Wo sind die Arbeiter/innen-Viertel geblieben?

Die Grundlage aller entwickelten und durch Warenaustausch vermittelten Teilung der Arbeit ist die Scheidung von Stadt und Land. Man kann sagen, daß die ganze ökonomische Geschichte der Gesellschaft sich in der Bewegung dieses Gegensatzes zusammenfasst“, schreibt Karl Marx im 1. Band des Kapitals1.

Wie hat sich der Stadt-Land-Widerspruch seit damals entwickelt? In welchem Land leben wir heute und wie sieht seine räumliche Struktur aus? Im Schulunterricht und an der Universität werden diese Fragen in einzelne Wissenschaften zerlegt und bleiben letztlich unbeantwortet. In Geografie hören wir, dass Deutschland in Mitteleuropa liegt, kaum Bodenschätze besitzt usw. Im politischen Unterricht werden uns die Lügen über eine „soziale Marktwirtschaft“ und das Loblied auf die „Demokratie“ nahe gebracht; Klassen, Imperialismus und Geopolitik kommen nicht vor. Geschichte wird den SchülerInnen verblödend als Abfolge von Herrschern, Kriegen und Jahrestagen erzählt.

Der historische Materialismus versteht die räumliche Struktur und den Stadt-Land-Widerspruch als Ausdruck der Entwicklung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Die Art und Weise, wie die Menschen Gebrauchsgegenstände erzeugen und wie sie verteilt werden, bestimmt sowohl ihre sozialen Klassenbeziehungen, die räumliche Siedlungsstruktur wie auch die Großraumpolitik der führenden Reiche. Daher kann die sozioökonomische Struktur eines Landes nur in der Wechselwirkung und zeitlichen Entwicklung dieser Faktoren verstanden werden.

Das soziale Territorium Deutschland wird geformt durch die Wechselwirkung

der natürlichen Grundlagen (Geografie)

mit den Produktionsverhältnissen (die Wirtschaft als Basis der Gesellschaft)

und den darauf aufbauenden Siedlungsformen (die Entwicklung des Stadt-Land-Widerspruchs und die Segregation, d.h. die räumliche Trennung nach Klassenzugehörigkeit)

sowie den politischen und staatlichen Formen als Überbau der Gesellschaft mit all ihren Rückwirkungen auf den Raum (Geopolitik, Krisen und Kriege)

Der Text untersucht als ein Teil der Klassenanalyse vor allem Punkt 1 und 3 und streift geopolitische Aspekte im Hinblick darauf. Die Grundlagen der politischen Ökonomie (Punkt 2) werden in der Argumentation vorausgesetzt, d.h. Begriffe wie Ware, Wert oder Imperialismus werden verwendet, ohne sie herzuleiten. Die Rückwirkung des Überbaus (Punkt 4) auf die sozioökonomische Struktur wird nur mit einigen wenigen Beispielen angerissen.

Wir werden uns im Folgenden dem sozialen Territorium in Deutschland annähern: Wie verteilen sich Reichtumszonen und Armutsgebiete übers Land und warum gerade so? Wie hat sich der Stadt-Land-Widerspruch entwickelt? Wieso prägt der Regionalismus die Sozialstruktur in Deutschland und was folgt daraus? Welche Rolle spielt die Provinz für die proletarische Revolution? Gibt es ArbeiterInnenviertel in den Städten und wie ist ihre Sozialstruktur?

Spannende Fragen, zu deren Beantwortung uns Friedrich Engels die richtige Methode an die Hand gegeben hat2. Indem wir uns daran orientieren, untersuchen wir zunächst einige geografische Grundlagen, um im dann Siedlungsformen und Sozialstruktur im heutigen Deutschland herauszuarbeiten. Im Schlussteil werden wir einige Kernpunkte als Ergebnisse zusammenfassen.

Geografie in Deutschland

Geografische Grundlagen

Deutschland liegt in der gemäßigten Klimazone und verfügt als wasserreiches Gebiet über fruchtbare Böden. Das Land besitzt kaum Rohstoffe. Es verfügt in bedeutendem Maß nur über Stein- und Braunkohle, einige Rohstoffe für die Bauwirtschaft wie Kies, Bausand, Natursteine sowie über Kalisalz als Grundstoff für die chemische Industrie3. Geografisch wird es durch den Gegensatz zwischen norddeutscher Tiefebene und den Mittelgebirgen im Süden geprägt.

Deutschland befindet sich im Zentrum Mitteleuropas und am westlichen Rand der eurasischen Landmasse. Nach Süden bilden die von Gletschern bedeckten Alpen eine Barriere. Dadurch wurde über Jahrtausende der gesellschaftliche Verkehr umgeleitet: Im Westen entlang von Rhein und Rhone nach Frankreich und im Osten entlang der Donau zum Balkan. Nord- und Ostsee sind eine Grenze nach Norden. Im Osten und im Westen gibt es keine vergleichbaren natürlichen Grenzen. Das hat im Lauf der Geschichte zahlreiche Kriege und in deren Folge Grenzverschiebungen begünstigt.

Blicken wir auf den Ozean, so verfügt Deutschland zwar über einen direkten Zugang zum Meer und mit dem Nord-Ostsee-Kanal über eine der wichtigsten Wasserstraßen Europas. Die beiden traditionellen Seehäfen Hamburg und Bremerhaven sowie der 2012 in Betrieb genommene Jade-Weser-Port in Wilhelmshaven stehen für die wirtschaftliche Bedeutung des kleinen Zipfels Nordsee, der zu Deutschland gehört. Geografisch kontrolliert jedoch England den Zugang zum Atlantik, was machtpolitisch und militärisch weitreichende Folgen hat.

Grafik 1: Topographische Karte Deutschlands
Grafik 2: Landschaftskarte Deutschlands

Geopolitische Bedeutung der Flüsse und Gebirge

Die Geopolitik befasst sich aus imperialistischer Sicht mit dem Einfluss geografischer Faktoren auf die gesellschaftliche Ordnung. Sie hat grundlegende Zusammenhänge herausgearbeitet, wie zum Beispiel: „Flüsse sind grundlegend für die Entwicklung von Handel, Kapital und Wohlfahrt – solange sie in die richtige Richtung fließen.“4 Während dies z.B. auf die USA zutrifft, fließen die großen Flüsse Russlands geopolitisch gesehen in die „falsche“ Richtung, zum Nordpolarmeer ins Nichts der Arktis.

In Deutschland stimmt zwar die Richtung der Flüsse hin zu schiffbaren Meeren. Geopolitisch entscheidend ist jedoch, dass die drei großen Flüsse auseinander fließen:

Der Rhein nach Westen in den Atlantik, die Elbe nach Nordwesten in die Nordsee und die Donau nach Südosten ins Schwarze Meer. Die auseinander strebende Struktur des Landes wird durch die Flüsse als natürliche Handelswege vorherbestimmt.

Die bewaldeten Mittelgebirge in Süddeutschland sind für den Ackerbau ungeeignet. Sie bilden natürliche Grenzen zwischen benachbarten Kulturlandschaften. Dezentrale Wirtschaftsräume und darauf aufbauend der Regionalismus als politischer Bezugsrahmen wie als kulturelle Identität sind in der Gebirgsgeografie zwischen Alpen und norddeutscher Tiefebene angelegt.

Die ostelbischen Gebiete gehören zur Ostseeregion, die als Binnenmeer schon seit dem Feudalismus einen eigenen Wirtschaftsraum hervorbrachte (z.B. Hanse). Verstärkt wird diese Ostorientierung durch die geopolitische Lage Norddeutschlands. Hinter der Nordsee kommt der Atlantik, d.h. jahrhundertelang nichts; hinter der Ostsee liegen Russland und Eurasien, d.h. Großreiche und Handelszentren.

Aus geopolitischer Sicht besitzt Deutschland eine dezentrale und auseinander strebende Grundstruktur. Es gibt drei Großräume mit politisch, wirtschaftlich und kulturell unterschiedlicher Ausrichtung – den Nordosten (ostelbische Gebiete), den Westen (Rheinschiene) und den Süden (Bayern). Der vorgefundene geografische Gegensatz von Tiefebene und Mittelgebirgen tritt hinter diese geopolitische Spaltung zurück.

Reformation und Gegenreformation spiegeln das ebenso wieder wie die Konkurrenz von Preußen und Österreich-Ungarn bei der Bildung eines bürgerlichen Nationalstaats. Der Streit um die strategische Ausrichtung zwischen „Transatlantikern“ und „Russlandfreunden“ bildet einen modernen Ausdruck dieser Mitteleuropa bestimmenden geopolitischen Konstellation.5

Die geschichtliche Funktion des bürgerlichen Nationalstaats liegt in der Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraums unter zentraler politischer Führung, der die feudale Zersplitterung überwindet. In Deutschland mit seinem föderalen Staatsaufbau von 16 Bundesländern, die politisch relativ viel Macht besitzen (z.B. über den Bundesrat oder durch ausschließliche Gesetzgebungskompetenzen in Bereichen wie der Bildungspolitik), wurde dies bis heute nicht vollständig umgesetzt. Dass die bayrische Landesregierung immer mal wieder Tendenzen zu einer Nebenaußenpolitik entwickeln kann, wäre weder in den USA, Russland, China noch in Frankreich denkbar. Dies stellt eine wichtige Besonderheit des deutschen Imperialismus im Vergleich zu seinen Konkurrenten dar.

Der geopolitische Hintergrund bildet zusammen mit der Geschichte auch die Ursache dafür, dass der Regionalismus bis heute das soziale Territorium Deutschlands prägt. Ein Beispiel aus der Politik sind die kommunistischen Organisationen der 1970er Jahre, die alle einen regionalen Schwerpunkt hatten, oder die politische Widerstandsbewegung heute, die räumlich in lauter kleine „Fürstentümer“ zerfällt. Ein Beispiel auf ideologischer und kultureller Ebene wären die „Wessis“ und „Ossis“, oder z.B. die Erscheinung, dass sich der Klassenhass, den die Aufwertung des Stadtviertels im Prenzlauer Berg in Berlin hervorgerufen hat, gegen die „Schwaben“ richtet.6

Kulturlandschaft und Nutzungsarten

Die Gesamtfläche Deutschlands beträgt 357.580 km². Mit 83,5% ist der überwiegende Teil Vegetation, die sich zu ca. 2/3 auf Kulturland (51,1% der Gesamtfläche) und fast 1/3 Wald (29,7% der Gesamtfläche) aufteilt. Echte Wildnis gibt es außerhalb einiger Nationalparks nicht mehr in Deutschland.7 Siedlungen mit 9,2% und Verkehrsfläche mit 5% sind weitere relevante Nutzungsarten. Die Siedlungs- und Verkehrsflächen als Hinweis auf den Stadt-Land-Widerspruch verteilen sich höchst ungleichmäßig über die Gesamtfläche.

Siedlungsformen und Bevölkerungsdichte

Größe und Bevölkerungsdichte der Siedlungen sind die beiden wichtigsten empirischen Kriterien der bürgerlichen Statistik. Im Unterschied dazu müssen wir die Siedlungsformen (Großstadt, Provinzstadt, Dorf) allseitig und dabei vor allem qualitativ betrachten. Man muss z.B. ein 1000-Seelen Dorf im Speckgürtel von München anders bewerten als eine 20-mal so „große“ Stadt in der Eifel oder Vorpommern. Eine sinnvolle Einteilung wäre demnach:

Großstädte und Ballungsräume (Ebene 1 – Die Stadt):

Sozioökonomisch besteht die Stadt in Deutschland im 21. Jahrhundert aus Großstädten und Ballungsräumen. Großstädte sind nach der statistischen Definition alle Städte mit mehr als 100.000 EinwohnerInnen. Von insgesamt 80 Großstädten gehören 32 keinem Ballungsraum an. In diesen 32 Großstädten leben 5,3 Mio. Einwohner bzw. 6,4% der Bevölkerung.

Ballungsräume sind, wie der Begriff richtig ausdrückt, ein Zusammenhang von Siedlungen in einem einheitlichen Gebiet, das großstädtisch geprägt ist. Der sozioökonomische Zusammenhang (Einheitlichkeit des Gebiets) bedeutet, dass wir immer alle Siedlungen, also auch die Kleinstädte und Dörfer in ihrem Einzugsgebiet mit betrachten müssen. Insgesamt leben in Deutschland 36,1 Mio. EinwohnerInnen bzw. 43,9% der Bevölkerung in 19 Ballungsräumen.

Werden alleinstehende Großstädte und Ballungsräume zusammengezählt leben damit 41,4 Mio. EinwohnerInnen bzw. 50,3% der Bevölkerung nach der bürgerlichen Statistik in der Stadt (Ebene 1).

Provinzstädte (Ebene 2):

Zur Provinz gehören die Klein- und Mittelstädte mit 20.000 bis 100.000 EinwohnerInnen und einer Funktion als lokales/regionales Zentrum, die nicht zur Stadt (Ebene 1) zählen. In den 84 Mittelstädten (zwischen 50.000 und 100.000 EinwohnerInnen) lebt mit insgesamt 5,7 Mio. EinwohnerInnen fast die Hälfte der BewohneInnen von Provinzstädten. Die andere Hälfte lebt in 227 Kleinstädten (zwischen 20.000 und 50.000 EinwohnerInnen). Insgesamt leben in ca. 311 Provinzstädten 12,7 Mio. EinwohnerInnen bzw. 15,5% der Bevölkerung.8 Auch diese „Bruttogröße“ werden wir im Weiteren umrechnen müssen.

Ländliche Regionen (Ebene 3 – Das Dorf):

Die ländliche Region besteht aus großen Dörfern9 mit 2.000 bis 20.000 EinwohnerInnen und Dörfern kleiner als 2.000 EinwohnerInnen, die nicht Teil einer Stadt oder Ballungsraums sind. In ca. 680 großen Dörfern leben 6 Mio. EinwohnerInnen bzw. 7,3% der Bevölkerung und in 8.995 Landgemeinden, die oft aus mehreren früher eigenständigen Dörfern bestehen,10 leben nochmal 22,1 Mio. Einwohner bzw. 26,9 % der Bevölkerung. Insgesamt leben ca. 28,1 Mio. Einwohner bzw. 34,2% der Bevölkerung auf dem Dorf.

Urbanisierungsgrad und
reale Sozialstruktur

Die bürgerliche Statistik nennt einen Urbanisierungsgrad von 73,1%11 und damit 26,9 % Dorfbevölkerung. Diese utopisch hohe Verstädterung ergibt sich aus der fehlerhaften Definition quantitativer Schwellen, der Nicht-Berücksichtigung qualitativer Aspekte und einem am Verwaltungsrecht orientierten Formalismus. Dies macht die folgende Umrechnung der bisher ermittelten Bruttogrößen notwendig:

Insgesamt leben 41,4 Mio. Menschen und damit etwas über die Hälfte der EinwohnerInnen in der Stadt (Ebene 1). Ein Teil der Dörfer und Kleinstädte in Ballungsräumen behält dabei aber die Sozialstruktur einer Provinzstadt bzw. sogar seinen dörflichen Charakter. Dies gilt auch, wenn die BewohnerInnen als PendlerInnen in der Großstadt arbeiten und es im Dorf im Speckgürtel keinen einzigen landwirtschaftlichen Betrieb mehr gibt.

Anhand der Aufschlüsselung der Ballungsräume kann man einen zwischen 90% (im Falle Berlin, das mit Potsdam und den Siedlungen innerhalb des Berliner Rings zusammen wächst) und 50% (z.B. Karlsruhe) schwankenden Anteil des Großstädtischen BewohnerInnen ansetzen. Überschlägt man das vorliegende Datenmaterial ergibt sich daraus, dass wir von den 36,1 Mio BewohnerInnen von Ballungsräumen rund 10 Mio BewohnerInnen abziehen müssen, da diese eigentlich EinwohnerInnen von Provinzstädten und Dörfern sind. Diese 10 Mio. entsprechen rund 13% der Gesamtbevölkerung. Wir zählen diese 13% komplett zu den 15,5% der Provinzstädte dazu und kommen so auf 28,5% Anteil für die Provinz (Ebene 2). Diese Zuordnung scheint uns als Arbeitshypothese auch für Dörfer in Ballungsräumen gerechtfertigt, da sie nach unseren Erfahrungen deutlich „städtischer“ geprägt sind als Dörfer in ländlichen Regionen (Ebene 3).

Diese Umrechnung auf Grundlage eines qualitativen Kriteriums, nämlich der Sozialstruktur, führt zu einem verblüffenden Ergebnis. Das reale Stadt-Land Verhältnis ist mit 1/3 zu 2/3 genau umgekehrt dazu, was der Urbanisierungsgrad der bürgerlichen Statistik vortäuscht. Tatsächlich leben nur ca. 37,5% in Großstädten, mit ca. 34% in Dörfern leben fast eben so viele Menschen auf dem Land und ca. 28,5% leben in Provinzstädten. Die grafische Darstellung des Stadt-Land-Widerspruchs anhand der Bevölkerungsdichte bestätigt diese Dreiteilung

Grafik 4
Grafik 5

Grafik 4 zeigt eine Übersichtskarte mit Farbskala

violett > Großstadt;

hellviolett/orange > überwiegend Provinz inklusive deren Anteil an Ballungsräumen;

orange/gelb/grün > Dorf).12

Grafik 5 zeigt ein exaktes Raster nach Bevölkerungsdichte pro km².13 Dunkelrot

entspricht 619 bis 23.379 Einw., die beiden etwas helleren Töne (rot bzw. violett) 92 bis 619 Einw. und die vier hellsten Farbstufen 0 bis 92 Einw..

Siedlungsformen und Sozialstruktur

Die Entwicklung des Stadt-Land-Widerspruchs in Deutschland

Stadtentwicklung im Frühkapitalismus (1100 bis 1850)

Die ältesten Städte reichen zwar in die Römerzeit zurück, aber erst im Spätfeudalismus (12. und 13. Jahrhundert) bildet sich der Stadt-Land-Widerspruch heraus. In dieser Phase entstehen in einer ersten Welle der Verstädterung über 200 Städte, die Mehrzahl als Neugründungen.

Hervorgerufen wird die Verstädterung durch die Ausdehnung der Warenwirtschaft im Spätfeudalismus. Der historische Materialismus zeigt auf, dass bei der Einteilung in Stadt bzw. Dorf weder die Größe noch die Rechtsform einer Siedlung maßgeblich sind. Was die Stadt kennzeichnet, ist das Vorherrschen warenwirtschaftlicher Einrichtungen. Die auf Austausch beruhende Stadt kann dabei unbegrenzter anwachsen als das auf seiner landwirtschaftlichen Produktion fußende Dorf.

Zum Verständnis der Entwicklung gehören auch die Größenordnungen. Im Frühkapitalismus lebten in einer deutschen Stadt in der Regel einige tausend Menschen. Bereits im Altertum (Rom) und im Mittelalter gab es Millionenstädte (vor allem in Asien), doch erst um 1500 erreichte Köln als die damals größte Stadt die Zahl von 40.000 EinwohnerInnen. Um 1700 hatte Wien die Grenze von 100.000 EinwohnerInnen überschritten. Es war somit – nach heutigen statistischen Maßstäben – die erste Großstadt in Mitteleuropa.

Die ostelbischen Gebiete kamen erst im Zuge der Ost-Kolonisation dazu, deren Höhepunkt zwischen 1200 und 1400 liegt. Preußen als feudaler Militärstaat gründet sich auf Basis der kapitalistischen Manufaktur. Im preußischen Absolutismus entsteht mit Berlin ein politisches, ökonomisches und kulturelles Zentrum, das die Funktion einer Hauptstadt – allerdings begrenzt auf Norddeutschland – ausfüllt. Die hier ganz knapp angedeutete geschichtliche Entwicklung und Verteilung der Städte in Deutschland im Frühkapitalismus verstärkt und verfestigt somit die geopolitisch angelegte dezentrale und auseinander strebende Struktur des sozialen Territoriums.

Verstädterung in der
Industrialisierung (1850 bis 1910)

Die Stadtbevölkerung in Preußen stieg von 28,1% (1849) auf 37,5% (1871). Bei Reichsgründung 1871 gab es acht moderne Großstädte: Köln, Berlin, Breslau und Königsberg in Preußen sowie Hamburg, München, Dresden und Leipzig. In einer rasanten Entwicklung steigt die Zahl bis 1910 sprunghaft um 600% auf 48 Großstädte.

Quantität schlägt auch hier in Qualität um. Der Bezirk Düsseldorf (Ruhrgebiet) und die Provinz Brandenburg (Berlin) waren 1861 die ersten Räume, in denen der Anteil der Großstädter über 10% stieg – die Schwelle, die als kritisches Minimum der Urbanisierung gilt.

Neben dem starken Wachstum der alten Städte entstehen neue, vom Klassenwiderspruch Bourgeoisie und Proletariat geprägte Industriestädte. So z.B. die heutigen Wuppertaler Stadtteile Elberfeld und Barmen (Textilindustrie) als älteste proletarische Zentren in Deutschland, wo Engels während der 1848er Revolution tätig gewesen ist. Eine neue Erscheinung sind städtische Ballungsräume wie das Ruhrgebiet als industrielles Herz des Kapitalismus um 1900. Daneben entstehen in Sachsen und Oberschlesien weitere Industriezentren und auch die Grundlagen für den Ballungsraum Rhein-Main bilden sich heraus.

Die Industriestädte verteilen sich aufgrund von Rohstoffen, Transportwegen usw. unregelmäßig übers Land. Mit dem Ruhrgebiet entsteht neben der Hauptstadt Berlin ein zweites Zentrum in Westdeutschland. Beide Faktoren verstärken die sozioökonomische Zersplitterung Deutschlands weiter. Der Regionalismus des sozialen Territoriums wird durch den besonderen Verlauf der industriellen Revolution samt Bildung eines deutschen Nationalstaats dialektisch aufgehoben, d.h. auf höherer Stufenleiter in den Kapitalismus in Deutschland übertragen.14

Stadtentwicklung seit 1960 und Ist-Zustand

Auch wenn sich die grundlegende Siedlungsstruktur Deutschlands, wie wir sie heute antreffen, um 1910 herausgebildet hatte, entstehen im Imperialismus weitere Industriestädte.

Das bekannteste Beispiel wäre die buchstäblich auf der grünen Wiese errichtete Autostadt Wolfsburg. Die Braunkohleregion Lausitz im Südosten der DDR sowie Bayern in der BRD sind Beispiele für landwirtschaftlich geprägte Regionen, in denen die Industrialisierung erst nach dem 2. Weltkrieg erfolgte und die Sozialstruktur gründlich auf den Kopf gestellt hat.

Die Phase ab 1960 bis 2000 wird häufig als Suburbanisierung bezeichnet, da nach der bürgerlichen Statistik der historische Trend zum Wachstum der Großstädte scheinbar nach 100 Jahren zum Stillstand kommt. Dazu zunächst einige statistische Fakten:15 1871 bis 1925 wächst die Bevölkerung um 91,2%, während sich GroßstadtbewohnerInnen verzehnfachen (+1.078,2% ) und die EinwohnerInnen der Mittelstädte (50.000 bis 100.000) um 245,1% ansteigen.

Von 1925 bis 1970 verlangsamt sich das Bevölkerungswachstum auf 55,5%. Großstädte (+65,1%) und Mittelstädte (+73,4%) wachsen kaum schneller. Dagegen boomen Kleinstädte (10.000 bis 20.000 EinwohnerInnen +159,7% und 20.000 bis 50.000 EinwohnerInnen + 150,8%). Die Bevölkerung wächst vor allem in Räumen, die in der Industrialisierung bisher zurückgestanden haben: In Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Baden-Württemberg nimmt die Bevölkerungsdichte um 80%, in Hessen um 70% und Bayern um 65% zu. Dagegen nimmt sie in NRW nur um 55% zu.

Die Suburbanisierung wird durch verschiedene Faktoren vorangetrieben: Entwicklung des Individualverkehrs, Verallgemeinerung der urbanen Lebensweise, Kernstädte werden unattraktiv, Bedeutung der Freizeit und damit des Lands wachsen. Sozioökonomisch bedeutet die Suburbanisierung aber keineswegs eine Wiedergeburt des Landes. Sie stellt vielmehr ein weiteres Wachstum der Städte in veränderter Form dar, nämlich durch Integration des Umlands in die Großstadt bzw. den Ballungsraum. Diese Entwicklung lässt sich in allen imperialistischen Ländern aufzeigen und führt in Westdeutschland ab 1980 zur sogenannten Krise der Innenstädte.

Innenstädte als Einkaufszentren (Fußgängerzonen) ohne Wohnbevölkerung verstärken die räumliche Trennung nach Klassenzugehörigkeit. Während seit 1960 alle, die es sich leisten können, ins Grüne des sich rasch ausweitenden Speckgürtels um die Großstädte umziehen, bleiben die unteren „proletarischen“ Schichten der ArbeiterInnenklasse in der Innenstadt zurück. Eine gewisse Gegentendenz bildet in den letzten 20 Jahren die massive Aufwertung innerstädtischer Quartiere (sogenannte Gentrifizierung). Sie führt in boomenden Großstädten und Ballungsräumen zur Verdrängung der ArbeiterInnen aus bestimmten Innenstadtvierteln.

Dorfentwicklung seit 1960 – vom bäuerlichen Dorf zum ländlichen Raum

Die Landwirtschaft spielt für die Sozialstruktur in der Provinz eine immer geringere Rolle. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist das Verschwinden der Bauern als eigenständige Klasse in Deutschland durch das sogenannte Bauernsterben seit den 1960er Jahren in Folge der Industrialisierung der Landwirtschaft und Herausbildung einer monopolisierten Agrarindustrie.

Um 1900 waren noch 38% der Erwerbstätigen in der Land- und Forstwirtschaft tätig und 1950 immerhin noch 24,6%. Bis 1995 sank der Anteil auf 2,3% und liegt heute bei nur noch 1,4%. In absoluten Zahlen bedeutet dieser einen Rückgang von 3,6 Mio. (1960)16 auf 617.000 (2017).

Während es vor 20 Jahren noch rund 654.000 landwirtschaftliche Betriebe gab, waren es im Jahr 2016 gerade noch 275.000. Eine Abnahme von 58%. Von den heute noch bestehenden Betrieben bewirtschaften 9% der Betriebe mehr als die Hälfte der gesamten Nutzfläche in Deutschland.

Dabei gibt es große regionale Unterschiede: 77% der in der Landwirtschaft Beschäftigten in Bayern – wo es mit rückläufiger Tendenz noch Bauern als einfache Warenproduzenten gibt – sind Familienarbeitskräfte, während in Ostdeutschland über 50% der Beschäftigten “ständige Arbeitskräfte”, d.h. LohnarbeiterInnen in den kapitalistischen Agrarbetrieben sind.

Betrachten wir den ländlichen Raum allein, so sind im Durchschnitt 2,3% der Erwerbstätigen in Land- und Forstwirtschaft beschäftigt (Stand 2013), die 1,7% der Bruttowertschöpfung erbrachten. Die höchsten Werte sind bei der Beschäftigung 13,6% im Rhein-Pfalz-Landkreis und bei der Wertschöpfung 7,3% im Landkreis Lüchow-Dannenberg.17

Die Provinz bekommt heute andere Funktionen zugewiesen als das bäuerliche Dorf vergangener Jahrhunderte. Dazu gehört die Wohnfunktion im Umfeld der Ballungsräume/Großstädte, die sich in wachsenden PendlerInnenzahlen und der steigenden Entfernung der Wohnung zum Arbeitsplatz ausdrücken. Daneben gibt es eine breit gefächerte lokale Wirtschaft aus Handwerk und mittelständischen Kapitalisten, die sozial stabilisierend wirkt. Dies gilt unabhängig davon, dass die industriellen Zulieferer faktisch in internationalen Produktionsketten eingebunden sind und über Kredite von der Bank abhängen. Die öffentliche Verwaltung und Reproduktionsfunktionen von Tourismus über das Kreiskrankenhaus bis zum Seniorendomizil im Grünen sind weitere Standbeine des Dorfs im 21. Jahrhundert.

Deutschland ist mit über 460 Millionen Übernachtungen im Jahr18 eines der meistbesuchten Länder der Erde. Mit 3,9% der gesamten Bruttowertschöpfung (Stand 2017) ist der Tourismus ein wichtiger Wirtschaftszweig. Beliebteste Urlaubsregionen sind Bayern (Alpen, Allgäu), Ostsee, Nordsee sowie Baden-Württemberg (u.a. mit Schwarzwald und Bodensee), die über 70% des Inlandstourismus auf sich vereinen.19

Die nachfolgende Karte zeigt die regionale Bedeutung des Tourismus anhand der Beschäftigten im Gastgewerbe (Stand 2012). Spitzenreiter waren die Landkreise Garmisch-Partenkirchen mit einem Index von 513, Vorpommern-Rügen (453) und Nordfriesland (403).20

Grafik 6

Insgesamt gilt es zu beachten, dass es keine einheitliche Entwicklung der Provinzstädte und des Dorfs gibt. Wir sehen vielmehr ein Nebeneinander von boomenden Landkreisen im weiteren Einzugsbereich von Ballungsräumen oder als Rückzugsorte der Bourgeoisie, wirtschaftlich und sozial stabile Räume (z.B. Touristenzentren, Kreise mit dezentral verteilter Industrie im Süden) und den sterbenden Regionen, in denen sich die Armut auf dem Land ballt.

Das industrielle Nord-Süd-Gefälle in Deutschland

Grafik 7
Grafik 8

Geschichtlich gewachsen verteilt sich die Industrie sehr ungleichmäßig über Deutschland. Es gibt hierbei sowohl ein klares Ost-West-Gefälle wie auch einen Nord-Süd-Gegensatz, der durch die Industrieregionen und Großstädte im Norden weniger ins Auge springt und daher kaum im Bewusstsein ist. [Siehe Grafik 7]

Das industrielle Nord-Süd-Gefälle wird anhand der Kennzahl ‚Beschäftigte im verarbeitenden Gewerbe‘ sichtbar. Der Süden (Baden-Württemberg, Bayern und südliches Thüringen) weist flächendeckend eine hohe Industriebeschäftigung auf (dunkle Einfärbung). Das weicht erkennbar von der Siedlungsstruktur ab. Im Süden gibt es in der Provinz eine dezentrale verteilte Industrie auch jenseits der städtischen Zentren. [Siehe Grafik 8]

Prognosen zur Entwicklung der räumlichen Struktur bis 2035

Jede Zukunftsprognose der sozioökonomischen Struktur eines Landes hängt zunächst einmal von der Bevölkerungsentwicklung als grundlegender Variable ab. Mit der Industrialisierung hat sich die EinwohnerInnenzahl Deutschlands in etwas mehr als einhundert Jahren verdoppelt. Seit 1995 und damit nunmehr seit einem Vierteljahrhundert stagniert die Bevölkerung.21

Jahr Einw. Jahr Einw.

1871 41,0 Mio. 1990 79.8 Mio.

1910 64,9 Mio. 1995 81.8 Mio.

1950 69.3 Mio. 2000 82.4 Mio.

1960 73.1 Mio. 2010 81.8 Mio.

1970 78.1 Mio. 2015 82.2 Mio.

1980 78.4 Mio. 2017 82.8 Mio.

Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung sind als statistische Rechnungen hochpolitisch. Ihre Ergebnisse werden direkt in politische Programme übersetzt – von der neoliberalen Rentenreform bis hin zum faschistischen „Volkstod“. Auch wissenschaftliche Einschätzungen der Bevölkerungsentwicklung hängen mit der Geburtenrate und der Migrationsbilanz entscheidend von Variablen ab, die selbst wiederum auf komplexe Weise durch politische Faktoren geprägt werden. Sie sind damit empirisch kaum vorhersagbar. Unter diesen Einschränkungen halten wir es in einem mittelfristigen Zeitraum für eine wahrscheinliche Entwicklung von einer stagnierenden Bevölkerung von ca. 80 bis 85 Mio. in Deutschland auszugehen.

Wenn die Bevölkerung nicht wächst, bedeutet die Binnenwanderung innerhalb Deutschlands zwangsläufig, dass den Gewinnern (Boomregionen) im gleichen Maß Verlierer (sterbende Regionen) gegenüberstehen werden. Die Binnenwanderung der letzten 30 Jahre ist durch die De-Industrialisierung der DDR und die massive Abwanderung aus dem Osten geprägt. Außerhalb der Boomregion Berlin haben viele Teile Ostdeutschlands Bevölkerungsverluste von 20% bis 35% zu verkraften.22 Diese Entwicklung hat bisher die untergründige Verschärfung des Stadt-Land-Widerspruchs überlagert. Allen Prognosen zufolge wird die kapitalistische Ausbeutung des Dorfs und von Teilen der Provinz durch die Stadt in den nächsten 20 Jahren zu immer mehr sterbenden Regionen führen.

Laut Raumordnungsbericht der Bundesregierung wird bis 2035 die Zahl der dünn besiedelten Landkreise mit weniger als 100 EinwohnerInnen pro km² um 50% auf dann 93 anwachsen. Die dramatischen sozialen Konsequenzen werden in nachfolgender Grafik 10 sichtbar. In vielen strukturschwachen Gebieten wird 2035 eine tragfähige Daseinsvorsorge „kaum mehr zu gewährleisten sein.“23

Die Probleme gehen dabei weit über Ostdeutschland hinaus. Wir sollten alle Regionen, die in nachfolgender Grafik 9 nicht ausschließlich rosa oder hell gekennzeichnet sind, als vom Ausbluten bedrohte oder definitiv „sterbende“ Räume ansehen. Daran wird die zukünftige enorme Zuspitzung des Stadt-Land-Widerspruchs mit einem Ost-West- sowie Nord-Süd-Gefälle erkennbar.

Armuts- und Reichtumszonen
in Deutschland

Der Armutsbericht 2017 zeigt die regionale Ungleichverteilung zwischen dem armen Norden(!) und Osten und dem reichen Süden auf. Auf Grundlage von 60 Regionen liegt der Durchschnitt bei 15,7% armen Haushalten. Als arm gelten dabei Haushalte, die weniger als 60% des Durchschnittseinkommens aller deutschen Haushalte erzielen. Die TOP 10 Reichtumsregionen mit Quoten von 8,1% bis 11,5% liegen alle in Bayern und Baden-Württemberg, darunter Spitzenreiter München mit 8,1% und Stuttgart mit 10,9%. Die TOP 10 der Armutsregionen sind: Altmark (25,8%), Mecklenburgische Seenplatte (24,9%); Bremen (24,8%), Vorpommern (24,2%), Berlin (22,4%), Hannover (22,3%), Halle/Saale (22,2%), Westsachsen und Dortmund (jeweils 22,0%).24

Stark umstritten bleibt die Frage nach der richtigen Einbeziehung regional unterschiedlicher Preise und/oder notwendiger Kosten. Bei statistischer Berücksichtigung der regionalen Preisunterschiede („Kaufkraftarmutsquote“) gibt es spürbare Veränderungen in der Armutsquote (Siehe Grafkik 10)25

Platt gesagt ist das Leben im Westen und der Stadt teurer als im Osten oder auf dem Land, weswegen die Kaufkraftarmutsquote im Osten deutlich sinkt und in den Städten ebenso deutlich steigt. Nimmt man z.B. das Kriterium, wie viele Haushalte mehr als 40% des Einkommens für die Miete aufwenden müssen, dann steigt die Armutsquote insgesamt an und explodiert in den Ballungszentren, wo die Mieten in den letzten 10 Jahren stark steigen. Im aktuellen Armutsbericht 2017 wird mit zahlreichen Argumenten darauf hingewiesen, dass es bisher keine objektive Datengrundlage und entsprechende sozialwissenschaftliche Analysen gibt, aufgrund derer man regionale Preisunterschiede bei der Messung der Armut berücksichtigen könne.26 Dahinter steckt das größere Problem der bürgerlichen Statistik, dass sie Armut nur quantitativ misst (noch dazu bezogen auf ein Durchschnittseinkommen) und keine qualitative Klassenanalyse mit Hilfe des dialektischen Materialismus erstellt.

Ein denkbares Szenario soll verdeutlichen, warum wir selbst mit den Einkommensdaten sehr vorsichtig umgehen müssen: Die Agenda 2010 wurde aufgrund des Widerstands der ArbeiterInnen nur zum Teil umgesetzt, nämlich im Niedriglohnbereich (Hartz IV, prekäre Jobs). Würden z.B. beim nächsten Kriseneinbruch die Stammbelegschaften direkt angegriffen und eine 30% Lohnsenkung in diesem Bereich durchgesetzt – und würden der Mindestlohn und Hartz IV vorläufig nicht abgesenkt – wäre ein starker Rückgang der statistischen Armutsquote die Folge!

Solche methodischen Einschränkungen gelten auch für nachfolgende Karte [Grafik 11] der durchschnittlichen Kaufkraftverteilung in Deutschland (Farbskala von hellgrün = Reichtum bis dunkelrot = Armut), in der z.B. Hamburg aufgrund seiner vielen Millionäre zur Reichtumsregion mutiert. Andererseits spiegelt sich in dieser Darstellung unsere Aussage, dass man die Provinz nicht über einen Kamm scheren kann, eindrucksvoll wider.

Grafik 11

Dschungel Großstadt – wo sind die Arbeiter/Innen-viertel geblieben?

Daten zum sozialen Flickenteppich am Beispiel Berlin

Der Aufstandsplan von Spartakusbund und Revolutionären Obleuten im November 1918 sah vor, dass angeführt von den wenigen Vertrauensleuten, für die man Waffen aufgetrieben hatte, riesige Protestzüge aus den ArbeiterInnenvierteln ins bürgerliche Zentrum Berlins marschieren sollten, um dort die Regierungsgewalt zu übernehmen. Noch in den 1930er Jahren gab es jene ArbeiterInnenviertel wie den Roten Wedding, aus deren einheitlichem, proletarischem Milieu sich Widerstandshochburgen der KPD entwickelt hatten, die erst weit nach der Machtübertragung an den Faschismus geschleift wurden.

Schaut man sich im Vergleich dazu den Sozialatlas Berlin 2015 an, wird man feststellen, dass das soziale Territorium heute nicht mehr so eindeutig sortiert ist. Wenn man die „sozialen Brennpunkte“ als moderne ArbeiterInnenviertel ansieht – eine Annahme, die sicherlich schief ist und nur als erste, grobe Verallgemeinerung taugt – dann liegen diese über die gesamte Stadtfläche verteilt. Wir finden sowohl zwei Innenstadtbezirke als großflächige sogenannte „soziale Aktionsräume“ (Wedding und Teile von Reinickendorf im Norden sowie Kreuzberg und Nord-Neukölln im südlichen Zentrum), in denen sich in bestimmten Kiezen Tendenzen zur Ghettobildung feststellen lassen. Daneben zwei riesige Vorstädte (der überwiegende Teil des größten Berliner Bezirks Spandau im Westen sowie Marzahn-Hellersdorf im Nordosten) sowie verteilt über die Stadt weitere kleinere Gebiete wie z.B. das Märkische Viertel als westdeutsche Platte des sozialen Wohnungsbaus der 1960er und 1970er Jahre.

Dass ausgerechnet das unauffällige Gebiet um den Moritzplatz in Kreuzberg in direkter Nachbarschaft zur boomenden Mitte in der Gesamtbewertung 2015 den 1. Platz als absoluter Brennpunkt einnimmt, wirft einerseits Fragen zur Aussagekraft der Sozialstatistik auf. Andererseits weist dies daraufhin, dass die innere Struktur der sozialen Brennpunkte selbst wiederum vielschichtig ist. Diese Komplexität wird durch die oft – aber nicht immer – fehlende klare Grenze nach außen weiter erhöht. In einer ersten Annäherung können wir also festhalten, dass die Sozialstruktur Berlins heute einem Flickenteppich gleicht [Siehe Grafik 12].

Grafik 12

Wie ist dieser Flickenteppich entstanden und wie müssen wir den Ist-Zustand einschätzen?

Stadtentwicklung in
der Industrialisierung

Schon die kapitalistische Manufaktur hatte die Arbeitsstätten in der Werkstatt konzentriert. Aber erst mit der Industrialisierung werden Arbeits- und Wohnort dauerhaft auseinandergerissen. Engels weist in der Untersuchung der Industrieregion um Manchester nach, dass der Kapitalismus eine räumliche Trennung anhand der Klassenstruktur (Segregation) in der Stadt schafft.27 Die Industrie bewirkt eine starke Zentralisation der Arbeitskraft. Die ArbeiterInnen siedeln sich um die Fabrik an. Der Bodenpreis explodiert mit steigender Nachfrage. Völlig überbelegte Unterkünfte, die zu Seuchenherden werden, sind die Folge. Die Bourgeoisie meidet die ungesunden Verhältnisse. In Folge entstehen ihre Villen weiter weg am Stadtrand.

Diese geschichtliche Entwicklung lässt sich auch in deutschen Industriestädten nachweisen. Wir können das dahingehend verallgemeinern, dass die Trennung der Lebensbereiche Arbeit (Produktion) und Wohnen (Reproduktion) in der industriellen Revolution das soziale Territorium grundlegend verändert. Die ArbeiterInnen müssen irgendwo wohnen und von dort zur Fabrik gelangen. Aus Profitgründen wird beides – der Ort der Produktion (= Fabrik) und der Reproduktion (= Wohnung) – nicht nach „vernünftigen“ gesamtgesellschaftlichen Maßstäben geplant, sondern dem spontanen Lauf der Entwicklung überlassen.

Politische Eingriffe in Form von Planung (Stadtplanung, Raumordnung, Baurecht usw.) hinken der naturwüchsigen kapitalistischen Entwicklung immer hinterher.

Während der Industrialisierung werden im ungeregelten Boom der Gründerzeit durch die Stadtplanung nur lebensnotwendige Infrastrukturprobleme geregelt und manchmal die gröbsten Auswüchse im Gesamtinteresse der Bourgeoisie reguliert. Den Staat als ideellen Gesamtkapitalist gibt es insofern auch auf kommunaler Ebene.

Heute ist die Stadtentwicklung in Bezug auf die Raumordnung durch das Baurecht zwar stark reguliert, aber eine gesellschaftliche Planung findet nicht statt. Kapitalistische Profitinteressen haben allemal ein starkes Gewicht. Auch verhindern politische Begrenzungen wie die von Lokalpolitikern eifersüchtig verteidigte kommunale Selbstverwaltung eine sinnvolle, übergeordnete Raumplanung.

Rolle der Stadtplanung und
des sozialen Wohnungsbaus

Wenn wir dem kapitalistischen Profit auch in Bezug auf die Nutzung des Raumes den gebührenden Platz einräumen, so bedeutet das keineswegs, dass wir die Rolle der Stadtplanung gering schätzen. Im Rahmen der gegebenen Verhältnisse versucht die Stadtplanung insbesondere die räumliche Konzentration der revolutionären Klasse des Proletariats zu verringern. Lenin hat unter den Bedingungen der sozioökonomischen Struktur Russlands um 1910 das räumlich in Riesenbetrieben konzentrierte Proletariat in St. Petersburg und Moskau als revolutionäres Subjekt begriffen und die „Betriebe als unsere Festung“ bezeichnet. Die darauf aufgebaute Revolutionsstrategie der Bolschewiki verdeutlicht, warum die bürgerliche Stadtplanung die gefährliche ArbeiterInnenklasse nicht zu stark konzentrieren will.

Dies geschieht seit über 100 Jahren vor allem durch drei sich ergänzende Maßnahmen:

Die räumliche Konzentration der ArbeiterInnen in spontan um die Produktionsstätten herum entstehenden Vierteln wird durch eine Durchmischung der Wohngebiete entzerrt. Dazu gilt es insbesondere auch sozial stabilere Schichten aus der Arbeiteraristokratie, dem Kleinbürgertum und der unteren Bourgeoisie in solchen „gefährdeten“ Stadträumen anzusiedeln.

Neue Wohnquartiere für ArbeiterInnen werden geplant nach strategischen Überlegungen der Konterrevolution angelegt und von vornherein gemischt – die bekannte soziale Durchmischung von Quartieren, die im sozialen Wohnungsbau über die geplante Miethöhe festgeschrieben wird.

Geschichtlich entstandene oder zukünftig vorhersehbare „soziale Brennpunkte“ werden durch Maßnahmen des Stadtumbaus in beherrschbare, kleinere Räume aufgeteilt.

Solche durchaus wirkungsvollen Maßnahmen spielen sich, wenn sie denn funktionieren sollen, in Zeiträumen von Jahrzehnten ab. Meistens greifen sie nur teilweise oder auch gar nicht. Die Gründe dafür liegen im System. Der inneren Widersprüche des Kapitalismus, der die überwältigende Mehrheit der EinwohnerInnen eines Territoriums in ArbeiterInnen verwandelt, sie in Nähe der Produktion zentralisiert und zugleich ihre Zusammenballung aus strategischen Gründen fürchtet, sind objektiv unlösbar.

Die Konkurrenz als Wesensmerkmal des Kapitalismus verhindert letztendlich eine strategische Planung für einen Zeitraum von 50 oder 100 Jahren, wie er für eine wirkungsvolle Stadtplanung notwendig wäre. Darüber hinaus ist die ArbeiterInnenklasse keine „feste Größe“, die nach bestimmten Kriterien in die Rechnung eingesetzt werden könnte. Allein das völlig übliche und aus Klassensicht rationale Verhalten, die Wahl des Wohnorts nicht von „betriebswirtschaftlichen Größen“ allein abhängig zu machen, sprengt jede Stadtplanung. Dies gilt z.B., wenn ArbeiterInnen zum Überleben soziale Netzwerke benötigen und diese räumlich in teuren Innenstadtlagen finden und selbige durch Überbelegung von Wohnungen gegen Mietpreissteigerungen halten. Erst recht gilt das, wenn ihr Widerstand dazu führt, dass die Miete begrenzt wird und sie sich so weiterhin das Leben in Vierteln leisten können, aus denen sie eigentlich wegziehen sollen.

Daten zur Zunahme der Segregation

Unter dem Titel „Wie brüchig ist die soziale Architektur unserer Städte“ erschien im Mai 2018 die bislang umfassendste empirische Studie mit Daten aus 74 Städten zur räumlichen Trennung nach sozialen, ethnischen und demografischen Kriterien.28 Sie belegt empirisch die deutliche Zunahme der Klassenwidersprüche in Form der verschärften räumlichen Trennung im sozialen Territorium. Einige zentrale Ergebnisse lauten:

Die soziale Segregation hat seit den 1990er Jahren zugenommen. Der Trend setzte sich nach Einführung von Hartz IV verstärkt fort, so dass nunmehr arme Menschen sich immer stärker in bestimmten Wohnquartieren konzentrieren.

Die soziale Segregation von armen Kindern bzw. Familien mit Kindern ist stärker ausgeprägt als im Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Mittlerweile gibt es in 36 Städten Quartiere, in denen mehr als 50% aller Kinder von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II leben müssen.

Die Segregation von MigrantInnen hat abgenommen und unterschreitet inzwischen den Wert der sozialen Segregation, während die Segregation nach Altersgruppen – bislang noch weitgehend unbemerkt – steigt.

Die soziale Spaltung von Städten schreitet dort schneller voran, wo eine bestimmte Schwelle der Armutssegregation bereits überschritten ist.

Entgegen der Annahmen der ForscherInnen hat die Miethöhe keinen verstärkenden Effekt auf die soziale Segregation. Dagegen wirkt der soziale Wohnungsbau verstärkend, da er sich auf Gebiete konzentriert, wo eh schon viele Arme wohnen.

Interessant ist auch die Beobachtung, dass private Grundschulen der Trennung entgegen wirken, weil besser gestellte Familien dann eher im Viertel wohnen bleiben. Hier verlagert sich die soziale Segregation allerdings vom Wohnviertel in die Schulen. Dies schwächt die Klassenwidersprüche natürlich keineswegs ab sondern liefert uns einen Hinweis darauf, dass die öffentlichen Schulen ein zunehmend wichtigeres Kampffeld in den sozialen Brennpunkten werden.

Für Ostdeutschland gilt, dass die Kombination aus dem Neubauprogramm der DDR mit industriell gefertigten Plattenbauten am Stadtrand im Zusammenspiel mit den „blühenden Landschaften“, die real nur eine Innenstadtsanierung und nachgeholte Sub-Urbanisierung für den Mittelstand bedeutet haben, eine starke Ballung der Armen in den Plattenbaugebieten hervorgebracht hat.

Rückwirkung des gesellschaftlichen Überbaus auf die Sozialstruktur der Städte am Beispiel Berlins

Als ob der Klassenwiderspruch zwischen Bourgeoisie und Proletariat die Frage des sozialen Territorium nicht schon genug verkomplizieren würde, müssen wir noch einen weiteren Punkt erörtern. Auf die sozioökonomische Struktur wirken jede Menge Faktoren aus dem gesellschaftlichen Überbau zurück. In dieser Hinsicht steht Berlin sicherlich nicht repräsentativ für deutsche Städte, sondern bildet eher einen Extremfall, wo politische Faktoren besonders massiv auf die Stadtentwicklung zurückgewirkt haben. Gerade deshalb lässt sich jedoch anhand der Hauptstadt aufzeigen, wie vielfältig die Rückwirkungen des gesellschaftlichen Überbaus sein können.

Die Teilung Deutschlands und die Berliner Mauer sind in Bezug auf die sozioökonomische Struktur der Metropole Berlin äußere Faktoren. Dennoch prägen sie die Struktur des Ballungsraums in einer Weise, die die nächsten 50 Jahre nicht verschwinden wird.

Um eine Ahnung von der Vielfältigkeit solcher äußeren Faktoren zu bekommen, führen wir einige weitere Beispiele an:

Der strategische Bombenkrieg der Alliierten mit der großflächigen Zerstörung des Stadtzentrums von Berlin sowie die nachfolgende politische Entscheidung, das Berliner Zentrum für eine potenzielle Wiedervereinigung auf Westseite frei zu halten

Die enorme Verdichtung des städtischen Raums in Westberlin von 1960 bis 1989 sowohl in Bezug auf Industrieflächen wie Wohngebiete, da ein Wachstum in die Region politisch nicht möglich gewesen ist

Das in den 70er Jahren gestartete Neubauprogramm für 1,5 Mio. Wohneinheiten in der DDR, das u.a. dazu geführt hat, dass mit Marzahn-Hellersdorf im Nordosten Berlins mit 165.000 EinwohnerInnen das größte zusammenhängende Hochhausgebiet Europas entstanden ist

Die spontan verlaufende Ausdehnung der Stadt ins Umland, die u.a. aufgrund der gescheiterten Vereinigung der Bundesländer Berlin und Brandenburg bis heute politisch nur mit größeren Reibungsverlusten gesteuert werden kann.
Eine Folge davon sind aktuell Tendenzen zur
sozialen Entmischung in den Vorstädten am Stadtrand.

Migrantische Gemeinschaften und Multi-Kulti-Stadtviertel

MigrantInnen und Flüchtlinge tendieren fern der Heimat zur Bildung von sozialen Gemeinschaften. Diese liefern mit ihren Netzwerken lebenswichtige Hilfe, um unter schwierigen Bedingungen über die Runden zu kommen. Solche Gemeinschaften funktionieren in räumlicher Nähe natürlich noch besser. Aber die Zusammenballung bestimmter MigrantInnen in einem Viertel oder Straßenzug hat auch ökonomische Gründe; insbesondere die benötigten günstigen Mieten in wenig begehrten Wohnlagen (z.B. durch heruntergekommene Bausubstanz oder an lauten Straßen). Daneben führt der Rassismus dazu, dass ihnen viele Wohnungen in „besseren“ Gegenden erst gar nicht angeboten werden.

Wenn Kreuzberg und Nord-Neukölln in Berlin, Köln-Kalk oder Duisburg-Marxloh als „Klein-Istanbul“ bezeichnet werden, so weist dies auf die räumliche Konzentration von MigrantInnen hin. Auch wenn es dabei teilweise Tendenzen zur Ghettobildung gibt im Sinne eines Abschottens in einer „Parallelwelt“, so sind echte Ghettos in Deutschland eher eine Ausnahme. Vor allem handelt es sich dann nicht um ganze Stadtviertel, sondern um viel kleinteiligere Räume wie Straßenzüge und einzelne Wohnblocks z.B. am Rande von Industriegebieten.

Die soziale Durchmischung von migrantisch geprägten Stadtvierteln läuft spontan über die günstigen Mieten. So ziehen StudentInnen in „Multi-Kulti“-Stadtviertel und die ärmeren Schichten der „biodeutschen“ ArbeiterInnen (Hartz IV-EmpfängerInnen, prekär Beschäftigte, arme RentnerInnen usw.) bleiben dort wohnen.

Die Durchmischung funktioniert auch deshalb, weil es nicht die „MigrantInnen“ gibt, sondern z.B. die drei großen Communities der TürkInnen, KurdInnen und AraberInnen. Auch innerhalb einer Community gibt es z.B. Klassenwidersprüche und politische Antagonismen, die einer schematischen Zusammenfassung als MigrantIn widersprechen.

Lagebeschreibung der komplexen
sozialen Raumstruktur der Städte

Kommen wir also zurück zu unserer Ausgangsfrage, wo sind die ArbeiterInnenviertel geblieben, die den Verlauf der Klassenkämpfe in Deutschland von 1910 bis 1940 so entscheidend geprägt haben?

Auf der oberflächlichen Erscheinungsebene sind sie verschwunden. Die tiefer gehende Antwort lautet dagegen, dass die ArbeiterInnenviertel sich in dem Maße ausdifferenziert haben, in dem sich die ArbeiterInnenklasse ausdifferenziert.

Natürlich sind die sozialen Brennpunkte ArbeiterInnenviertel, denn in keinem dieser Räume sind Nicht-ArbeiterInnen vorherrschend. Aber genauso sind fast alle Räume, die im Sozialatlas einen mittleren Status bekommen (= Farbe hellblau, siehe Grafik 12) ArbeiterInnenviertel. Wenn wir vereinfacht betrachtet nur die grünen Toplagen als städtische Rückzugsräume der Bourgeoisie samt ihres gutverdienenden Anhangs betrachten, dann wird deutlich, dass die ArbeiterInnenviertel in Berlin fast 80% des städtischen Raums einnehmen.

Das vermittelt ein deutlich realistischeres Bild als eine schematische Konzentration auf „soziale Brennpunkte“. Aus diesem Ansatz ergibt sich die Schlussfolgerung, dass es uns nicht darum gehen kann, Etiketten wie „ArbeiterInnenviertel“ zu verteilen und dabei der Täuschung zu erliegen, dass wir damit die Aufgabe gelöst hätten. Vielmehr müssen wir konkret das jeweilige räumliche Zielgebiet in seiner inneren Sozialstruktur analysieren und eine dementsprechende Herangehensweise für die politische Arbeit entwickeln.

Prognosen zur Stadtentwicklung bis 2030

Wir erwarten keine neue Großstadt auf der grünen Wiese in den nächsten Jahrzehnten. Vermutlich wird jedoch im Dreieck München – Ingolstadt – Regensburg ein neuer Ballungsraum durch quantitatives Wachstum der bestehenden Städte entstehen, was die geopolitische Dezentralität Deutschlands und die grundlegende sozioökonomische Struktur des Raumes weiter verfestigen wird.

Alle Prognosen zur Regionalstruktur in Deutschland gehen davon aus, dass die Städte weiter wachsen werden. Am Beispiel Berlins bedeutet dies, dass die Einwohnerzahl bis 2030 deutlich ansteigen wird und die Stadt ins Umland, welches verwaltungstechnisch zum Bundesland Brandenburg gehört, hinein wächst. Der soziale Flickenteppich Berlin wird dadurch tendenziell noch chaotischer werden. Es gibt nur wenige unverrückbare Tatsachen, wie z.B. den Fakt, dass das Regierungsviertel nun mal im Zentrum der Hauptstadt liegt und dort bleiben wird.

Aus heutiger Sicht gibt es keine eindeutige Prognose, wie die Entwicklung der Städte verlaufen wird. Das gilt umso mehr, als die Entwicklung äußerer Faktoren (z.B. scharfe Wirtschaftskrisen oder zukünftige Kriege) und ihre Rückwirkungen auf die räumliche Struktur nicht exakt vorhergesagt werden können. Es lässt sich nur mit einiger Sicherheit festhalten, dass sich in der Stadt die Klassenwidersprüche scharf zuspitzen werden und sich diese Entwicklung auch in der räumlichen Struktur niederschlagen wird.

Schlussfolgerungen zur räumlichen Struktur der Klassengesellschaft

Die Dialektik lehrt uns, dass wir allseitig an die jeweiligen Punkte in ihrer Wechselwirkung und Entwicklung herantreten müssen und vor allem lernen müssen, in Widersprüchen zu denken. Nur so werden wir die Begrenztheit des Empirismus, der uns als bürgerliche Sozialwissenschaft die Datengrundlage liefert, überwinden und zu qualitativ höherwertigen und wahren Erkenntnissen gelangen. Daher formulieren wir unsere Ergebnisse zur räumlichen Struktur der Klassengesellschaft in Deutschland als Widersprüche, d.h. als Einheit und Kampf von gegensätzlichen Entwicklungstendenzen.

Dezentrale Regionen und
zentralisierte Staatsmacht

Von den geopolitischen Grundlagen vorherbestimmt und durch die besondere geschichtliche Entwicklung (Kleinstaaterei im Frühkapitalismus, ungleichmäßige Industrialisierung) verstärkt, stellt Deutschland die Vereinigung dezentraler Regionen dar, über die ein zentralisierter Nationalstaat gestülpt wurde. Der deutsche Imperialismus hat die vorgefundene feudale Zersplitterung des sozialen Territoriums auf einer höheren Stufenleiter wieder hergestellt. Die Konterrevolution hat dabei ihre Hausaufgaben gemacht und wichtige Teile ihrer Unterdrückungsstrukturen wie z.B. die Bundeswehrstandorte und Strukturen der faschistischen Paramilitärs dezentral in der Provinz verteilt. Sie verfügt damit über einen Plan B, falls sie die Städte in einer revolutionären Krise verlieren sollte.

Alle drei Revolutionsversuche in der Geschichte Deutschlands (1525 Bauernkrieg, 1848 bürgerliche Revolution und 1918 bis 1923 sozialistische Revolution) sind bereits im Ansatz an der lokalen Engstirnigkeit und Zersplitterung der revolutionären Kräfte gescheitert. Die Schaffung einer wirklich gesamtdeutschen, revolutionären Kampfpartei, die die ArbeiterInnenklasse real im ganzen, sehr differenzierten sozialen Territorium erfasst und sie deswegen einheitlich zum Sieg führen kann, bleibt eine geschichtlich noch zu lösende Aufgabe.

Dynamische Stadt und träge Provinz

Die Stadt – als Ballungsräume und Großstädte (Ebene 1) verstanden – ist das räumliche Zentrum des Klassenwiderspruchs Bourgeoisie und Proletariat. Dieser wird sich mittelfristig weiter zuspitzen und eine politische Dynamik von Protest und Widerstand in den Städten hervorrufen. Das flache Land (Provinzstädte und ländlicher Raum) scheint demgegenüber seit 500 Jahren träge der jeweiligen Entwicklung in den städtischen Zentren hinterher zu trotten. Wie sich bereits in den Revolutionsjahren 1918 bis 1923 relativ spontan gezeigt hat, ist das bei einer sozialistischen Revolution jedoch nicht der Fall. Es reicht nicht, die Ballungsräume und Großstädte zu erobern. Ohne zusätzlich wenigstens die Provinzstädte (Ebene 2) zu kontrollieren, wird es in Deutschland keinen Sozialismus geben.

Die soziale Struktur der Provinz ist stabiler als in der Stadt, da dort der Klassenwiderspruch Kapital und Arbeit durch viele Faktoren abgeschwächt wird.29 Trotzdem müssen die ArbeiterInnen in der Provinz gemeinsam mit ihren Klassengeschwistern in den Städten zuschlagen. Militärisch gedacht leuchtet dies bei einem Blick auf die Landkarte sofort ein und erscheint durch die Zahlenverhältnisse einer ungefähren Dreiteilung (Stadt, Provinz, Dorf) ebenfalls logisch. Jedoch stellt diese Anforderung politisch eine riesengroße Herausforderung dar, der sich die kommunistische Bewegung bisher kaum bewusst gewesen ist. Die Klassenwidersprüche verschärfen sich mittelfristig auch in der Provinz. Schon heute gibt es eine große Armut auf dem flachen Land und die Ausbeutung der Lohnarbeit in patriarchal geführten Kleinbetrieben und mittleren Unternehmen steht den prekären Jobs in der Großstadt in nichts nach. Hier gilt es als ersten Ansatz, um unsere Aufgaben hinsichtlich der Provinz anzugehen, genauer zu untersuchen, welche Klassensegmente für uns der Türöffner in diesem wichtigen Teil des sozialen Raums sein können.

Soziale Segregation und Durchmischung im städtischen Raum

Die räumliche Trennung der Wohngebiete nach Klassenlage (Segregation) hat sich in der industriellen Revolution als grundlegende Gesetzmäßigkeit des Kapitalismus zur Formung des sozialen Territoriums durchgesetzt. Dieses Gesetz wirkt aber nur als Tendenz, die durch Gegentendenzen gebremst oder abgelenkt wird. Die wichtigsten Gegentendenzen sind in Form der Stadtplanung und imperialistischen Sozialpolitik (heute im Bezug auf den Stadtraum oft unter dem Begriff Quartiersmanagement zusammengefasst) vor allem politisch gesteuert. Sie zielen darauf ab, durch eine soziale Durchmischung die Konzentration des Proletariats und insbesondere seiner potenziell gerade am unruhigsten erscheinenden Segmente zu verringern. Das führt u.a. dazu, dass ArbeiterInnenviertel einer starken Veränderung unterliegen, deren Dynamik um ein Vielfaches höher ist als diejenige der Klassenzugehörigkeit. Dies erfordert eine taktische Flexibilität, sowohl im Hinblick auf die Zielgruppe, die angemessenen Arbeitsmethoden wie auch das gewählte Territorium.

Harte räumliche Klassengrenzen und unsichtbare Mauern in Parallelwelten

Städte wachsen ringförmig und, zumindest strategisch, ungeplant. Dadurch entstehen immer wieder Orte, an denen Klassenwidersprüche besonders stark aufeinander prallen, wo unter Umständen die Straßenseite über die soziale Lage und die Lebenschancen entscheidet. Im Gegensatz zu anderen imperialistischen Ländern sind „gated communities“ (durch Sicherheitspersonal bewachte und mit Zäunen getrennte Viertel für Reiche) und Ghettos in Deutschland bisher kaum zu finden. Trotzdem gibt es Viertel in denen z.B. soziale Brennpunkte und gehobene Wohnlagen direkt aneinander grenzen.

Häufiger vermischt sich dagegen sowohl die Bebauung wie auch die soziale Struktur und es entstehen dann – aus Sicht der Stadtplaner – wunderschön durchmischte Viertel, die in der Sozialstatistik völlig unauffällig bleiben. Real bestehen dort Parallelwelten innerhalb wie zwischen benachbarten Straßenzügen und Wohnblocks. Wir finden hier einen Stadtraum vor, in dem verschiedene Gemeinschaften unterschiedlicher Klassen, Schichten und Klassensegmente im sozialen Territorium nebeneinander bestehen.Daraus folgt insbesondere, dass unsere Klassenanalyse als Handlungsanleitung nicht auf der Erscheinungsebene stehen bleiben kann. Weder dürfen wir uns z.B. durch starke soziale Grenzen im Raum blenden noch durch eine scheinbar vorhandene friedliche Koexistenz im „Multi-Kulti-Viertel“ einschläfern lassen. Wo politische und soziale Widersprüche explodieren oder im Gegenteil im Gleichgewicht verharren, wird nicht durch die Sichtbarkeit von Grenzen und Orten des Zusammenpralls bestimmt, sondern durch das Handeln der AkteurInnen. Das Vorhersehen und beeinflussen können wir nur, in dem wir uns im betreffenden sozialen Territorium verankern und somit Teil der Widersprüche werden.

1 MEW Band 23, S. 373

2 In der Beschreibung der ‚Pfahlbürger‘, wie er die Weber auf dem Dorf vor Erfindung der Dampfmaschine als Vorläufer des modernen Proletariats bezeichnet, liefert Engels ein lehrreiches Beispiel für die dialektische Verknüpfung der Klassenanalyse mit der räumlichen Struktur; Vgl. MEW Band 2, S. 237 – 239

3 Dazu kommt, dass viele Rohstoffvorkommen durch den jahrhundertelangen Abbau weitgehend ausgebeutet sind, wie z.B. die Uranlagerstätten in Ostdeutschland. Siehe dazu www.wiwo.de/politik/deutschland/rohstoffe-deutschland-reich-an-boedenschaetzen/5446006.html

4 Die Präsentation ‚Love of one‘s own – The Methodology Of Geopolitics‘ des US-imperialistischen Think-Tanks Stratfor bildet einen guten Einstieg in die Geopolitik. Auf den Folien 32 bis 36 werden mit Hilfe von Karten einige Grundgedanken der Geopolitik erläutert. Zitat auf Folien 34 und 35. download unter www.scribd.com/document/289290943/THE-METHODOLOGY-OF-GEOPOLITICS

5 Zu den geopolitischen Grundfragen Europas siehe: Zbigniew Brzezinski, The Grand Chessboard, Basic Books, 1997, insbesondere Chapter 2 The Eurasien Chessboard bzw. in deutscher Übersetzung: Die einzige Weltmacht, Kapitel 2 Das eurasische Schachbrett, Kopp Verlag, 5. Auflage, Dezember 2017. Ähnlich zur „Deutschen Frage“ in Europa argumentiert, wenn auch diplomatisch zurückhaltender, Tim Marshall in seinem fürs Massenpublikum geschriebenen Buch ‚Die Macht der Geografie‘, dtv, erweiterte Neuauflage 2017.

6 Nach der Annektion der DDR sind dort gutverdienende Kleinbürger eingezogen, viele davon NeuberlinerInnen, die durch die Hauptstadtfunktion angezogen wurden. Die „Schwaben“ stehen synonym für reiche NeuberlinerInnen, die die „Alteingesessenen“ verdrängen. Das es dafür einen räumlichen Code gibt (Schwaben) und nicht etwa nur die ebenfalls bestehenden kulturell/sozial festgemachte Mileus (z.B. die Ökos, die Yuppies, die Hippster) ist sehr bemerkenswert.

7 Von heute ca. 0,5% der Gesamtfläche sollen die Wildnisflächen bis 2030 aus Gründen des Artenschutzes vor allem durch Umwidmung von Brachen (z.B. stillgelegte Tagebauten, nicht mehr genutzte Truppenübungsplätze) auf 2% erhöht werden.

8 Bereinigte Schätzung aus Einwohnerdaten Destatis zu allen Städten Deutschlands; kalkuliert aus Gesamtzahl minus Anteil Städte in Ballungsräumen. Letztere haben wir nur grob überschlagen, so das eine gewisse Fehlerquote vorliegen kann.

9 Die bürgerliche Statistik definiert Mittelstädte mit 20.000 bis 100.000 und Kleinstädte mit 2.000 bis 20.000 Bewohnern. Sie orientiert sich dazu noch am rechtlichen Verwaltungsstatus einer Siedlung, so dass eine Siedlung mit 5.000 Einwohnern in einem Fall als Stadt und in anderen Fall als Dorf gesehen wird. Dieser Formalismus liefert keine brauchbaren klassenanalytischen Aussagen, weswegen wir eine abweichende Einteilung in Mittel- und Kleinstädte (Provinz) und ländlichen Raum (Dorf) vornehmen.

10 In Deutschland gibt es ca. 25.000 bis 30.000 Dörfer. Aufgrund von Eingemeindungen und Gebietsreformen sind fast alle Dörfer heute Ortsteil einer Stadt bzw. einer Landgemeinde. Siehe dazu: www.frag.wikia.com/wiki/Wie_viele_Dörfer_gibt_es_in_Deutschland

11 Statistisches Bundesamt destatis; Gemeindeverzeichnis Stand 31.12.2015 listet 2.060 Städte mit 60.086.436 Einwohnern auf bei einer Gesamtbevölkerung von 82.175.684 Menschen

12 Quelle: www.diercke.de/content/deutschland-bevölkerungsdichte-978-3-14-100770-1-68-0

13 Quelle: www.de.wikipedia.org/wiki/Datei:1_IÖR-Monitor_Einwohnerzahl_2011_Raster_1000_m_.png

14 Das Klassenbündnis zwischen ostelbischem Feudaladel (Junker) und west- bzw. süddeutschen Industriekapitalisten führt zu der Besonderheit, dass Deutschland politisch den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus ohne bürgerliche Revolution zustande bringt und so jede Menge – objektiv überholter – feudale Traditionen in den Imperialismus integriert. Siehe dazu: Eugan Varga, Die Besonderheiten des deutschen Imperialismus, 1946; online verfügbar auf www.kombibl.wordpress.com

15 Nach Jürgen Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Neue Historische Bibliothek, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1. Auflage, 1985; S. 154f; Achtung: Er nimmt hier als Basis ausschließlich Westdeutschland wegen Vergleichbarkeit

16 Diese Zahl bezieht sich nur auf Westdeutschland. Daher muss man die ca. 750.000 Erwerbstätigen in den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG), deren Arbeitsplätze nach der Annektion der DDR ab 1990 wegfielen, noch dazu zählen, so dass die Gesamtdifferenz bei einer korrekten gesamtdeutschen Sicht entsprechend höher ausfällt.

17 Zahlen nach: www.topagrar.com/news/Home-top-News_Bedeutung-der-Landwirtschaft-auf-dem-Land-insgesamt-rückläufig-2922491

18 Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer lag 2017 bei 2,6 Tagen. Davon entfallen ca. 84 Millionen Übernachtungen auf Gäste mit einer Meldeadresse außerhalb Deutschlands. Siehe dazu: Destatis, Ergebnisse der Monatserhebung Tourismus, Fachserie 6, Reihe 7.1

19 Als Indikator gilt die Tourismusintensität (= Übernachtungen je 1000 Einwohnern), wo 2017 Mecklenburg-Vorpommern (18.472) vor Schleswig-Holstein (10.372), den Stadtstaaten Berlin (8714) und Hamburg (7635) sowie Bayern (7298) liegt. Siehe dazu: www.tmv.de/vergleich-mvs-mit-anderen-bundeslandern

20 Der Index 100 ist der Bundesdurchschnitt; 513 für Garmisch bedeutet also, dass dort 5,13 mal so viele Beschäftigte wie im Durchschnitt im Gastgewerbe arbeiten. Quelle: www.georg-ic.de/downloads/beschaeftigungsfaktor_tourismus_gastgewerbe_in_deutschland

21 Quelle: Statistisches Bundesamt, 1871 bis 1939 früheres Reichsgebiet, 1950 bis 1990 Zahlen für beide deutsche Staaten; Ergänzung 2017 nach Meldung in Junge Welt 15.09.2018

22 Siehe dazu: Die Annektion der DDR und ihre Folgen, Kommunismus Nr. 10, speziell das Kapitel Blühende Landschaften und reale De-Industrialisierung, S. 42 bis 45 mit zahlreichen Daten und Nachweisen

23 Unterrichtung durch die Bundesregierung – Raumordnungsbericht 2017, 23.10.2017, Deutscher Bundestag 18. Wahlperiode, Drucksache 18/13700

24 Bericht zur Armutsentwicklung 2017, Der Paritätische Gesamtverband. Anhand der Armutsquote wird die regionale Armutsverteilung ermittelt; Anhang S. 109 bis 111

25 Institut der Deutschen Wirtschaft Köln, Auf die Preise kommt es an, Pressemitteilung Nr. 73 vom 05.12.2016; Daten beziehen sich auf 2014

26 Siehe Bericht zur Armutsentwicklung 2017, Der Paritätische Gesamtverband; Abschnitt ‚Bundes- versus Ländermedian‘ und ‚Kaufkraftbereinigte Armutsquoten‘, S.7 bis 9

27 Siehe dazu: Die Lage der arbeitenden Klassen in England, MEW Band 2, S. 225 bis 506

28 Marcel Helbig, Stefanie Jähnen; Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung; Wie brüchig ist die soziale Architektur unserer Städte? Discussion Paper; download unter www.wzb.eu

29 Siehe dazu Kommunismus Nr. 13, S. 16 bis 18; ‚Zur Struktur des deutschen Kapitalismus‘, insbesondere die Abschnitte zu Mittelstand und Handwerk sowie zur Landwirtschaft, wo erläutert wird, warum trotz Einbindung in globale Produktionsketten ein lokaler Mittelstand in der Provinz eine relative Stabilität aufweist.