Nach wenigen Monaten an der Macht hat Griechenlands Premierminister Tsipras seinen Rücktritt erklärt. Es stehen Neuwahlen ins Haus (die bei Redaktionsschluss dieser Zeitschrift noch nicht stattgefunden haben). Die Koalition aus dem “Bündnis der radikalen Linken” Syriza und der rechtsnationalistischen ANEL-Partei ist beendet. Syriza hat sich als Partei gespalten: Die linke Opposition innerhalb von Syriza hat eine neue Partei namens “Volkseinheit” gegründet; ca. ein Drittel der Abgeordneten ist übergetreten. Trotzdem fühlt sich die Fraktion um Tsipras stark genug, um bei Neuwahlen eine absolute Mehrheit anzuvisieren.

Zwei Ereignisse sind der oben beschriebenen Entwicklung vorausgegangen: Am 5. Juli hat die griechische Bevölkerung in einem Referendum die Pläne der europäischen Staaten für ein neues “Hilfspaket” mit einer deutlichen Mehrheit von über 60 Prozent abgelehnt. Das Ergebnis des Referendums hat, wie selbst bürgerliche Medien nicht umhin kamen, zu berichten, die Klassenverhältnisse des Landes widergespiegelt: In den proletarischen Vierteln haben “70 Prozent und mehr” für Nein gestimmt – wofür die Regierung geworben hatte – während es in den Vierteln der griechischen Bourgeoisie genau andersherum war.i

Unmittelbar auf das Referendum und diesen großen Sieg für Tsipras folgte einige Tage später – die offene Unterwerfung! Die griechische Regierung hat das EU-Spardiktat akzeptiert und ein nahezu deckungsgleiches Abkommen wie das im Referendum abgelehnte unterschrieben, das die Politik der Vorgängerregierungen fortsetzt: U.a. durch den dauerhaften Verbleib der “Troika” in Athen (die Syriza-Regierung hatte diese zu Beginn ihrer Amtszeit medienwirksam des Landes verwiesen), die Fortsetzung der Politik hoher Massensteuern, die massive Ausdehnung des Ausverkaufs griechischen Staatseigentums und die Rücknahme bereits umgesetzter oder versprochener Reformen der Regierung.

Wie kann das sein, werden sich die meisten fassungslos fragen? Wie ist es zu erklären, dass eine “linksradikale” Regierung sich in wenigen Monaten zur Interessenvertreterin der EU-Imperialisten und der eigenen Oligarchie machen lässt? Waren hier eiskalte Verräter am Werk, die sich dreist als Linke verkleidet haben, um dann ganz andere Pläne durchzuziehen? Oder handelt es sich um politische Idioten, die nicht wussten, was sie taten (diesen Eindruck versuchten die bürgerlichen Medien in Deutschland ziemlich massiv zu vermitteln)? Was ist aus dem “europäischen Frühling” geworden, den auch einige Teile der deutschen politischen Widerstandsbewegung nach dem Wahlsieg von Syriza prognostiziert haben?ii Und: Welche Perspektive bietet sich jetzt?


Wir verfügen nicht über eine detaillierte Analyse der wirtschaftlichen und politischen Situation in Griechenland, der griechischen politischen Widerstandsbewegung im allgemeinen sowie der verschiedenen Flügel von Syriza bzw. ihrer Abspaltung “Volkseinheit” im besonderen. Deshalb möchten wir uns im folgenden vorerst darauf beschränken, zweierlei zu tun:

Erstens möchten wir hier in Auszügen ein Interview mit Stathis Kouvelakis, einem Vertreter des linksreformistischen Flügels von Syriza, wiedergeben, das im Juli 2015 zuerst auf Englisch auf der Seite Jacobinmag.com erschienen ist und dann auf deutsch von “Marx.21”, einem trotzkistischen Netzwerk innerhalb der Linkspartei, publiziert wurde. Wir denken, dass in diesen Äußerungen eines Insiders (wenn auch wohl eines begrenzten Insiders vom linken Flügel, der nicht überall seine Nase hineinstecken durfte) relativ plastisch und auch für Revolutionäre durchaus erkenntnisreich beschrieben wird, welche Widersprüche und Mechanismen auftreten, wenn eine idealistische und falsche politische Ideologie und Linie von der Wirklichkeit zerlegt wird. Anders gesagt: Was passiert, wenn Gärungsprozesse in den Massen aufgrund unerträglich gewordener Lebensverhältnisse in offene Wut und Bewegungsansätze umschlagen, es aber keine politische Führung gibt, die in der Lage ist, diese Ansätze weiterzuentwickeln und gegen das imperialistische System zu richten. Wer noch letzte Zweifel daran hat, ob bürgerliche Demokratie nicht vielleicht doch funktionieren könnte, dem sei die Lektüre besonders ans Herz gelegt! Außerdem enthalten die Äußerungen von Kouvelakis einige nützliche Informationen zur gegenwärtigen Stimmung in den griechischen Massen.

Zweitens möchten wir den Interview-Passagen eine Bemerkungen zur politischen Einordnung voranstellen. Hier kann es nur darum gehen, auf einige Offensichtlichkeiten der Entwicklung der Syriza-Regierung einzugehen und erste Schlussfolgerungen zu skizzieren. Wer über fundiertere Kenntnisse der in Rede stehenden Zusammenhänge verfügt, soll sich hiermit herzlich dazu eingeladen fühlen, uns seine Anmerkungen und Kritiken zur Verfügung zu stellen.

1. Der Turbo-Bankrott des “Postmarxismus” an der Macht

Syriza ist eine Sammlungsbewegung aus ehemals verschiedenen revisionistischen, trotzkistischen und linkssozialdemokratischen Strömungen, der sich u.a. auch die maoistische KOE, ein Mitglied der ICOR, angeschlossen hat. In gewisser Weise hat sie von ihrer Zusammensetzung her einige Ähnlichkeiten mit der deutschen Linkspartei. Neben einem ganz offen rechten, sozialdemokratischen Flügel um Vize-Premier Dragasakis, der gar nicht behauptet hat, etwas anderes zu wollen als graduelle Verbesserungen der Verträge mit der EU, ist der “Zentrums”-Flügel um Alexis Tsipras politisch vorherrschend, der (so die Ausführungen von Kouvelakis) aus der Tradition des “Eurokommunismus” stammt.

Es ist zweifellos eine noch ausstehende Aufgabe, die verschiedenen ideologischen Strömungen innerhalb von Syriza – die ein besonderer Ausdruck der Strömungen der politischen Widerstandsbewegung in Europa insgesamt sind – genauer zu analysieren. Unbestritten ist jedoch, dass die vorherrschenden Anschauungen aus dem Bereich des sog. “Postmodernismus” oder “Postmarxismus” stammen. Kurz gesagt: Der Marxismus-Leninismus als wissenschaftliche Weltanschauung, die Revolution mit dem Ziel der Machtergreifung durch die Arbeiterklasse, das politische Ziel der Errichtung der Diktatur des Proletariats und die bolschewistische Kaderpartei als die dazu notwendige Organisationsform werden in diesen Theorien für “historisch überholt” erklärt und verworfen. Stattdessen werden diffuse antikapitalistische Prozesse, die in Gang gesetzt werden müssen, die Eroberung von Parlament und Regierung in Verbindung mit einer außerparlamentarischen Bewegung oder der Selbstermächtigung der Massen, die demokratische Überwindung der “Politik des Neoliberalismus” und ähnliche Konzepte vertreten. Auch die “linke Plattform” von Syriza, zu der Kouvelakis gehört, ist hier im Grundsatz zu verorten. Wir verzichten an dieser Stelle vorerst auf den Nachweis, dass all diese politischen Konzepte letztendlich auf reformistische Ideen hinauslaufen, die bereits zu Zeiten der Bolschewiki existiert haben, widerlegt wurden und historisch vielfach gescheitert sind.

Mit Syriza hat eine “postmarxistische” Bewegung in Europa nun erstmals eine Regierung übernommen und geführt, bevor sie sich ganz offen in eine bürgerliche Partei verwandelt hat, wie das z.B. bei den klassischen Eurokommunisten in Spanien und Italien oder bei den deutschen Grünen der Fall war. Die Zeitspanne von der Wahl bis zur Verwandlung des “Aufrührers” Tsipras in einen anerkannten, pragmatischen Verhandlungspartner und bis zum Zerfall der Partei betrug – ganze vier Monate! Schon unmittelbar nach der Wahl verhalf Syriza der politischen Ultrarechten in Gestalt von ANEL in Regierungspositionen. Und nicht einmal vor einer militärischen Zusammenarbeit mit Israel schreckte diese Regierung zuletzt noch zurück! Gab es in der Geschichte der revolutionären Bewegungen jemals eine politische Strömung, deren Bankrott schneller vonstatten gegangen ist?

2. Wenn demokratische Phantasie auf imperialistische Wirklichkeit trifft

Wie sah der Bankrott des Postmarxismus an der Regierung also im einzelnen aus? Wozu führt es, wenn man die Regierung eines bürgerlichen Staates übernimmt, der der abhängige und ausgebeutete Teil eines neokolonialen Systems wie der EU ist? Wenn man die Regierung übernimmt, um die neokoloniale “Politik” oder zumindest ihre verheerenden Auswirkungen abzuschaffen, ohne das System als solches in Frage zu stellen? Wenn man glaubt, man könne dies auf dem Wege der Verhandlung und Überzeugung erreichen?iii

Jedem verständigen Menschen sollte anschaulich klar sein, dass es nicht ausreicht, ein Messer einzupacken, wenn man zu einer Schießerei fährt. Es sei denn, es ist einem gar nicht klar, dass man zu einer Schießerei fährt, weil man es anders gelernt hat. Wie in einem Artikel dieses Heftes in anderem Zusamenhang noch weitaus ausführlicher dargestellt wird, brachte der chinesische Militärphilosoph Sun Tsu diesen Sachverhalt auf die Formel: „Der erfahrene Kämpfer wird also den Feind zur planlosen Jagd nach Trugbildern bewegen, die den Gegner zum Handeln veranlassen. Er opfert etwas, nach dem der Feind schnappen wird.“1

Die imperialistische Bourgeoisie versorgt die Arbeiterbewegung mit einer ganzen Reihe solcher Trugbilder, denen (zumindest die ehrlichen) Reformisten nachjagen: Trugbild Nr.1: “Wir leben in einer Demokratie, in der das Volk selbst über seine gewählten Vertreter politisch herrscht.” Trugbild Nr.2: “Die Europäische Union ist ein Verbund souveräner Staaten, der den Frieden in Europa sichert.” Man könnte beliebig fortfahren …

Ein wesentlicher Unterschied zwischen “postmarxistischem” Reformismus und Marxismus-Leninismus ist, dass ersterer diese Trugbilder über den Imperialismus in den Massen verbreitet und zur Grundlage seiner politischen Linie macht. Dazu gehört die auch in Deutschland beängstigend weit verbreitete Wahnvorstellung, ein “geeintes Europa” unter den heutigen Bedingungen sichere den Frieden und sei einem Zerfall der EU vorzuziehen. Zu welchen desillusionierenden Erkentnissen das bei manch einem in der Praxis führen muss, führt Kouvelakis im Interview aus:

Als er [Finanzminister Tsacalotos] nach seinem bisher größten Aha-Moment seit der Regierungsübernahme gefragt wurde, antwortete er damit, dass er sich als Akademiker, dessen Job es sei, Volkswirtschaft an der Universität zu lehren, natürlich gewissenhaft auf die Verhandlungen in Brüssel vorbereitet hätte. Er hätte ein ganzes Arsenal an Argumenten vorbereitet und erwartete ebenso fundierte Gegenargumente. Was er aber stattdessen erlebt habe, war, Leuten gegenüberzustehen, die ohne Unterlass Regeln, Abläufe und so weiter herunterleierten. Tsakalotos sagte, er sei enttäuscht gewesen vom niedrigen Niveau der Diskussion. (…) Daran zeigt sich, dass diese Leute eine Konfrontation mit der EU erwartet hatten, die ähnlich einer wissenschaftlichen Konferenz ablaufen würde, bei der man eine ordentliche Präsentation liefert und erwartet, eine ordentliche Gegenpräsentation zu hören. Ich denke, das ist symptomatisch dafür, wie es in der heutigen Linken aussieht. Die Linke ist voll von Menschen, die es gut meinen, aber im Bereich der Realpolitik völlig überfordert sind. Aber es zeigt ebenso die geistige Verwüstung auf, die der fast schon religiöse Glaube an den europäischen Geist verursacht hat. Diese Leute haben tatsächlich bis zum bitteren Ende daran geglaubt, dass sie etwas aus der Troika herausholen könnten. Sie dachten, dass zwischen ‚Partnern‘ doch ein Kompromiss möglich sein müsste, und dass man ja gemeinsame Grundwerte hätte, wie etwa den Respekt vor demokratischen Mandaten oder die Chance einer vernünftigen Diskussion auf Basis ökonomischer Argumente.”

Keine Demokratie? Kein Wettstreit um die beste Meinung? Sondern vielleicht doch einfach ein imperialistisches Machtsystem und man hat noch nicht begriffen, dass man selbst als Vertreter einer Kolonie ganz unten in der Hackordnung steht? Dass es bei dieser Veranstaltung gerade nur darum geht, der Kolonie einen neuen Plan zur Ausplünderung aufzudrücken? Und dass – bei aller Höflichkeit im Gespräch – man auch ganz anders kann (Einstellung der Zahlungen, Schließung der Banken, …): “Den wohl treffendsten Ausdruck für diese Verhandlungen hat Ian Traynor, ein ‚Guardian‘-Korrespondent in Brüssel geprägt, der berichtete, dass ein EU-Beamter die Verhandlungen als ‚mentales Waterboarding‘ bezeichnet hätte.”

Eine politische Führung, die sich von Wahnvorstellungen über “Demokratie” im Imperialismus oder über eine mögliche gütliche Einigung mit Merkel und Schäuble leiten lässt; eine politische Führung, die ihre Strategie auf Trugbildern aufbaut, wird die Massen nur in die Niederlage führen können. Das haben die fünf Monate der Syriza-Regierung einschlägig gezeigt.

3. Warum es den Imperialisten egal ist, wenn eine Bevölkerung verhungert

Warum sind Alternativvorschläge zu den Memoranden, wie sie Syriza in den Verhandlungen gemacht hat, aber eigentlich für die Imperialisten nicht gangbar? Auf der volkswirtschaftlichen Ebene ist es doch auch für Laien einsichtig, dass ein überschuldetes Land nicht ausgerechnet durch neue Kredite aus der Krise kommen wird. Dieses Argument wird nicht einmal von bürgerlichen Ökonomen bezweifelt. Eine Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage in Griechenland ist demnach nur möglich, wenn zumindest ein erheblicher Teil der Staatsschulden gestrichen wird.

Der Punkt ist aber: Um die wirtschaftliche Stabilisierung Griechenlands geht es den Imperialisten gar nicht! Das ist einmal ein Irrglaube von Professoren wie Varoufakis, denen es (verständlicherweise) schwerfällt, über den Tellerrand ihrer volkswirtschaftlichen Erkenntnisse zu blicken und die politische Gesamtstrategie der Imperialisten zu erfassen.

Und es zeigt sich hier ein weiteres Trugbild, dem die Reformisten von Syriza aufgesessen sind, nämlich das des angeblichen Humanismus der Politik in den “demokratischen Staaten”. Alle Politiker müssten doch von ihrem demokratischem Auftrag her ein Interesse daran haben, Hungerkatastrophen und Elend, zumindest aber doch gesellschaftliche Eskalationen und scheiternde Staaten zu verhindern, wenn es möglich ist… die “Vernunft” muss sich doch früher oder später gegen die “neoliberale Ideologie” durchsetzen, oder etwa nicht?!

Wenn die Euro-Imperialisten Hunger, Bürgerkrieg und den Zerfall von Nationalstaaten auf der anderen Seite des Mittelmeers, in Libyen, Syrien und dem Irak aktiv herbeigeführt haben und diese Regionen jetzt mithilfe verfeindeter Söldnertrupps im Rahmen eines “kontrollierten Chaos” beherrschen; wenn sie auf ihre Analysten und Strategen hören und in Rechnung stellen, dass der weitere globale Konkurrenzkrieg der Großmächte ohnehin nur auf Kosten der Massen auch in den eigenen Ländern – inklusive der deutschen Stammbelegschaften – erfolgen kann, wenn man gewinnen will; wenn das alles beherrschende strategische Ziel der Maximalprofit für die imperialistischen Monopole ist, warum sollte es Merkel und Schäuble dann scheren, dass in Griechenland Menschen aufgrund des Spardiktats verhungern und dass Syriza Probleme hat, ihre Basis von einer Verlängerung des Neokolonialismus zu überzeugen? Wenn es hart auf hart kommt, stehen faschistische Terrorkommandos schon in den Startlöchern.

Mögen die “Postmarxisten” noch so viel auf Vernunft und ökonomische Argumente setzen – den Imperialisten ist völlig klar, dass Kriege unvermeidlich sind und sie ganze Völker ganz real “waterboarden” werden und noch mehr.

4. Was ist also die Perspektive?
Einer politischen Führung, die das Euro-System nicht in Frage stellen will, bleibt nur die Unterwerfung als Handlungsoption. Das ist die Lehre aus der Praxis, aus fünf Monaten Syriza-Regierung, die sich die Arbeiterklasse und die unterdrückten Völker in Europa tief einprägen sollten.

Jetzt geht es um die Frage, worin die Alternative besteht. In den bürgerlichen Medien geistert seit Monaten das Schlagwort vom Ausstieg Griechenlands aus der Euro-Zone umher, das sowohl von den Imperialisten als auch von einigen Reformisten (z.B. wurde Varoufakis genannt) in Erwägung gezogen wird. Auch hier ist es jedoch gänzlich verfehlt, eine einzige, isolierte Maßnahme herauszugreifen, denn zu welchem anderen Ergebnis würde eine Rückkehr zur Drachme unter sonst unveränderten Rahmenbedingungen führen als zum sofortigen Staatsbankrott?

Bei der Frage der Währung fängt das Problem der griechischen Krise nicht an und hört es nicht auf. Das wäre nur ein weiteres Trugbild. Um nur ein Beispiel zu nennen: Im Rahmen der EU sind die Volkswirtschaften der einzelnen Mitgliedsstaaten im Interesse der herrschenden Monopole umstrukturiert worden. Länder wie Finnland, die sich früher selbst mit Lebensmitteln versorgt haben, sind in der EU zu Holzproduzenten und Importeuren von Grundnahrungsmitteln geworden. Die griechische Industrie ist beschränkt, u.a. auf Pharmaprodukte. Damit ist die Wirtschaft des Landes abhängig von Importen und aus dem Ausland erpressbar, sofern es nicht den mühsamen Weg geht, sich wirtschaftlich auf eigene Beine zu stellen. Das geht aber offenkundig nicht, wenn die Produktionsmittel ausländischen Firmen oder einer griechischen Bourgeosie gehören, denn die haben daran sicherlich kein Interesse.

Dann schließt sich jedoch sofort die Frage der politischen und militärischen Dimension an: Die Verstaatlichung der Banken, des Auslandskapitals und der wichtigsten Industriezweige – der “Kommandohöhen der Volkswirtschaft” – als erster Schritt auf dem Weg der sozialistischen Umstrukturierung Griechenlands setzt eine Staatsmacht voraus, die sich auf die organisierte Arbeiterklasse und die bisher ausgebeuteten Massen stützt. Denn ein Staatsapparat, eine Polizei und ein Militär, die sich weiter in den Händen der Bourgeoisie befinden, sind auf einem solchen Weg ebenso fehl am Platze wie ausländische Militärstützpunkte. Eine neue Staatsmacht muss mit all dem aufräumen und sich selbst bewaffnen. Das ist ohne einen äußerst langen und blutigen Krieg kaum vorstellbar, denn die EU- und NATO-Imperialisten werden dem Ausscheren einer ihrer Kolonien nicht tatenlos zusehen, geschweige denn einer sichtbaren Perspektive für die Massen in den anderen europäischen Ländern. Es muss nicht einmal die Bundeswehr in Griechenland einmarschieren, wenn man bedenkt, dass hinter der Goldenen Morgenröte bewaffnete faschistische Strukturen stehen, die für einen Bürgerkrieg gerüstet sind und sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu Griechenland die NATO-Macht Türkei mit historischer Feindschaft sowie allerlei Flugzeugträger im Mittelmeer befinden.

Die Alternative zur Unterwerfung ist also blutig, langwierig, mühsam und sehr unbequem – aber sie ist da. Die Alternative für Griechenland ist die sozialistische Revolution und die Diktatur des Proletariats, die der sogenannte “Postmarxismus” gerade vermeiden will.

5. Wie kommt man zur Revolution?

Schön gesagt, das mit der Revolution! Aber ist das nicht illusorisch? Ist es nicht offensichtlich, dass die Bevölkerung das nicht will, nicht dazu bereit ist? Geht es nicht doch auch irgendwie anders?

Sehr interessant ist hierzu das Schlusswort des Linksreformisten Kouvelakis:

… ich würde noch einen generellen Denkanstoß dazu geben, was es heißt, in einem politischen Kampf bestätigt zu werden beziehungsweise zu scheitern. Ich denke, es ist wichtig, dass man sich als Marxist eine historische Herangehensweise an diese Begriffe aneignet. Einerseits kann man behaupten, man wäre bestätigt worden, da sich das, was man gesagt hat, als wahr herausgestellt hat. Das ist die typische ‚Ich habe es von Anfang an gesagt‘-Strategie. Wenn sich allerdings aus dieser Position keine Antriebskraft ableiten lässt, ist man politisch gescheitert. Denn wenn man machtlos ist und sich als unfähig erwiesen hat, seine Position in eine Handlungsweise für die Massen zu übersetzen, wurde die Position offensichtlich nicht bestätigt. Dies zum einen.

Das andere ist, dass nicht jeder gleichermaßen und gleich schwer gescheitert ist. Das möchte ich betonen. Ich glaube, es war absolut entscheidend, den Kampf innerhalb von Syriza zu wagen.

Eines muss ganz klar gesagt werden: Was war die andere Option? Sowohl KKE als auch Antarsya haben, wenn auch auf äußerst verschiedene Art und Weise, in dieser entscheidenden Situation bewiesen, wie irrelevant sie sind. Für uns hätte die einzige Alternative darin bestanden, früher mit der Führung von Syriza zu brechen. Wenn man die Dynamik der Situation im entscheidenden Moment zwischen Ende 2011 und Anfang 2012 in Betracht zieht, hätte uns eine solche Entscheidung marginalisiert. Das einzige konkrete Resultat hiervon wäre gewesen, dass zu den bereits bestehenden zehn oder zwölf Gruppen der Antarsya eine hinzugekommen wäre, und Antarsya statt 0,7 Prozent möglicherweise 1 Prozent erzielt hätte. Mehr kann ich mir nicht vorstellen. Das wiederum hätte bedeutet, die Syriza komplett Tsipras und der Mehrheit zu überlassen, oder zumindest den Kräften außerhalb der linken Plattform.”

Zur Politik linker Kräfte in Griechenland jenseidts von Syriza wie Antarsya oder KKE fehlt uns die Analyse. Mag sein, dass die Einschätzung zutreffend ist, dass diese Organisationen sektiererisch und gesellschaftlich irrelevant sind.

Uns geht es aber um etwas anderes: Jede revolutionäre Bewegung, die es ernst meint, wird – ob in Griechenland oder Deutschland – als kleine Minderheit ihren Kampf beginnen. Betrachtet man den Ist-Zustand einer solchen Bewegung zu Beginn ihres Bestehens und denkt ihn in einfacher, linearer Entwicklung weiter, sieht die Perspektive trostlos aus: Wie soll es möglich sein, als gesellschaftliche Randerscheinung einen Kampf gegen das scheinbar übermächtige imperialistische System zu führen? Aus dieser bewussten oder unbewussten pessimistischen Bewertung des Ist-Zustands folgen dann – wie schon häufig geschehen in der Geschichte der kommunistischen Bewegung – zwei Entwicklungstendenzen, die scheinbar entgegengesetzt sind, in Wahrheit jedoch zwei Seiten derselben Medaille sind: Entweder man zieht sich ins Sektierertum zurück und verbreitet abstrakte Wahrheiten, schafft es aber nicht, diese mit den Massen zu verbinden. Das ist die Politik, die Kouvelakis oben angreift.

Der andere falsche Weg ist es, aus Scheu vor den Mühen des oben beschriebenen revolutionären Kampfes oder aus Scheu davor, in Irrelevanz zu verfallen, den Weg der Anpassung zu gehen, indem man sich einer nicht-revolutionären Bewegung unterordnet. Dies geschieht z.B. deshalb, weil man der Illusion anhängt, eine größere Quantität von Kräften (“wir müssen mehr werden”) würde den Kampf voranbringen, auch wenn man ihr die Qualität der politischen Linie opfert – und den Reformisten die Führung überlässt. Diesen Weg sind, soweit wir das aus der Ferne beurteilen können, sicher auch manche ehrlichen griechischen Revolutionäre gegangen, als sie sich Syriza angeschlossen haben.

Welche Schlussfolgerung ist zu ziehen? Der Weg der Revolution mag sehr schwierig sein. Der Klassenfeind mag heute – in Griechenland oder Deutschland – übermächtig erscheinen. Nur das “hier und heute” zu sehen und darauf seine Politik zu gründen, bedeutet jedoch ebenfalls, einem Trugbild nachzujagen. Und selbst das “hier und heute”, die Stimmung in den Massen ist in Griechenland (und durchaus auch in Deutschland) weiter und dynamischer, als mancher linke Akademiker sich das vorstellen kann: Kouvelakis beschreibt, dass die Syriza-Führung von der gesellschaftlichen Dynamik ihres eigenen Referendums überrumpelt wurde, und wie Arbeiterinnen in den Betrieben immer wieder die Frage aufgeworfen haben, warum die Regierung “bisher so wenig gemacht” habe, warum sie “so ängstlich” sei.

Die Entwicklung jeder revolutionären Bewegung der letzten 100 Jahre war davon geprägt, dass die Dinge nicht linear verlaufen, dass komplexe ökonomische und politische Situationen entstehen und es zu qualitativen Sprüngen kommt, in deren Verlauf Bewegungen, die heute klein und unscheinbar erscheinen, morgen Millionenmassen mitreißen. Strategisch ist der Kapitalismus zum Untergang verurteilt. Deshalb besteht die Perspektive nur darin, vom Weg der Revolution strategisch keinen Millimeter abzuweichen, und diese Linie konsequent in die Massen zu tragen. Ob in Deutschland oder Griechenland.

Jetzt ggf. noch Auszüge aus dem Interview. Zur Not reicht es aber, den Link zu nennen und die Stelle oben entsprechend abzuändern. Die Flüchtlingspolitik von Syriza werde ich noch aufgreifen und hinzufügen …

1Sun Tsu, a.a.O.; S. 66

iInterview zitieren.

iiBroschüre zitieren

iiiVaroufakis z.B. hat – in Zusammenarbeit mit anderen Ökonomen – eine ganze Broschüre mit einem Lösungsvorschlag für die griechische Krise erarbeitet, der auf deutsch unter dem Titel “Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise” erschienen ist (Kunstmann, 2015). Sein ganzes Konzept setzt dabei auf volkswirtschaftliche Argumente.