Seit dem Erscheinen unseres Artikels “Imperialismus, Proletariat und Flüchtlingsbewegung”1 hat die Flüchtlingsfrage in Europa innerhalb weniger Monate eine neue Dimension erreicht. Die Zahl der Menschen, die insbesondere aus dem Mittleren Osten über die “Balkanroute” nach Mitteleuropa geflohen sind, ist seit dem Sommer 2015 sprunghaft in die Höhe gestiegen. In den Medien gingen Bilder von überfüllten Bahnhöfen in Budapest und München, von Menschenkarawanen durch den Balkan sowie den katastrophalen Zuständen an den Außengrenzen des Schengen-Raums um die Welt. Deutschland hat hunderttausende Menschen in kurzer Zeit aufgenommen – und gleichzeitig die Zahl der Abschiebungen gegenüber dem Vorjahreszeitraum verdoppelt.
Angela Merkel ruft seit dem Sommer dazu auf, das “freundliche Gesicht” Deutschlands zu zeigen, während CDU und SPD die Verschärfung der Asylgesetzgebung vorangetrieben haben. Die von Faschisten angeführte Massenbewegung hat im braunen Gürtel von der Lausitz im Osten über das südliche Brandenburg, Sachsen bis nach Thüringen die Straßen erobert. Beinahe jede Nacht werden Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte verübt – eine Entwicklung, die selbst den Rechtsruck und die Pogrome zu Beginn der 1990er Jahre in den Schatten stellt. Im Windschatten der rassistischen Massenbewegung hat die Neue Rechte2 mit der Entmachtung des neo-liberalen, konservatien Flügels um den abgesetzten Parteichef Lucke und dem Ex-BDI-Präsident Henkel die ‚Alternative für Deutschland‘ (AfD) übernommen. Damit bekommt die Eroberung der Parlamente durch die Faschisten einen massiven Schub. Bisher war innerhalb der Strategie des Kampfs um die Köpfe, Kampf um die Straße und Kampf um die Parlamente letzteres immer der Schwachpunkt derfaschistischen Bewegung gewesen. Jetzt hat die AfD gute Chancen 2017 in den Bundestag einzuziehen und damit dauerhaft eine faschistische Partei in den Parlamenten zu etablieren.
Nicht zuletzt brachte die Flüchtlingskrise auch die Reibungen zwischen den Staaten der EU zum Vorschein, wofür zeitweise unterbrochene Zugverbindungen und die Wiedereinführung von Grenzkontrollen nur das sichtbarste Zeichen gewesen sind.
Wir müssen angesichts dieser politischen Zuspitzung zunächst feststellen, dass die allgemeinen Hintergründe und grundlegenden Fragen hinsichtlich der globalen Flüchtlingsströme heute immer noch dieselben sind wie vor einigen Monaten: Warum erzeugt der Kapitalismus eine weltweite Migrations- und Fluchtbewegung? Wie geht die Bourgeoisie strategisch mit Migration und Flucht um? Welche Rolle spielt die faschistische Bewegung bzw. Ideologie in diesem Zusammenhang? Und was bedeuten Migration und Flucht für die ArbeiterInnenklasse und die KommunistInnen in Deutschland?
Gleichzeitig müssen wir die besonderen Hintergründe der Entwicklung des Jahres 2015 analysieren: Wie kam es zur plötzlichen Massenfluchtwelle auf der Balkanroute? Handelte es sich um eine gezielte staatliche Eskalation eines längst bekannten „Problems“, etwa durch die öffentliche Ankündigung, das Dublin-Abkommen auszusetzen, demzufolge Asylsuchende in der EU ihren Antrag in dem Land stellen müssen, in dem sie zuerst europäischen Boden betreten haben? Ging es den europäischen Imperialisten, insbesondere Deutschland, darum, die Handlungshoheit in dieser Frage zurückzuerlangen? Geht es um die Behebung des lange schon vorhandenen Fachkräftemangels in der BRD, eine Diskussion in Kreisen der Bourgeoisie, die schon Anfang des Jahres intensiv geführt wurde? Geht es der Regierung tatsächlich um “humanitäre Imperative” (O-Ton Merkel) oder strategisch doch eher darum, das linksliberale Bürgertum und alle sozial und humanitär eingestellten Sektoren der Gesellschaft über die HelferInnenkampagne wieder stärker einzubinden?
I. Die Flüchtlingskrise von 2015 und ihr geopolitischer Hintergrund
“Eine Republik oder ein Fürst müssen sich den Anschein geben, als täten sie aus Großmut, wozu sie die Notwendigkeit zwingt.” (Niccolò Machiavelli, 15303)
“Das war nicht mehr und nicht weniger als ein humanitärer Imperativ.” (Angela Merkel beim CDU-Parteitag zur Flüchtlingskrise, Dezember 2015)
Imperialistische Machtspiele
Ziemlich offensichtlich ist die akute Flüchtlingskrise, die im Sommer 2015 begonnen hat, ein direktes Ergebnis der geopolitischen Auseinandersetzungen zwischen den imperialistischen Mächten im Mittleren Osten.
Erstens, weil durch die Kriege in Syrien sowie in Afghanistan, welche die Imperialisten provoziert haben, Millionen Menschen durch die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen, die Perspektivlosigkeit und die permanente Angst um Leib und Leben zur Flucht gezwungen werden.
Zweitens, weil die Regionalmacht Türkei – einer der wichtigsten Transitstaaten für Menschen, die aus dem Mittleren Osten oder Asien nach Europa wollen – sich im Zuge des Machtkampfes zwischen den Imperialisten offensichtlich dazu entschieden hat, die Schleusen ein Stück weit zu öffnen. So sind hunderttausende Menschen in kurzer Zeit über den Seeweg auf griechische Inseln und von dort aus auf die “Balkanroute” nach Mitteleuropa gelangt.
Die Hintergründe dieses geopolitischen Zuges der Türkei liegen auf der Hand: Der Druck, der durch die Fluchtwelle auf die Staaten der Europäischen Union ausgeübt wurde, war eine gute Basis für die Verhandlungen im November 2015, bei welchen die Türkei nicht nur Milliardengelder zugebilligt bekam, sondern auch die Perspektive der Wiederaufnahme der zwischenzeitlich versandeten Beitrittsverhandlungen zur EU. Teil des schmutzigen Deals ist auch die freie Hand für den Krieg gegen die kurdische Bewegung im Südosten des Landes, die die Türkei von der EU (und den USA) erhalten hat.
Nicht zuletzt ist es das Interesse der Türkei, eine mögliche Einigung der imperialistischen Blöcke im Syrien-Krieg zu verhindern, die nach jetzigem Stand der Dinge und nach allem Ermessen nicht nur eine Stärkung der Clique um Assad und damit ihrer Konkurrenten Iran und Russland, sondern auch der kurdischen nationalen Befreiungsbewegung mit sich bringen würde, auf die der US-Imperialismus seit einiger Zeit versucht, Einfluss zu gewinnen. Dass die Türkei eine solche Einigung zu sabotieren sucht, hat sie durch den Abschuss eines russischen Militärflugzeugs wohl mehr als deutlich gemacht.
Vor diesem komplexen, geopolitischen Hintergrund war das Öffnen der Grenzen eine Kriegslist, die gleichzeitig zu verstehen gibt: “Wenn Ihr uns nicht entgegen kommt, überschwemmen wir Euch mit Menschenmassen.”
Imperialistische Notwendigkeit und propagandistischer Großmut
Eine völlig unkontrollierte Bewegung von Millionen Flüchtlingen nach Europa hat das Potential, die Europäische Union zu sprengen – und damit die ökonomische und politische Basis des deutschen Kapitals im imperialistischen Kampf um die Weltherrschaft. Um nicht mehr und nicht weniger geht es also aus Sicht der deutschen Bourgeoisie im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise.
Und weil so viel auf dem Spiel steht, haben sich die Strategen des deutschen Imperialismus auf Situationen wie die im Sommer 2015 ganz offensichtlich schon lange vorbereitet. Jedenfalls lässt trotz aller vernebelnden Diskussionen in den Medien über Merkels angebliche Planlosigkeit ein näheres Betrachten der politischen Maßnahmen der deutschen Regierung der letzten Monate nur diesen Schluss zu.
Platt gesagt: Die Option angesichts von hunderttausenden nach Europa Geflüchteten in kurzer Zeit bestand für die Führung der BRD nur darin, sie überwiegend ins imperialistische Zentrum, also nach Deutschland selbst, zu holen. Denn was wären die Alternativen gewesen?
Die innereuropäischen Grenzen zu schließen und damit die integrierte europäische Wirtschaftszone faktisch zu zerstückeln, von der vor allem das deutsche Kapital zehrt? Angesichts der Tatsache, dass 90% der innereuropäischen Frachtvolumens per LKW über die Straße transportiert wird, wäre dies erstens personell kaum umsetzbar gewesen. Zweitens würde eine flächendeckende Kontrolle des LKW- Verkehrs die Transportkosten in die Höhe treiben und z.B. die Just-in-Time-Zulieferketten der deutschen Autoindustrie mit Osteuropa zerreißen. Aber selbst wenn man sich ein Extremszenario mit Mobilisierung der Bundeswehr vorstellt, um das dafür benötigte Personal über Wochen und Monate zu garantieren, hätte dies doch nur eine Ausweichbewegung der Flüchtlinge auf andere Verkehrsmittel und über die grüne Grenze bewirkt. Überhaupt stellt sich die Frage, wie man hätte Menschen aufhalten wollen, die ihr Leben riskiert und absolut nichts mehr zu verlieren haben und sich kurz vor dem Ziel wähnen? In dieser Situation kehrt ja wohl niemand freiwillig um, nur weil ein paar finster dreinblickende Riot Cops im Weg stehen.
Hätte man hunderttausende Menschen auf europäische Länder verteilen sollen, die teilweise gar nicht die staatliche Infrastruktur besitzen, um solche Massen an Menschen zu kontrollieren? Z.B. auf die europäischen Krisenstaaten Griechenland, Spanien, Italien, wo man die sozialen und politischen Widersprüche dank der freundlichen Hilfe von Leuten wie Alexis Tsipras gerade wieder halbwegs in den Griff bekommen hat?
Oder sie auf dem Balkan zu lassen, wo sich die gesellschaftlichen Widersprüche zu Beginn des vergangenen Jahres in Bosnien-Herzegowina noch in Massenaufständen entladen haben? Zur Erinnerung: Damals musste sich die Polizei vor der Wut der unterdrückten Massen zurückziehen und mehrere Regierungsgebäude aufgeben, die dann in Flammen aufgingen. Der oberste EU-Kolonialbeamte drohte daraufhin mit dem Einsatz der dort stationierten europäischen Armeeeinheiten, wenn die Marionettenregierung die Lage nicht in den Griff bekommt. Auch in Kroatien oder Serbien werden kommunistische GenossInnen beim Flyern vor Fabriktoren schon mal gefragt, wann sie Waffen austeilen? Titos PartisanInnen sind im kollektiven Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse sehr präsent. Jetzt stelle man sich dazu noch zehn- oder hunderttausende entschlossene Flüchtlinge vor, darunter zahllose junge Männer, die mit Waffen umgehen können.
Ein besseren Plan zum Aufstand bzw. der Destabilisierung des Balkans könnte man gar nicht entwickeln – eigentlich schade, dass Seehofer nicht Bayerns Grenzen zugemacht hat und so die FPÖ in Kärnten zum selben Schritt veranlasst hätte.
Eine weitere Verschärfung der Widersprüche in der EU zu riskieren? Die Grenzen der Vormachtstellung des deutschen Imperialismus in der EU sind in der Flüchtlingsfrage schlagartig sichtbar geworden. Seit mehreren Monaten bemüht sich die Bundesregierung eine Verteilung von 160.000 Flüchtlingen in der EU durchzusetzen und kommt damit nur im Schneckentempo voran. Wie will man auch rassistische und faschistische Regierungen, die noch dazu unter dem Druck ihrer Massenbasis stehen, zwingen, „muslimische Ausländer“ aufzunehmen, die gar nicht in ihr Land wollen? Orbans Handeln in Ungarn beweist, dass politischer und ökonomischer Druck dazu kaum ausreicht.
Bleiben also die Verteilung auf viele deutsche Städte und Landkreise, so dass die Situation für Polizei und Behörden kontrollierbar ist. Bleibt die deutsche Verwaltung, um hunderttausende Menschen zu registrieren und nach Verwendbarkeit für das deutsche Kapital zu katalogisieren. Ein Sachverhalt, der deshalb zu betonen ist, weil schon Monate vor der Eskalation in der Flüchtlingskrise entsprechende Diskussionen über die Behebung des Fachkräftemangels durch Flüchtlinge aus Syrien in Kreisen des deutschen Kapitals geführt wurden (s.u.).
Dass die industrielle Reservearmee für den Niedriglohnsektor aufgefüllt werden muss, um die auf günstige Lohnkosten gestützte Exportoffensive des deutschen Kapitals fortsetzen zu können, zeigt sich inzwischen auch im Bereich der ungelernten bzw. Anlerntätigkeiten flächendeckend in ganz Deutschland. Arbeitskräfte müssen her – und sie werden rangeschafft. StreikaktivistInnen von Amazon berichteten bei einem bundesweiten Treffen Anfang Dezember, dass in Bad Hersfeld und Leipzig vom Arbeitsamt gestellte Busse Flüchtlinge direkt aus den Lagern in die Logistikzentren des US-Konzerns bringen, der sich hartnäckig weigert, einen Tarifvertrag abzuschließen. Ihr Status ist einigermaßen unklar. Sie stoßen auf eine Belegschaft, die mehrheitlich nicht streikt und vielfach ihrem Rassismus mit dem Treten nach unten freien Lauf lässt. Die StreikaktivistInnen und kämpferischen KollegInnen versuchen über alle Sprachbarrieren hinweg erste Kontakte herzustellen. Das kann aber kurzfristig nichts daran ändern, dass die Flüchtlinge, die die Situation nicht verstehen und darüber auch nicht aufgeklärt werden, zu Streikbrechern werden.
Bleibt schließlich die bewährte “pluralistische” politische Herangehensweise aus Integration und Terror, um die Lage auch hinsichtlich der Wechselwirkungen der Flüchtlinge mit den unterschiedlichen Klassen in der deutschen Bevölkerung unter staatliche Kontrolle zu bringen: Einerseits über reformistische Parteien, Sozialinitiativen, Kirchen u.v.m. viele zehntausende brave BürgerInnen ebenso wie reformistische und radikale Linke als “freundliche Gesichter” der Demokratie einzuspannen, während viele zehntausende andere durch faschistische Bewegungen gegen Merkels “Wir schaffen das!”, allen voran in Sachsen, mobilisiert und integriert werden. Schließlich die Mobilisierung der bewaffneten Faschisten, die beinahe jede Nacht Flüchtlingsunterkünfte in Brand gesetzt haben. Ihr Terror dient nicht nur der Abschreckung von Menschen, die für die gesellschaftliche Stabilität in Deutschland allein schon aufgrund ihrer Erfahrungen einen potenziellen Unruheherd bilden. Man muss sich klar machen: wer kämpft in Deutschland heute schon unter Einsatz seines Lebens? Aber wie viele der Flüchtlinge haben ganz konkrete lebensbedrohliche Situation durchlebt, die sie geprägt haben? Der Nazi-Terror zielt aus Sicht des tiefen Staats, der ihn organisiert, darauf ab, die Isolation der Flüchtlinge als billige Arbeitskräfte in Internierungslagern sozial abzusichern und sie so faktisch in eine Art „ZwangsarbeiterInnenstatus“ zu drängen. Wenn die Flüchtlinge mit Mollis und Baseball-Schlägern eingebrannt kriegen, dass die „Deutschen“ da draußen sie hassen, werden sie daraus den Schluss ziehen, dass ihre uniformierten Bewacher zu ihrem Schutz da sind und die freiwilligen HelferInnen (die ja irgendwie mit dem Staat zusammenhängen) die netten Fremden sind. Insgesamt ist es dann ja wohl das Beste freiwillig im Lager zu bleiben und den Anordnungen der Autoritäten zu folgen.
Bei näherem Betrachten hat sich in der sogenannten „Flüchtlingskrise“ im Sommer / Herbst 2015 damit in kurzer Zeit und in verschärfter Form das abgespielt, was seit Jahrzehnten die Entwicklungstendenz im Kapitalismus und die ökonomische und politische Strategie des deutschen Imperialismus im Umgang mit der benötigten Arbeitsmigration ist.
Gehen wir also zurück zu den allgemeinen Fragen der Entstehung von Migration und Massenflucht im Kapitalismus sowie zur politischen Einordnung, die diesbezüglich vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus vorzunehmen ist.
II. Flüchtlingsfrage, Arbeiterklasse und Imperialismus
Kapitalismus und Arbeitermigration
“Der Kapitalismus hat eine besondere Art der Völkerwanderung entwickelt. Die sich industriell rasch entwickelnden Länder, die mehr Maschinen anwenden und die zurückgebliebenen Länder vom Weltmarkt verdrängen, erhöhen die Arbeitslöhne über den Durchschnitt und locken die Lohnarbeiter aus den zurückgebliebenen Ländern an.
Hunderttausende von Arbeitern werden auf diese Weise Hunderte und Tausende Werst weit verschlagen. Der fortgeschrittene Kapitalismus zieht sie gewaltsam in seinen Kreislauf hinein, reißt sie aus ihrem Krähwinkel heraus, macht sie zu Teilnehmern an einer weltgeschichtlichen Bewegung, stellt sie der mächtigen, vereinigten, internationalen Klasse der Industriellen von Angesicht zu Angesicht gegenüber.
Es besteht kein Zweifel, dass nur äußerstes Elend die Menschen veranlasst, die Heimat zu verlassen, und dass die Kapitalisten die eingewanderten Arbeiter in gewissenlosester Weise ausbeuten. Doch nur Reaktionäre können vor der fortschrittlichen Bedeutung dieser modernen Völkerwanderung die Augen verschließen. Eine Erlösung vom Joch des Kapitals ohne weitere Entwicklung des Kapitalismus, ohne den auf dieser Basis geführten Klassenkampf gibt es nicht und kann es nicht geben. Und gerade in diesen Kampf zieht der Kapitalismus die werktätigen Massen der ganzen Welt hinein, indem er die Muffigkeit und Zurückgebliebenheit des lokalen Lebens durchbricht, die nationalen Schranken und Vorurteile zerstört und Arbeiter aller Länder in den großen Fabriken und Gruben Amerikas, Deutschlands usw. miteinander vereinigt.”4
Der Kapitalismus erzeugt weltweite Migrations- und Flüchtlingsströme. Mehr als hundert Jahre, nachdem Lenin im Jahr 1913 die obigen Zeilen über “Kapitalismus und Arbeiterimmigration” niederschrieb, befinden sich nach den Statistiken der “Vereinten Nationen” ca. 1,2 Milliarden Menschen und damit etwa ein Sechstel der Weltbevölkerung in Migration5. Davon sind zwischen 50 und 90 Millionen Menschen Flüchtlinge.
MigrantInnen und Flüchtlinge sind in ihren Herkunftsländern zum überwiegenden Teil ArbeiterInnen, landlose, proletarisierte Bauern oder Intellektuelle und zählen dort zu den ausgebeuteten Massen. In den imperialistischen Zentren füllen sie die Reihen der ArbeiterInnenklasse.
Die begriffliche Unterscheidung zwischen “Migration” und “Flüchtlingen” ergibt sich daraus, ob die betreffenden ArbeiterInnen oder KleinbürgerInnen, die in ein anderes Land auswandern, dieses legal – z.B. mit “Green Card” – tun können oder ob sie gezwungen sind, heimlich, meist unter Lebensgefahr und als Ausbeutungsobjekte internationaler Schleusermafien die Grenzen der “Festung Europa” oder der USA zu überwinden; ob sie dort legal in schlecht bezahlten Jobs arbeiten dürfen oder ob sie die entwürdigende und menschenverachtende Unterbringung in Lager- oder Asylhaft, Deportation oder ein Leben im Untergrund erwartet.
Die begriffliche Unterscheidung zwischen MigrantInnen im allgemeinen und Flüchtlingen im besonderen ist Ausdruck qualitativer Unterschiede in den Lebensbedingungen der ausgewanderten ArbeiterInnen im Zielland. Sie ist das Ergebnis der imperialistischen ökonomischen und politischen Strategie gegenüber der weltweiten Migrationsbewegung, die auf ihre Anpassung an die Bedürfnisse der Kapitalverwertung und die Spaltung der Arbeiterklasse abzielt.
Imperialismus, Migration und Flucht
Die weltweiten Arbeitsmigrations- und Fluchtbewegungen sind die Folge der sich verschärfenden Widersprüche des imperialistischen Systems. Die kapitalistischen Monopole führen einen immer härteren Konkurrenzkampf um Maximalprofite.Zu diesem Zweck dringen sie bis in die letzten Winkel des Planeten vor, um sich dort Land und Bodenschätze unter den Nagel zu reißen, billige Arbeitskräfte auszubeuten und die Märkte mit ihren Waren zu überschwemmen. Die koloniale und neokoloniale Unterwerfung durch die imperialistischen Mächte führt für die meisten Länder dieser Erde zu wirtschaftlicher, politischer, kultureller und ökologischer Zerstörung. Das Leben der unterdrückten Völker in diesen Ländern ist von Armut, Elend und Perspektivlosigkeit gekennzeichnet.
Die Imperialisten aus den USA, Deutschland, China, Russland, Frankreich, England und weiteren Ländern führen einen erbitterten Kampf um die Neuaufteilung der Welt: Die zunehmenden Stellvertreterkriege wie in Syrien und der Ukraine sind der politische Ausdruck dafür, dass sich die Widersprüche unter den imperialistischen Großmächten, den alten und neuen kapitalistischen Ländern in einem solchen Maße verschärfen, dass ihre „Diplomatie“ zunehmend durch den militärischen Kampf ersetzt wird.
Der Imperialismus raubt den Menschen weltweit ihre Lebensgrundlage. In vielen unterdrückten Ländern kommt es zu Unruhen und Aufständen. Die Antwort der neokolonialen Regimes wie im Mittleren Osten, Afrika oder auf dem Balkan ist politische Verfolgung, Folter, Knast und Mord.
Millionen Menschen aus den ausgebeuteten und unterdrückten Massen wandern angesichts dieser Lebensumstände jedes Jahr aus ihren Ländern aus. Andere werden, sofern sie über ausreichende berufliche Qualifikation verfügen, in die imperialistischen Staaten abgeworben. Diese als “Brain Drain” bezeichnete Form der Migration verstärkt den Mangel an Fachkräften und damit die ökonomische Zurückgebliebenheit der abhängigen Länder und Neokolonien.
Dort, wo Unterdrückung, Ausbeutung und rassistische Verfolgung – wie z.B. der Roma auf dem Balkan – am brutalsten sind, wo den Menschen durch Kriege ihre Lebensgrundlage und Arbeitsmöglichkeiten genommen werden oder wo ihnen durch die Zerstörung der ökologischen Struktur der Hungertod droht, ergreifen viele die Flucht. Sie suchen Arbeit, Sicherheit und menschenwürdige Lebensmöglichkeiten in den imperialistischen Zentren.
Wie am Beispiel der „Flüchtlingskrise“ des Jahres 2015 zu sehen, werden die Massen von Menschen, die sich auf der Flucht befinden, von den Imperialisten und bürgerlichen Staaten (in diesem Fall der Türkei) für ihre Zwecke im Konkurrenzkampf um Macht und Einfluss und bei der Austragung der innerimperialistischen Widersprüche eingespannt.
Internationalisierung der Arbeiterklasse
Die großen globalen Flüchtlingsströme führen heute aus den Neokolonien und Kriegsgebieten in Afrika und dem Mittleren Osten, Asien und Lateinamerika vor allem in drei Hauptzentren: die USA, Westeuropa und Australien. Allein nach Westeuropa flohen in der ersten Jahreshälfte 2014 über 250.000 Menschen, vor allem aus Syrien, dem Irak, Afghanistan, Eritrea, Serbien und Kosovo, Pakistan, Somalia, Nigeria, Albanien und Russland6. 2015 haben über eine Millionen Flüchtlinge den Schengen-Raum erreicht.
Nicht in diese Betrachtung mit einbezogen sind die Migrationsströme, die sich innerhalb eines Staates vollziehen, wie z.B. die WanderarbeiterInnen in den USA und China oder die Landflucht in Brasilien. Weniger im Fokus hierzulande steht auch die Migration von Millionen Menschen aus Indien, Pakistan und anderen asiatischen Ländern in die Ölförderländer am Persischen Golf, wo sie z.B. in den Rentierstaaten wie Katar oder Saudi-Arabien den überwiegenden Teil des Proletariats stellen.
Objektiv treibt der Kapitalismus durch die erzwungene Völkerwanderung, durch Migration und Flucht die Internationalisierung der Arbeiterklasse und ihre Konzentration in den imperialistischen Zentren voran.
Die Wirkung von Flucht und Migration in den unterdrückten Ländern ist zunächst die, dass Aufstände hinausgezögert werden, weil Teile der ausgebeuteten Massen ihre Energie in die Ausreise statt in den Befreiungskampf stecken. Auch wenn Teile dieser Massen zunächst noch durch rückständige, z.B. feudal-patriarchale Ideologien geprägt sein können, bedeutet die Internationalisierung der Arbeiterklasse in den kapitalistischen Ländern in der Gesamtdynamik und auf lange Sicht die Internationalisierung von Klassenkampf- und Aufstandserfahrungen und einen Motor für die Entwicklung des gewerkschaftlichen und Klassenbewusstseins. Als die Bourgeoisie in den 1960er Jahren Gastarbeiter aus der Türkei, Italien, Jugoslawien, Spanien und Griechenland in die BRD holte, um sie für die ödesten, dreckigsten und schwersten Fließbandarbeiten auszunutzen, entpuppten sich viele von ihnen als radikale Kämpfer in vielen betrieblichen Kämpfen wie dem Ford-Streik 1973 in Köln. Heute leben allein rund drei Millionen Menschen türkischer und kurdischer Herkunft und Abstammung in der BRD. Dies führt dazu, dass die entwickelteren Klassenkämpfe aus der Türkei und Kurdistan auch nach Deutschland ausstrahlen: Beispiele hierfür sind die jährlich stattfindenden Demonstrationen gegen das PKK-Verbot, die Solidaritätsdemos mit der Gezi-Bewegung 2013, die Großdemonstration gegen den AKP-Führer Erdogan mit ca. 100.000 Teilnehmern in Köln im Jahr 2014 und die Solidarität mit dem bewaffneten Kampf in Kobane. Vor allem aber gehört dazu die Verbreitung der Erfahrungen der kommunistischen Bewegung aus der Türkei und Kurdistan, die für den Aufbau der KP und den revolutionären Kampf in Deutschland und damit für das Klassenbewusstsein des Proletariats in der BRD genutzt werden können.
Die Internationalisierung der Arbeiterklasse bedeutet potentiell ihre Revolutionierung und Formierung zur kämpfenden Klasse. Die internationale Arbeiterklasse ist in den imperialistischen Zentren konzentriert. Indem er die Lebensumstände für immer mehr Menschen in den Kolonien und Neokolonien unerträglich macht und sie zu Auswanderung und Flucht zwingt, sorgt der Imperialismus dafür, dass die von ihm dort geschaffenen Widersprüche als Bumerang in seine Zentren zurückkehren.
Mit der Internationalisierung der Arbeiterklasse schafft sich der Imperialismus seinen eigenen Totengräber.
Strategie der Imperialisten gegenüber der Migrationsbewegung: Ökonomische Spaltung
Die Grundlage für die Strategie der Imperialisten gegenüber der “weltweiten Völkerwanderung” sind die objektiven Widersprüche des Kapitals in dieser Frage:
Das Kapital hat ein ökonomisches Interesse an Migration in die kapitalistischen Länder, insofern diese die industrielle Reservearmee dort vergrößert. Das ermöglicht dem Kapital, die Arbeitslöhne aller Teile der Arbeiterklasse unter den Wert der Ware Arbeitskraft zu senken. Der Unterschied der Arbeitslöhne zwischen den imperialistischen Stammländern und den Kolonien und Neokolonien ist ein zusätzlicher Motor hierfür.
Die migrantischen Teile der Arbeiterklasse werden vorzugsweise in die miesesten und am schlechtesten bezahlten Jobs gedrängt – z.B. in Leiharbeit. Gleichzeitig verwendet das Kapital seine Extraprofite aus der Ausplünderung der Kolonien und Neokolonien, um einen Teil der Arbeiterklasse in den strategisch wichtigsten Sektoren des eigenen Landes – in der BRD ist das vor allem die Auto- und Rüstungsindustrie – durch Arbeitsverträge mit besserer Bezahlung und einigen Privilegien an die eigenen Ausbeuter zu binden: Die klassische, früher vorwiegend deutsche und heute “multikulturell” zusammengesetzte und männliche Stammbelegschaft in der Industrie.
Die Migration ist jedoch ein politisches Risiko für die Bourgeoisie, da sie die Widersprüche aus den unterdrückten Ländern in die imperialistischen Zentren zurückträgt. Die Bourgeoisie zielt darauf ab, so viel Migration zuzulassen, wie es ihren ökonomischen Interessen entspricht, und dabei die politische Kontrolle zu behalten. Zu diesem Zweck zieht sie rund um Europa und die USA Mauern hoch, setzt Patrouillen auf dem Meer und spezielle Abteilungen wie “Frontex” ein, um “illegale Einwanderung” mit Gewalt zu unterbinden.
Die Überwindung der Außengrenzen der imperialistischen Zentren hat sich dabei wiederum zu einem Geschäftsfeld für das organisierte Verbrechen entwickelt, an dem die Bourgeoisie mit zweistelligen Renditen7 kräftig verdient. Dabei verbindet sie die Geschäftsfelder des Drogen- und Menschenhandels und schafft auch auf illegalem Wege Arbeitssklaven für die eigene Industrie heran:
“Rund 3600 kriminelle Organisationen, darunter einst verfeindete Global Player wie die russische Mafia, die italienische ‚Ndrangheta, die japanischen Yakuza, die chinesischen Triaden, südamerikanische Kartelle, aber auch dreiköpfige Familienunternehmen, die in Lieferwagen Menschen über die Grenzen schmuggeln, sind nach Erkenntnissen von Europol in Europa aktiv. Die Vereinigungen werden geleitet von Paten, die sich im bürgerlichen Mainstream bewegen. (…)
Dank der Globalisierung, die auch für einst verfeindete Verbrecher gilt, werden Waffenhandel, Rauschgifthandel, Menschenschmuggel und -handel nicht mehr wie den guten alten schlechten Zeiten von unterschiedlichen kriminellen Vereinigungen betrieben. Alle bieten alles an: Flüchtlingen aus Eritrea oder Somalia werden die Kosten für den Transport nach Europa erlassen, wenn sie bereit sind, Drogen im Gepäck mitzunehmen. Die Ware wird dann beispielsweise von der ‚Ndrangheta oder den Hells Angels bei Kollegen von der russischen oder albanischen Mafia getauscht gegen junge Frauen für Bordelle in Italien und Deutschland oder Personal für die Fleisch verarbeitende Industrie und die Landwirtschaft in Nord- und Mitteleuropa. Die International Labour Organisation (ILO) schätzt die Zahl der in Europa geknechteten Arbeitssklaven auf etwa 600.000.”8
Die kapitalistischen Staaten greifen illegale Einwanderer auf, die ihr Land erreicht haben, isolieren sie vom Rest der Arbeiterklasse und setzten sie massiver Verelendung und Repression aus: Sie werden deportiert oder in Lagern, in der BRD teils in ehemaligen KZs9 oder seit der Krise 2015 verstärkt in Kasernen und Zeltlagern auf Bundeswehrgelände, untergebracht. Mit Arbeitsverbot belegt dürfen sie ihren Landkreis nicht einmal verlassen, um zum Arzt zu gehen. Sie werden gezwungen, als Papierlose und Schwarzarbeiter ihr Dasein zu fristen und in Kriminalität, Drogenhandel, Prostitution und Sklaverei gedrängt.
Politische Spaltung der ArbeiterInnenklasse
Auf diesem Weg schafft das Kapital die ökonomische Grundlage für die politische Spaltung der Arbeiterklasse. Die Strategie der Bourgeoisie zielt im Zeitalter des Imperialismus darauf ab, die von ihr unterdrückten Massen gegeneinander aufzuwiegeln und politisch an sich zu binden: Die objektiv international zusammengesetzte Arbeiterklasse darf sich ihrer Klassenlage nicht bewusst werden. Die Bourgeoisie benötigt ein gewisses Maß an Unterstützung und Zustimmung aus den unterdrückten Massen, um zu verhindern, dass die ArbeiterInnenklasse sich als Klasse begreift, sich organisiert und den Kampf gegen das imperialistische System aufnimmt. Sie benötigt den Rückhalt in den Massen insbesondere für den imperialistischen Kampf um die Neuaufteilung der Welt und die Kriege, die dafür zu führen sind. Zu diesem Zweck setzt die Bourgeoisie in allen westlichen imperialistischen Ländern über ihre Geheimdienste neben der reformististischen vor allem die faschistische Bewegung ein und entfaltet eine rassistische und chauvinistische ideologische Arbeit in den Massen, um diese für ihre Ziele zu vereinnahmen10.
Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Beschwörung eines “Kampfs der Kulturen”, welche die Bourgeoisie seit den 90er Jahren in verstärktem Maße in den Massen der imperialistischen Zentren organisiert. Faschistische Kräfte wie die Republikaner (seit den 80er Jahren), Pro Köln (seit den 90er Jahren), ultrarechte Weblogs im Internet und neuerdings PEGIDA und HoGeSa stellen einerseits die “Islamisierung” als Gefahr für das “demokratische Abendland”, andererseits die “Asylbetrüger” ins Zentrum ihrer rassistischen Hetze.
Die Debatten, die durch die Faschisten angestoßen und von den Mainstream-Medien, den Vertretern des Kapitals (Industrieellenverbände u.ä.) und der bürgerlichen Politik aufgegriffen werden, erzeugen in den Massen diffuse Stimmungen und Tendenzen, die aufgestaute Wut gegen das herrschende System nicht gegen das Kapital und den Staat, sondern gegen die am meisten unterdrückten Teile der eigenen Klasse zu richten:
Entweder werden die migrantischen Teile der Arbeiterklasse aufgeteilt in “gute” und “böse” Ausländer: „fehlende Arbeitskräfte und qualifizierte ausländische Arbeitskräfte“ einerseits und andererseits unerwünschte Eindringlinge, die “Kriminelle”, “Sozialschmarotzer” oder “Terroristen” sind.
Oder aber Flüchtlinge und „Ausländer“ bilden dieser Ideologie zufolge insgesamt die Konkurrenz zur deutschen ArbeiterInnenklasse: „Die Ausländer“ nehmen „den Deutschen“ Arbeit und Wohnung weg, sind für die Senkung der Löhne und die Kürzungen in den Sozialbereichen verantwortlich und letztlich die Ursache für die Massenarbeitslosigkeit. Sie sind kriminell und damit eine Gefahr für die “Deutschen”.
Diese Propaganda schürt Ängste und Konkurrenz unter den Massen und drängt deren negativste Eigenschaften in den Vordergrund: Die Perspektivlosigkeit, das Gefühl der Benachteiligung und Vernachlässigung durch den Staat und die Wut darüber werden dahingehend kanalisiert, dass die ärmsten Deutschen auf den ärmsten „Ausländern“ herumtreten und sie zu ihrem Feind stilisieren. Gleichzeitig steht die islamische Variante der faschistischen Ideologie in Form salafistischer und dschihadistischer Gruppen und Netzwerke bereit, um die Flüchtlinge zum Kampf gegen die „Ungläubigen“ zu mobilisieren.
Dies ist der Zweck der faschistischen Propaganda in der Strategie der Herrschenden: Insofern diese Stimmungsmache Wirkung zeigt, werden die Klassenverhältnisse verwischt, der notwendige solidarische Zusammenschluss der Arbeiterklasse mit dem Ziel des Kampfes gegen die Bourgeoisie verhindert. Insofern diese Stimmungsmache Wirkung zeigt, ist das ein Ausdruck der Schwäche der organisierten Kräfte, die innerhalb der Massen klarstellen, wer der Feind der ArbeiterInnenklasse ist und warum sich die Lage nur ändern kann, wenn die Ursache, der Imperialismus, im revolutionären Klassenkrieg vernichtet wird.
Entwicklung von Migration, Flucht und Asylgesetzgebung in der BRDi
Die Herangehensweise der Bourgeoisie in der BRD an die Frage der Migration entspricht den oben ausgeführten, allgemeinen Tendenzen des Imperialismus.
Nach 1945 ermöglichten die Fluchterfahrungen der sogenannten “Vertriebenen” aus dem Zweiten Weltkrieg und die Schwäche der deutschen Bourgeoisie, dass ein Grundrecht auf Asyl in den Gesetzen der BRD verankert wurde.
Aufgrund von Arbeitskräftemangel in der Phase des allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs des deutschen Kapitals holte die Bourgeoisie ab Ende der 1950er Jahren Gastarbeiter ins Land, um die Größe der Arbeiterklasse an die Entwicklung der eigenen Kapitalakkumulation anzupassen. Die Gastarbeiter dienten als unterste Arbeiterschicht in der deutschen “Wirtschaftswunder”-Industrie. Sie wurden in überwachten, abgeschlossenen und isolierten Wohncontainern auf den Fabrikgeländen untergebracht. Die betrieblichen Kämpfe der 60er und 70er Jahre, in denen die Gastarbeiter eine wichtige, radikalisierende Rolle spielten, führten unter anderem auch dazu, dass diese ihre Container verließen, in richtige Wohnungen zogen und ihre Familien nachholten.
Die Bourgeoisie der BRD begann schon in dieser Zeit verschärfter betrieblicher Kämpfe eine gezielte und gesteuerte Politik, die in der Gesellschaft eine Debatte über „Ausländer“ und Asylanten entfachte, die auch unter Nutzung einer tief in den “deutschen” Massen verankerten faschistischen Volksgemeinschaftsideologie11 Alltagsrassismus und Ausländerfeindlichkeit neu etablierte und die der geplanten Gesetzesänderung zum Asylrecht, die schließlich Anfang der 90er Jahre erfolgte, den Weg bahnte. In diesem Kontext forcierten die bürgerlichen Propagandaorgane Debatten darüber, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist, ob eine multikulturelle Gesellschaft eine Bereicherung oder Gefahr ist und dass man nun mit Ausländerkriminalität zu kämpfen habe.
Kräftige Unterstützung für dieses Vorgehen erhielt der Staat von organisierten Altfaschisten und der schon in den Startlöchern stehenden Neuen Rechten. 1989 zogen die Republikaner durch Wahlen in die Parlamente von Berlin und EU mit dem Thema Asylmissbrauch ein. Es folgten – getragen von einer Welle aus Nationalismus und Chauvinismus nach der erfolgreichen Annektion der DDR – Pogrome und Mordanschläge auf Asylunterkünfte und Häuser, in denen MigrantInnen leben, wie Rostock, Mölln, Hoyerswerda und viele andere. In dieser Zeit bildete sich der NSU quasi als Nachfolgeorganisation von faschistischen, militärischen Untergrundorganisationen (Wehrsportgruppen und “Stay-Behind-Armeen” der NATO), die über die Geheimdienste gesteuert und finanziert werden. Durch die Terrorserie des NSU wurden MigrantInnen und Asylsuchende umgebracht oder schwer verletzt und in den Medien stigmatisiert. Angriffe, Morde oder Mordversuche haben nie aufgehört, sondern dauern bis heute an (z.B. Brandanschläge auf Flüchtlingsheime und der Mord an Burak Bektas als migrantisches Zufallsopfer in Berlin Rudow am 5. April 201212ii).
Mit PEGIDA und HoGeSa hat die organisierte Massenarbeit der Faschisten eine neue Qualität angenommen: Aufbauend auf ihre langjährige Basisarbeit in Stadtvierteln und Landkreisen haben es die Faschisten geschafft, über ein Jahr lang wöchentliche Demonstrationen mit teils mehreren zehntausend Menschen – vor allem aus dem Kleinbürgertum – unter dem Slogan des “Kampfes des Abendlandes gegen die Islamisierung” auf die Straße zu mobilisieren. Die Schimäre des “Kulturkampfs” ist heute in den bürgerlichen Medien allgegenwärtig.
Bis 1985 betrug die Zahl der Asylsuchenden ca. 160.000 im Jahr. Durch die von der BRD mit initiierten Kriege zur Zerschlagung Jugoslawiens in den 90er Jahren stieg die Zahl der Asylsuchenden innerhalb weniger Jahre auf 700.000. Die übliche Praxis war und ist es, dass nur einem geringen Teil von Anträgen statt gegeben wird.
Mit der von Kohl und dem heutigen Linkspartei-Politiker Lafontaine ausgehandelten Verfassungsänderung 1993 wurde das Grundrecht auf Asyl de facto abgeschafft: Asyl bekommen nur Menschen, die nicht über sogenannte sichere Drittstaaten nach Deutschland fliehen, was für die Mehrheit unmöglich ist. Entsprechend gingen die jährlichen Flüchtlingszahlen in den 2000er Jahren zunächst stark zurück, um in den letzten beiden Jahren dann wieder stark anzusteigen. Anlässlich der Fluchtwelle 2015 hat Deutschland dann drastische Verschärfungen im Asylrecht verankert, die faktisch auf eine komplette Ilegalisierung der Flüchtlinge hinauslaufen. So gilt z.B. zukünftig als Krimineller, wer mittels „Schleusern“ die militarisierten Außengrenzen der Festung Europa überwindet, seine Identität verschleiert oder sich der Deportation mittels Vernichtung von Ausweispapieren „widersetzt“. Kurz gesagt: Flüchtlinge sind allein aufgrund der sozialen Existenz, die ihnen aufgezwungen wird, kriminell.
Aktuelle Diskussion in der Bourgeoisie
Der Widerspruch zwischen dem Hunger des Kapitals nach ausbeutbarer Arbeitskraft auf der einen und der politischen Notwendigkeit der Abschottung der Grenzen und der Spaltung der Arbeiterklasse auf der anderen Seite äußert sich in der aktuellen Diskussion über Flucht und Migration in der herrschenden Klasse der BRD.
Die deutsche Bourgeoisie ist als Gewinnerin aus der letzten Krise hervorgegangen, hat reichlich Kapital akkumuliert und ist die unbestrittene Führungsmacht der Europäischen Union. Gemessen an den Bedürfnissen der weiteren Akkumulation und Expansion droht die ausbeutbare Arbeiterklasse im eigenen Land tendenziell zu klein zu werden, was sich u.a. in einem seit einigen Jahren bemerkbaren Arbeitskräftemangel in verschiedenen Sektoren der Wirtschaft bemerkbar macht. Dieser Umstand kommt in der seit mehreren Jahren geführten öffentlichen Diskussion über den “demographischen Wandel” und die “Überalterung” zum Ausdruck.
Im “Handelsblatt Morning Briefing” konnte man bereits am 05.12.2014 dazu lesen: “Deutschland ist nach den USA das beliebteste Einwanderungsland. 2014 zogen 465.000 Menschen hierher: doppelt so viele wie 2007. Wenn der Zustrom anhielte, wären unsere demographischen Probleme […] gelöst.”
Eine verstärkte Migration in bestimmte Bereiche der Arbeiterklasse liegt heute also im Interesse des deutschen Kapitals. In einem aktuellen Positionspapier des CDU-Wirtschaftsrates hieß es dazu bereits Anfang 2015 – also noch einige Monate vor der “Willkommenskultur”-Offensive, die Bundesrepublik müsse “ein Punktesystem einführen”, das die Zuwanderung je nach Bedarfslage in der Wirtschaft steuere. Es wird auch darüber gesprochen, Flüchtlinge für die Behebung des Arbeitskräftemangels zu nutzen13.
Die Ursache für die Debatte über die Einbeziehung von Flüchtlingen liegt nicht allein in den wirtschaftlichen Erwägungen, sondern gerade auch im wachsenden Widerstandskampf der Flüchtlinge, der von Staat und Mainstream-Medien nun nicht mehr totgeschwiegen, sondern offensiv aufgegriffen wird, um ihn unter Kontrolle zu bringen. Neben die Repression gegen die Flüchtlinge tritt nun der Versuch, Teile von ihnen zu integrieren. Das kommt in der öffentlichen Debatte darüber zum Ausdruck, dass man zwischen “politischen” bzw. “Kriegsflüchtlingen” auf der einen und “Wirtschaftsflüchtlingen” auf der anderen Seite unterscheiden müsse. Die einen sind, wie im Falle syrischer Ärzte, für das deutsche Kapital ausbeutbar und damit willkommen. Die anderen, wie die Roma, Kosovaren und Bulgaren, werden in der Propaganda der Herrschenden weiterhin als die unerwünschten “Schmarotzer” hingestellt.
Die Kämpfe zusammenführen und das Klassenbewusstsein entwickeln
Die Flüchtlinge und MigrantInnen in Deutschland sind Teil der ArbeiterInnenklasse. Die Flüchtlingsfrage, die Strategie der Bourgeoisie gegenüber den Flüchtlingen und der politische Widerstandskampf der Flüchtlinge und ihrer UnterstützerInnen sind daher besondere Erscheinungsformen des Klassenkriegs des Proletariats gegen die Bourgeoisie.
Die Strategie der imperialistischen Bourgeoisie gegenüber MigrantInnen und Flüchtlingen ist es, diese als ökonomische Konkurrenz der “deutschen” ArbeiterInnen zur Senkung der Löhne zu benutzen und sie vom Rest der Arbeiterklasse zu isolieren. Das Klassenbewusstsein des Proletariats soll im Sinne der Herrschenden durch die faschistische Ideologie ersetzt werden – Ziel ist es, das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl zu festigen und die Stimmung in den Massen zu verankern, dass die “Nation” von den “fremden Feinden” angegriffen (Ausländerkriminalität) oder zersetzt (Arbeits- und Wohnungsklau) wird; dass diese sich in der Gesellschaft breit machen und es darum bald keine deutschen Kinder mehr gibt. Die Deutschen müssen „ihr Land“, „ihre Arbeit“ „ihren Wohlstand“ verteidigen. Ziel ist es, die Massen zu einer willigen Gefolgschaft für die kriegerischen Ziele des eigenen Imperialismus zu manipulieren, die die Konterrevolution verinnerlicht haben.
Die Bourgeoisie bereitet sich mit dem geschilderten, kombinierten Vorgehen aus Repression und Integration auf die Verschärfung der gesellschaftlichen Widersprüche und politischen Kämpfe auch in der BRD vor.
Der Kampf gegen die faschistische Ideologie in den Massen ist der Kampf gegen die Spaltung der Arbeiterklasse. Für den Befreiungskampf der Arbeiterklasse – angefangen beim ökonomischen Kampf “ums Teewasser” im Betrieb – ist es notwendig, die faschistische Ideologie in den Massen zu bekämpfen und den Zusammenschluss der Klasse zu erwirken.
Ebenso ist es notwendig, die sozialdemokratische “Fürsorge”-Ideologie gegenüber den Flüchtlingen und den Reformismus im gemeinsamen Kampf zu überwinden und durch ein proletarisches, revolutionäres Klassenbewusstsein zu ersetzen.
Der politische Widerstandskampf der Flüchtlinge um menschenwürdige Lebensbedingungen und um die Durchbrechung der eigenen Isolation, um das Recht auf Arbeit und Wohnung muss daher mit den Kämpfen der anderen Teile der Arbeiterklasse – in Betrieb und Stadtteil – und mit dem antifaschistischen Kampf bewusst verbunden werden. KommunistInnen und AntifaschistInnen müssen in der Arbeiterklasse das Bewusstsein entwickeln, dass die Strategien, die die Bourgeoisie heute gegen die Flüchtlinge einsetzt, morgen auf weitere Teile der Klasse ausgedehnt werden.
In dem Maße, wie es gelingt, die Kämpfe zu verbinden, wird die Arbeiterklasse in der BRD, die objektiv international zusammengesetzt ist, sich auch subjektiv die Kampferfahrungen ihrer verschiedenen Teile zu eigen machen und ihr Bewusstsein für den Klassenkrieg entwickeln.
Um dies zu erreichen, ist es nicht ausreichend, in autonomen Gruppen politische Teilbereichsarbeit in diesem oder jenem Kampffeld auszuführen. Um die Arbeiterklasse zu einer einzigen politischen Kraft zusammenzuführen, die den revolutionären Krieg gegen die Bourgeoisie führt, bedarf es der Kommunistischen Partei als Vorhut. Um diese aufzubauen, müssen die KommunistInnen sich auf prinzipieller Grundlage vereinigen und schon heute eine einheitliche, verbundene Arbeit in den wichtigsten Sektoren der Massen entwickeln.
Die Arbeit unter den migrantischen und Flüchtlingsteilen der ArbeiterInnenklasse spielt dabei heute eine besonders wichtige Rolle, da hier die Verbindungen zwischen verschiedenen Kampffeldern (Kampf um politische Rechte, Stadtteilarbeit, Antira, Antifa) besonders leicht herzustellen sind. Gerade auf die völlig entrechtete Masse der Flüchtlinge trifft dabei eine alte Erkenntnis des Marxismus-Leninismus zu: die materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse sind die Basis auf der sich der politische Überbau erhebt; darunter auch solche Erscheinungen wie politische Bewegungen und Aufstände. Im Gegensatz auch zu den AktivistInnen der PWB haben die meisten Flüchtlinge keine Wahl. Sie können sich nicht freiwillig aufgrund ihres politischen Bewusstsein für den Protest und Widerstand entscheiden (und diese Entscheidung gegebenenfalls wieder zurücknehmen, wenn es zu ernst wird), sondern sie müssen aufgrund ihrer materiellen Lebensbedingungen – interniert, entrechtet, von Deportation bedroht usw. – kämpfen! In diesem Sinne hat die Masse der refugees vielen ihrer Klassenschwestern und -brüder eines voraus: sie haben nur noch ihre Ketten zu verlieren.
1Siehe www.komaufbau.org/imperialismus-und-fluchtlingsbewegung
2Ausgehend von Frankreich, wo sich junge rechte Intellektuelle zusammenfanden und in der GRECE (Groupement de recherche et d`ètudes pour la civilisation europèenne) seit 1968 eine Organisationsform für ihre Nouvelle Droite-Bewegung gefunden haben, hat das strategische Konzept der ‚Neuen Rechten‘, das nicht mehr oder weniger als die Entwicklung eines modernen europäischen Faschismus, der sich von der Last der Ewiggestrigen (Hitleranhängr, Antisemiten, Deutschtümelei usw.) befreit, eine erschreckende Erfolgsgeschichte hinter sich.
3aus: “Vom Staate”, Erstes Buch, Überschrift des 51. Kapitels
4Lenin, “Kapitalismus und Arbeiterimmigration”, Lenin Werke, Band 19, S. 447 ff.
5Vgl. “Statistical Yearbook”, United Nations, 2009
6Handelsblatt vom 11. Februar 2015
7Handelsblatt vom 11. Februar 2015
8Handelsblatt vom 11. Februar 2015
9“Erneut Flüchtlinge in KZ-Außenlager”, Junge Welt vom 02.02.2015
10Siehe hierzu den Artikel “Die Bewegungen PEGIDA und HoGeSa und die Perspektiven des proletarischen Antifaschismus”, www.komaufbau.org
11“Ich traue meinen Augen nicht. Ein Meister, der ausländische Mitarbeiter mit Fäusten traktiert. Doch er ist ja nicht allein. Auch andere Meister, viele von ihnen haben die gelben Kutten nicht an, ebenso wie Müller, schlagen auf die ausländischen Kollegen ein. Meister Wilhelm aus der Kernmacherei, wegen seiner Vergangenheit ‚SS Wilhelm‘ genannt, steht breitbeinig in der Menge, deutet mit dem Finger: ‚Den da und den und den!‘ Die Betroffenen wollen fliehen, nur wenigen gelingt es. Viele werden von aufgebrachten deutschen Kollegen und Angestellten verprügelt.”
Zitiert nach dem Augenzeugenbericht zur gewaltsamen Zerschlagung des migrantischen, “wilden” Streiks bei John Derre im Mai 1973 in Jahrbuch zum Klassenkampf, Rotbuch 103, Materialien zur Entwicklung der Klassenkämpfe im Rhein Neckar Raum und der Streik bei John Derre; S. 66
12Siehe burak.blogsport.de
13German Foreign Policy, 18.02.2015
iAus Platzgründen beschränken wir uns auf die Phase nach der Befreiung vom Faschismus ab 1945. Der deutsche Imperialismus nutzt aber seit seinem Aufkommen die Migration als strategische Waffe im Klassenkrieg und hat in der BRD dabei auf vielfältige Erfahrungen aufgebaut, die im Kaiserreich, der Weimarer Republik und dem Faschismus gesammelt wurden, z.B. mit der Integration der “Ruhrpolen”, der migrantischen Saisonarbeit in der Landwirtschaft und dem Lagersystem und der ausgedehnten Zwangsarbeit im Faschismus.
iiSiehe burak.blogsport.de