein Andenken weiterleben wird.