Die Arbeiter:innenklasse als revolutionäres Subjekt

Wo stehen wir in der Klassenanalyse und wo wollen wir hin?

Die vorliegenden Ausarbeitungen bilden den zweiten Teil unserer Arbeit an einer Klassenanalyse für Deutschland. Im ersten Teil1 hatten wir uns bereits intensiv mit der Arbeiter:innenklasse beschäftigt: Wir haben eine Definition gegeben, welche Teile der Gesellschaft wir zu dieser Klasse zählen. Wir haben die politisch-ökonomische Ebene der Lebensbedingungen der Arbeiter:innen in Deutschland in den Blick genommen sowie grundlegende Entwicklungstendenzen herausgearbeitet. Man könnte also die Frage stellen: Warum jetzt nochmal einen Text zur Arbeiter:innenklasse schreiben? 

Die Antwort auf diese Frage lässt sich wie folgt umreißen: Uns geht es bei der Klassenanalyse am Ende nicht um Erkenntnisse im Bereich der Soziologie oder der politischen Ökonomie, sondern darum, die Arbeiter:innen in der Praxis zu aktivieren und für den revolutionären Kampf zu organisieren. Und um dieses Ziel zu erreichen, ist ein allgemeines (z.B. ökonomisches) Verständnis der Arbeiter:innenklasse zwar absolut unerlässlich, aber keinesfalls ausreichend. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir vielmehr neben der politökonomischen Kenntnis der Klassen in Deutschland auch die sozialen Dynamiken verstehen, denen sie unterliegen, und aufgrund derer sie sich immer wieder in die verschiedensten Untergruppen auffächern. Wir müssen ebenso Schritte dahin gehen, die Psychologie zu verstehen, die in den Massen der Arbeiter:innen und der sie umgebenden Schichten wirkt. 

Man könnte geneigt sein, diese Aufgaben auf einen Fragenkatalog herunterzubrechen, der vielleicht wie folgt aussieht: 

Welche Teile der Arbeiter:innen-klasse bieten ein besonderes Potential, um aktiviert und organisiert zu werden?

Von welchen Teilen können wir erwarten, dass sie für die Revolution kämpfen, und unter welchen Bedingungen? Und: Was steht dem entgegen?

Diese Fragen sind zwar tatsächlich wichtig und hilfreich, um zu verstehen, in welche Richtung die Klassenanalyse arbeiten muss. Trotzdem glauben wir, dass wir die Aufgabe immer noch zu vereinfacht verstehen würden, wenn wir einen solchen Fragenkatalog einmal abarbeiten und dann langfristig und deutschlandweit unsere Strategie danach ausrichten wollten.

Die kapitalistische Klassengesellschaft bildet ein sehr komplexes Ganzes. Ihre verschiedenen Teile sind schon allein auf der ökonomischen Ebene ständigen, komplizierten, wechselseitigen Bewegungen unterworfen.

Die sich daraus ergebende Auffächerung der Arbeiter:innenklasse in Schichten und Untergruppen ist ein ständiger Prozess, der hinsichtlich verschiedener Ebenen von Widersprüchen, verschiedenen Dimensionen abläuft: Dazu gehört die Aufgliederung der Arbeiter:innen hinsichtlich ihrer ökonomischen Lage, hinsichtlich ihrer Stellung in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, hinsichtlich politischer Lager und vieles mehr. In der Folge entsteht ein vieldimensionales und dynamisches Gesamtbild, bei dem sich einzelne Arbeiter:innen nicht, wie in der bürgerlichen Soziologie üblich, einer bestimmten, relativ homogenen Untergruppe (“Milieu”) zuordnen lassen. Stattdessen müssen die verschiedenen Dimensionen auf der Ebene jeder Untergruppe neu betrachtet werden. Um ein Beispiel zu geben: Innerhalb des Stadt-Land-Widerspruchs bildet das „Dorf” einen sozialen Raum mit bestimmten Eigenschaften und Entwicklungstendenzen, die sich auf das soziale Leben der Arbeiter:innen dort auswirken. Gleichzeitig gibt es zwischen den Arbeiter:innen in ländlichen Regionen auf den verschiedensten Ebenen eine weitere Unterteilung entsprechend dem Widerspruch zwischen geistiger und körperlicher bzw. zwischen leitender und ausführender Arbeit, und zwar nach Berufen, innerhalb jeder Firma, innerhalb jeder Abteilung usw. Auf jeder dieser Ebenen gibt es wiederum neue relevante Entwicklungstendenzen, die eine Rolle für die sozialökonomische Lage der Arbeiter:innen spielen. Und es wird noch viel komplexer und dynamischer, wenn wir uns an die Psychologie der Massen heranwagen und das Zusammenspiel von sozialökonomischer Lage und Bewusstsein verstehen wollen. Die Klassenanalyse muss uns aber in die Lage versetzen, uns in diesen grundlegenden Dynamiken zurechtzufinden und darauf aufbauend eine Strategie zu entwickeln.

Der Unterschied zwischen beiden Herangehensweisen mag auf den ersten Blick sehr subtil oder akademisch erscheinen. Ist er aber nicht, ganz im Gegenteil. Wir meinen damit folgendes: Würden wir uns heute zum Ziel setzen, die eine, entscheidende Gruppe (oder mehrere Gruppen) innerhalb der Klasse zu identifizieren, die es in den nächsten zwanzig Jahren zu gewinnen gilt – seien es die Arbeiter:innen bei den Weltmonopolen, die Arbeiter:innen mit Migrationshintergrund oder wen auch immer – glauben wir, dass dieser Versuch in der revolutionären Praxis zum Scheitern verurteilt wäre. Gesellschaft und Klassenkampf funktionieren nicht so einfach. Viele Kommunist:innen sind in den letzten Jahrzehnten immer wieder der Versuchung erlegen, die Suche nach dem „Hauptkettenglied” für die revolutionäre Strategie mit der Identifizierung des „einen, auf lange Sicht zu gewinnenden Teils” der Arbeiter:innenklasse zu verwechseln. Wir halten diese falsche Herangehendsweise sogar für einen Grund (von vielen), warum die kommunistische Bewegung die Krise, in der sie seit Jahrzehnten steckt, noch nicht überwinden konnte.

Bevor wir also Hauptkettenglieder für bestimmte Abschnitte in der revolutionären Strategie herausarbeiten können, denken wir, dass wir uns die wesentlichen Grundlagen der sozialen und psychologischen Dynamik in den Massen erarbeiten müssen, und wie sich diese heute in Deutschland darstellen. Dazu dient der vorliegende Text.

Um direkt möglichst konkret zu machen, wo wir hin wollen, fangen wir mit einer sehr zentralen Erkenntnis der Soziologie über gesellschaftliche Bewegungen an. Unter welchen Bedingungen entstehen gesellschaftliche “Gärungen”? Wann fangen Menschen an, ihre Lebensumstände als ungerecht oder gar unzumutbar zu empfinden und sich potentiell aufzulehnen? Im Gegensatz zu einem landläufigen Missverständnis innerhalb der akademisch geprägten Linken ist die bloße, rationale Erkenntnis z.B. über die Ausbeutung am Arbeitsplatz oder die Politik, die auf der Seite des Kapitals steht, dafür eher weniger ausschlaggebend. Ebenso wenig ist es der bloße Umstand, dass man selbst arm ist, und es Andere gibt, die reich sind.

Das subjektive Gefühl über die Zumutbarkeit der eigenen Lebensumstände ergibt sich stattdessen daraus, wie sich die Lebensweise als ganze im Vergleich zu früher und im Vergleich zu bestimmten anderen sozialen (Bezugs-)Gruppen entwickelt2. Konkret: Eine Person kommt aus den unteren Schichten der Arbeiter:innenklasse und ist es schon ihr ganzes Leben lang gewohnt, im „sozialen Brennpunkt” zu wohnen. Sie schlägt sich mit Gelegenheitsjobs sowie der Hilfe sozialer Netzwerke (z.B. durch Familie, Freund:innen) durch. Diese Person wird ihre Lebensweise mit einiger Wahrscheinlichkeit ganz anders wahrnehmen als ein Facharbeiter mit bisher solidem Einkommen, der infolge einer Betriebsschließung, einer Erkrankung o.ä. in „prekäre” Arbeitsverhältnisse oder Hartz IV fällt. Und zwar nicht nur, weil letzterer z.B. den Verzicht auf den jährlichen Mallorca-Urlaub als riesige Zumutung empfindet. Vermutlich wird der Bruch in seiner gewohnten Lebensweise für ihn nämlich auch mit Gefühlen von Stigmatisierung verbunden sein, weil er jetzt selbst – in seiner eigenen Wahrnehmung – zu den „Asis” gehört, auf die er früher herabblicken konnte, als er durch seine scheinbar sichere Berufsttätigkeit noch ein soziales Ansehen genoss.

Auf der Ebene der unterschiedlichen Schichten und Untergruppen der Arbeiter:innenklasse bedeutet das: Solange das „gewohnte Leben“ weiter läuft (das für die verschiedenen Gruppen eben sehr unterschiedlich aussieht und andere materielle Standards beinhaltet), ist erstmal alles ok. Gärungen und Widerstandspotentiale können dort entstehen, wo die kapitalistische Entwicklung zu Brüchen in der Lebensweise führt oder solche Brüche drohen. Ein gutes Beispiel hierfür aus der jüngeren Geschichte ist die Welle spontaner Massenproteste, der sogenannten „Montagsdemonstrationen” gegen die Hartz-Gesetze im Jahr 2004. Auch die Fridays-for-Future-Proteste des Jahres 2019 lassen sich in diese Kategorie einordnen. Ein ganz anderes Beispiel sind die heutigen Fortschritte der Faschist:innen in ihrem Versuch, die ideologische Hegemonie in den Massen zu gewinnen. Sie schaffen dies in bestimmten Teilen der Massen, indem sie berechtigte, unbestimmte Gefühle von Bedrohung, Ohnmacht und Ausgrenzung aufgreifen und in eine politische Story kleiden. Darin werden, platt gesagt, die Migrant:innen und Geflüchteten, letztlich die „Invasion durch fremde Kulturen”, zum Symbol für die Bedrohung, und, zusammen mit ihren Unterstützer:innen bei der „Antifa” und den „Altparteien”, zum klar definierten Feindbild. Gärungen, Frust und Wut werden so in bestimmte, reaktionäre Bahnen gelenkt. Gefühle von Ausgrenzung und Ohnmacht werden auf die Meinungsdiktatur der „links-grün versifften” Medien und Politik sowie auf die „political correctness” übertragen. Das Gefühl von Befreiung wird damit verknüpft, endlich wieder „offen seine Meinung sagen” zu können, ohne sich dafür als Rassist:in brandmarken lassen zu müssen. Dies gelingt in bestimmten Teilen der Bevölkerung jedoch besser als in anderen. Es gibt Teile der Massen, die auch der Faschismus mit seiner Demagogie nicht erreichen kann, obwohl es dort gärt.

Der Witz ist: Mit dieser Erkenntnis über die entscheidende Rolle der Lebensweise und der damit verbundenen Gefühle – im Unterschied zur rationalen Erkenntnis über die Ungerechtigkeit des kapitalistischen Systems als solchem – liefert die bürgerliche Soziologie nicht einmal etwas Neues, zumindest aus Sicht des Marxismus-Leninismus. Denn diese Erkenntnis steckt im Kern schon in Lenins kurzen Ausführungen über die Merkmale von revolutionären Situationen als Bedingung für Revolutionen (veröffentlicht im Jahr 1915 in dem Aufsatz „Der Zusammenbruch der II. Internationale”):

1. Für die herrschenden Klassen ist es unmöglich, ihre Herrschaft unverändert aufrechtzuerhalten; die eine oder andere Krise der ‚oberen Schichten‘, eine Krise der Politik der herrschenden Klasse, die einen Riss entstehen lässt, durch den sich die Unzufriedenheit und Empörung der unterdrückten Klassen Bahn bricht. Damit es zur Revolution kommt, genügt es in der Regel nicht, dass die ‚unteren Schichten‘ in der alten Weise ‚nicht leben wollen‘, es ist noch erforderlich, dass die ‚oberen Schichten‘ in der alten Weise nicht leben können.

2. Die Not und das Elend der unterdrückten Klassen verschärfen sich über das gewöhnliche Maß hinaus.

3. Infolge der erwähnten Ursachen steigert sich erheblich die Aktivität der Massen, die sich in der ‚friedlichen‘ Epoche ruhig ausplündern lassen, in stürmischen Zeiten dagegen sowohl durch die ganze Krisensituation als auch durch die ‚oberen Schichten‘ selbst zu selbständigem historischem Handeln gedrängt werden.”3

Während die kapitalistische Gesellschaft also über lange Zeitspannen trotz aller Ausbeutung und Armut eben nicht von revolutionären Kämpfen erschüttert wird, ist es das verwickelte Zusammenspiel einer erheblichen Verschärfung der Lebensbedingungen der Massen und der Krise der oberen Schichten und ihres politischen Systems, das die Arbeiter:innen in ganz bestimmten Momenten zum Widerstand treibt und revolutionäre Situationen entstehen lässt.

Dieses allgemeine Verständnis von gesellschaftlichen, revolutionären Dynamiken müssen wir vertiefen und für das heutige Deutschland konkretisieren. Denn die „unteren Schichten” sind kein homogener Block, der von Verschärfungen der Lebensbedingungen im Kapitalismus gleichermaßen betroffen ist und schon gar nicht in gleicher Weise darauf reagiert. Die Arbeiter:innenklasse fächert sich vielmehr anhand der beschriebenen unterschiedlichen gesellschaftlichen Dimensionen auf4. Dies wirkt sich nicht nur politökonomisch aus, sondern

auf ihre Wert- und Moralvorstellungen und ihre Bedürfnisse, letztlich also auf ihre ganze Persönlichkeit, und damit

auf ihre politischen Anschauungen und die Schlussfolgerungen, die sie angesichts von (drohenden) Brüchen in ihrer Lebensweise zu ziehen geneigt sind.

Im folgenden wollen wir uns deshalb die Dimensionen der „Auffächerung” näher ansehen, die wir mit den wichtigsten Widersprüchen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung identifizieren. Wir wollen verstehen, wie diese sich auf die Persönlichkeit der Arbeiter:innen auswirken, und wir wollen untersuchen, welche Schlussfolgerungen wir daraus ziehen können.

Wollten wir unsere Ergebnisse in einem einzigen Satz zusammenfassen, müsste dieser lauten: Es sind nicht bestimmte Gruppen von Arbeiter:innen, nach denen wir suchen müssen, sondern wir müssen die Biographien der Arbeiter:innen betrachten und verstehen.

Die gesellschaftliche Arbeitsteilung, die Zusammensetzung der Arbeiter:innenklasse und die Arbeiter:innenpersönlichkeit

Zur materialistischen Theorie der Persönlichkeit

Die grundlegenden
Widersprüche in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung

Das grundlegende gesellschaftliche Verhältnis im Kapitalismus ist das Verhältnis der Lohnarbeit, das den Klassenwiderspruch zwischen Bourgeoisie und Proletariat begründet. Darüber hinaus hat der Kapitalismus aus älteren Gesellschaftsformationen eine Reihe von Widersprüchen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung geerbt, die er mit dem Lohnarbeitsverhältnis verbindet und ihm unterwirft, und die er damit reproduziert und weiterentwickelt.

Die drei wichtigsten und grundlegendsten dieser Widersprüche sind in Deutschland:

  • der Widerspruch zwischen produktiven und reproduktiven Tätigkeiten als Grundlage des Patriarchats: Unter “produktiven” Arbeiten verstehen wir hier alle Arbeiten, die der Sicherung des Lebensunterhaltes der Arbeiter:innenfamilie dienen und im Kapitalismus gesellschaftliche Arbeit sind, d.h. im Rahmen des Warenaustauschs stattfinden. Demgegenüber sind “reproduktive” Arbeiten alle Arbeiten, die der Wiederherstellung der Arbeitskraft der Lohnarbeiter:innen dienen, wie etwa die Versorgung und Erziehung der Kinder, die Hausarbeit, oder die Pflege von Angehörigen. Diese Tätigkeiten sind im Kapitalismus überwiegend Privatarbeiten, die den Frauen der Arbeiter:innenklasse auferlegt und von diesen unbezahlt verrichtet werden.5
  • der Widerspruch zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, der heute in Deutschland meist als Widerspruch zwischen leitender und ausführender Arbeit auftritt und
  • der Widerspruch zwischen Stadt und Land.

Es handelt sich hierbei um Widersprüche, die innerhalb der Produktionsverhältnisse, also an der ökonomischen Basis der kapitalistischen Gesellschaft angesiedelt sind. Deshalb bezeichnen wir sie als grundlegender im Vergleich zu weiteren gesellschaftlichen Widersprüchen, die erst in den politischen und juristischen Institutionen oder der herrschenden Ideologie, also im gesellschaftlichen Überbau des Kapitalismus entstehen. Hierzu zählen politische Unterdrückungsverhältnisse wie z.B. die rassistische oder die Unterdrückung von LGBTI+ Menschen. Diese sind für das Leben der Arbeiter:innen ebenfalls sehr bedeutend, entwickeln sich in den gesellschaftlichen Verhältnissen aber erst als Konsequenz aus den Widersprüchen innerhalb der Produktionsverhältnisse. Bei einer Klassenanalyse im Sinne des historischen Materialismus kann es nicht darum gehen, alle bestehenden Unterdrückungsverhältnisse nebeneinander zu diskutieren. Diese heute weit verbreitete falsche Herangehensweise wird insbesondere durch die verschiedenen Spielarten des Postmodernismus, der eine reaktionäre, subjektiv-idealistische Philosophie ist, in die Gesellschaft getragen. Darauf werden wir in einem zukünftigen Text ausführlicher eingehen. Vorläufig halten wir fest, dass eine wissenschaftliche Herangehensweise verlangt, vom Einfachen zum Komplizierten zu gehen, und zuerst die fundamentalen Widersprüche zu finden und zu analysieren. Deshalb beschäftigen wir uns an dieser Stelle nicht mit Unterdrückungsverhältnissen, sondern mit Widersprüchen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Dies sind auch die Widersprüche, entlang der die Klassengesellschaften historisch überhaupt entstanden sind: Während sich das Patriarchat als ältestes Unterdrückungsverhältnis in der Spätphase der Urgesellschaft herausgebildet hat, entwickelte sich die Trennung zwischen Stadt und Land sowie zwischen geistiger und körperlicher Arbeit mit dem Übergang zur Sklavenhaltergesellschaft (wobei ihre Entstehungsweise sich in den asiatischen Gesellschaften möglicherweise von den europäischen unterschieden haben mag, was hier aber nicht wichtig ist).

Es sei angemerkt, dass sich die drei genannten grundlegenden Widersprüche in der Arbeitsteilung ausdrücklich auf Deutschland beziehen, da in anderen Ländern noch weitere solcher Widersprüche relevant sein können, wie z.B. Überreste feudaler Beziehungen oder Erblasten der Sklaverei.

Das Lohnarbeitsverhältnis bildet mit den drei genannten Widersprüchen und im Zusammenwirken mit ihnen die wichtigsten gesellschaftlichen Verhältnisse, die das Leben der Arbeiter:innen bestimmen. Diese Widersprüche schlagen sich in besonderen Beziehungen der Arbeiter:innen untereinander nieder, wozu die Herausbildung der beschriebenen (vieldimensionalen) Schichten und Untergruppen der Arbeiter:innenklasse zählt. Wir werden eine Reihe an weiteren Widersprüchen innerhalb der Arbeiter:innenklasse in einem zweiten Schritt dieses Artikels diskutieren. Hierzu zählen die Widersprüche zwischen den verschiedenen Arbeitergenerationen, zwischen den Arbeiter:innen verschiedener Herkunft und Abstammung sowie die Proletarisierung des Kleinbürger:innentums.

Gesellschaftliche Verhältnisse, Persönlichkeit der Arbeiter:innen und Entfremdung

Nach einem verbreiteten, einseitigen Verständnis der Aufgabe einer Klassenanalyse würde sich diese darauf reduzieren, eine Art „Katalog” der Schichten und Untergruppen der Arbeiter:innenklasse zu erstellen und herauszusuchen, welche davon besonders interessant sind. Ein wirklich dialektisches Herangehen an die Klassenanalyse muss jedoch viel tiefer gehen. Es gilt, die Erkenntnisse über die gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus mit einem materialistischen Verständnis der Persönlichkeit der Arbeiter:innen zusammenzubringen. Denn ein solches ist am Ende der Schlüssel für das Verständnis der „Psychologie der Massen”, die sich unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen entfaltet, und damit auch für das Verständnis der Entstehung und Entwicklung von Klassenkämpfen im Kapitalismus.

Karl Marx legte den Grundstein für eine materialistische Theorie der Persönlichkeit mit seiner sechsten These über die Philosophie Ludwig Feuerbachs, in der er – in Abgrenzung zum Idealismus Feuerbachs – darlegt, was das Wesen des Menschen ausmacht: „Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum.In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen Wesens nicht eingeht, ist daher gezwungen: 1. von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren und das religiöse Gemüt für sich zu fixieren, und ein abstrakt – isoliert – menschliches Individuum vorauszusetzen. 2. Das Wesen kann daher nur als ‚Gattung‘, als innere, stumme, die vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit gefaßt werden.” (Hervorherbungen von uns)6

Das menschliche Wesen ist nach marxistischem Verständnis kein in Stein gemeißeltes Etwas, zu der die gesellschaftlichen Verhältnisse mitunter in Widerspruch geraten oder auch nicht – in dem Sinne: „Der Kapitalismus widerspricht der menschlichen Natur”, oder: „Der Kapitalismus ist das Ergebnis der menschlichen Natur”. Das Wesen des Menschen – das sind vielmehr die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die Menschen zueinander stehen. Das Wesen des Menschen ist also etwas Historisches, etwas, das sich in ständiger Entwicklung befindet. Und wenn die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse von grundlegenden Widersprüchen hervorgebracht wird – etwa dem Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, dem Grundwiderspruch der Produktionsverhältnisse usw. – dann bringen diese Widersprüche eben auch die Entwicklung des menschlichen Wesens hervor.

Ein zentraler Begriff der marxistischen Gesellschaftstheorie, an dem man sich dieses Verständnis deutlich machen kann, ist der Begriff der Entfremdung, der schon in vormarxistischen Philosophien existierte und dort unterschiedliche Bedeutungen hatte, wie z.B. die Übertragung der individuellen Freiheit an eine fremde Macht.7 Im Marxismus wird unter Entfremdung eine historisch-gesellschaftliche Situation verstanden, in der die Beziehungen zwischen Menschen infolge unauflösbarer gesellschaftlicher Widersprüche als Verhältnisse zwischen Sachen erscheinen. Die von den Menschen hergestellten Produkte, gesellschaftlichen Verhältnisse, Institutionen und Ideologien treten ihnen als fremde, sie beherrschende Mächte gegenüber. Schon in früheren Klassengesellschaften im Keim angelegt, wird die Entfremdung im Kapitalismus zu einer allumfassenden Erscheinung.8

Der methodische Punkt bei der historisch-materialistischen Betrachtungsweise der Entfremdung ist der folgende: Würde man das menschliche Wesen idealistisch als etwas Abstraktes verstehen, bestünde die Entfremdung im Kapitalismus darin, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse in einen Widersprüch zu diesem abstrakt-menschlichen Wesen gerieten. Der Mensch etwa habe von Natur aus bestimmte Bedürfnisse (Essen, Wohnen, Schlafen, Freizeit, Sexualität, Kultur, Streben nach Glück usw.), und das Lohnarbeitsverhältnis stünde im Widerspruch zu diesen abstrakt-menschlichen Bedürfnissen. Oder: Im Gegensatz zu diesen „wahren” Bedürfnissen, die der abstrakt-menschlichen Natur entsprechen, schaffe der Kapitalismus „falsche” Bedürfnisse (etwa nach Geld, Konsum, Fast-Food, Drogen, Pornographie, usw.), die der wahren menschlichen Natur widersprechen würden. Beide Erscheinungen könnte man mit Entfremdung bezeichnen. Genau so, nämlich von seinem marxistischen Inhalt „befreit“, wird unter dem Einfluss der bürgerlichen Ideologie der Begriff Entfremdung üblicherweise in fortschrittlichen Kreisen der Gesellschaft und der politischen Widerstandsbewegung benutzt.

Nach dem materialistischen, marxistischen Verständnis verhält es sich jedoch anders. Denn zusammen mit dem menschlichen Wesen sind auch die menschlichen Bedürfnisse gesellschaftlich und historisch. Die Entfremdung besteht nach dem materialistischen Verständnis nicht mehr im Widerspruch der gesellschaftlichen Verhältnisse zu einer abstrakt-menschlichen Natur. Die Entfremdung besteht vielmehr in den unauflösbaren Widersprüchen innerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst, die sich damit auch durch die Persönlichkeit und die Bedürfnisse der Arbeiter:innen ziehen. Entfremdung findet also nicht nur dort statt, wo Bedürfnisse nicht befriedigt werden, sondern ist – in allen Klassengesellschaften – eine Eigenschaft der konkret-historischen Bedürfnisse und ihrer Befriedigung selbst!

Dies kann man sich am Beispiel des Bedürfnisses nach Nahrung vor Augen führen: Um Lebensmittel zu erhalten, muss der Arbeiter seine Arbeitskraft als Ware verkaufen und mit seiner Arbeit das Kapital vermehren. Durch die Vermehrung des Kapitals reproduziert er aber das Machtverhältnis, das ihn zum Nicht-Besitzer von Produktionsmitteln, zum Arbeiter macht. Die Lebensmittel, die er erhält, konsumiert er. Sie sind dann weg – es sei denn, er nutzt die Zeit, während der die Lebensmittel ihn am Leben erhalten, um erneut seine Arbeitskraft als Ware zu verkaufen. Das Bedürfnis nach Essen verändert mit dem Aufkommen des Kapitalismus also nicht nur seine Form (neue Gerichte, neue Essgewohnheiten, Entstehung von Fast Food, Restaurantketten usw.), sondern auch seinen Inhalt, der gesellschaftlich ist. Das Bedürfnis nach Nahrung wird zu einem notwendigen Bestandteil des Lohnarbeitsverhältnisses und durch dieses bestimmt: Welche Lebensmittel der Arbeiter konsumieren kann, hängt vom Wert seiner Arbeitskraft ab, die wiederum vom Niveau der Produktivkraftentwicklung, der Stellung des Arbeiters in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung (Qualifikation) und auch den (langfristigen) Kräfteverhältnissen zwischen Kapital und Arbeit abhängt. Welche Lebensmittel der Arbeiter konsumiert, hängt auch davon ab, was ihm das Kapital überhaupt zum Verkauf anbietet, wie die Produktionsverhältnisse ausgestaltet sind. Gibt es eine industrielle Massentierhaltung und Fleischproduktion, z.B. auf Grundlage der besonders massiven Ausbeutung bestimmter Teile der Arbeiter:innen, wodurch die Supermärkte mit billigem (minderwertigem) Fleisch geflutet werden – oder ist Fleisch ein Luxusgut, das generell nur den Reichen vorbehalten ist? Wird im Zuge der (neo)kolonialen Ausbeutung anderer Länder eine Vielfalt an Obst- und Gemüsesorten importiert und ganzjährig zum Verkauf angeboten? Ist die heimische Landwirtschaft von großen Agrarunternehmen oder kleinen Bäuer:innenwirtschaften geprägt? Haben die Arbeiter:innen selbst noch eine Nebenerwerbslandwirtschaft usw.? Die Bedürfnisstruktur des Arbeiters hängt von diesen Zusammenhängen ab – und es ist nicht etwa umgekehrt, wie es moderne Konsumkritiker:innen predigen.

Ebenso wie das Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme kann auch das Bedürfnis nach Liebe und Sexualität nur richtig verstanden werden, wenn man es als gesellschaftliche Erscheinung, und nicht auf der rein biologischen Ebene betrachtet. Ist es nicht so, dass das konkrete Bedürfnis nach Liebe und Sexualität heute durch den Kapitalismus im Allgemeinen und durch das Zusammenwirken von Kapitalismus und Patriarchat im Besonderen bestimmt wird? Das Bedürfnis des Kapitals nach einer industriellen Reservearmee spiegelt sich unter den Verhältnissen des Lohnarbeitssystems wider im Bedürfnis der Arbeiter:innen nach Nachwuchs, der den Lebensunterhalt der Eltern sichern muss, wenn deren Arbeitskraft einmal aufgezehrt ist. Dieser nackte ökonomische Zwang besteht auch dann fort, wenn der Lebensunterhalt im Alter über ein Rentenversicherungssystem und private Vorsorge organisiert wird, was es einigen Teilen der Arbeiter:innenklasse ermöglicht, weniger Kinder in die Welt zu setzen als andere. Überhaupt konnte der Kinderwunsch historisch nur überall dort zu einer romantisch-sentimentalen Frage werden, wo die materiellen Lebensbedingungen auch ohne eigene Kinder abgesichert sind – abgesehen von der Bourgeoisie also vor allem in den oberen Schichten der Arbeiter:innenklasse und des Kleinbürger:innentums in den imperialistischen Zentren, und auch dort erst etwa seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Arbeiter:innen in der englischen Textilindustrie oder kleine Bäuer:innen im Deutschland des 19. Jahrhunderts hätten auf die Frage „Wollt Ihr eigentlich Kinder haben?” wahrscheinlich ebenso verständnislos reagiert wie heutige Arbeiter:innenfamilien in den kolonialen und abhängigen Ländern. Die Entfremdung in diesem Verhältnis besteht wiederum darin, dass die Proletarier:innen ökonomisch daran interessiert sind, die industrielle Reservearmee zu vergrößern und damit selbst den Druck auf ihre Löhne zu erhöhen. Das Kapital ordnet die Liebe auf diese Weise seinem kalten Verwertungstrieb unter und schafftmit der Ehe als Vertragsverhältnis inklusive Steuervorteil die dazu angemessene Rechtsform. Dieses Vertragsverhältnis ist jedoch nur die bürgerliche Fassade, hinter der das Kapital das Patriarchat für seine Zwecke einspannt und mit der bürgerlichen Kleinfamilie die letzte Bastion der unmittelbaren persönlichen Unterdrückungsverhältnisse schafft. Der Grundsatz der bürgerlichen Kleinfamilie, und damit von Ehe und Beziehungen im Kapitalismus ist, dass der Mann die Frau besitzt und die Kinder im Geist von Kapital und Staat zu künftigen Lohnarbeiter:innen erzieht – und zwar wenn nötig mit Gewalt. Nicht zuletzt war es der Kapitalismus, der in seiner Entstehungsphase im Zuge der Durchsetzung der Kleinfamilie die gleichgeschlechtlichen Liebesbeziehungen tabuisiert und in eine unterdrückte Subkultur verwandelt hat.9 Anstatt diese zu befreien, weiß er sie heute zu kommerzialisieren, wie er es mit Sex überhaupt macht.

Im imperialistischen Stadium des Kapitalismus geht die Entfremdung so weit, dass das monopolistische Kapital im Interesse seiner Verwertung Bedürfnisse regelrecht „designt”, also künstlich erschafft und über seine diversen Kanäle – von der Werbeindustrie über Massenorganisationen bis zum Staat – in der Arbeiter:innenklasse verankert. Diese Entwicklung hat nicht erst mit dem Internet, den sozialen Medien und den heutigen technischen Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz begonnen. Sie wird durch diese aber immer mehr perfektioniert. Solche Erscheinungen bilden einen wahren Kern hinter der Theorie von den „wahren” und „falschen” Bedürfnissen, die begrifflich jedoch dem idealistischen, abstrakten „Wesen des Menschen” verhaftet bleibt und damit falsch ist.10 

Ein materalistisches Verständnis des Menschen und seiner Persönlichkeit muss also das falsche Verständnis von einem abstrakt-ideellen Wesen des Menschen überwinden, das sich etwa in einer Gegenüberstellung von abstrakten „wahren” und „falschen” Bedürfnissen äußert. Ebenso muss ein solches Verständnis den Biologismus überwinden, der im Prinzip denselben Gegensatz aufmacht, indem er nur die unmittelbar biologischen Bedürfnisse des Menschen als „wahr” anerkennt: Also solche, die bei Nicht-Befriedigung zügig zu Krankheit oder Tod führen (wie Essen, Trinken, Schlafen). Hier ist der entscheidende Punkt, dass diese Bedürfnisse nichts spezifisch Menschliches sind, sondern natürliche Bedingungen für die Existenz, die der Mensch mit anderen Lebewesen gemeinsam hat. Diese haben zwar zweifellos eine besondere gesellschaftliche Bedeutung – insbesondere dann, wenn eine Klassengesellschaft Teilen der Menschheit die Erfüllung dieser notwendigen Existenzbedingungen verwehrt. Wenn man den Menschen und seine Persönlichkeit verstehen will, muss man jedoch den gesellschaftlichen Inhalt dieser Bedürfnisse in den Blick nehmen. Das spezifisch Menschliche an diesen Bedürfnissen ist nicht, dass der Mensch Wasser benötigt, um zu überleben, sondern die Frage, ob der Mensch sein Bedürfnis nach Wasser im urgesellschaftlichen Stamm am nächstgelegenen Fluss befriedigt, oder ob er dazu den Wasserhahn aufdrehen kann – was im Kapitalismus voraussetzt, dass er eine Wohnung mieten und die Wasserrechnung bezahlen kann, dass er also seinen Lebensunterhalt durch Lohnarbeit verdient – sofern er nicht zu der Klasse gehört, welche die Wasserwerke besitzt.

Wir können hier keine erschöpfende Diskussion des Bedürfnisbegriffs geben, die noch einige Aspekte mehr umfassen müsste als die eben genannten.11 Wichtig für uns ist an dieser Stelle, dass eine materialistische Auffassung des Menschen und seiner Persönlichkeit die Entfremdung, also die Widersprüche in der Persönlichkeit und den Bedürfnissen der Arbeiter:innen in den Blick nehmen muss. Diese sind eben nichts anderes als die Widersprüche der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst. Bedeutet das, dass wir allen Bedürfnissen gegenüber einen gleichgültigen, nihilistischen Standpunkt einnehmen müssen, weil sie den kapitalistischen Verhältnissen und ihren Widersprüchen entspringen? Nein, denn der historische Materialismus liefert uns mit dem Verständnis der Klassen und ihres Gegensatzes auch die Einsicht, dass diese Klassen objektive Interessen besitzen. Und genau hier liegt die materialistische Aufhebung des Gegensatzes von „wahren” und „falschen” Bedürfnissen. Bedürfnisse unterliegen auch innerhalb einer Gesellschaftsformation und sogar innerhalb einzelner Individuen ständigen Veränderungen, und sie unterscheiden sich insbesondere von Mensch zu Mensch. Die objektiven Interessen der Klassen aber ergeben sich aus dem Grundwiderspruch einer Gesellschaftsformation und bleiben innerhalb dieser Gesellschaftsformation dieselben. Die Bedürfnisse der Individuen wiederum können die Interessen der eigenen Klasse zum Ausdruck bringen oder ihnen zuwiderlaufen. Etwa wenn Arbeiter:innen einen Streik brechen, um weiter ihren Lohn zu erhalten. Es sind also die Klasseninteressen, die in der Klassengesellschaft einen objektiven Maßstab für die Einordnung und Bewertung von Bedürfnissen liefern.

Aus diesen Gedankengängen ergibt sich bereits eine Reihe von ersten Schlussfolgerungen:

  • Wenn die Persönlichkeit und die Bedürfnisse der Arbeiter:innen von den Widersprüchen der gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus durchzogen sind, gilt dies auch für das Bewusstsein der Arbeiter:innen. Das bedeutet, dass das Klassenbewusstsein kein einheitliches Ganzes ist, das man gar mit einer Skala von 1 bis 100 messen könnte, sondern ebenso einen widersprüchlichen, vieldimensionalen Komplex bildet. Wer in einem gesellschaftlichen Bereich ein hohes Bewusstsein aufweist, z.B. bezüglich seiner Stellung als Lohnarbeiter:in, kann in einem  anderen Bereich gleichzeitig sehr rückschrittlich und unbewusst sein, z.B. in der Beziehung/Ehe.
  • Dieser Widerspruch führt in aller Regel bei den betroffenen Personen zunächst einmal zu keinerlei Kopfzerbrechen. Für die Fähigkeit des menschlichen Bewusstseins, auch himmelsschreiende Widersprüche miteinander zu vereinbaren, ohne dies überhaupt zu bemerken („Patchwork-Bewusstsein”), gibt es unzählige Beispiele.
  • Das Phänomen des Patchwork-Bewusstseins und der widersprüchlichen Bedürfnisstruktur beinhaltet, dass Menschen sich in aller Regel zunächst nur in einem oder wenigen Lebensbereichen organisieren und einen politischen Kampf führen (z.B. auf Demos, als Aktivist:in in einer Massenorganisation, als Gewerkschafter:in, o.ä.), während sie sich gleichzeitig dagegen wehren, revolutionäre Positionen in andere Bereiche ihres Lebens eindringen zu lassen (z.B. ihre privaten Beziehungen oder ihren Arbeitsplatz).
  • Weil die Bedürfnisse gesellschaftlichen Charakter haben, verändern sie sich auch mit gesellschaftlichen Entwicklungen. Es ist also möglich, im Rahmen des politischen Kampfes um den Sozialismus Bedürfnisse aktiv zu verändern, neue Bedürfnisse zu schaffen und alte Bedürfnisse zurückzudrängen. Ebenso wie der Imperialismus künstliche Bedürfnisse zur Aufrechterhaltung seiner Herrschaft erzeugen kann, die also den objektiven Interessen der Arbeiter:innenklasse entgegenstehen, kann die kommunistische Bewegung neue Bedürfnisse erschaffen, welche auf die Durchsetzung der objektiven Interessen der Arbeiter:innenklasse ausgerichtet sind. Dabei gilt es, auch die vielfältigen Angriffe des Imperialismus auf das Bewusstsein abzuwehren.
  • Die Schaffung neuer Bedürfnisse geschieht in der Praxis, im Zusammenhang mit konkreten Kämpfen. Kämpfe allein reichen jedoch nicht aus, sondern müssen mit einer systematischen Bildung und einer planmäßigen Persönlichkeitsentwicklung verbunden werden, um die Widersprüche im Bewusstsein aufzuzeigen und das Bewusstsein dadurch zu verändern.

Die materialistische sinTheorie der Persönlichkeit

Wir wollen diese Gedankengänge nun vertiefen, indem wir die konkreten Auswirkungen der Widersprüche in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung auf die Persönlichkeit der Arbeiter:innen und die Klassenzusammensetzung betrachten.

Dafür wollen wir zunächst noch einmal den Begriff der Persönlichkeit genauer klären. Die Erarbeitung des materialistischen Verständnisses des menschlichen Wesens und der Entfremdung zieht sich durch das gesamte Werk von Marx.12 Im „Kapital” erreicht das materialistische Verständnis der Entfremdung in den menschlichen Verhältnissen dann sein voll ausgereiftes Stadium, etwa in den Ausführungen zum Warenfetischismus und zum Lohnarbeitsverhältnis: „Was also die kapitalistische Epoche charakterisiert, ist, daß die Arbeitskraft für den Arbeiter selbst die Form einer ihm gehörigen Ware, seine Arbeit daher die Form der Lohnarbeit erhält.”13

Trotz dieser genialen Vorarbeit kann man nicht behaupten, dass bis heute eine ausgereifte marxistische Theorie der menschlichen Persönlichkeit entwickelt worden wäre. Vielfach sind Marxist:innen stattdessen in ein mechanisches Verständnis des historischen Materialismus zurückgefallen. Dabei wird die bestimmende Rolle der Produktionsverhältnisse für das Bewusstsein betont, ohne der Frage der konkreten Persönlichkeit und ihrer Entwicklung überhaupt noch eine Aufmerksamkeit zu schenken. Ein Ausdruck hiervon ist das plump-mechanische und leider recht verbreitete Verständnis, dass Kommunist:innen ja per Definition gegen Unterdrückungsverhältnisse seien, und sich deshalb nicht mehr konkret mit ihren Widersprüchen und rückschrittlichen Verhaltensweisen – wie z.B. patriarchalen Verhaltensweisen – auseinandersetzen müssten, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse nicht hinterfragen müssten. Auch in Bezug auf den Sozialismus als Gesellschaftsform ist dieses mechanische Verständnis oft anzutreffen, nämlich dahingehend, dass die zahlreichen Widersprüche, die notwendigerweise in der neuen Gesellschaft auftreten, nicht bewusst gemacht und aktiv bekämpft werden. Ein Beispiel: Wenn die Produktionsmittel eh den Arbeiter:innen gehören („steht ja in der Verfassung”), bräuchte man konkret nichts mehr dafür zu tun, dass die Arbeiter:innen auch in der Praxis an die Leitung aller gesellschaftlichen Belange herangezogen werden, bräuchte man eingefahrene Strukturen der Leitung von Partei und Staat nicht mehr zu hinterfragen und aktiv zu überwinden. Ein solch mechanisches Verständnis des historischen Materialismus war in der Geschichte häufig eine Begleiterscheinung der revisionistischen Entwicklung sozialistischer Gesellschaften. In die theoretische Lücke, die viele Marxist:innen mit ihrer Abweichung vom historischen Materialismus gelassen haben, sind dann wiederum bürgerliche Philosophien wie der Existentialismus oder der Postmodernismus gestoßen, die der Rolle des Subjekts wieder zu ihrem Recht verhelfen wollen, dies aber von einem reaktionären, idealistischen Standpunkt aus tun.

Eine bemerkenswerte Arbeit, die immerhin wichtige Schritte in Richtung der Ausarbeitung einer marxistischen Theorie der Persönlichkeit unternimmt, ist das Buch „Marxismus und Theorie der Persönlichkeit” des französischen Philosophen und Funktionärs der (revisionistischen) Kommunistischen Partei Frankreichs, Lucien Sève. Es erschien 1969 in der Auseinandersetzung einerseits mit mechanischen Verfälschungen des historischen Materialismus, andererseits mit der bürgerlichen Psychologie und neueren idealistischen Theorien wie dem Existentialismus oder den Arbeiten des postmodernen Philosophen Michel Foucault. In dieser Schrift wagt sich Sève an eine marxistische Definition der Persönlichkeit, die er als “lebendiges System von gesellschaftlichen Verhältnissen zwischen den Verhaltensweisen”14 benennt.

Wie ist diese Definition zu verstehen? Unter die Verhaltensweisen können wir alle menschlichen Aktivitäten fassen, die sich wiederum grob in die Bereiche des Fühlens, Denkens und Handelns aufgliedern lassen. Sie umfassen also die kleinsten Affekte und emotionalen Reaktionen, die sich ebenso bei Tieren nachweisen lassen, genau wie die komplexesten Gedankengänge und Handlungen des Menschen. Das Entscheidende ist: Während die Verhältnisse zwischen diesen Aktivitäten beim Tier im wesentlichen biologisch, das heißt von innen, durch Instinkte, festgelegt sind, die durch die Wechselwirkung mit der Umwelt allenfalls beeinflusst oder modifiziert werden, ist es beim Menschen genau andersherum. Hier sind die Verhältnisse, der innere Zusammenhang zwischen den Verhaltensweisen – von der kleinsten Emotion bis zur komplexesten Handlung – nicht mehr von innen, durch Instinkte, sondern von außen, durch die Gesellschaft bestimmt. Mein Hungergefühl und die Aktivitäten zur Befriedigung dieses Gefühls stehen in einem gesellschaftlichen Zusammenhang, etwa wenn ich, nicht zuletzt unter dem Eindruck unbewusst verarbeiteter Werbeberieselung, zum Kiosk laufe und ein Snickers kaufe (anstatt z.B. auf die Jagd zu gehen). Auch elementare zwischenmenschliche Beziehungen und die damit einhergehenden Gefühle, Gedanken und Handlungen sind bei jedem menschlichen Individuum durch die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt. Angefangen bei Eltern und Geschwistern (Kleinfamilie!) über Freundschaften und Liebesbeziehungen in der Schule, am Arbeitsplatz oder im Sportverein bis hin zu Facebook und Tinder. Alles, was die Individualität ausmacht, ist also tatsächlich auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zurückzuführen. Die grundlegenden Widersprüche der Klassengesellschaft übersetzen sich in die Widersprüche der Persönlichkeit, der Bedürfnisse, der Beziehungen, sie formen die Vorlieben und Abneigungen des Individuums, seine Charaktereigenschaften und Macken bis hin zu seinen psychischen Erkrankungen.

Der richtige Ausgangspunkt für das Verständnis der menschlichen Persönlichkeit ist also nicht das Individuum, an dem sich unzählige Denkschulen der bürgerlichen Psychologie seit Freud erfolglos abarbeiten, sondern die Gesellschaft!

Auch wenn eine ausgereifte marxistische Theorie der Persönlichkeit noch nicht existiert, halten wir diese Erkenntnis letztlich für den Schlüssel zur Klassenanalyse, und die Definition von Sève daher für einen mehr als brauchbaren Ansatz, den wir den folgenden Abschnitten zugrunde legen.

Will man die Persönlichkeit der Arbeiterin bzw. des Arbeiters als „lebendiges System von gesellschaftlichen Verhältnissen zwischen den Verhaltensweisen” verstehen, will man die Entfremdung in der Arbeiter:innenpersönlichkeit herausarbeiten, muss man also die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Blick nehmen, in denen sich die Arbeiter:innen bewegen. Hier kommen wir zu den grundlegencden Widersprüchen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zurück, die wir oben eingangs aufgezählt haben, nämlich – neben der Lohnarbeit – dem Widerspruch zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit, dem Widerspruch zwischen geistiger und körperlicher Arbeit und dem Widerspruch zwischen Stadt und Land, die in ihrem Zusammenwirken zu einer konkreten Ausdifferenzierung der Arbeiter:innenklasse führen, und damit auch verschiedene Dimensionen der Entfremdung in der Arbeiterpersönlichkeit bewirken.

Der Widerspruch zwischen produktiven und reproduktiven Tätigkeiten

In früheren Artikeln haben wir herausgearbeitet, dass der Kapitalismus das Patriarchat – das älteste Unterdrückungsverhältnis der Menschheit – übernimmt und für sich nutzbar macht. Innerhalb der kapitalistischen Verhältnisse kann das Patriarchat deshalb nicht überwunden, kann die Befreiung der Frau nicht realisiert werden. Der politökonomische Grund hierfür ist, dass die Auslagerung der reproduktiven Arbeiten (die sogenannte “Hausarbeit”, die direkt oder indirekt der Wiederherstellung der Arbeitskraft dient, wie z.B. Kochen, Waschen, Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen usw.) aus dem Bereich der Lohnarbeit den Wert der Ware Arbeitskraft senkt und damit die kapitalistische Akkumulation begünstigt. Privat, also außerhalb der Warenproduktion verrichtete Arbeit geht nicht in den Wert der Ware Arbeitskraft ein. Deshalb ist es für das Kapital günstig, dass diese Tätigkeiten privat und unentgeltlich im Haushalt der Arbeiter:innen verrichtet werden, und zwar von den Frauen.15 Dies erfordert die Aufrechtherhaltung des Patriarchats als persönliches Unterdrückungs- und Abhängigkeitsverhältnis – im Gegensatz zu sachlichen Abhängigkeitsverhältnissen wie der Lohnarbeit. Daneben zieht das Kapital die Frauen je nach seinen Akkumulationsbedürfnissen als Arbeiterinnen in die gesellschaftliche Produktion hinein. Wo es dies tut, vergrößert es die industrielle Reservearmee und senkt den Arbeitslohn. Er verteilt sich nun als Familienlohn auf Mann und Frau – wobei der niedrigere Lohnteil an die Frauen geht, deren Arbeitskraft aus Sicht des Kapitals aufgrund der Doppelbelastung und möglicher Schwangerschaften weniger produktiv ist. Den niedrigen Lohn der Frauen nutzt das Kapital wiederum dazu, Druck auf den Lohn der Arbeiter:innen insgesamt auszuüben. Die Unterdrückung der Frauen dient so auch der Spaltung der Arbeiter:innenklasse nach Geschlechtern.

Das patriarchale Unterdrückungsverhältnis wird auf dieser ökonomischen Grundlage zum festen Bestandteil des Kapitalismus. Die fundamentale „Organisationsform” der patriarchalen Unterdrückung ist im Kapitalismus die Kleinfamilie, in der 1. die Frau persönlich durch den Mann unterdrückt wird und 2. die Kindererziehung stattfindet. Hier, in der Kleinfamilie, werden im frühen Kindesalter die Grundlagen der Persönlichkeit der Arbeiter:innen geschaffen. Das heißt, die Grundlagen der Persönlichkeit der Arbeiter:innen werden unter den Bedingungen eines persönlichen Unterdrückungsverhältnisses geschaffen, nicht unter den Bedingungen sachlicher Abhängigkeiten, wie sie für die Warenproduktion sonst typisch sind. Das Kind lernt als erstes nicht etwa Verhältnisse von Kauf und Verkauf kennen, sondern Verhältnisse von Macht, Unterordnung und Abhängigkeit.

In der Familie wird Macht erfahren und ausgeübt als unmittelbares Gewaltverhältnis: Der Mann übt die Macht über die Frau aus, die Eltern üben die Macht über die Kinder aus, die Kinder müssen sich den Eltern unterordnen. Die Frau ist zudem vom Mann ökonomisch abhängig, und die Kinder sind es von den Eltern. Es spielt hierbei keine Rolle, welchen sozialen Hintergrund, welchen Bildungsstand oder welche moralischen Vorstellungen die Eltern haben – die persönliche Unterordnung als Gewaltverhältnis ist das Funktionsprinzip der Kleinfamilie – und aufgeklärte Kleinbürger-Eltern bilden hier keine Ausnahme. Macht und Unterordnung werden den Kindern in der Kleinfamilie eingetrimmt bis hin zur körperlichen und sexualisierten Gewalt. Dort, wo körperliche Gewalt nicht stattfindet, weil diese in „aufgeklärten” Kreisen verpönt ist, nimmt die psychische Gewalt, das Ausüben von psychischem Druck, das Arbeiten mit Erniedrigungen dieselbe Funktion ein. Die gesellschaftliche Funktion der Kleinfamilie ist es, dass die Kinder sich einfügen und unterordnen lernen, damit sie sich später auch in der Lohnarbeit und gegenüber dem Staat unterordnen.

Das Gewaltverhältnis in der Familie dient auch als Ventil für den Frust, der sich im Alltag der Arbeiter:innen aufstaut. In der Familie kann der Mann als persönlicher Unterdrücker auch mal „die Sau rauslassen” – im Betrieb oder gegenüber den staatlichen Institutionen ist das nicht so einfach. Die Kleinfamilie beinhaltet auch das Prinzip, dass soziale Probleme (Arbeitslosigkeit, Krankheiten, schulische Misserfolge usw.) individualisiert verarbeitet werden, dass sie nicht nach außen getragen werden sollen. Die gesellschaftlichen Ursachen dieser Probleme werden damit verdeckt. Die Probleme erscheinen als persönliches Versagen und sind mit Schamgefühlen behaftet, z.B. darüber, dass der Mann als „Ernährer” versagt habe, dass die Eltern in der Kindererziehung versagt haben, dass man als „Asi”-Familie gilt usw. Diese Auswirkungen der Kleinfamilie auf die Persönlichkeit der Arbeiter:innen sind ein großes Hindernis für die Organisation der Arbeiter:innen als Klasse.

In der Kleinfamilie spiegelt sich der Widerspruch zwischen produktiven und reproduktiven Arbeiten konkret in den unterschiedlichen Funktionen von Vater und Mutter wider, die sich wiederum in den sogenannten „Rollenbildern” für Mann und Frau über das ganze Leben verfestigen:

Der Vater ist in aller Regel für die Lohnarbeit zuständig und das „Oberhaupt” der Familie. Ihm wird zu Hause „der Rücken frei gehalten”, das heißt er ist von den meisten reproduktiven Arbeiten befreit, um sich ganz auf die Lohnarbeit konzentrieren zu können, die die Grundlage der familiären Existenz bildet. Die Funktion des Vaters folgt direkt aus der „primären” Rolle der produktiven, gesellschaftlichen Arbeit gegenüber der reproduktiven, privaten Arbeit.

Die Mutter ist in der Kleinfamilie für die reproduktive Arbeit zuständig und stellt die „Soft Power” gegenüber den Kindern dar. Das bedeutet, sie erfüllt in der Regel die soziale Funktion, sorgt für den familiären Zusammenhalt und hält auch die sozialen Beziehungen zu anderen Familien aufrecht, etwa durch die Vernetzung mit anderen Eltern über Kindergarten, Schule sowie soziale Aktivitäten.

Diese Verteilung der Funktionen in der Kleinfamilie prägt entscheidend die Grundstruktur der Persönlichkeit der Arbeiter:innen. Wer schon als Kind gelernt hat, dass der Vater als Machtperson und Ernährer „das letzte Wort” in familiären Belangen hat, hat verinnerlicht, den Starken, und nicht den Schwachen zu folgen. Dieses Grundmuster spiegelt sich in einer ganzen Reihe an typischen bürgerlich-patriarchalen Verhaltensmustern wider:

Das in der Familie zum ersten Mal erfahrene Macht-, Unterordnungs- und Abhängigkeitsverhältnis wird schließlich fortgesetzt in den gesellschaftlichen Institutionen – Kindergarten, Schule, Chef, Amt, Dorfgemeinschaft, sowie früher Kirche, Pfarrer usw.

Welchen Entwicklungstendenzen unterliegt die Kleinfamilie nun im Imperialismus? Die rasante Entwicklung der Produktionsverhältnisse erfordert die „Assoziation emanzipierter Individuen” und drängt deshalb auf die Auflösung der bürgerlich-patriarchalen Familie: Die wachsende Qualifikation und das Bildungsniveau der Arbeiter:innen widersprechen zunehmend dem kleinlichen Unterordnungsgeist in der bürgerlichen Familie und der Organisation der Arbeiter:innen in abgeschotteten Kleinfamilien. Die Entkopperlung von Sexualität und Fortpflanzung im Zuge der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und das wachsende Bedürfnis nach sexueller Selbstbestimmung unterhöhlen das Prinzip der Kleinfamilie ebenfalls. Das ist der Keim für die positive „Aufhebung” der bürgerlichen Familie im Sozialismus, für neue Formen der Erziehung, die der Entfaltung der Individuen im Kollektiv dienen. In der bürgerlichen Gesellschaft ist diese „positive Aufhebung” jedoch unmöglich. Stattdessen zeigt die Kleinfamilie Auflösungserscheinungen, ohne dass der Kapitalismus etwas Positives an ihre Stelle setzen kann. Die konkreten Erscheinungsformen der Auflösung der Kleinfamilie sind zunehmende Gewalt, das Zerbrechen von Familien bei gleichzeitiger ökonomischer Abhängkeit der Frauen von den Männern, das Wegbrechen des sozialen Gefüges, Verwahrlosungserscheinungen, die Zunahme psychischer Erkrankungen usw.

Weitere konkrete Entwicklungstendenzen sind die folgenden:  

  • Der Lohn der Väter reicht immer weniger aus, um die Existenz der gesamten Familie zu sichern.
  • Hierdurch wächst der Druck auf die Frauen, noch mehr dazu zu verdienen, während sie gleichzeitig die reproduktive Arbeit verrichten müssen.
  • Längere Phasen von extremen Niedriglöhnen beim Berufseinstieg (z.B. Ausbildungsvergütung) sowie steigende Preise für Wohnraum in den Städten machen es für junge Erwachsene aus Arbeiter:innenfamilien immer schwerer, sich früh eine eigene Existenz aufzubauen. Stattdessen bleiben sie heute tendenziell länger bei ihren Eltern wohnen als noch vor einigen Jahrzehnten, was die Konflikte in den Familien und den Druck auf die Frauen verstärkt.
  • Hinzu kommt die Pflege von älteren oder kranken Angehörigen, die vor allem auf den Frauen lastet.
  • All diese Widersprüche und Belastungen werden in der Kleinfamilie spontan durch zerrüttete Beziehungen und eine Zunahme der Gewalt kanalisiert.

Für die Klassenanalyse ziehen wir aus der obigen Betrachtung die folgenden Schlussfolgerungen:

  • Aufgrund der Arbeitsteilung in der Familie obliegt die Pflege der sozialen Beziehungen zu  anderen Arbeiter:innen vor allem den Frauen (Netzwerke über Kita, Schule, Einkaufen, Nachbarschaft usw.). Daraus ergibt sich eine besondere Rolle der Frauen bei der Frage der Organisierung der Arbeiter:innenklasse über Betriebsgrenzen hinweg, z.B. in der Stadtteilarbeit.
  • Durch die beschriebenen Entwicklungstendenzen wird die Bedeutung des Aufbaus solidarischer Strukturen zur positiven Überwindung der Kleinfamilie (Entlastung der Frauen, kollektive Betreuung von Kindern und pflegebedürftigen Angehörigen, Aufbrechen familiärer Schweigegelübde) weiter zunehmen.
  • Die Organisierung von Arbeiter:innen muss das Problem der Kategorien Macht-Unterordnung-Abhängigkeit in der Persönlichkeit der Arbeiter:innen angehen.

Der Widerspruch zwischen geistiger und körperlicher Arbeit

Der zweite grundlegende Widerspruch in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, den wir betrachten wollen, ist der Widerspruch zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, der (zumindest in Europa) mit der Sklavenhaltergesellschaft entstanden ist.

In der kapitalistischen Klassengesellschaft drückt sich dieser Widerspruch auf vielen Ebenen aus. Das Verhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat selbst ist, in einem gewissen Sinne, Ausdruck dieses Widerspruchs, was sich sehr anschaulich im Widerspruch zwischen kapitalistischen Manager:innen und Arbeiter:innen niederschlägt.

Hier soll es jedoch darum gehen, wie sich dieser Widerspruch innerhalb der Arbeiter:innenklasse darstellt. Natürlich ist das Verhältnis zwischen Arbeiter:innen und Intellektuellen sowie zwischen Büroarbeiter:innen und Industriearbeiter:innen schon auf den ersten Blick von diesem Widerspruch geprägt. Man würde jedoch viel zu kurz greifen, wenn man den Widerspruch zwischen geistiger und körperlicher Arbeit auf einfache Gegenüberstellungen wie „Philosoph:in versus Arbeiter:in” oder „Industrie versus Büro” reduzieren würde. Der Widerspruch zwischen geistiger und körperlicher Arbeit tritt vielmehr in äußerst vielfältiger Form in den Beziehungen innerhalb der Arbeiter:innenklasse in allen Bereichen der gesellschaftlichen Arbeit im Kapitalismus auf. Insbesondere nämlich im Widerspruch zwischen leitenden und ausführenden Tätigkeiten, der sowohl in der Industrie als auch im Büro anzutreffen ist. Die Industrieproduktion von Waren ist im gesellschaftlichen Sinne körperliche Arbeit. Dennoch umfasst der Arbeitsprozess in der Industrie auch geistige Tätigkeiten, z.B. die Planung und Anleitung von Produktionsabläufen, die von Gruppenleiter:innen, Supervisor:innen, Bereichsmana-ger:innen und Beschäftigten mit ähnlichen Funktionen ausgeführt werden. Die Arbeit in einer Versicherung ist dagegen gesellschaftlich gesehen geistige Arbeit. Aber auch hier gibt es die weitere Unterteilung zwischen Team- und Abteilungsleiter:innen („geistige Arbeit”) und den ihnen untergeordneten Arbeitskräften, die beispielsweise für die Abwicklung von Schadensfällen oder ähnliches zuständig sind („körperliche Arbeit”)

Der Widerspruch zwischen geistiger und körperlicher Arbeit drückt sich einerseits also in unterschiedlichen Berufsfeldern aus, die entweder branchenmäßig und räumlich vollständig voneinander getrennt sind (z.B. Finanzwelt gegenüber Industrie), oder aber innerhalb eines Betriebs getrennt voneinander arbeiten (z.B. die kaufmännischen Angestellten aus dem Büro gegenüber Arbeiter:innen „aus der Halle“). Er drückt sich andererseits innerhalb desselben Arbeitsbereiches eines Betriebs aus im Widerspruch zwischen leitenden und ausführenden Tätigkeiten: Im Industriebetrieb ist das z.B. die klassische Trennung zwischen Meister:innen/Techniker:innen/Vorarbeiter:innen und einfachen Fach- und Hilfsarbeiter:innen.

Gesellschaftliche Arbeitsteilung und soziale Hierarchie

Beide Ausdrucksformen des Widerspruch zwischen geistiger und körperlicher Arbeit nehmen heute innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und innerhalb jedes Betriebs mitunter sehr komplexe Gestalt an, es entwickeln sich allerlei Übergangsformen usw. Die wichtigste ökonomisch-soziale Konsequenz dieses Widerspruchs ist aber die Entstehung einer Hierarchie innerhalb der gesellschaftlichen Arbeit und innerhalb der Betriebe, die sich in einer sozialen Hierarchie innerhalb der Arbeiter:innenklasse niederschlägt. Letztere erstreckt sich letztlich auf alle Lebensbereiche der Arbeiter:innen und hat eine tiefgreifende Wirkung auf ihr Bewusstsein – das spontan zunächst immer ein bürgerliches Bewusstsein ist, das von der Konkurrenz der Arbeiter:innen untereinander geprägt ist. Die Arbeiter:innen sind in der bürgerlichen Gesellschaft zunächst einmal konkurrierende Verkäufer:innen von Arbeitskraft. Um die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, muss der:die Arbeiter:in sich gegen andere Arbeiter:innen durchsetzen, sich gegebenenfalls für einen geringeren Lohn hergeben, härter arbeiten als andere – und verstärkt damit in der Gesamtwirkung die Ausbeutung der Arbeiter:innenklasse als ganzer. Dies ist ein Paradebeispiel für die Entfremdung der Arbeiter:innen im Kapitalismus. Diese Form der Entfremdung, die Konkurrenz, prägt aber das spontane Bewusstsein der Arbeiter:innen, und zwar auf sehr grundlegende Art und Weise.

Ein wichtiger bewusstseinsmäßiger Faktor in der modernen kapitalistischen Gesellschaft ist z.B. das soziale Ansehen, das mit bestimmten Berufen verbunden (oder eben nicht verbunden) ist, die Identifikation mit bestimmten sozialen Gruppen, die als Vorbilder und Maßstab dienen usw. Der Kapitalismus sorgt dafür, dass es für nahezu jede Untergruppe von Arbeiter:innen jeweils andere Gruppen gibt, auf die man herauf- bzw. herabschauen kann.

Das Heraufschauen auf andere Gruppen ist mit der Vorstellung des eigenen ökonomisch-sozialen Aufstiegs verbunden, die mehr oder weniger realistisch sein kann. Wer Leiharbeiter:in ist, kann auf eine Festanstellung hinarbeiten. Wer einfache:r Arbeiter:in ist, strebt vielleicht an, Supervisor:in zu werden. Der:die Supervisor:in will vielleicht Bereichsmanager:in werden. Wer in einer Mietskaserne lebt, strebt womöglich eine Wohnung in besserer Lage oder sogar eine Eigentumswohnung an. Reicht es nicht für die Eigentumswohnung, ist vielleicht ein eigenes Auto drin usw. Das Anstreben des eigenen individuellen Aufstiegs wird damit zu einem Wesensmerkmal der Persönlichkeit der Arbeiter:innen. Damit wird die Konkurrenz sowohl zwischen den sozialen Gruppen als auch innerhalb derselben Gruppen von Arbeiter:innen verfestigt.

Für das Entstehen gesellschaftlicher Gärungen wird es wiederum gerade dort interessant, 1. wo bestimmten Arbeiter:innen Aufstiegsmöglichkeiten grundlegend verwehrt sind (z.B. Arbeiter:innen mit Migrationshintergrund, bei denen die Bewerbung auf bestimmte Stellen direkt in der Mülltonne landet), und 2. wo bestimmte Perspektiven, die bislang für viele Arbeiter:innen erstrebenswert waren (unbefristeter Vollzeitjob, Wohneigentum o.ä.) im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung für immer mehr Menschen wegfallen.

Verstärkt werden die bürgerlichen Denkmuster durch die Existenz von sozialen Gruppen, die in der Hierarchie weiter unten stehen und auf die man herabschauen kann. Dies ist erstens mit dem Ausüben von sozialer Macht bis hin zur Gewalt verbunden und beinhaltet zweitens die Angst vor dem eigenen sozialen Abstieg. Für das Entstehen gesellschaftlicher Gärungen wird es aber gerade dort interessant, wo der soziale Abstieg für immer mehr Arbeiter:innen zur Realität wird.

Die gesellschaftliche Hierarchie durchdringt im täglichen Leben auch die sozialen Beziehungen. Die spontane Tendenz der Menschen geht dahin, sich außerhalb des Arbeitsalltags mit Kontakten zu umgeben, die mehr oder weniger dieselben Interessen, Vorstellungen, Werte etc., letztlich also dieselbe Lebenswelt teilen. Freundeskreise bewegen sich daher häufig in ähnlichen „Regionen” der gesellschaftlichen Arbeitsteilung (nach Berufsfeldern) – schließlich lernt man seine Freund:innen häufig gerade in der Ausbildung, im Job u.ä. kennen. Vor allem aber bewegen sie sich auf ähnlichen Leveln in der sozialen Hierarchie. Es ist anschaulich klar, dass Arbeiter:innen im Blaumann aus der Industrie mit Büroarbeiter:innen aus der Finanzbranche im Alltag oft wenig anfangen können.

Aus der sozialen Hierarchie ergibt sich also auch die Empfänglichkeit verschiedener Schichten gegenüber bestimmten Formen der ideologischen Bearbeitung durch den Imperialismus. Wer aufgrund seiner sozialen Stellung z.B. eine Nähe zu konservativen Kreisen von Beamt:innen aufweist, wird eher dazu neigen, deren Werte zu teilen, als jemand, dessen Lebensweise eine völlig andere ist.

Der Imperialismus verwandelt die soziale Aufgliederung der Arbeiter:innen gemäß der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und das Aufkommen unterschiedlicher Lebenswelten innerhalb der Arbeiter:innenklasse durch das Instrument der sozialen Hierarchie also in ein Mittel zu ihrer Spaltung. Hier setzen auch die direkten ideologischen Mittel zur Spaltung der Arbeiter:innen wie der Rassismus, Nationalismus, Chauvinismus an, etwa wenn Arbeiter:innen aus anderen Ländern auf Grundlage des Lohngefälles zwischen verschiedenen Nationen vorwiegend in ein bestimmtes Segment von (schlecht bezahlten, ausführenden) Tätigkeiten gesteckt werden, in bestimmten Stadtvierteln untergebracht werden, und hierdurch ihre Stellung in der sozialen Hierarchie zugewiesen bekommen. Besonders drastisch verfolgt der deutsche Imperialismus diese Praxis in seinem Umgang mit Geflüchteten, die er in Lagern unterbringt, mit Abschiebung bedroht und mit diesem Regime letztlich in Schwarz- und Zwangsarbeitsverhältnisse zwingt.

Die soziale Hierarchie unter den Arbeiter:innen im frühen Imperialismus

Wie gestaltet sich die Herausbildung sozialer Gruppen und ihrer Hierarchie untereinander nun konkret, und welche politischen Folgen hat sie?

Als Grundtendenz lässt sich feststellen: Der „Angestellten”status der Arbeiter:innen in den „geistigen Berufen” war traditionell immer mit einem höheren sozialen Ansehen und (teilweise) besserer Bezahlung verbunden. Die geistigen Arbeiter:innen waren die Teile der Arbeiter:innenklasse, die von ihrem Bildungshintergrund und ihrem Status her eine gewisse Nähe zur klassischen bürgerlichen Intelligenz aufwiesen, und sich an dieser orientierten. Damit einher ging häufig ein gewisser Standesdünkel, das Gefühl, „etwas Besseres” zu sein als die Arbeiter:innen in der Industrie.

Innerhalb der kapitalistisch-en Betriebe bildeten Teile der Arbeiter:innen in geistiger Funktion (z.B. Teile der kaufmännischen Angestellten) ebenso wie Teile der leitenden Arbeiter:innen in „Handarbeits-” bzw. direkt produzierenden Funktionen (z.B. Meister:innen, Techniker:innen und Vorarbeiter:innen) mit dem Übergang zum Imperialismus den Kern der Arbeiter:innenaristokratie. Extraprofite aus dem Kapitalexport der Monopole wurden dazu benutzt, sie ökonomisch besser zu stellen und damit eng an die kapitalistischen Unternehmen und das bürgerliche System zu binden. Bezüglich ihrer Lebensbedingungen haben sie sich in der Folge dem klassischen Kleinbürger:innentum (Händler:innen, selbständige Handwerker:innen usw.) angenähert und in Teilen die entsprechende Kultur angenommen. Ein Teil bildete zusammen mit den autoritär geprägten Teilen des Kleinbürger:innentums, sowie der unteren Ebene der Beamt:innen, den Lehrer:innen, Pfarrern und weiteren Gruppen, die in der sozialen Hierarchie über ihnen standen, eine wichtige Säule der bürgerlichen Ordnung. Um dies abzusichern, wurden sie neben der ökonomischen Bestechung auch ideologisch bearbeitet und in Massenorganisationen unter imperialistischer Kontrolle eingebunden. Dazu gehörten z.B. die katholischen Gewerkschaften, sowie später die Sozialdemokratie und die ADGB-/DGB-Gewerkschaften. Von rechts geschah diese Einbindung durch die Faschist:innen und ihre ideologischen Vorläuferorganisationen (Alldeutscher Verband usw.).

Die Entwicklungslinie der entsprechenden kleinbürgerlich-ständisch geprägten, obrigkeitsstaatlich orientierten, autoritär-konservativen gesellschaftlichen Schichten und ihrer Überschneidungen mit der Arbeiter:innenklasse ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. Sie wurde gerade in Deutschland mit seiner stark ländlich-kleinstädtischen Struktur noch durch die reaktionären Tendenzen des Dorfes verstärkt. Diese Feststellungen sollte man aber keineswegs einseitig im Sinne „Alle Vorarbeiter:innen waren/sind autoritär-konservativ“ missverstehen. Denn neben der „kleinbürgerlich-ständischen“ Entwicklungslinie von sozialen Gruppen innerhalb des Kleinbürger:innentums und der Arbeiter:innenaristokratie gibt es ebenso eine Traditionslinie fortschrittlicher Kleinbürger:innen, Angestellter und Arbeiter:innen. Diese hat sich vor allem in den Städten entwickelt und hatte ihre historischen Wurzeln in vorkapitalistischer Zeit z.B. bei den Handwerker:innen. Mit dem Übergang zum entwickelten Kapitalismus bildete der Kern der Industriearbeiter:innen, insbesondere bei den großen Unternehmen, sowie fortschrittliche Teile der Angestellten und des Kleinbürger:innentums die Basis der Arbeiter:innenbildungs-vereine, der Gewerkschaften, der Sozialdemokratie und später der Kommunist:innen.

Die weitere Entwicklung der Lage der Arbeiter:innen im Imperialismus

Welche Veränderungen und Ausdifferenzierungen der Arbeiter:innenklasse bringt nun die weitere Entwicklung des Imperialismus?

Allgemein gilt das von Marx zuerst formulierte “Bevölkerungsgesetz” unter den Bedingungen der kapitalistischen Akkumulation: In jeder Krise schickt das Kapital Arbeiter:innen in die Arbeitslosigkeit. Mit jedem neuen Krisenzyklus wird, durch die Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals infolge der Weiterentwicklung der Produktionstechnik, der relative Anteil der Arbeiter:innen kleiner, der bei Erweiterung der Produktion neu eingestellt werden kann (und, in Bezug auf das Kapital, dessen variablem Anteil v entspricht). Historisch konnten die ersten kapitalistischen Länder dieser Tendenz durch die Spezialisierung der Landwirtschaft und die Eroberung neuer Absatzmärkte im Ausland entgegenwirken. Das geht seit dem 20. Jahrhundert jedoch immer weniger. Der Widerspruch zwischen dem Drang des Kapitals nach schrankenloser Ausdehnung der Produktion und der beschränkten Konsumtionskraft der Gesellschaft verschärft sich im Imperialismus dauerhaft. Die Komintern sprach von der „allgemeinen Krise des Kapitalismus“, die zur damaligen Zeit – in den 1920-30er Jahren durch die Existenz des Sozialismus in der Sowjetunion verstärkt wurde.

Diese “allgemeine Krise” äußert sich ökonomisch darin, dass 

  1. die Nichtauslastung von Produktionskapazitäten in der Industrie zu einer chronischen Erscheinung wird, und
  2. ein chronischer Überschuss von Leihkapital in der Zirkulationssphäre entsteht.16

Die Folge der chronischen Unterauslastung der Produktionskapazitäten ist für die Arbeiter:innenklasse vor allem das Entstehen einer chronischen Arbeitslosigkeit, die es der Bourgeoisie ermöglicht, die Ausbeutungsrate, z.B. in Form der Arbeitsintensität zu erhöhen. In Deutschland, das angeblich ja seit Jahren eine “Vollbeschäftigung” vorweisen kann, äußert sich diese chronische Arbeitslosigkeit heute insbesondere in

  • einer als „normal” geltenden Sockelarbeitslosigkeit, die konstant etwa bei ca. 2 bis 2,5 Millionen Menschen liegt,
  • einer in den offiziellen Statistiken “wegdefinierten Arbeitslosigkeit”,
  • einer “Umorganisierung der Reservearmee” z.B. durch Leiharbeit oder Scheinselbständigkeit, die nichts anderes als Erscheinungsformen einer versteckten Arbeitslosigkeit sind,
  • einer sozialen Erfahrung der Arbeitslosigkeit, die heute alle Schichten der Arbeiter:innenklasse betrifft: „So lag bereits 1977 bis 1988 die Arbeitslosigkeit zwar ‚nur‘ um zwei Millionen. Aber in der gleichen Zeit machten 13 Millionen Menschen, annähernd jede zweite Erwerbsperson, die Erfahrung einer vorübergehenden Arbeitslosigkeit.“17

Die sozialen Folgen des Phänomens der chronischen Arbeitslosigkeit im Imperialismus sind für die Arbeiter:innenklasse

  • sinkende Reallöhne,
  • hierdurch ein manchmal schleichendes und bisweilen deutliches Absinken des Lebensstandards, das sich oftmals insbesondere bemerkbar macht, wenn Jobwechsel anstehen,
  • eine Destabilisierung der Lebenslagen für alle Schichten der Arbeiter:innenklasse,
  • eine besondere Verschlechterung der Lebenslage bei bestimmten Gruppen (wie z.B. der Jugend, Rentner:innen, Migrant:innen und Frauen),
  • sowie hierdurch verstärkt eine Verschärfung der Ausbeutung quer durch alle Berufe.
  • Diese steigert sich bis hin zur Entstehung einer Unterschicht aus Arbeiter:innen, für die zahlreiche elementare Rechte nicht gelten und die teilweise mit kriminellen Methoden ausgebeutet werden. Hierzu zählen die häufig aus Osteuropa stammenden Arbeiter:innen im Transportgewerbe, in der Landwirtschaft, in der Tierverarbeitung und auf den „Arbeiterstrichs”, aber ebenso Geflüchtete, Schwarzarbeiter:innen und Strafgefangene. Die Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen für das Proletariat als Ganzes wird teilweise dadurch abgefedert, dass die Ausbeutung dieser untersten Schichten des Proletariats über alle Maßen gesteigert wird. So wird z.B. die Versorgung der Arbeiter:innen mit Billigfleisch durch die sklavereiähnlichen Arbeitsbedingungen in den Schlachthäusern erkauft.

Die Ansammlung eines chronischen Überschusses von Leihkapital in der Zirkulationssphäre äußert sich für die Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Ländern dagegen vor allem in einem relativen Anwachsen der Beschäftigung in Sektoren außerhalb der Produktion.18 Dies ist der wahre Kern hinter der bürgerlichen Erzählung von der Dienstleistungsgesellschaft. Es stimmt zwar, dass viele angebliche „Dienstleistungsberufe“ heute Teil der Produktion sind (z.B. im Transportgewerbe, in der Logistik usw.), sich produktive und nicht-produktive Tätigkeiten manchmal gar nicht sauber voneinander trennen lassen und auch die Beschäftigten in nicht-produktiven Bereichen zur Arbeiter:innenklasse gehören. Trotzdem ist auch unter Berücksichtigung dieser Faktoren die Beschäftigung in den nicht-produktiven Sektoren in den imperialistischen Staaten in den letzten Jahrzehnten massiv angewachsen – siehe die Werbeindustrie, Call-Center usw. Letzteres ist Ausdruck der Tendenz des Imperialismus zum Rentierkapitalismus. Die Zirkulationssphäre bläht sich mit dem chronischen Kapitalüberschuss künstlich auf, ebenso der öffentliche Dienst.

Dies hat für die soziale Aufgliederung der Arbeiter:innenklasse eine Reihe von wichtigen Konsequenzen:

  • Die Arbeiter:innenklasse differenziert sich hinsichtlich des Widerspruchs zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, zwischen leitenden und ausführenden Tätigkeiten immer mehr aus, sodass die traditionelle, dreistufige Aufteilung (in [A] Arbeiter:innen; [B] Vorarbeiter:innen/Meister -:innen/Techniker:innen; [C] Angestellte) aus dem frühen Imperialismus einer vielschichtigeren Aufgliederung der Klasse weicht. Der Widerspruch zwischen geistiger und körperlicher Arbeit wird dabei laufend in allen Bereichen, auf allen Ebenen reproduziert.
  • Es vergrößert sich der relative Anteil der Beschäftigten in den „geistigen” Berufszweigen der Zirkulationssphäre, die traditionsgemäß mit einem höheren sozialen Ansehen verbunden sind, sich aber zugleich hinsichtlich ihrer tatsächlichen Lebensbedingungen immer mehr den Arbeiter:innen annähern – sowohl in Hinblick auf die Organisation ihrer Arbeit (Automatisierung der Bürotätigkeiten) als auch in Hinblick auf ihre materielle Lebenslage.19
  • Das Qualifikationsniveau steigt für die meisten Schichten der Arbeiter:innen, womit die Stellung der früheren Intelligenz abgewertet wird.20 Ebenso wie das klassische Kleinbürger:innentum wird die kleinbürgerliche Intelligenz immer stärker proletarisiert.
  • Es wächst der relative Anteil der Beschäftigten, die aus dem Nationaleinkommen bezahlt werden, ohne in der materiellen Produktion dazu beizutragen. Dieses Missverhältnis können die imperialistischen Staaten letztlich nur durch eine verschärfte (neo)koloniale Ausbeutung anderer Länder oder eine besonders verschärfte Ausbeutung von Teilen des Proletariats im Inneren finanzieren. Gleichzeitig ist zu erwarten, dass das Kapital im Fall einer schweren Krise gezwungen sein wird, gerade in diesen Sektoren die Axt anzulegen, was zu einer massiven Verschlechterung der Lage der dort beschäftigten Arbeiter:innen führen könnte.

Die imperialistische Entwicklung und ihre Wirkung auf das Bewusstsein der Arbeiter:innen

Was bedeuten die beschriebenen Entwicklungstendenzen des Imperialismus, die Erscheinung der chronischen Arbeitslosigkeit und die weitere Ausdifferenzierung der Arbeiter:innenklasse nun aber für das Bewusstsein der Arbeiter:innen? Wir können hierzu die folgenden Thesen formulieren:

  • Die Ausdifferenzierung der Teilung in geistige und körperliche, leitende und ausführende Tätigkeiten und insbesondere das Anwachsen der nicht-produktiven Sektoren hat für das Bewusstsein vieler Arbeiter:innen zur Folge, dass sie sich für etwas Besseres halten, obwohl sich ihre Lebenslage immer mehr der Lage der Arbeiter:innen in der Produktion annähert, oder sogar bereits schlechter ist (siehe hierzu auch den Einschub zur Funktion des Aktienbesitzes bei Arbeiter:innen).
  • Die Arbeit des Imperialismus am Bewusstsein der Massen setzt dort an und versucht die Spaltung zwischen den verschiedenen Teilen der Arbeiter:innenklasse zu vertiefen. Die Arbeiter:innen in den geistigen Berufen sollen sich auch kulturell von den „dummen Proleten” absetzen. Dies geschieht z.B. dadurch, dass die bürgerliche Ideologie Elemente des wissenschaftlichen Sozialismus einseitig herausgreift (etwa Antirassismus, Antisexismus, Umwelt, Frauenbefreiung) und in eine oberflächliche, liberale Lifestyle-Ideologie für das Kleinbürger:innentum, die Intellektuellen und die materiell besser gestellten Schichten der Arbeiter:innen verwandelt. Der Kampf der Arbeiter:innen um ihre Jobs in der Autoindustrie oder gegen die Verteuerung der Lebensmittel erscheint aus dem Blickwinkel dieser linksliberalen bürgerlichen Ideologie als rückschrittlich, denn die Autofabriken „müssen” für die Umwelt stillgelegt werden und die Fleischpreise steigen. In der Folge wächst unter den „liberalen” Arbeite:innenschichten ein Standesdünkel der scheinbaren „Fortschrittlichkeit” heran, während man auf die „Proleten” herabblickt. Die Faschist:innen nutzen ihre Chance, greifen die tatsächlichen materiellen Nöte der Arbeiter:innen auf und verbinden sie mit rückschrittlichen Inhalten (z.B. der Ideologie des Kulturkampfs). Auf diese Weise reproduziert sich die soziale Hierarchie der gesellschaftlichen Arbeitsteilung auch kulturell und bis in die politische Widerstandsbewegung hinein.
  • Das Zusammenwirken einer Proletarisierung immer größerer Teile der Bevölkerung, einer verstärkten Ausdifferenzierung der Berufe und der allgemeinen Tendenz zur Destabilisierung der Lebenslagen erhöhen den materiellen und psychischen Druck auf alle Teile der Arbeiter:innenklasse. Mit dem Ende der lebenslang gesicherten Tätigkeit für ein Unternehmen endet auch die Sicherheit des eigenen Platzes in der sozialen Hierarchie. Der Abstieg wird zur ständigen Bedrohung. Eine These ist, dass diese Bedrohung besonders stark und belastend empfunden wird, solange der materielle Lebensstand noch einigermaßen gefestigt ist.
  • Die Komplexität der modernen Arbeitswelt (aus Globalisierung, Digitalisierung, usw.) macht die Bedrohung immer weniger greifbar. Es ist kaum noch absehbar, wer oder was den eigenen Job nun eigentlich konkret bedroht, was sich häufig in einer diffusen Angst äußert.
  • Hier greifen eine Reihe von typischen psychischen Bewältigungsmechanismen, insbesondere die Verdrängung. Insgesamt äußert sich das Gefühl von Bedrohung bei denjenigen, die noch etwas zu verlieren haben, in einer zunehmenden Reizbarkeit.
  • Ein weiterer Bewältigungsmechanismus ist das Übertragen der gefühlten Bedrohung auf vermeintliche Sündenböcke, die einem die imperialistische und faschistische Propaganda haufenweise serviert. Bei Arbeiter:innen, die besonders stark von kleinbürgerlich-obrigkeitsstaatlichen Denkmustern geprägt sind (z.B. aufgrund ihrer sozialen und familiären Herkunft), wird die Zuflucht in einer Hinwendung zur Macht gesucht, bspw. durch das  Befürworten eines autoritären Staates als Allheilmittel gegen die diffuse Bedrohung.
  • Bei anderen Arbeiter:innen wiederum steigt mit der Verschlechterung der Lebenslage das  Widerstandspotenzial. Die These ist, dass sich dieses vor allem mit konkret erfahrenen Verschlechterungen entwickelt, die immer mehr als unerträglich empfunden werden.

Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus diesen Überlegungen und Thesen nun für die Klassenanalyse?

  • Für die Möglichkeit der Aktivierung und Politisierung von Arbeiter:innen ist die Frage  entscheidend, welche realen Verschlechterungen oder gefühlten Bedrohungen Widerstandspotentiale bei ihnen wecken. Diese Bruchlinien zu ertasten und in der Praxis zu nutzen ist eine essentielle Anforderung an die kommunistische Massenarbeit.
  • Wir gehen dabei nicht davon aus, dass sich abstrakte, allgemeingültige Bruchlinien für Deutschland formulieren lassen, auf die man dann nur noch warten oder hinarbeiten muss. Stattdessen muss die Frage der Bruchlinien, die Widerstandspotenziale in den Massen wecken können, für jeden Teilbereich der Arbeiter:innenklasse aufs Neue gefunden werden, also für jedes Dorf, jeden Stadtbezirk, jeden Betrieb usw.
  • Treten solche Brüche im Leben von Teilen der Arbeiter:innen ein, ist es eine entscheidende  Aufgabe für die kommunistische Massenarbeit, zu organisieren, dass die Arbeiter:innen die richtigen Schlussfolgerungen aus diesen Brüchen ziehen. Sie müssen sich zusammen schließen und aktiv kämpfen, anstatt in die üblichen Verdrängungsmechanismen oder das “Treten gegen andere Arbeiter:innen”, also die spontane, bürgerliche Konkurrenz abzugleiten. Auch hierfür müssen die Kommunist:innen für jedes Dorf, jeden Betrieb usw. das richtige Gespür für die Gefühle und Stimmungen der Massen entwickeln.
  • Schließlich bedeutet auch ein aktiver Widerstand von bestimmten Teilen der Arbeiter:innen nicht automatisch eine dauerhafte Aktivierung. Auch in den erfolgreichen Kämpfen besonders unterdrückter Teile der Arbeiter:innenklasse gab es in den letzten Jahren haufenweise Beispiele dafür, dass sich die Protagonist:innen zurückgezogen haben, als sie ihre Forderungen oder zumindest Teile davon durchgesetzt hatten, als das gröbste Unrecht beseitigt war. Eine besonders wichtige Aufgabe an die kommunistische Massenarbeit ist es deshalb, die Personen zu identifizieren, die auch im Falle eines Kampferfolgs zu weiterer Aktivität bereit sind, sowie Möglichkeiten zu suchen, eine solche Bereitschaft bei den Arbeiter:innen zu wecken.

Der Widerspruch zwischen Stadt und Land

Die ökonomischen Besonderheiten des Landes im Kapitalismus

Die Trennung zwischen Stadt und Land geschah historisch auf der Grundlage der Entwicklung der Arbeitsteilung zwischen Ackerbau und Handwerk und des Privateigentums an Grund und Boden. Das Land war historisch der Raum, in dem der Ackerbau (die Landwirtschaft) vorherrschend war. 

Das Privateigentum an Grund und Boden sorgt für eine besondere, nämlich gehemmte Entwicklung der Landwirtschaft im Kapitalismus (besonders ausgeprägt war dies historisch in England und Deutschland21). Durch die Grundrente wird die landwirtschaftliche Produktion verteuert und die Entwicklung der Landwirtschaft im Kapitalismus systematisch behindert. Der Mehrwert aus der landwirtschaftlichen Produktion muss höher als der Durchschnittsprofit liegen, da noch die Grundrente an die Bodenbesitzer:innen daraus bezahlt werden muss. Hierdurch wird die Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktionstechnik gebremst und die organische Zusammensetzung des Kapitals in der Landwirtschaft bleibt systematisch niedriger als in der Industrie. Auch Überschüsse, die aus guten Böden bzw. einer guten Lage der landwirtschaftlichen Flächen für den Transport entstehen, gehen als Differentialrente an die privaten Grundbesitzer:innen, wodurch Investitionen gehemmt werden.

Daneben weist der Teil der Arbeiter:innenklasse, der auf dem Land verbleibt und nicht in die Städte abwandert, einige besondere Eigenschaften auf. Die Arbeiter:innen waren früher häufig noch in irgendeiner Form an kleine Bauernwirtschaften gebunden und damit nicht, wie das „doppelt freie“ städtische Proletariat, frei von jedem Besitz. Bis heute spielt der kleine Grundbesitz für das soziale Leben auf dem Land eine wichtige Rolle, und zwar auch dann, wenn es sich nur noch um das Eigenheim (das bewohnte Grundstück ohne Landwirtschaft) handelt, das im ländlichen Raum noch immer vielfach anzutreffen ist. Die Existenz des kleinen Grundbesitzes wirkt in der Tendenz senkend auf den Arbeitslohn auf dem Land, und das aus drei Gründen: 1. Das kleine Grundeigentum begünstigt einen chronischen Überschuss an Arbeitskräften, weil diese nicht, wie in der Stadt, einfach weiterziehen und woanders einen neuen Job suchen können, ohne ihr Haus aufzugeben (sogenannte agrarische Übervölkerung). 2. Die Wohnkosten im Eigenheim liegen in aller Regel niedriger als in Mietwohnungen, wodurch die Kosten für die Reproduktion der Arbeitskraft sinken. 3. Werden auf dem eigenen Grundstück dazu noch selbst Nahrungsmittel angebaut, senkt dies die Reproduktionskosten der Arbeitskraft noch weiter. Dass dies in Deutschland bis heute eine Rolle spielt, ergibt sich aus der nach wie vor sehr hohen Zahl von Nebenerwerbslandwirtschaften, bei denen mindestens ein Teil der Familie außerhalb des heimischen Betriebes arbeitet. Mit regional teils erheblichen Unterschieden machen diese Betriebe heute immer noch fünfzig Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe aus.

Das niedrige Lohnniveau auf dem Land kommt aber besonders den kapitalistischen Betrieben entgegen, die aufgrund ihrer ökonomischen Stellung dazu verdammt sind, höhere Mehrwertraten erzielen zu müssen, nämlich: 1. den kapitalistischen Agrarbetrieben (wegen der Grundrentenproblematik), und 2. allen Arten von abhängigen kapitalistischen Betrieben – von den mittelständischen Industriebetrieben, die eine deutsche Besonderheit sind, bis zur selbständigen Kfz-Werkstatt – die ebenfalls einen großen Teil ihres Mehrwerts nach oben, an die Weltmonopole weiterreichen müssen. Die allgemeine Tendenz im Kapitalismus geht zwar zur immer stärkeren Konzentration von Betrieben und Grundbesitz. Ebenso, wie der Kapitalismus aber die einfache Handarbeit immer wieder aufs Neue reproduziert, um die Mehrwertrate zu steigern, konserviert und reproduziert er aufgrund der geschilderten ökonomischen Interessenlage auch das Kleineigentum, das in dieser Gesellschaft also niemals völlig ausstirbt.

Die beiden genannten Besonderheiten der Landwirtschaft bzw. des ländlichen Raums können im Kapitalismus nicht überwunden werden. Die Entwicklung des Kapitalismus auf dem Land geschieht daher langsamer, bzw. die rückschrittlichen, historisch eigentlich überholten Elemente des Kapitalismus sind auf dem Land noch besonders ausgeprägt. Auf dem Land halten sich das Kleineigentum und die kleine Warenproduktion zählebiger als in den Städten. Das Land bietet noch einen besseren Nährboden für kapitalistische Betriebe, die am unteren Ende der Produktionspyramide stehen, ob als Bäuer:innenwirtschaften oder Kleinbetriebe. Das Land wird damit zum (stets bedrohten) Reservat für die gegen ihren eigenen Untergang kämpfende kleine Bourgeoisie. Ein großer Teil des gesellschaftlichen Reichtums fließt aber von diesen Betrieben an die Grundbesitzer:innen und großen Monopole und damit, am Ende, vom Land in die Städte. Die Entwicklung des Landes ist nicht nur ökonomisch, sondern auch infrastrukturell und kulturell gehemmt. Der Widerspruch zwischen Stadt und Land wird durch den Kapitalismus also verschärft.

Das gesellschaftliche Leben auf dem Land

Die soziale Struktur auf dem Land ist von diesem Stadt-Land-Widerspruch und von den rückschrittlichen Verhältnissen des Kapitalismus auf dem Land geprägt. Zusammen mit dem Kleineigentum konservieren sich auf dem Land Denkmuster und Traditionen, die bis in den Feudalismus zurückreichen. Dazu zählen vor allem die Kultur der klassenübergreifenden Dorfgemeinschaft und der Abgrenzung dieser Gemeinschaft gegenüber den Städten (letztlich die Abgrenzung gegenüber allen Außenstehenden). Die Lebensweise der abhängigen Bourgeoisie und des Kleinbürger:innentums ist gleichzeitig, viel stärker noch als in den Städten, der Orientierungspunkt auch für die Arbeiter:innen auf dem Land, insbesondere wenn sie noch in irgendeiner Form eigenen Grundbesitz haben. Ein konkretes Beispiel für althergebrachte, dorfgemeinschaftliche Denkmuster wäre z.B. die Treue des konservativen Arbeiters gegenüber seinem Patron, die an das Verhältnis zwischen dem kleinen Bauern und seinem Feudalherrn erinnert. Obwohl der Patron heute der Patriarch eines kapitalistischen Familienunternehmens ist, das schon lange ein Anhängsel des internationalen Finanzkapitals ist. Die abhängige Bourgeoisie und das Kleinbürger:innentum sind darüber hinaus schon immer die klassischen Anhänger:innen für reaktionäre politische Bewegungen.

Das soziale und politische Klima, das sich im Dorf herausgebildet hat, ist in der Konsequenz nicht nur einfach „konservativer” als in den Städten, sondern entspricht Verhältnissen, die eigentlich längst überholt sind und permanent durch die weitere kapitalistische Entwicklung bedroht werden. Anders gesagt: Das Gefühl, dass die eigene, gewohnte Lebensweise gefährdet ist, ist prägend für die Psychologie der Bevölkerung auf dem Land. Das Spektrum kann dabei vom bloßen, unbestimmten Gefühl der Bedrohung bis hin zum ständigen Erleben des tatsächlichen Untergangs der eigenen Lebenswelt reichen. Das unbestimmte Gefühl ist es vielleicht in Dörfern in Süddeutschland, wo ein großer Teil der Bevölkerung bislang gut bezahlte Jobs bei Zulieferfirmen der Autoindustrie hatte, man aber spürt, dass das nicht ewig so weitergehen wird. Die Wahrnehmung ist es dagegen in Ostdeutschland, wo das Aussterben der ländlichen Gegenden nicht erst seit 1990 die bittere Realität ist.

Der Imperialismus arbeitet mit diesem reaktionären sozialen Klima wiederum aktiv, um die ländlichen Regionen politisch an sich zu binden. Die Bundeswehr bietet jungen Menschen in vielen ländlichen Gebieten eine attraktive Job-Perspektive und wirkt damit punktuell der Abwanderung und Verödung von Dörfern entgegnen. Daneben gibt es die Massenorganisationen Freiwillige Feuerwehr, Schützenvereine, u.v.m., die das Dorfleben vielerorts prägen und in denen der deutsche Imperialismus ebenfalls die ideologische Hoheit innehat. Hinzu kommen die Aktivitäten der Faschist:innen auf dem Land, wie etwa in Ostdeutschland oder Hessen.

Der Stadt-Land-Widerspruch heute in Deutschland

Dies sind also die Grundzüge des sozialen Klimas im ländlichen Raum und ihre ökonomischen Wurzeln. Natürlich unterliegt die räumliche Struktur jedes kapitalistischen Landes mit der Zeit einer Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung. Dabei verändert auch der Stadt-Land-Widerspruch seine Erscheinungsformen und wird vielfältiger.

Deutschland verfügt aufgrund seiner geschichtlichen Entwicklung im Vergleich zu anderen imperialistischen Ländern über eine besondere, nämlich dezentrale, regionalistische räumliche Struktur, die wir ausführlich in einem früheren Artikel22 im Rahmen der Klassenanalyse dargestellt haben. Der Stadt-Land-Widerspruch äußert sich hier nicht in einer scharfen Trennung zwischen wenigen Großstädten und einem weiten, “platten Land”, sondern hat eine ganze Reihe von Zwischenformen hervorgebracht: Etwa die zahlreichen Provinzstädte; einen Ballungsraum wie das Ruhrgebiet, das aus einer Vielzahl vergleichsweise kleiner, aber (historisch) industriell geprägter Großstädte mit ländlichen Regionen dazwischen besteht; einen eher „klassischen” landwirtschaftlich geprägten ländlichen Raum in großen Gebieten Norddeutschlands; einen stark von der Maschinenbau- und Autozulieferindustrie geprägten ländlichen Raum in Bayern und Baden-Württemberg, in dem gleichzeitig die Zahl der Familienbetriebe in der Landwirtschaft noch sehr hoch ist usw.

Das konservativ geprägte soziale und politische Klima, das wir als charakterisch für das „Land” beschrieben haben, hat sich unter diesen Bedingungen häufig in Verbindung mit einem ausgeprägten Regionalismus sowie den besonders reaktionären politischen Traditionen der deutschen Bourgeoisie entwickelt. Es prägt nicht nur die ländlichen Regionen im engeren Sinne, sondern entfaltet seine Wirkungen auch in den Regionen, die ökonomisch eine Zwischenform zwischen Stadt und Land bilden, wie z.B. den Provinzstädten und ihrer Umgebung. Das bedeutet für die politische Arbeit in Deutschland vor allem, dass wir außerhalb der Großstädte und urbanen Ballungsräume, in denen die politische Widerstandsbewegung seit Jahrzehnten konzentriert ist (Berlin, Hamburg, Rhein-ruhrgebiet, Leipzig, Nürnberg, München, usw.) in eben diesem konservativem Klima arbeiten müssen. Einem Klima, in dem z.B. die Gemeinschaft im Dorf oder der Kleinstadt eine bestimmende Rolle spielt, die Bedrohung der althergebrachten Lebensweise einen erheblichen Einfluss auf das Bewusstsein der Bevölkerung, einschließlich der Arbeiter:innen hat, Außenstehende vielleicht erstmal argwöhnisch betrachtet werden usw. Wir gehen jedoch davon aus, dass sich hier in der Praxis regional noch erhebliche Unterschiede herausstellen werden. 

Für die politische Arbeit wird es ansonsten von erheblicher Bedeutung sein, die weiteren konkreten Entwicklungstendenzen des Stadt-Land-Widerspruchs in Deutschland richtig einzuschätzen. Wir halten hier die folgenden Punkte für besonders wichtig: 

  • Die Konzentration der landwirtschaftlichen Betriebe wird weiter voranschreiten, und damit das Bäuer:innensterben, das auch die Lage der Arbeiter:innenklasse in den betroffenen Regionen  beeinflussen wird. Betrachtet man Deutschland als ganzes, muss hier – in erster Näherung – ein deutlicher Unterschied zwischen West und Ost festgestellt werden. Während die Landwirtschaft in Ostdeutschland im Zuge der Reprivatisierung der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften aus DDR-Zeiten heute zum überwiegenden Teil aus großen, kapitalistischen Agrarbetrieben besteht23, liegt die Zahl der landwirtschaftlichen Familienbetriebe im Westen (und hier insbesondere im Süden) noch deutlich höher. Die  selbständigen Bäuer:innen in Deutschland, die heute ständig gegen ihren wirtschaftlichen Ruin arbeiten müssen, haben schon Ende der 2000er Jahre (v.a. Milchbäuer:innen aus Süddeutschland) und zuletzt 2019 mit massiven Protesten und teils radikalen Kampfformen (Hungerstreik) für Aufsehen gesorgt und können in den betroffenen Regionen ein wichtiger Bündnispartner der Arbeiter:innenklasse sein.
  • Gleichzeitig hat die Landwirtschaft ihre frühere zentrale wirtschaftliche Bedeutung für zahlreiche ländliche Regionen verloren. Das gilt insbesondere dort, wo mittelständische Industriebetriebe oder die Tourismusbranche die Funktion des wichtigsten Arbeit“gebers” übernommen haben. Dieser Umstand schließt jedoch nicht unbedingt aus, dass die Existenz von landwirtschaftlichen Familienbetrieben das Sozialleben in der jeweiligen Region noch stark prägen kann (was aber nur konkret, vor Ort eingeschätzt werden kann). Die Zahl von Familienbetrieben liegt etwa gerade in Süddeutschland noch vergleichsweise hoch, während dort auch die Maschinenbauindustrie konzentriert ist. Bezüglich der Existenz von Industriebetrieben in ländlichen Regionen stellen wir also – ebenfalls in erster Näherung – einen deutlichen Unterschied zwischen Süd- und Norddeutschland fest.
  • Für die ländlichen Regionen und Provinzstädte, in denen die mittelständische Industrie (insbs. Maschinenbau, Zulieferindustrie) eine hervorgehobene wirtschaftliche Rolle spielt, könnte die weitere Entwicklung des Weltkapitalismus, insbesondere der Autoindustrie, einen heftigen Strukturwandel bedeuten (setzt sich etwa das Elektroauto weltweit durch, werden zahlreiche Autoteile nicht mehr gebraucht werden, an denen Deutschland bislang einen wichtigen Marktanteil hatte). Hier stellt sich also die Frage, ob eine Entwicklung ähnlich wie in den ehemaligen industriellen Regionen im Vereinigten Königreich oder den USA (Mittlerer Westen) auch in der deutschen Provinz bevorsteht. Einen Vorgeschmack darauf hat die Wirtschaftskrise ab 2018/19 mit zahlreichen Pleiten in der Zulieferindustrie geliefert. In diesem Fall würden diese Regionen aber als wichtiger Hort der politischen Stabilität in Deutschland wegfallen. Auf solch eine Entwicklung wird sich auch der deutsche Imperialismus vorbereiten, z.B. mit einer faschistischen Offensive.
  • Im direkten Umkreis von Großstädten werden die ländlichen Regionen zu Einzugsgebieten und begehrten Wohnorten für bestimmte Schichten aus den Städten („Speckgürtel”), was dort zu Preissteigerungen bei Immobilien und Mieten führt (häufig jedoch konzentriert auf Neubaugebiete). Sofern diese Entwicklung dadurch ausgeglichen wird, dass das lokale Handwerk profitiert oder Arbeiter:innen aus dem Dorf Jobs in der Stadt finden können, hat dies erstmal nur die soziale Durchmischung dieser Regionen zur Folge. Die Dorfgemeinschaft kann sich unter diesen Bedingungen konservieren, vor allem wenn das Kleineigentum im Familienbesitz bleibt. Sozialer Sprengstoff ist hier allerdings dann reichlich vorhanden, wenn z.B. im Zuge einer schweren Wirtschaftskrise die Jobs in den Städten vernichtet werden oder das Kleineigentum in größerem Ausmaß bedroht ist.
  • Dort, wo die Dorfgemeinschaften sich nicht neben Städten konservieren können und es keine lokale Industrie gibt, kommt es in aller Regel zur massenhaften Abwanderung insbesondere von jungen Menschen und zur (mehr oder weniger) schleichenden Auflösung der Dorfgemeinschaften. Das ist insbesondere in weiten Teilen der ländlichen Regionen Ostdeutschlands der Fall.

Für die Klassenanalyse ziehen wir aus diesen Betrachtungen die folgenden Schlussfolgerungen:

  • Die kommunistische Bewegung muss ihre Fokussierung auf Großstädte überwinden und eine Arbeit in den Dörfern und ländlichen Regionen entwickeln. Konkret stellt sich die Aufgabe, aus den Städten, in denen eine Verankerung besteht, das Umland und von hier aus den ländlichen Raum als Ganzes politisch zu erschließen.
  • Dabei müssen die Berührungsängste mit konservativen bis hin zu reaktionären Strukturen auf dem Land überwunden werden. Die Kommunist:innen dürfen die Dörfer nicht den Faschist:innen überlassen.

Nach dieser Betrachtung der drei grundlegenden Widersprüche in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung wollen wir noch drei weitere Punkte behandeln, die für die sozialen Beziehungen innerhalb der Arbeiter:innenklasse von großer Bedeutung sind. Dies sind 1. die Beziehungen zwischen den verschiedenen Generationen, 2. die Einsortierung von Arbeiter:innen unterschiedlicher Herkunft und Abstammung in das kapitalistische System der Arbeitsteilung und 3. die Tendenz zur ständigen Vergrößerung der Arbeiter:innenklasse durch die Proletarisierung des Kleinbürger:innentums. Letzterer Punkt ist von wichtiger Bedeutung in Hinblick auf die direkten Reserven der Arbeiter:innenklasse im revolutionären Kampf. 

Die zeitliche Dimension: Von der Ausbildung zur Rente

Die Beziehungen zwischen den verschiedenen Generationen von Arbeiter:innen sind im Kapitalismus ebenfalls durch das Verhältnis zwischen Kapital und Lohnarbeit, durch die Kapitalverwertung bestimmt. Das Kapital ist bestrebt, die Kosten für die Ware Arbeitskraft so weit wie möglich nach unten zu drücken. Dies fällt ihm bei denjenigen Teilen der Arbeiter:innenklasse am leichtesten, die entweder gerade erst in die Reihen der Lohnarbeiter:innen eingetreten sind, nämlich den jugendlichen Arbeiter:innen (Auszubildende, Berufseinsteiger:innen), oder deren Arbeitskraft bereits vom Kapital verbraucht wurde (Rentner:innen, Kranke, Schwerbehinderte). 

Wie gestaltet sich die besondere Lage der Jugend und der alten und kranken Arbeiter:innen vor diesem Hintergrund konkret?

Jugendliche Arbeiter:innen haben noch keine Qualifikation oder nur wenig Berufserfahrung vorzuweisen, was die Unternehmen zum Anlass nehmen, ihren Lohn weit unter den Wert der Ware Arbeitskraft zu drücken. Als Auszubildende erhalten sie trotz ihrer Arbeit nur eine kleine Entschädigung für Aufwendungen – sie werden also quasi ohne Lohn beschäftigt. Oder sie müssen ihre Ausbildung sogar komplett selbst bezahlen. Danach folgt eine längere Lebensphase als Berufseinsteiger:in mit deutlichen Abzügen vom durchschnittlichen Lohn. Hierdurch senken die Unternehmen das Einkommen der Arbeiter:innenfamilien. Jugendliche Arbeiter:innen sollen heute noch möglichst lange bei ihren Eltern wohnen und von deren Lohn mitversorgt werden. Hiermit schiebt das Kapital die Kosten für die Ausbildung auf die Familien der Arbeiter:innen ab. Hierdurch wachsen die Widersprüche innerhalb der Kleinfamilien an und die Arbeiter:innenklasse wird nach Generationen gespalten. Aus der Sicht der Eltern in den Arbeiter:innenfamilien liegt die junge Generation ihnen „auf der Tasche”.

Die heutige Tendenz des Kapitals ist es, eine immer weitere Verlängerung dieser Niedriglohnphase für junge Arbeiter:innen anzustreben, nämlich durch unbezahlte Praktika, nur befristete Stellen für Berufseinsteiger:innen, das Einfordern von „Berufserfahrung” bei der Bewerbung usw. All dies gehört zu den Erscheinungsformen der Umorganisierung der industriellen Reservearmee und der „versteckten Arbeitslosigkeit”. 

Die Lage der Rentner:innen und berufsunfähigen Arbei-ter:innen ist im Kapitalismus ebenfalls prekär. Ist die Arbeitskraft früher oder später durch ihren Verbrauch in den Unternehmen verschlissen, müssen die Rentner:innen aus dem variablen Kapitalteil mitversorgt werden. Dies geht aber unter den heutigen Bedingungen nur noch, indem entweder die Löhne und damit der Lebensstandard der Arbeiter:innen insgesamt zugunsten der Rentner:innen gesenkt werden, oder aber indem die Rente und damit der Lebensstandard der Rentner:innen immer weiter nach unten gedrückt wird (auch z.B. durch die Verteuerung von Gütern des Grundbedarfs bei nominalen Rentenerhöhungen). In beiden Fällen werden Generationen von Arbeiter:innen gegeneinander ausgespielt, wobei heute vor allem die zweite Alternative zur Anwendung kommt.24 Die Renten reichen in der Folge nicht mehr zum Leben, und die Rentner:innen werden bis ins hohe Alter gezwungen, sich noch irgendwie Geld dazu zu verdienen. Damit verwandelt das Kapital die Rentner:innen wieder in einen Teil der industriellen Reservearmee, die es benötigt, um 1. die Löhne unter den Wert der Arbeitskraft zu senken und 2. in Aufschwungphasen genug verfügbare Arbeitskraft zu finden.25

Eine viel beworbene Alternative zur mickrigen gesetzlichen Rente ist es, privat für das Alter vorzusorgen. Hier gilt, was im Einschub zum Aktienbesitz von Arbeiter:innen steht. Man gibt einen Teil seines Lohns ans Finanzkapital, um sich damit (über Kapitalerträge) einen Teil dessen zurückzuholen, was einem vom Lohn schon weggenommen wurde. Arbeiter:innen, die über lange Phasen ihres Lebens in Vollzeit arbeiten, können damit ihren Lebensstandard im Alter absichern – sofern nicht ein Börsencrash alle Einlagen vernichtet oder die Rentenversicherung pleite geht. Das bedeutet aber, dass sie während ihres Arbeitslebens dauerhaft auf einen zusätzlichen Teil ihres Lohns verzichten müssen. Wer dauerhaft nur Teilzeit- oder befristete Jobs mit niedrigem Lohn hat, wird nicht so viel ansparen können, um der Altersarmut entgegen zu wirken.

Das bedeutet: Unterhalb einer bestimmten Schwelle ist es überhaupt nicht mehr möglich, durch eigene Anstrengungen aus der Armutsfalle herauszukommen. Dies gilt z.B. für den überwältigenden Teil der Arbeiterinnen. Dann wartet im Alter ein Leben auf dem Existenzminimum.

Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus diesen Betrachtungen?

  • Als besonders unterdrückte Teile der Arbeiter:innenklasse bilden einerseits die Jugend, andererseits die Rentner:innen (einschließlich der kranken und schwerbehinderten Arbeiter:innen) besondere Potentiale im Klassenkampf.

Das widerständige Potential bei Jugendlichen wird gerade auch dadurch gebildet, dass sie sich in einer Findungs- oder Sturm-und-Drang-Phase ihres Lebens befinden und eher dazu fähig sind, bestehende gesellschaftliche Strukturen in Frage zu stellen. Rentner:innen bringen dagegen vielfach ihre hohe Lebenserfahrung in Kämpfe ein.

Es ist von daher kein Zufall, dass in politischen Bewegungen häufig ein hoher Anteil von Jugendlichen und alten Menschen aktiv ist, während das Segment der 30- bis 55-Jährigen teilweise schwieriger zu organisieren ist. Dies hängt auch damit zusammen, dass Arbeiter:innen dieser Altersgruppe ihre Sturm-und-Drang-Phase hinter sich haben, im Berufsleben stehen, ggf. eine Familie haben. In der Regel haben sie noch eine Aussicht auf positive Entwicklungen in ihren Arbeits- und Lebensbedingungen, wenn sie sich individuell darum bemühen. Hierdurch steigt die Hemmschwelle, durch klassenkämpferischen Aktivismus persönliche Risiken einzugehen, und sich (außerhalb bürgerlicher Organisationen wie den DGB-Gewerkschaften, Parteien o.ä.) zu organisieren.

Die kommunistische Bewegung muss Wege finden, sowohl das widerständige Potential der Jugend und Rentner:innen zu organisieren, aber auch in die Arbeiterschichten mittleren Alters vorzudringen, die in Betrieben arbeiten und häufig eine gewisse Lebens- bis hin zur Kampferfahrung vorweisen können. Hier ist eine besondere Flexibilität in den Organisationsformen notwendig. 

Die Widersprche zwischen den Arbeiter:innen aufgrund von Herkunft und Abstammung

Neben der Spaltung der Arbeiter:innenklasse nach Geschlechtern und Generationen spielt die Spaltung nach Herkunft und Abstammung eine besondere Rolle in der Strategie des Kapitals. Die internationale Migration von Arbeiter:innen ist im Kapitalismus, insbesondere in seinem imperialistischen Stadium, zu einer ständigen Erscheinung geworden. Der Grund hierfür ist die systematische Ausbeutung der Kolonien, Neokolonien und abhängigen Staaten durch die imperialistischen Länder, sowie die Tatsache, dass der Imperialismus gesetzmäßig Kriege und Umweltkatastrophen hervorbringt. Die Arbeiter:innen aus anderen Ländern dienen dem Kapital auf der ökonomischen Ebene zur Erweiterung der industriellen Reservearmee. Darüber hinaus ist seine Strategie darauf ausgerichtet, die oben geschilderte Hierarchie in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ethnisch zu unterlegen, das heißt die Arbeiter:innen je nach Herkunft und Abstammung in den Arbeitsprozess einzusortieren. Migrant:innen vor allem aus den entwickelten kapitalistischen Ländern, die ein bestimmtes Ausbildungsniveau haben, können in der Regel legal mit einer Arbeitserlaubnis einreisen und einer geregelten Tarifbeschäftigung nachgehen, während Arbeiter:innen aus neokolonialen Staaten (z.B. aus Osteuropa) mit viel niedrigerem Lohnniveau in Bereichen und zu Bedingungen eingesetzt werden, für die das Kapital sonst keine Arbeiter:innen finden würde, wie z.B. als Leiharbeiter:innen, Erntehelfer:innen, in der Fleischverarbeitung, im Transportwesen usw. Ganze Wirtschaftszweige werden so heute auf der besonderen Ausbeutung von migrantischen Arbeiter:innen aufgebaut. Besteht keine Möglichkeit der legalen Einreise, wie z.B. für Menschen aus Afrika oder Krisenstaaten in Asien, und sind sie gezwungen, sich heimlich, unter Lebensgefahr und als Ausbeutungsobjekte internationaler Schleusermafien auf den Weg nach Deutschland zu machen, wartet auf sie die entwürdigende Unterbringung in Lagern oder in Asylhaft, sowie die Schwarz- und Zwangsarbeit. 

Dieses ethnisch unterlegte System der Arbeitsteilung ermöglicht es dem Kapital, Teilen der Arbeiter:innenklasse auf Kosten der besonders ausgebeuteten Schichten einen höheren Lebensstandard zu ermöglichen (z.B. durch billig produzierte Lebensmittel) und die Spaltung der Klasse nach Lebenswelten zu vertiefen. Für Arbeiter:innen bestimmter Herkunft (z.B. aus der Türkei oder arabischen Ländern) setzt sich die Diskriminierung im Arbeitsprozess über Generationen fort, indem ihnen bestimmte Jobs selbst mit Studienabschluss vorenthalten bleiben. Die Diskriminierung im Arbeitsprozess und die gesellschaftliche Diskriminierung verstärken sich hierbei gegenseitig. Hinzu kommt der Rassismus, der zwischen verschiedenen migrantischen Gruppen geschürt wird. All dies bildet die Grundlage für die politische Spaltung der Arbeiter:innenklasse, die durch eine systematische ideologische Arbeit des Imperialismus in den Massen verstärkt wird. 

Welche Schlussfolgerungen ergeben sich hieraus?

Ebenso wie die Jugend und die Renter:innen bilden auch die Arbeiter:innen mit Migrationshintergrund als besonders unterdrückte Teile der Klasse besondere Potenziale im Klassenkampf.

Dies gilt besonders dann, wenn die betroffenen Arbeiter:innen Klassenkampferfahrungen aus ihren Heimatländern mitbringen.

Eine international zusammengesetzte, im politischen Kampf vereinigte Arbeiter:innenklasse ist aus kapitalistischer Sicht ein Worst-Case-Szenario, und die vielfältigen Strategien der Bourgeoisie gegenüber Arbeiter:innen mit Migrationshintergrund zielen darauf ab, genau das zu verhindern.

Man darf sich hierbei jedoch keine Illusionen machen. Die kapitalistische Aufstiegsideologie kann gerade in den zugewanderten Teilen der Arbeiter:innenklasse, die aus armen Ländern stammen, eine besondere Wirkung entfalten. Zudem haben Arbeiter:innen mit unsicherem Aufenthaltsstatus durchaus viel zu verlieren, wenn sie sich am Klassenkampf beteiligen.

Die Kommunist:innen müssen alle Möglichkeiten nutzen, Arbeiter:innen verschiedener Herkunft und Abstammung im Klassenkampf zusammenzubringen und die Barrieren zwischen ihnen einzureißen. Dies betrifft nicht nur den Rassismus und Chauvinismus zwischen deutschen und migrantischen Arbeiter:innen, sondern auch den Rassismus und Chauvinismus zwischen Migrant:innen.

Die Proletarisierung des Kleinbürger:innentums

Wie verhält es sich nun mit den kleinbürgerlichen Schichten in der kapitalistischen Gesellschaft und ihrem Verhältnis zur Arbeiter:innenklasse? 

In unserer ersten Artikelreihe zur Klassenanalyse haben wir das Kleinbürger:innentum definiert als “alle Schichten, die weder frei von Eigentum an Produktionsmitteln sind – sonst wären sie Arbeiter:innen –, noch genug davon besitzen, um (…) als Kapitalist:innen zu fungieren. Das einfachste Beispiel ist der selbständige Warenproduzent, der entweder allein, gemeinsam mit Familienangehörigen oder auch mit ein paar Lohnarbeiter:innen seiner Tätigkeit nachgeht, jedenfalls solange er selbst noch produktiv tätig ist. In diese Kategorie fallen heute noch der klassische Handwerksmeister oder im Bereich des Handels die kleine Ladenbesitzer:in. (…) Hinzu kommt, dass außer den selbständigen und selbst arbeitenden Geschäftsleuten auch innerhalb der Welt der kapitalistischen Unternehmen Zwischenschichten entstehen, die sich weder eindeutig dem Proletariat noch der Bourgeoisie zuordnen lassen. Zu diesem ‚modernen Kleinbürger:innentum‘ kann man Angestellte auf den mittleren Unternehmensebenen zählen, die eine gewisse, begrenzte Verfügungsgewalt über Kapital besitzen, sei es innerhalb des Unternehmens oder aber weil ihr Gehalt hoch genug ist, um Teile davon als Kapital fungieren zu lassen (Bsp.: Aktienbesitz, Immobilien), von denen aber nur der geringste Bruchteil die Chance hat, in die Liga der kapitalistischen Manager:innen aufzusteigen.” 26

Aufgrund ihrer widersprüchlichen Klassenlage als Zwischenschichten gilt für beide Gruppen des Kleinbürger:innentums, dass sie auch hinsichtlich ihres Bewusstseins im Grundsatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat hin- und herschwanken. Als Kleineigentümer:innen hoffen sie, sich etwas aufzubauen und in die Bourgeoisie aufzusteigen, obwohl die Statistik deutlich gegen sie spricht. Als Werktätige arbeiten sie häufig von früh morgens bis spät abends selbst, um ihren Lebensunterhalt zu sichern und/oder ihren Aufstiegstraum zu verfolgen.

Im Falle des klassischen Kleinbürger:innentums nähert sich ihre Lebenslage denen der Arbeiter:innen immer mehr an. Was unterscheidet den Kioskbesitzer hinsichtlich seiner Arbeitszeit, seines Einkommens und seiner sozialen Beziehungen noch von Arbeiter:innen? Der Unterschied besteht darin, dass er einen Laden gepachtet hat und versucht, möglichst viel von seinen Waren zu verkaufen, um jenseits der Pacht noch genug für seinen eigenen Unterhalt und den seiner Familie zu verdienen. Er hat keine Lohnfortzahlung und keinen Urlaubsanspruch. Wird er krank oder will wegfahren, ist er in der Zeit ohne Einkommen, während die Pacht weiter bezahlt werden muss. Der Unterschied besteht auch darin, dass er gegebenfalls selbst Lohnarbeiter:innen beschäftigt, denen er nur einen geringen Lohn bezahlen kann.

Ein großer Teil des klassischen Kleinbürger:innentums ist in den vergangenen Jahrzehnten verschwunden und “proletarisiert” worden, das heißt er hat sich in Arbeiter:innen verwandelt: „Von 1950 bis 1990 schrumpfte der konservativ-ständische Mittelstand der kleinen Landwirte, Kaufleute und Handwerker (mit ihren mithelfenden Familienangehörigen) von etwa 25 % auf weniger als 5 % der Bevölkerung.“ 27 In unserer letzten Artikelreihe haben wir diesbezüglich z.B. auf die Monopolisierung des Handwerks hingewiesen.28 Auch die Zahl der Kioske, Büdchen, Spätis geht langsam zurück, bzw. diese werden von Tankstellen, Bahnhöfen und sonstigen Ketten mit langen Öffnungszeiten verdrängt.29 Dieser Prozess schreitet voran, verläuft aber widersprüchlich und in verschiedenen Regionen (etwa Stadt und Land) unterschiedlich. 

Daraus ergeben sich für die Klassenanalyse folgende Schlussfolgerungen:

Das Kleinbürger:innentum bildet eine direkte Reserve des Proletariats im Klassenkampf. Dies gilt aufgrund seiner prekären Klassenlage, die sich häufig kaum noch von denen der Arbeiter:innen unterscheidet, vor allem für das klassische Kleinbürger:innentum.

Die Lebensbedingungen dieser klassischen Kleinbürger:innen, deren Alltag sich fast nur um den Laden oder Kleinbetrieb dreht, erschwert dabei eine Organisierung. Ebenso wirkt sich die ständige Angst vor einem Geschäftseinbruch hemmend auf eine politische Aktivierung aus.

Dort, wo die Faschist:innen Abstiegsängste des klassischen Kleinbürger:innentums aufgreifen (z.B. bei den Handwerker:innen), dürfen sich die Kommunist:innen nicht abwenden, sondern müssen dort ebenfalls eine Arbeit entfalten.

Die Klassenlage des modernen Kleinbürger:innentums, das noch stärker vom  Aufstiegsversprechen geprägt ist, verdeckt die Interessengemeinschaft mit den Arbeiter:innen noch stärker als beim klassischen Kleinbürger:innentum. Die Angst vor dem sozialen Abstieg kann sich aber auch in Aktivität und Widerstand kanalisieren, z.B. wenn es in der Firma zum Jobkahlschlag kommt (was sich in den vergangenen Jahren in einer Reihe von bemerkenswerten Aktivierungen z.B. von Angestellten bei Techno- und Kommunikationskonzernen geäußert hat).

Ansonsten gilt das oben Gesagte im Hinblick auf den Widerspruch zwischen geistiger und körperlicher Arbeit. Die Vorstellung, etwas „Besseres” zu sein, wirkt sich hemmend auf eine Aktivität und die gemeinsame Organisierung mit Arbeiter:innen aus anderen Schichten aus.

Zusammenfassung

Der Ausgangspunkt unseres Artikels war die Frage nach der Entstehung revolutionärer Situationen und den Bruchlinien im Leben der Arbeiter:innen, die solche revolutionären Situationen hervorrufen können.

Wir haben detailliert aufgezeigt, dass es ein falsches Verständnis der Klassenanalyse und der kommunistischen Arbeit in den Massen wäre, wenn wir solche Bruchlinien allgemein, für die gesamte Arbeiter:innenklasse in Deutschland auf einmal ausmachen wollten. Ebenso falsch wäre es, das eine Segment in der Arbeiter:innenklasse suchen zu wollen, das es jetzt zu organisieren gilt. Stattdessen ist es notwendig, gestützt auf die dialektische Methode und die Erkenntnisse des historischen Materialismus vieldimensional an die Arbeiter:innenklasse heranzutreten. Das bedeutet, dass die Kommunist:innen auf jeder Ebene der Arbeit, in jeder Stadt, jedem Dorf, jedem Betrieb die konkreten relevanten Widersprüche und Bruchlinien immer wieder neu bestimmen und darauf ihre Arbeit aufbauen müssen, um den revolutionären Kampf der Arbeiter:innenklasse anführen zu können. Die Klassenanalyse zu konkretisieren ist also eine ständige Aufgabe der Arbeit einer Kommunistischen Partei, und wir haben hier nicht mehr als einen Ansatz, eine Methode dazu entwickelt.

Konkret haben wir die grundlegenden Widersprüche in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung betrachtet, die heute die Auffächerung der Arbeiter:innenklasse in Deutschland, und damit das Leben der Arbeiter:innen hierzulande bestimmen. Sie bilden damit die Grundlagen für die Entstehung von Bruchlinien. 

Wir haben aufgezeigt, 

dass der Widerspruch zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit als Basis des Patriarchats und der patriarchal-bürgerlichen Familie die Erfahrung von Macht und Unterordnung als unmittelbares Gewaltverhältnis in der kindlichen Persönlichkeitsentwicklung begründet. In der patriarchalen Familie werden die psychischen Voraussetzungen nicht nur für die Spaltung der Klasse nach Geschlechtern, sondern auch für die Unterordnung der Arbeiter:innen im Betrieb und im Staat geschaffen. Als Gegentendenz drängt die Weiterentwicklung der Produktionsverhältnisse die Arbeiter:innen dazu, sich von den Fesseln des Patriarchats und der bürgerlichen Kleinfamilie zu befreien, was sich unter anderem im Kampf der Arbeiter:innen gegen patriarchale Unterdrückung äußert. Unter den Verhältnissen des Kapitalismus kann die bürgerliche Kleinfamilie jedoch nicht überwunden werden. Ihre Krise äußert sich stattdessen in einer „negativen” Auflösung der Familienverhältnisse, mit verheerenden psychischen Folgen für die Arbeiter:innen. Für die Kommunist:innen folgt aus diesen Erkenntnissen, dass den Kämpfen gegen das Patriarchat eine zentrale Bedeutung für den revolutionären Kampf und die Herausbildung des Neuen Menschen im Sozialismus zukommt. Es ist deshalb eine wichtige Aufgabe für die Kommunist:innen, dafür zu arbeiten, dass der Frauenkampf und der LGBTI+ Kampf mit den anderen Kämpfen der Arbeiter:innenklasse verbunden werden.

dass der Widerspruch zwischen körperlicher und geistiger Arbeit die Herausbildung sozialer Hierarchien zwischen den Arbeiter:innen begründet und die Persönlichkeit in diesen Hierarchien verortet. Hierdurch werden Kategorien wie das soziale Ansehen und das Herauf- und Herabschauen auf andere Gruppen zu festen Bestandteilen in der Persönlichkeit der Arbeiter:innen. Diese verbinden sich mit der durch das Lohnarbeitsverhältnis begründeten spontanen Konkurrenz sowie dem Einfügen in Macht- und Unterordnungsverhältnisse. Die Gegentendenz, die die Entwicklung der Produktivkräfte auf die Tagesordnung setzt, ist das solidarische und organisierte Zusammenkommen der Arbeiter:innen im Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung. Die Aufgabe der Kommunist:innen ist es, alle Ansätze zu nutzen, um dieses Zusammenkommen im Kampf zu organisieren und dabei die spontane Konkurrenz unter den Arbeiter:innen zu überwinden. Gleichzeitig können Bruchlinien im Leben der Arbeiter:innen gerade dort entstehen, wo die kapitalistische Entwicklung zu einer gewaltsamen Neuordnung der sozialen Hierarchien führt. Die Kommunist:innen müssen die Fähigkeit entwickeln, derartige Prozesse in ihrer Arbeit vorauszusehen und darauf zu reagieren.

dass der Widerspruch zwischen Stadt und Land sich mit den beiden oben genannten Widersprüchen verbindet und deren Wirkung verstärkt. Er fördert damit die Bewahrung besonders reaktionärer gesellschaftlicher und bewusstseinsmäßiger Strukturen. Das Zurückbleiben des Landes gegenüber der Stadt kann jedoch gerade den Widerstand in den Dörfern heraufbeschwören, wie etwa die Bäuer:innenkämpfe der letzten Jahre gezeigt haben. Für die Kommunist:innen stellt sich die strategische Aufgabe, das Land nicht dem Staat und den Faschist:innen zu überlassen, die Fokussierung auf Großstädte zu überwinden und eine Arbeit zu entwickeln, die alle Regionen in Deutschland umfasst.

Wir haben darüber hinaus die Widersprüche zwischen den verschiedenen Arbeiter:innen-generationen, zwischen den Arbeiter:innen verschiedener Herkunft und Abstammung sowie die Proletarisierung des Kleinbürger:innentums betrachtet, und zu allen Bereichen eigene konkrete Schlussfolgerungen vorgestellt.

Wir haben gesehen, dass durch die Entwicklung des Imperialismus die Verhältnisse innerhalb der Arbeiter:innenklasse komplexer geworden sind – was sich auch darin äußert, dass es die typische Arbeiter:innenbiographie (z.B. 40 Jahre bei Thyssen Krupp) nicht mehr gibt, dass sich auch die Arbeiter:innenbiographien vervielfältigen. Der Schlüssel zum Verständnis dieser Entwicklungen ist die Betrachtung der genannten grundlegenden Widersprüche.

1 Vgl. Kommunismus Nummer 13.

2 Zu diesem Ergebnis kommt auch eine bekannte Studie aus der bürgerlichen Soziologie, die als grundlegendes Werk der soziologischen Milieuforschung gilt: „Ob eine Lebensweise angemessen, würdig, zumutbar ist, richtet sich vor allem nach dem Vergleich mit anderen Milieus und anderen Zeiten. Dieser Vergleich wird nicht zuletzt in moralischen und symbolischen Kategorien angestellt. Für die Mehrheit geht es dabei um eine kontinuierliche und geachtete Arbeit, um die Belohnung aufgewandter Mühen durch Erfolg, um die Freiheit von Zukunftsangst, um die Achtung und Anerkennung anderer, um die Kredit- und Glaubwürdigkeit.“, Vester u.w., „Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel“, Suhrkamp 2001, S. 82f.

3 Lenin, “Der Zusammenbruch der II. Internationale”, LW 21, S. 206

4 „Der Kapitalismus wäre nicht Kapitalismus, wenn das ‚reine‘ Proletariat nicht von einer Masse außerordentlich mannigfaltiger Übergangstypen vom Proletarier zum Halbproletarier (der seinen Lebensunterhalt zur Hälfte durch Verkauf seiner Arbeitskraft erwirbt), vom Halbproletarier zum Kleinbauern (und kleinen Handwerker, Hausindustriellen, Kleinbesitzer überhaupt), vom Kleinbauern zum Mittelbauern usw. umgeben wäre; wenn es innerhalb des Proletariats selbst nicht Unterteilungen in mehr oder minder entwickelte Schichten, Gliederungen nach Landsmannschaften, nach Berufen, manchmal nach Konfessionen usw. gäbe.“, Lenin, „Der ‚linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus, LW 31, S. 60

5 Siehe hierzu die Diskussion in: Kommunismus Nr. 14, “Die Frau im Kapitalismus”, S. 5 ff.

6 Marx, “Thesen über Feuerbach”, MEW 3, S. 6

7 Vgl. Klaus, Buhr, Philosophie Wörterbuch, VEB Bibliographisches Institut Leipzig 1976, S. 324ff

8 Ebd.

9 Vgl. hierzu die historische Arbeit von Georg Klauda, “Die Vertreibung aus dem Serail – Europa und die Heteronormalisierung der islamischen Welt”, Männerschwarm-Verlag 2008, S. 94 ff.

10 Eine solche Theorie wird z.B. von Herbert Marcuse, einem bekannten Vertreter der Kritischen Theorie, vertreten. Vgl. Herbert Marcuse, “One-dimensional man”, 1964, Ausgabe Beacon 1991, S. 4f.

11 Siehe Kasten

12 Vgl. hierzu die umfassende Darstellung der Entwicklung von Marx’ Auffassungen vom Menschen von Lucien Sève, “Marxismus und Theorie der Persönlichkeit”, S. 78 ff.

13 Marx, “Das Kapital” – Band 1, MEW 23, S. 184 (Fußnote)

14 Sève, “Marxismus und Theorie der Persönlichkeit”, S. 194

15 Vgl. “Die Frau im Kapitalismus”, Kommunismus Nr. 14, S. 5 ff.

16Das bedeutet natürlich nicht, dass keine Erneuerung des fixen Kapitals möglich wäre. (…) Trotz des überschüssigen fixen Kapitals und sogar gerade wegen des überschüssigen fixen Kapitals werden neue  Fabriken errichtet, die mit den modernsten automatischen Maschinen ausgestattet sind, um die Produktionskosten zu senken. Es gibt also in der Entwicklung der Produktivkräfte keine Stagnation, sondern es wächst das Unvermögen, die sich entwickelnden Produktivkräfte  auszulasten.“, Varga, S. 28

17 Vester, Soziale Mlieus, S. 85

18 Bereits in einer ökonomischen Analyse der Kommunistischen Internationale von 1937 heißt es dazu: „In den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern, wie in Großbritannien und den USA,  zeichnet sich die Tendenz ab, die absolute Zahl derjenigen Arbeiter, die unmittelbar Neuwert in der Produktion schaffen, zu verringern, während die Anzahl der in der Zirkulation, in der Konsumtion und im Dienstleistungswesen Beschäftigten relativ ansteigt. So gelangt der Kapitalismus in der Periode der allgemeinen Krise in den Zustand, den Marx als ‚Kapitalüberschuss bei überzähliger Bevölkerung‘  bezeichnete.“, Varga, S. 29

19 „Zugleich wuchs der neue Mittelstand der Angestellten von etwa 20 % auf fast 60 %, zu einer großen Arbeitnehmergruppe, die den alten ständischen Dünkel nach und nach aufgab und sich an die industrielle Arbeiterschaft annäherte.“, „Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel“, Vester, S. 85

20 Vgl. “Struktur der Arbeiter:innenklasse in Deutschland”, Kommunismus Nr. 13, S. 47 ff.

21 Interessanterweise gibt es über die Verteilung des Bodenbesitzes in Deutschland kaum  Statistiken, geschweige denn aktuelle. Ein Text der Rosa-Luxemburg-Stiftung „Wem gehört der Boden in der Bundesrepublik Deutschland?“ von Hermann Behrens aus dem Jahr 2001 gibt immerhin eine Übersicht über die damals verfügbaren Veröffentlichungen von Zahlen (deren empirische Grundlage er jedoch bemängelt). Demnach habe es Anfang der 1970er Jahre in Westdeutschland 10 Millionen Grundeigentümer gegeben (dies umfasst ebenso den Eigentümer einer Wohnung wie den Großgrundbesitzer). 800.000 davon seien Großeigentümer gewesen. 2,2 Prozent der  Bodeneigentümer (0.001 Prozent der Bevölkerung) besaßen damals etwa ein Drittel der Wirtschaftsfläche und fast drei Viertel der Forstfläche. Der landwirtschaftlichen Besitz- und Betriebsstatistik sei zu entnehmen, dass die Tendenz zu Großbetrieben zunimmt, die Zahl der Kleinbetriebe zurückgeht und die Bedeutung der Pacht (also der Grundrente) steigt: Lag der Pachtflächenanteil in der Landwirtschaft im Jahr 1949 noch bei 19,7 Prozent, sei er bis 2000 auf ca. 50 Prozent gestiegen. In den neuen Bundesländern liege er gar bei 90 Prozent.,  https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/behrens.pdf.

22 Vgl. “Die räumliche Struktur der Klassengesellschaft in Deutschland”, Kommunismus Nr. 14, S. 26 ff.

23 Die Wurzeln hierfür liegen jedoch noch tiefer, nämlich beim preußisch-junkerlichen Großgrundbesitz, der in Ostdeutschland schon im 19. Jahrhundert vorherrschend vor.

24 Vgl. “Die räumliche Struktur der Klassengesellschaft in Deutschland”, Kommunismus Nr. 14, S. 26 ff.

25 Vgl. Handelsblatt vom 27.09.2019: „Dass die geburtenstarken Jahrgänge bald in Rente gehen, muss nicht  zwingend ein Grund zur Sorge sein. (…) Der Grund für den Optimismus: Wie viel gearbeitet wird, hängt nicht allein von der Zahl der Erwerbstätigen ab, sondern auch von deren Verhalten. Und  bei der Erwerbsbeteiligung und dem Arbeitsvolumen von Frauen und Älteren gibt es noch Luft nach oben.  (…) Bei der Erwerbsbeteiligung der 60- bis 64-jährigen liegt Deutschland in der EU mit einer Quote von 58 Prozent bereits auf dem zweiten Platz hinter Schweden (…). Und auch die Zahl der durchschnittlich geleisteten Wochenstunden in dieser Altersgruppe hat sich seit 2004 von 11,2 auf 21,6 pro Kopf fast verdoppelt. Die Forscher gehen davon aus, dass sich dieser Trend fortsetzt. Sie kommen für 2030 auf ein wöchentliches Arbeitsvolumen von 1,41  Milliarden Stunden. Dabei gehen sie davon aus, dass 55- bis 74-jährige mehr arbeiten als heute (…)“, www.handelsblatt.com/politik/deutschland/studie-renteneintritt-der-babyboomer-koennte-weniger-dramatisch-sein-als-befuerchtet/25058786.html

26 “Die Struktur des Kapitalismus in Deutschland”, Kommunismus Nr. 13, S. 9

27 Vester, Soziale Milieus, S. 72

28 Vgl. “Struktur der Arbeiter:innenklasse in Deutschland”, Kommunismus Nr. 13, S. 48 f.

29 “2000 Büdchen weniger – In Deutschland sterben die Kioske”, www.ksta.de/wirtschaft/2000-buedchen-weniger-in-deutschland-sterben-die-kioske-31151980

Diesen Beitrag teilen: