Mit dem Schlagwort “Europäischer Frühling” haben fortschrittliche Kräfte in Deutschland1 das Erstarken linker Parteien in anderen europäischen Ländern bezeichnet.
Das wichtigste Ereignis in diesem Zusammenhang war die Regierungsübernahme der Partei Syriza in Griechenland Anfang des Jahres. Ganz Europa blickt seither gespannt nach Athen, da Griechenland seit 2010 / 2011 das Land ist, in dem sich die Widersprüche der Weltwirtschaftskrise auf europäischem Boden am heftigsten entladen haben – und das damit ganz offensichtlich zum “schwächsten Kettenglied” der imperialistischen EU geworden ist. Die häufig als “radikal-links” bezeichnete Syriza-Partei wurde vor diesem Hintergrund zum Bezugspunkt und Hoffnungsträger für fortschrittliche Kräfte in ganz Europa – wie sie und ihre prominentesten Köpfe Tsipras und Varoufakis zu den wichtigsten Buh-Männern für die bürgerlichen Medien geworden sind. Der Regierungsübernahme von Syriza könnten bald ähnliche Wahlergebnisse linker Kräfte in Spanien (Podemos) und Irland (Sinn Féin) folgen. Dass es sich bei dieser Entwicklung jedoch nicht um einen einheitlichen, ganz Europa umfassenden “Linkstrend” handelt, beweist das gleichzeitige Erstarken ultrarechter und faschistischer Kräfte wie z.B. der Goldenen Morgenröte in Griechenland, Jobbik und Fidesz in Ungarn, Front National in Frankreich, UKIP in England und der AfD in Deutschland. Wie ist die politische Entwicklung von Syriza und Co. in Europa also einzuordnen? Bedeutet sie eine Stärkung für den Klassenkampf der Arbeiterklasse, auch wenn Syriza die EU bloß reformieren und nicht zerschlagen will? Ist die Syriza-Regierung ein Motor für den Antiimperialismus oder das berühmte “kleinere Übel” oder keines von beidem? Welche Konsequenzen hat die kommunistische Bewegung in Deutschland aus dieser Entwicklung für ihre Politik zu ziehen? Sollen wir Spenden für Syriza sammeln, um den deutschen Imperialismus zu schwächen? Oder, um den Faschismus in Griechenland zu verhindern? Und dann – wenn wir schon dabei sind: Sollen wir in Deutschland trotz aller bekannten Einwände aus denselben Gründen dann auch die Linkspartei oder die MLPD unterstützen?
Zur Methode
All diese Fragen sind nicht neu: Die politische Einordnung des Reformismus – im Kapitalismus im allgemeinen und in der jeweiligen Phase des Klassenkampfes im besonderen – wurde gerade in der Kommunistischen Internationale in den 1920er und 1930er Jahren ebenso kontrovers diskutiert wie die Frage, welche Konsequenzen für die kommunistische Strategie und Taktik daraus zu ziehen sind. Die Ergebnisse dieser Diskussionen liegen vor2. Wir können und müssen sie heranziehen und damit arbeiten, um die brennenden politischen Fragen von heute zu beantworten.
Das bedeutet methodisch nicht, die eigene politische Meinung durch das Zusammensuchen von Zitaten zu “untermauern” – z.B. aus Lenins “Linkem Radikalismus”, um daraus abzuleiten, dass Syriza, die Linkspartei oder die MLPD bei den nächsten Wahlen unterstützt werden müssten und dass die Gegenposition hierzu sektiererisch sei. Dieses Vorgehen, für das es in der kommunistischen Bewegung der letzten Jahrzehnte leider allzu viele Beispiele gibt, wäre ebenso oberflächlich, als würde man Syriza nur als speziell griechisches Phänomen betrachten und nicht als besondere Erscheinung von etwas Allgemeinem, nämlich dem Reformismus.
Entscheidend ist es, den aktuellen politischen Fragen und Entwicklungen wirklich auf den Grund zu gehen, um ihre Widersprüche, ihre innere Dynamik und ihre Zusammenhänge zu verstehen, um auf dieser Grundlage eine korrekte, d.h. die objektive Realität widerspiegelnde politische Linie für die aktuelle Phase des revolutionären Klassenkriegs zu entwickeln. Es ist nicht möglich, eine solche Linie zu entwickeln, ohne grundlegend verstanden zu haben, welche Rolle der Reformismus als politische Erscheinung im Imperialismus spielt, wie er mit anderen politischen Strömungen wechselwirkt und welchen Gesetzmäßigkeiten er mit fortschreitender kapitalistischer Entwicklung unterliegt.
Ebenso ist es nicht möglich, die aktuellen Entwicklungen in Europa zu verstehen, wenn nicht klar ist, welche Funktion die Europäische Union innehat, welche Rolle sie für die verschiedenen imperialistischen Mächte in Europa spielt und welche Position ihr gegenüber vom Standpunkt des revolutionären Klassenkriegs der Arbeiterklasse einzunehmen ist. Wenn nicht wirklich klar ist, was der Imperialismus überhaupt ist und was darunter zu verstehen ist, wenn wir davon sprechen, dass sich der Kapitalismus seit dem frühen 20. Jahrhundert in einer “allgemeinen Krise” befindet.
Als einen ersten Schritt zur Analyse dieser Fragen haben wir den beiliegenden Artikel “Die Krise des Imperialismus und der Europäische Frühling” erarbeitet, deren Inhalt wir an dieser Stelle kurz kommentieren möchten. Wir betrachten diesen Artikel als Beitrag für die politische Diskussion der Kommunisten in Deutschland im Rahmen des Kampfes um den Parteiaufbau und um die Herausarbeitung der marxistischen-leninistischen politischen Linie für die aktuelle Etappe des revolutionären Klassenkriegs. Viele der darin behandelten Fragen sind nur aufgeworfen oder angerissen und bedürfen einer noch weitaus mehr vertieften Analyse. Das betrifft insbesondere die Analyse der Klassen in Deutschland, z.B. hinsichtlich der Struktur der Arbeiterklasse, der ökonomischen und politischen Lage ihrer verschiedenen Sektoren, ihres Zusammenhangs zu den Klassen in den anderen europäischen Ländern, ihres internationalen Charakters u.v.m. Es ist offensichtlich, dass diese und andere Analysen nicht das Produkt reiner Schreibtischarbeit sein können, sondern vielmehr in der politischen Praxis, im Zusammenhang mit dem Kampf um die Schaffung einer kommunistischen Partei in Deutschland und der praktischen Verankerung dieser Partei in den verschiedenen Sektoren der Massen angegangen werden müssen.
Wenn wir dazu aufrufen, die Analysen des Artikels mit uns zu diskutieren und sie zu kritisieren, rufen wir deshalb gleichsam dazu auf, sie in die Praxis umzusetzen und in der Praxis weiterzuentwickeln.
Die allgemeine Krise des Kapitalismus
Was der Reformismus ist, was er kann, was er nicht kann und wie er sich entwickelt, kann nur wirklich verstanden werden auf der Grundlage des Verständnisses der kapitalistischen Entwicklung und der allgemeinen Krise des kapitalistischen Systems.
Auch wenn wir diese im allgemeinen, d.h. auf einer abstrakten Ebene, verstanden haben und in der Lage sind, “im Schlaf” den tendenziellen Fall der Profitrate und die Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Ökonomie korrekt wiederzugeben, ist unser politischer Instinkt manchmal vielleicht doch getrübt von der realen Erfahrung eines sehr stabilen Kapitalismus in Deutschland in den vergangenen knapp 70 Jahren, wo auch heute, nach Hartz IV und nach der letzten Weltwirtschaftskrise für den größeren Teil der Arbeiterklasse und der politischen Widerstandsbewegung der Kühlschrank noch ausreichend Essen beinhaltet und man den Gebrauch von Schusswaffen allenfalls aus Opas (oder eher Uropas) Weltkriegserinnerungen kennt.
Das verleitet viele von uns unbewusst dazu, das kapitalistische System als Ganzes aus dem Blick zu verlieren und anzunehmen, dass die gewohnten Verteilungsspielräume der letzten Jahrzehnte – mit teilweise hart erkämpften Erfolgen der Arbeiterklasse in der BRD wie der 35-Stunden-Woche – auch in Zukunft weiter, wenn auch in geschrumpfter Form, gegeben sein werden und es möglich sein wird, dem Kapital weiterhin solche Zugeständnisse abzutrotzen, die uns im Großen und Ganzen ein relativ bequemes Leben in Frieden ermöglichen. Die reformistische Bewegung könnte man auf dieser trügerischen Grundlage als gegnerische Kraft betrachten, mit der man vor allem über die Höhe des zu fordernden Mindestlohns streitet (“8 Euro oder 10 Euro”).
In den vergangenen Jahrzehnten haben viele kommunistische Zirkel in der BRD – häufig im Zuge ihrer Niedergangsbewegung – tatsächlich die Tendenz entwickelt, Politik im Sinne des revolutionären Klassenkriegs durch einen “besseren Reformismus” zu ersetzen3.
Von einem solchen Standpunkt aus betrachtet wäre es konsequent, reformistische Regierungen als das “kleinere Übel” zu betrachten und zu unterstützen.
Gärungsprozesse
Wie sieht aber die Entwicklungsprognose für die nächsten zehn bis zwanzig Jahre wirklich aus, wenn wir nicht einfach nur unsere gewohnten Lebensumstände in die Zukunft projizieren, sondern die Erkenntnisse des Marxismus-Leninismus tatsächlich heranziehen und ernst nehmen?
Natürlich ist es möglich, dass die ökonomische und politische Stabilität in der BRD noch einige Zeit im großen und ganzen erhalten bleibt und weiterhin Kriege im Ausland und die Abschaffung von Hartz IV vorherrschende Themen bei Demonstrationen in deutschen Städten bleiben. Es liegt aber erstens an uns Kommunisten, ob das so bleiben muss. Zweitens basieren diese ökonomische und die daraus resultierende politische Stabilität schon seit langer Zeit darauf, dass umliegende Länder in Europa von den deutschen Monopolen ausgeplündert werden.
Ein kurzer Blick über den eigenen Tellerrand ins europäische Ausland zeigt dann auch sehr schnell, dass die Zuspitzung der kapitalistischen Widersprüche zu umfassenden gesellschaftlichen Gärungsprozessen kein abstrakter Lehrsatz sind, sondern die harte und tagesaktuelle Realität für Millionen von Menschen, die den Angriffen des Imperialismus in Griechenland, Spanien, Portugal, Italien und Irland in den letzten Jahren ausgesetzt waren und die sich ihrerseits dagegen zur Wehr gesetzt haben. Oder die Zuspitzung von zwischenimperialistischen Widersprüchen zu Kriegen für die Menschen in der Ukraine – also mitten in Europa! -, auf deren Rücken gerade ein blutiger Stellvertreterkrieg zwischen den Westmächten und Russland ausgetragen wird.
Auch in Deutschland findet dieser Gärungsprozess statt, wenn auch unterschwelliger und nur teilweise sichtbar: Sei es in der unsichtbaren Massenentlassung von LeiharbeiterInnen während der letzten Krise, sei es in den Kämpfen der Flüchtlinge, die nichts anderes sind als ein Teil der Arbeiterklasse in Deutschland, die vom Staat besonders heftiger Repression in Form von Arbeitsverbot, Residenzpflicht u.ä. ausgesetzt sind. Oder aber in reaktionärer Hinsicht in der faschistischen Verhetzung von Teilen der Massen, die in Dresden oder auf dem Land gegen Flüchtlingsunterbringung demonstrieren oder der “Islamisierung” als diffusem Feindbild nachjagen. Nicht zu vergessen dem Gegenpol: Jugendlichen aus Vorstädten, die zum Islam konvertieren und für den “Islamischen Staat” nach Syrien in den Krieg ziehen. Es findet also nicht nur ein Gärungsprozess in Deutschland statt – ob wir Kommunisten ihn sehen und uns daran beteiligen oder nicht – sondern die Gegenseite, die Bourgeoisie, arbeitet bereits damit, um die Massen für sich zu vereinnahmen – gegen die Revolution und für den nächsten Krieg.
Wenn wir noch etwas tiefer gehen und die Wirtschaftsmeldungen in den Tageszeitungen betrachten, stellen wir fest, dass sich Kapital und Staat in der BRD sehr viel mit “kommenden Herausforderungen” beschäftigen: “Industrie 4.0”, Energiesicherheit, Sicherung der Rohstoffversorgung etc. Die Entwicklung des Kapitalismus erfordert es von Monopolen und Staaten, die “kommenden Herausforderungen”, d.h. den Konkurrenzkampf, den Kampf um Rohstoffwege und Absatzmärkte sowie um die globale Führerschaft in der Produktionstechnologie mit immer härteren Mitteln zu führen, da eben die Profitraten sinken und die Konzerne größer und weniger werden.
Vor diesem Hintergrund hat es das deutsche Finanzkapital in den vergangenen Jahrzehnten erfolgreich verstanden, den Ausbau der EU zu einem imperialistischen Superstaat zu lenken. Was es wiederum ermöglicht hat, die letzte Krise nach Südeuropa zu exportieren und die ökonomische und politische Situation in der BRD unter Kontrolle zu behalten. Die ökonomische und politische Situation in Südeuropa steht also in direkter Wechselwirkung mit der ökonomischen und politischen Situation hier.
Qualitative Sprünge
Wenn wir den Marxismus-Leninismus heranziehen, wissen wir, dass quantitative Entwicklungen zu qualitativen Sprüngen führen; dass langsame Gärungsprozesse an einem bestimmten Punkt umschlagen und es zu beschleunigten Entwicklungen kommt, die das gesamte System umfassen und erschüttern. Ein gutes Beispiel aus der Geschichte ist die Entwicklung des Imperialismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die sich zunächst vergleichsweise langsam vollzog, bei der sich ähnlich wie bei einem Topf siedendem Wasser zunächst hier und da einzelne Gasbläschen lösten, bis an einem bestimmten Punkt das ganze System in einen neuen Zustand überging. Der Siedevorgang begann mit dem offenen Zusammenstoß der imperialistischen Mächte im Ersten Weltkrieg 1914 und erreichte seinen Höhepunkt mit der Russischen Revolution im Oktober 1917, der die Revolutionen in Deutschland und zahlreichen anderen Ländern folgten. Der Kapitalismus trat in die Phase der allgemeinen Krise ein, die von heftigen Erschütterungen und revolutionären Erhebungen, vom Kampf des Neuen gegen das Alte, des Sozialismus gegen den Kapitalismus gekennzeichnet ist.
Die Krise bedeutet nicht, dass der Kapitalismus von allein in sich zusammenfällt, wenn etwa die Profitrate unter ein bestimmtes kritisches Minimum fällt – wie es teilweise in falscher Auslegung von Marx verstanden wird (was im Übrigen eine bequeme Ideologie für die oben beschriebene spontane Einrichtung in den bestehenden Verhältnissen ist). Auch die nächste und übernächste zyklische Überproduktionskrise werden nicht zum automatischen Zusammenbruch des Kapitalismus führen.
Die Krise ist vielmehr die Verlaufsform der kapitalistischen Entwicklung. Sie äußert sich heute in den weltweiten Kriegen, vor allem im Mittleren Osten, den beschriebenen Gärungsprozessen in zahlreichen Ländern, den kurzzeitigen Aufständen der letzten Jahre in London, Paris, Stockholm, Ferguson, den Aufständen in Nordafrika, der Revolution von Rojava, aber auch in den globalen Fluchtbewegungen. Das kapitalistische System befindet sich weltweit im Zustand fortlaufender Erschütterung. All die beschriebenen Prozesse beeinflussen sich gegenseitig, verlaufen aber mehr oder weniger spontan und unbewusst. Gestürzt werden muss der Kapitalismus jedoch bewusst, als das Ergebnis eines Krieges der Arbeiterklasse zur Vernichtung der Bourgeoisie als Klasse.
Reformismus
Um Phänomene wie den sogenannten “Europäischen Frühling” wirklich zu verstehen und eine korrekte Haltung dazu einzunehmen, müssen wir also über den eigenen Tellerrand hinausgehen, die kapitalistische Entwicklung als Ganzes betrachten, den Kapitalismus als System in Krise und Gärung begreifen und Erscheinungen wie Syriza u.dgl. dort einordnen.
Die wichtigsten Punkte hierzu sind – knapp zusammengefasst – die folgenden:
Der Opportunismus als politische Erscheinung in der Arbeiterbewegung im allgemeinen bzw. der Reformismus als dessen ideologisch-politischer Ausdruck im besonderen sind, wie Lenin ausgeführt hat, das Ergebnis der Bestechung eines Teils der Arbeiterklasse durch die imperialistischen Extraprofite, die aus der Ausplünderung anderer Länder stammen4. Der Reformismus als politische Ideologie dient vom Standpunkt der Bourgeoise dem Zweck, die Arbeiterklasse vom Ziel des revolutionären Klassenkriegs abzulenken und sie dem bürgerlichen System, der bürgerlichen Nation, dem bürgerlichen Staat unterzuordnen. Der Beginn des Ersten Weltkriegs markierte historisch den Punkt des Übergangs des reformistischen Flügels der Arbeiterbewegung in Gestalt der II. Internationale (der Sozialdemokratie) in das Lager des Imperialismus.
Mit der Weiterentwicklung der allgemeinen Krise des Kapitalismus zeigt der Reformismus eine eigentümliche Entwicklungstendenz: Basierend auf der ökonomischen Bestechung eines Teils der Arbeiterklasse und zu dem Zweck, weite Teile dieser Klasse für das bürgerliche System einzufangen, ist die charakteristische Politik reformistischer Kräfte zunächst die Verteilungspolitik: Reformen zugunsten der Massen, um die Ausbeutung erträglicher zu machen. Mit dem Fortschreiten der allgemeinen Krise und dem tendenziellen Fall der Profitrate wird dieser Politik jedoch mehr und mehr die ökonomische Grundlage entzogen.
Das bürgerliche System und den bürgerlichen Staat aufrechterhalten und für die Massen etwas herausschlagen – beides gleichzeitig geht immer weniger. Besonders stark kommt dies in Phasen akuter (zyklischer) Krisen zum Ausdruck. Die ökonomischen Notwendigkeiten des bürgerlichen Systems treiben die reformistischen Kräfte, die durch Parlament, Regierungsposten und Staatsgewerkschaften in dieses System eingebunden sind, daher zunehmend nach rechts, in Richtung der offenen Mobilisierung für die Zwecke des Imperialismus, zu Sozialkahlschlag und Kriegen und damit in Richtung des Faschismus: Siehe als ein beliebiges Beispiel die Politik der SPD-Grünen-Regierung nach 1998.
Die Tendenz der reformistischen Regierungen zum “Sozialfaschismus” war das korrekte – später sehr umstrittene – Ergebnis der Analysen des VI. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale. Die innere Widersprüchlichkeit reformistischer Politik führt jedoch außerdem zusammen mit der Rechtsentwicklung zur Tendenz des Reformismus, sich in verschiedene Flügel zu spalten und letztlich dazu, politisch zwischen den unversöhnlichen Klassen zerrieben zu werden. Der Reformismus ist eine Hilfskraft der Bourgeoisie, ihre Agentur in der Arbeiterbewegung – nicht jedoch ihr Vortrupp. Das sind die Faschisten, die im Zweifel nicht zwischen Reformisten und Kommunisten unterscheiden.
Spiegelbildlich zur Verlaufsform der kapitalistischen Entwicklung ist auch die Entwicklung des Reformismus als politischer Erscheinung grundlegend krisenhaft: Die ersten Regierungswochen von Syriza – einer Partei, die die Auswirkungen europäischen imperialistischer Politik in ihrem Land abschaffen will, ohne die imperialistische EU und die Eurozone zu verlassen – sind hierfür Beispiel genug.
Der Europäische Frühling und die kommunistische Politik
Was folgt aus dieser Einordung aber nun für die kommunistische Strategie und Taktik?
Die kurze, klare Antwort: Es gibt keine Alternative zur Revolution. Wir Kommunisten müssen unseren Job machen.
Die etwas längere Erläuterung hierzu:
1. Der “Europäische Frühling” mag in Teilen der Massen Hoffnungen auf eine fortschrittliche Entwicklung, eine antiimperialistische Wende o.ä. wecken. Der Kapitalismus bietet als krisenhaftes System jedoch immer weniger Raum für irgendwelche Zugeständnisse. Im Gegenteil: Aus seinen inneren Entwicklungsgesetzen heraus muss das Kapital immer aggressiver werden. Tsipras und Varoufakis mögen tatsächlich ehrlich darum bemüht sein, in den Verhandlungen mit den EU-Imperialisten Zugeständnisse für die griechische Arbeiterklasse herauszuholen. Das deutsche Finanzkapital rüstet jedoch bereits für die nächste Etappe des globalen Konkurrenzkriegs. Reformistische Regierungen haben nur eine Wahl: dabei mitzumachen und/oder unterzugehen. Der Reformismus ist schwach. Wenn er fällt, stehen Kräfte wie die “Goldene Morgenröte” bereits in den Startlöchern.
2. Dass die Massen in Griechenland, Spanien und anderen Ländern ihre Hoffnungen auf reformistische Kräfte wie Syriza setzen, ist vor allem ein Ausdruck der Schwäche der revolutionären, kommunistischen Bewegung. Die revolutionäre Konsequenz daraus kann es nicht sein, sich auf die eine oder andere bürgerliche Kraft zu stützen, sich eine illusionäre fortschrittliche Entwicklung davon zu versprechen oder die Politik der Reformisten zu kopieren. Die einzig richtige Konsequenz aus der Schwäche ist es, dass die Kommunisten ihre eigene Aufbauarbeit leisten müssen: Kommunistische Parteien in Europa zu schaffen und eine revolutionäre Arbeit in den unterdrückten Massen zu entfalten, um das kapitalistische System zu stürzen.
Anmerkungen:
- “Keine Unterwerfung – Eine Antwort auf Paris liegt in Athen”, Mitteilung der Interventionistischen Linken; Link einfügen
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Gemeint sind insbesondere die Ergebnisse des VI. und VII. Weltkongresses der KI
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Gemeint ist u.a. die Tradition, Aufrufe und Zeitungsartikel mit Listen von Reformforderungen – vom flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn bis zum sofortigen Austritt aus NATO und EU – abzuschließen oder entsprechende demokratische Programme zu entwickeln. Als Beispiele mögen die Broschüre “Arbeit und Auskommen für alle!” der KPD (Roter Morgen), erschienen 1993, oder diverse Wahlprogramme der MLPD dienen.
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Nachzulesen in: “Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus”, Lenin Werke, Band 23