Lesetipp: Clara Zetkin, Erinnerungen an Lenin – Gespräche über die Frauenfrage

Vorwort:

Clara Zetkins in den Jahren 1924/25 entstandenen Erinnerungen an Lenin – Gespräche über die Frauenfrage sind erstmals 1929 als Broschüre veröffentlicht worden. Die Diskussionen zwischen Clara Zetkin, Genossin Krupskaja und Lenin fanden im Spätherbst 1920 in Moskau statt. Die Rote Armee hatte gerade den Versuch die Revolution militärisch in den Westen zu tragen vor Warschau abbrechen und sich aus Polen zurückziehen müssen. Im Inneren waren die konterrevolutionären Interventionstruppen Wrangels noch nicht besiegt und die Versorgung der Städte mit Lebensmitteln war alles andere als stabil.

Kurz gesagt: Die sozialistische Revolution in Russland war trotz einiger Erfolge im Bürgerkrieg noch nicht gefestigt und weiterhin stand ihr Schicksal auf der Kippe. Aus diesem konkreten revolutionären Blickwinkel ging Lenin auch an die Frauenfrage heran, wie die nachfolgende Stelle anschaulich zeigt:

Ein weiteres Gespräch mit Lenin über die Frauenbewegung hatte ich ungefähr zwei Wochen später. (…) Lenin meinte, wir müssten danach trachten, dass der III. Weltkongress1 die Frage mit der nötigen Gründlichkeit behandle. Schon die Tatsache allein werde manches Vorurteil der Genossen überwinden. Im übrigen müssten in erster Linie die Genossinnen zupacken, und zwar kräftig. »Nicht lispeln wie brave Tanten, als Kämpferinnen laut reden, deutlich reden!« rief Lenin lebhaft aus. »Ein Kongress ist kein Salon, in dem Frauen durch Anmut glänzen sollen, wie es im Roman heißt. Er ist ein Kampfplatz, wo wir um Erkenntnisse für revolutionäres Handeln ringen. Beweist, dass ihr kämpfen könnt! Mit den Feinden natürlich an erster Stelle, aber auch in der Partei, wenn es notwendig ist. Es geht doch um die Frauenmassen. (…) Wenn diese Massen nicht mit uns sind, so kann es den Gegenrevolutionären gelingen, sie gegen uns zu führen. Daran sollten wir stets denken.«“2

Mit derselben revolutionären Klarheit und mittels der von Marx und Engels entwickelten dialektisch-materialistischen Methode ging Lenin auch an die Frage der Sexualität heran. Ein Thema, um das die bürgerliche Ideologie ein großes Geschrei entfacht, um dann doch nur Entfremdung und Leid zu produzieren. In der Kommunistischen Bewegung wird es oft als „Nebenfrage“ abgetan – dabei spielt die Sexualität offensichtlich eine sehr große Rolle für das Denken und Fühlen der Menschen.

Lenins Ausführungen zur Sexualität sind hochaktuell, wie schnell deutlich wird, wenn man z.B. die Glaswassertheorie durch den zeitgemäßen Begriff „freie Liebe“ ersetzt. Sein Plädoyer für einen gesunden Mittelweg (weder Enthaltsamkeit noch Maßlosigkeit) und natürlichen Umgang mit Sexualität und seine Warnungen vor einer Verwirrung der Jugend (und manchmal auch des Alters, wie Lenin richtig hinzufügt!) durch eine übersteigerte „politische“ Debatte über und Beschäftigung mit Sex sind eine wichtige Ausrichtung für den revolutionären Kampf. Immer wieder müssen wir miterleben, wie Genossinnen und Genossen an den gesellschaftlichen Widersprüchen, die sich im heutigen Sexualleben krass widerspiegeln, individuell zerbrechen und der Revolution verloren gehen. Solange Sex- und Liebesbeziehungen und Beziehungsdramen für das Verhalten vieler kommunistischer und revolutionärer GenossInnen in der Praxis im Leben so zentral sind, wie sie es in der Realität nun einmal sind – auch wenn theoretisch natürlich ganz andere Positionen vertreten werden – wird es für KommunistInnen notwendig sein, dass Intimleben nicht mehr als private Angelegenheit und Ansichtssache zu betrachten, sondern tatsächlich politisch an die damit zusammenhängenden Probleme und Widersprüche heranzugehen.

Auszüge aus Erinnerungen an Lenin – Gespräche über die Frauenfrage 3

Lenin: Auch bei uns ist ein großer Teil der Jugend heftig dabei, »die bürgerliche Auffassung und Moral« in der Sexualfrage zu »revidieren«. Und ich muss hinzusetzen, ein großer Teil unserer besten, unserer wirklich vielversprechenden Jugend. Es ist so, wie sie vorhin meinten. In der Atmosphäre der Kriegsauswirkungen und der begonnenen Revolution lösen sich die alten ideologischen Werte auf und verlieren ihre bindende Kraft. Die neuen Werte kristallisieren sich langsam, unter Kämpfen heraus. Auch in den Beziehungen von Mensch zu Mensch, zwischen Mann und Frau, revolutionieren sich die Gefühle und Gedanken. Neue Abgrenzungen werden gemacht zwischen dem Recht des einzelnen und dem Recht der Gesamtheit, also der Pflicht des einzelnen. Die Dinge sind noch in vollster Gärung. Die Richtung, die Entwicklungskraft der verschiedenen einander widersprechenden Tendenzen treten noch nicht in aller Bestimmtheit hervor. Es ist ein langsamer und oft sehr schmerzhafter Prozess des Vergehens und des Werdens. Gerade auch auf den Gebiet der sexuellen Beziehungen, der Ehe, der Familie. Der Verfall, die Fäulnis, der Schmutz der bürgerlichen Ehe mit ihrer schweren Lösbarkeit, ihrer Freiheit für den Mann, ihrer Versklavung für die Frau, die ekelhafte Verlogenheit der sexuellen Moral und Verhältnisse erfüllen die geistig Regsamsten und Besten mit tiefem Abscheu.

Der Zwang der bürgerlichen Ehe und der Familiengesetze der Bourgeoisie-Staaten verschärft Übel und Konflikte. Es ist der Zwang des »heiligen Eigentums«. Er heiligt Käuflichkeit, Niedrigkeit, Schmutz. Die konventionelle Heuchelei der honetten4 bürgerlichen Gesellschaft tut das übrige. Die Menschen suchen ihr Recht gegen die herrschende Widerlichkeit und Unnatur. Und die Gefühle des einzelnen wandeln sich rasch, das Begehren und das Drängen nach Wechsel im Genuss gewinnen leicht ungezügelte Gewalt in einer Zeit, wo mächtige Reiche zertrümmert, alte Herrschaftsverhältnisse gesprengt werden, wo eine ganze gesellschaftliche Welt zu versinken beginnt. Sexual- und Ehereform in bürgerlichem Sinne genügt nicht. Eine Sexual- und Eherevolution ist im Anzuge, entsprechend der proletarischen Revolution. Es ist naheliegend, dass der dadurch aufgerollte sehr verwickelte Fragenkomplex wie die Frauen, so auch die Jugend besonders beschäftigt. Sie leidet wie jene ganz besonders schwer unter den heutigen sexuellen Missständen. Sie rebelliert mit dem vollen Ungestüm ihrer Jahre dagegen. Das begreift sich. Nichts wäre falscher, als der Jugend mönchische Askese5 zu predigen und die Heiligkeit der schmutzigen bürgerlichen Moral. Allein es ist bedenklich, wenn in jenen Jahren psychisch das Sexuelle zum Mittelpunkt wird, das schon physisch stark hervortritt. Wie verhängnisvoll wirkt sich das aus. (…)

Die veränderte Einstellung der Jugend zu den Fragen des sexuellen Lebens ist natürlich »grundsätzlich« und beruft sich auf eine Theorie. Manche nennen ihre Einstellung »revolutionär« und »kommunistisch«. Sie glauben ehrlich, dass dem so sei. Obgleich ich nichts weniger als ein finsterer Asket bin, erscheint mir das sogenannte »neue sexuelle Leben« der Jugend – manchmal auch des Alters – oft genug rein bürgerlich, als eine Erweiterung des gut bürgerlichen Bordells. Das alles hat mit Freiheit der Liebe gar nichts gemein, wie wir Kommunisten sie verstehen. Sie kennen gewiss die famose Theorie, dass in der kommunistischen Gesellschaft die Befriedigung des sexuellen Trieblebens, des Liebesbedürfnisses so einfach und belanglos sei, wie das Trinken eines Glases Wasser. Diese Glaswassertheorie hat unsere Jugend toll gemacht, ganz toll… Sie ist vielen jungen Burschen und Mädchen zum Verhängnis geworden. Ihre Anhänger behaupten, dass sie marxistisch sei. Ich danke für solchen Marxismus, der alle Erscheinungen und Umwandlungen im ideologischen Überbau der Gesellschaft unmittelbar und gradlinig aus deren wirtschaftlicher Basis ableitet. Gar so einfach liegen denn doch die Dinge nicht. Das hat ein gewisser Friedrich Engels schon längst betreffs des historischen Materialismus festgestellt.

Die berühmte Glaswassertheorie halte ich für vollständig unmarxistisch und obendrein für unsozial. Im sexuellen Leben wirkt sich nicht bloß das Naturgegebene aus, auch das Kulturgewordene, mag es nun hoch oder niedrig sein. Engels hat in seinem »Ursprung der Familie« darauf hingewiesen, wie bedeutsam es ist, dass sich der allgemeine Geschlechtstrieb zur individuellen Geschlechtsliebe entwickelt und verfeinert hat. Die Beziehungen der Geschlechter zueinander sind doch nicht einfach ein Ausdruck des Wechselspiels zwischen der Wirtschaft der Gesellschaft und einem physischen Bedürfnis, das durch die physiologische Betrachtung gedanklich isoliert wird. Rationalismus, nicht Marxismus wäre es, die Umwandlung dieser Beziehungen für sich und losgelöst aus ihrem Zusammenhange mit der gesamten Ideologie unmittelbar auf die wirtschaftlichen Grundlagen der Gesellschaft zurückführen zu wollen. Nun gewiss! Durst will befriedigt sein. Aber wird sich der normale Mensch unter normalen Bedingungen in den Straßenkot legen und aus einer Pfütze trinken? Oder auch nur aus einem Glas, dessen Rand fettig von vielen Lippen ist? Wichtiger als alles ist aber die soziale Seite. Das Wassertrinken ist wirklich individuell. Zur Liebe gehören zwei, und ein drittes, ein neues Leben entsteht. In diesem Tatbestand liegt ein Gesellschaftsinteresse, eine Pflicht gegen die Gemeinschaft.

Als Kommunist habe ich nicht die geringste Sympathie für die Glaswassertheorie, auch wenn sie die schöne Etikette trägt: »Befreiung der Liebe«. Übrigens ist diese Befreiung der Liebe weder neu, noch kommunistisch. Sie werden sich erinnern, dass sie zumal gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts als die »Emanzipation des Herzens« in der schönen Literatur gepredigt wurde. In der Praxis der Bourgeoisie entpuppte sie sich als die Emanzipation des Fleisches. Die Predigt war damals talentvoller als heute, wie es mit der Praxis sich verhält, kann ich nicht beurteilen. Nicht etwa, als ob ich mit meiner Kritik die Askese predigen möchte. Fällt mir nicht ein. Der Kommunismus soll nicht Askese bringen, sondern Lebensfreude, Lebenskraft auch durch erfülltes Liebesleben. Jedoch meiner Ansicht nach gibt die jetzt häufig beobachtete Hypertrophie6 des Sexuellen nicht Lebensfreude und Lebenskraft, sie nimmt nur davon. In dem Zeitalter der Revolution ist das schlimm, ganz schlimm.

Zumal die Jugend braucht Lebensfreude und Lebenskraft. Ein gesunder Sport, Turnen, Schwimmen, Wandern, Leibesübungen jeder Art, Vielseitigkeit für geistige Interessen. Lernen, Studieren, Untersuchen, soviel als möglich gemeinsam! Das alles wird der Jugend mehr geben als die ewigen Vorträge und Diskussionen über sexuelle Probleme und das sogenannte Ausleben. Gesunder Körper, gesunder Geist! Weder Mönch noch Don Juan7, aber auch nicht als Mittelding den deutschen Philister8. Sie kennen doch den jungen Genossen X.Y.Z. Ein prächtiger Bursche, hochbegabt. Ich fürchte, trotz allem wird nie etwas Rechtes aus ihm werden. Er saust und torkelt von Weibergeschichte zu Weibergeschichte. Das taugt nicht für den politischen Kampf, nicht für die Revolution. Ich wette nicht auf die Zuverlässigkeit, die Ausdauer im Kampf jener Frauen, bei denen sich der persönliche Roman mit der Politik verschlingt. Auch nicht der Männer, die jedem Unterrock nachlaufen und sich von jedem jungen Weibchen bestricken lassen. Nein, nein, das verträgt sich nicht mit der Revolution. –

Lenin sprang auf, schlug mit der Hand auf den Tisch und machte einige Schritte im Zimmer.

– Die Revolution fordert Konzentration, Steigerung der Kräfte. Von den Massen, von den einzelnen. Sie duldet keine orgiastischen Zustände, wie sie für d’Annunzios9 dekadente Helden und Heldinnen das Normale sind. Die Zügellosigkeit des sexuellen Lebens ist bürgerlich, ist Verfallserscheinung. Das Proletariat ist eine aufsteigende Klasse. Es braucht nicht den Rausch zur Betäubung oder als Stimulus. So wenig den Rausch sexueller Übersteigerung als den Rausch durch Alkohol. Es darf und will sich nicht vergessen, nicht vergessen die Abscheulichkeit, den Schmutz, die Barbarei des Kapitalismus. Es empfindet die stärksten Antriebe zum Kampf aus seiner Klassenlage, aus dem kommunistischen Ideal. Es braucht Klarheit, Klarheit und nochmals Klarheit. Deshalb, ich wiederhole es, keine Schwächung, Vergeudung, Verwüstung von Kräften. Selbstbeherrschung, Selbstdisziplin ist nicht Sklaverei, auch nicht in der Liebe.

1Der III Weltkongress der Kommunistischen Internationalen fand ein dreiviertel Jahr später im Juni/Juli 1921 in Moskau statt.

2Clara Zetkin, Ausgewählten Reden und Schriften‘ Band III, Dietz Verlag 1960, S. 153f

3Neuveröffentlichung als Broschüre im Verlag Wiljo Heinen, 2014 sowie in in Clara Zetkin ‚Ausgewählten Reden und Schriften‘ Band III, Dietz Verlag 1960, Seite 89 bis 160 veröffentlicht. Die ausgewählte Stelle zur sexuellen Frage findet sich dort auf Seite 138 bis 142.

4Honett = anständig, ehrenhaft, rechtschaffen

5Askese = Enthaltsamkeit

6Hypertroph = überspannt, überzogen. Medizinisch bedeutet Hypertrophie eine übermäßige Vergrößerung von Geweben und Organen infolge der Vergrößerung der Zellen, meist bei erhöhter Beanspruchung.

7Don Juan (spanisch) oder Don Giovanni (italienisch) ist in der europäischen Dichtung der Prototyp des Frauenhelden. Die bekanntesten Darstellungen sind Mozarts Oper Don Giovanni sowie die Komödie Don Juan des französischen Dichters Molieres ((1622–1673). Dort wird Don Juan als Vertreter einer ungezügelten Maßlosigkeit gezeichnet, der sich über sämtliche traditionellen Normen und Moralvorstellungen hinwegsetzt. Als junger, hübscher Adeliger legt er eine (für die damalige Zeit) unvorstellbare Frechheit an den Tag. Don Juan übertritt sowohl religiöse, als auch gesellschaftliche Sitten und Werte seiner Zeit: Er verführt die Frauen reihenweise, respektiert das „heilige Sakrament“ der Ehe nicht, auch bereits Verlobte zieht er in seinen Bann, und Donna Elvira wird von ihm aus einem Kloster entführt.

8Philister = kleinbürgerlicher Mensch, Spießbürger

9Gabriele D’Annunzio (* 12. März 1863, † 1. März 1938) war ein italienischer Schriftsteller und Dichter und spätromantischer Vertreter des Symbolismus. Er gilt als ein Ideengeber für den italienischen Faschismus und als einer der Mentoren Benito Mussolinis.Lesetip_Bilder_4

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