Die menschliche Psyche ist eines der komplexesten Systeme, die in ihren Zusammenhängen und Widersprüchen bisher sowohl von der bürgerlichen, als auch der marxistischen Wissenschaft nur in ihren Grundzügen verstanden wird. Bis heute stehen uns nur in Ansätzen dialektische Erklärungsversuche für die Funktionsweise der Psyche und ihr Umgang mit den Widersprüchen im Kapitalismus zur Verfügung. Dabei werden wir in unserem Alltag und der politischen Praxis andauernd mit psychologischen Fragen, psychischen Störungen und der psychischen Gesundheit unserer Mitmenschen und Genoss:innen konfrontiert. Gleichzeitig sind Millionen Menschen in Deutschland von psychischen Krankheiten und Störungen betroffen. Für sie und oft auch für ihr engstes Umfeld macht der Umgang mit diesen einen großen Teil ihres Lebensinhalts aus.
Wir können nach dieser sehr kurzen Einleitung feststellen, dass die Kommunist:innen sich viel zu lange viel zu wenig mit dem Gebiet der Psychologie und der Psyche des Individuums beschäftigt haben. Daher müssen wir auch feststellen, dass es heute keine ausgereifte marxistische Psychologie gibt. Was meinen wir mit „marxistischer Psychologie“? Wir meinen eine wissenschaftliche Theorie und Praxis der Psychologie, welche auf dem Boden einer historisch- und dialektisch-materialistischen Weltanschauung steht. Eine Psychologie, die sich nicht leiten lässt von dem kapitalistischen Druck zur Profitmaximierung und damit der bestmöglichen und effektivsten Ausbeutung der Arbeitskraft der Arbeiter:innenklasse. Eine Psychologie, die sich nicht allein am einzelnen Individuum abarbeitet und in seinem Verhalten und Gefühlen einen Lösungsweg sucht. Sondern eine Psychologie, die die psychische Gesundheit des Individuums in einen dialektischen Zusammenhang mit der es krankmachenden Gesellschaft stellt.
Es muss für uns grundsätzlich darum gehen, die bürgerlichen Erkenntnisse und Dogmen zu hinterfragen. Was sich an der bürgerlichen Psychologie als fehlerhaft, undialektisch und unwissenschaftlich herausstellt, muss verworfen und durch dialektisch-materialistische Analysen und Schlussfolgerungen ersetzt bzw. ergänzt werden.
So wie wir die bürgerlichen Ansätze und Erkenntnisse in der politischen Ökonomie hinterfragen, müssen wir das auch hier und natürlich grundsätzlich in allen Bereichen der Medizin bzw. der bürgerlichen Wissenschaften tun. Leider gibt es von revolutionärer bzw. marxistischer Seite aus heute kaum ein kritisches Hinterfragen der Schulmedizin oder der verschiedenen bürgerlich-idealistischen Facetten der Psychologie.
In Deutschland war die politische Widerstandsbewegung und die revolutionäre Bewegung in dem Punkt des Hinterfragens der bürgerlichen Psychologie schon einmal deutlich weiter. Gerade in den 1970er und 1980er Jahren gab es eine große Auseinandersetzung mit diesem Themengebiet. Leider jedoch oftmals vermischt mit idealistischen Ansätzen. Eine der bekanntesten Gruppen damals war das Sozialistische Patientenkollektiv Heidelberg (SPK). Sicher sind ihre damaligen Annahmen und Standpunkte keine Grundlage, auf welche wir uns heute als Anhänger:innen des Marxismus-Leninismus einfach beziehen können. Doch sie können uns vielleicht Anregungen und Ansätze eines kritischen Hinterfragens der Theorie und Praxis der bürgerlichen Psychologie und Psychiatrie geben.
Es ist klar, dass wir die Versäumnisse der kommunistischen Bewegung, eigene wissenschaftliche Ausarbeitungen auf dem Gebiet der Psychologie zu entwickeln, nicht in einem Artikel beheben können. Vielmehr wollen wir in diesem grundsätzlichen Artikel einen ersten an unserer politischen Praxis angelehnten Überblick zu dem Thema und der Bedeutung der Psychologie heute geben. Zum Abschluss wollen wir einige erste Schlussfolgerungen aus unseren Ausarbeitungen für die politische und organisatorische Praxis ziehen.
Das gesellschaftliche Individuum
Um uns dem Themengebiet der Psychologie von einem marxistisch-leninistischen Standpunkt aus anzunähern, müssen wir uns zunächst einige Grundlagen klar machen.
Bereits bei den Fragen, was ist das Individuum, was macht es aus und in welchem Verhältnis steht es zu seiner Umwelt, dürften wir mit vielen Vertreter:innen von bürgerlichen Ansichten sehr weit auseinander liegen. Folglich gehen dann auch alle Analysen und Schlussfolgerungen, die auf dieser Basis getroffen werden, weit auseinander.
Kommen wir zunächst zum Wesen des Menschen und der Frage „was macht das menschliche Wesen eigentlich aus?“. Wie bildet und entwickelt sich die Psyche, das Bewusstsein und die Persönlichkeit des Individuums?
Als dialektische Materialist-:innen gehen wir davon aus, dass das Wesen des Menschen kein abstraktes bzw. idealistisches, über den Individuen stehendes Phänomen ist, welches der Mensch von Geburt an in sich trägt und das für alle Zeiten gleich ist. Vielmehr besteht das Wesen des Menschen in den ihn umgebenden natürlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen und seinen Interaktionen mit diesen. Diese Erkenntnis fasste Karl Marx bereits 1845 in seinen „Thesen über Feuerbach“ zusammen: „Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ 1
Wir können diese Gedanken von Marx noch etwas weiter ausführen: Während fast alle bürgerlichen Philosoph:innen und Anthropolog:innen von einem abstrakten und von den gesellschaftlichen Verhältnissen unabhängigen „Wesen des Menschen“ ausgehen, ist für uns Kommunist:innen klar, dass es kein gedanklich abstraktes „Wesen des Menschen“ geben kann. Vielmehr ist das Sein oder das Wesen des Menschen sein wirklicher Lebensprozess. Dieser Lebensprozess formt sich dabei in widersprüchlichen Wechselwirkungen mit den historisch entwickelten gesellschaftlichen Verhältnissen und realen Erfahrungen, welche das Individuum von seiner Geburt an macht. Ebenso werden dann auch die Psyche, das Bewusstsein und die Persönlichkeit jedes einzelnen Individuums durch all jene natürlichen und gesellschaftlichen Einflüsse, die es umgeben, geprägt. Dabei spielen nicht nur die jeweilig aktuellen Verhältnisse, gesellschaftlichen Strukturen und Widersprüche, sondern auch ihre historische Entstehung und dauerhafte Veränderung eine entscheidende Bedeutung für die Entwicklung der Psyche, des Bewusstseins, der Persönlichkeit sowie die Bedürfnisse des Individuums.
Da entgegen aller bürgerlichen Philosophie und Propaganda das Individuum nicht durch sich selbst geprägt wird, sondern sich in Abhängigkeit und Wechselwirkung mit den es umgebenden gesellschaftlichen Strukturen und Verhältnissen entwickelt und definiert, sprechen wir von einem gesellschaftlichen Individuum. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sich das Individuum entwickelt und lebt, sind von massiven Zwängen, Gewalt und Ausbeutung geprägt. Daher müssen sich diese auch im Denken, Fühlen und Handeln des Individuums widerspiegeln bzw. ihre Spuren hinterlassen. Daraus ergibt sich dann auch die Schlussfolgerung, dass es eine freie Entfaltung des Individuums und eine volle Herausbildung der Persönlichkeit frei von ökonomischer und patriarchaler Unterdrückung sowie staatlichem Zwang erst im Kommunismus geben kann.
Entsprechend den oben gemachten Ausführungen betrachten wir eben auch die Gesellschaft nicht allein als die Summe von Individuen, sondern als die Summe der Verhältnisse, in denen die Individuen zueinander stehen, in Abhängigkeit zueinander handeln, sich gegenseitig beeinflussen und sich entwickeln. Zu den gesellschaftlichen Verhältnissen gehören dabei insbesondere alle Widersprüche, welche die herrschende Klassengesellschaft in ihrer heutigen Ausprägung und mit all ihren historisch entwickelten Unterdrückungsverhältnissen mitbringt sowie die sich daraus ergebenden Rückwirkungen auf das Individuum.
Um überhaupt einen materialistischen Ansatz in der Betrachtung und Untersuchung des Gebiets der Psychologie und des Einflusses der gesellschaftlichen Verhältnisse, wie der individuellen Erfahrungen und Bedürfnisse innerhalb dieser Verhältnisse auf die Psyche, das Bewusstsein und die Persönlichkeit des Individuums zu verstehen, müssen wir ein detailliertes Verständnis der Unterdrückungs- und Ausbeutungsmechanismen sowie der grundlegenden Widersprüche der kapitalistischen Klassengesellschaft voraussetzen.
Dabei spielen neben dem Grundwiderspruch des Kapitalismus (gesellschaftliche Produktion und private Aneignung) und dem Patriarchat (das älteste Unterdrückungs- und Gewaltverhältnis), vor allem die Widersprüche zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit, zwischen geistiger und körperlicher Arbeit und die zwischen Stadt und Land eine besondere Rolle.2
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Begriffserklärungen
Psyche:
Der Begriff „Psyche“ stammt ursprünglich aus dem Altgriechischen und bezeichnet die „Seele“ (sowie den „Hauch“ oder „Atem“). Er hat seinen Ursprung also in der idealistischen Philosophie, die körperliche und geistige, materielle und ideelle Phänomene voneinander trennt. Materialistisch können wir den Begriff als Bezeichnung für die Gesamtheit aller inneren Wechselwirkungen benutzen, die das Verhalten von höheren Organismen (Tieren oder Menschen) regulieren (Gesamtheit aller psychischen Erscheinungen). Entscheidend ist hierbei, dass das Verhalten sich bei höheren Organismen nicht in mechanischen Reaktionen auf äußere Reize erschöpft (wie z.B. den Reflexen). Es wird stattdessen durch innere Regulationsmechanismen vor allem des zentralen Nervensystems vermittelt, mit denen sich die Psychologie als Wissenschaft befasst. Diese Regulationsmechanismen erscheinen subjektiv z.B. als Wahrnehmungen, Erinnerungen, Emotionen, oder Denkabläufe.1
Beim Menschen werden – im Gegensatz zum Tier – psychische Erscheinungen mit der Entwicklung von Arbeit, Sprache und Denken – also der sozialen Kommunikation – und der damit zusammenhängenden Weiterentwicklung des Gehirns, insbesondere der Großhirnrinde (Cortex), in eine sprachliche Form überführt und damit zu bewussten psychischen Erscheinungen.
Bewusstsein:
Das Bewusstsein bildet sich entwicklungsgeschichtlich sowie beim einzelnen Individuum auf der materiellen Grundlage der psychischen Aktivität heraus. Es übernimmt bei seiner Herausbildung jedoch die Steuerungsfunktion, also die bestimmende Rolle gegenüber den psychischen Aktivitäten.
Das bedeutet erstens, dass das individuelle Bewusstsein und die individuelle Persönlichkeit das Ergebnis eines komplexen Entwicklungsprozesses sind, der in enger Wechselwirkung mit der gesamten psychischen Aktivität stattfindet. Erlebnisse und ihre psychische Verarbeitung sind also prägend für die einzelne Persönlichkeit (was sich z.B. bei traumatischen Erlebnissen in den entsprechenden psychischen Erkrankungen äußern kann).
Zweitens bedeutet das, dass Menschen ihre Wahrnehmungen, Erinnerungen, Emotionen oder Denkabläufe nicht nur passiv erleben, ihnen quasi ausgeliefert sind, sondern dass sie diese bewusst reflektieren und damit auch steuern können. Diese Reflektion und Steuerung wiederum sind keine spontan ablaufenden, automatischen Prozesse des Gehirns, sondern eine bewusste geistige Aktivität. Sie sind das Ergebnis einer bewussten Anstrengung. Mit diesem Verständnis können wir davon sprechen, dass das menschliche Bewusstsein die Gesamtheit der psychischen Aktivitäten umfasst.
Aufbauend auf dem materialistischen Verständnis der psychischen Erscheinungen verstehen wir unter dem Bewusstsein die Gesamtheit der sinnlichen und rationalen Widerspiegelungsformen sowie den Bereich der menschlichen Emotionen und des Willens, dass heißt die gesamte psychische Tätigkeit des Menschen.2 Das Bewusstsein ist dabei nichts von der Materie oder dem Körper des Menschen Getrenntes, sondern die spezifisch menschliche ideelle Widerspiegelung der objektiven Realität vermittels des zentralen Nervensystems. Sie ist auf der Grundlage der Entwicklung von Arbeit und Sprache sowie der Herausbildung der entsprechenden Gehirnareale (Cortex) entstanden.
Da das Bewusstsein lediglich das Ergebnis der psychischen Aktivität des Gehirns und der Verarbeitung und Widerspiegelung der erlebten Realität mit Hilfe der Sinnesorgane ist, kann es keinen eigenen davon unabhängigen Inhalt haben. Karl Marx und Friedrich Engels definieren das Bewusstsein wie folgt: „Das Bewusstsein kann nie etwas andres sein als das bewusste Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess. (…) Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein.“ 3
Das Bewusstsein des Menschen entwickelt sich entsprechend der Veränderung der ihn umgebenden objektiven Realität. Verändert der Mensch die Realität, so verändert sich entsprechend auch sein Bewusstsein. So entsteht etwa revolutionäres Klassenbewusstsein bei den Arbeiter:innen durch die direkte und aktive Teilnahme am Klassenkampf.
Persönlichkeit:
Der marxistische Philosoph Lucien Sève definiert die Persönlichkeit als “lebendiges System von gesellschaftlichen Verhältnissen zwischen den Verhaltensweisen”. Unter Verhaltensweisen können wir wiederum alle Aktivitäten des Fühlens, Denkens und Handelns des Menschen fassen.
Der komplexe Prozess der Sozialisation mit zahlreichen Wechselwirkungen zwischen Individuen, ihren Verhaltensweisen und den gesellschaftlichen Verhältnissen bildet materialistisch betrachtet die Grundlage für die Herausbildung des jeweiligen individuellen Bewusstseins, und der diesem zugrundeliegenden besonderen Struktur der Persönlichkeit des Individuums.
Die Persönlichkeit des Individuums ist dabei ein tiefer liegendes Grundgerüst, auf dem das alltägliche Bewusstsein aufbaut, welches wiederum auf die Persönlichkeit rückwirkt. Die Persönlichkeit wirkt dabei als unbewusster Regulator des individuellen Verhaltens. Sie wird bereits durch angeborene und früh anerzogene, verinnerlichte und gebildete Eigenschaften, Fähigkeiten und Verhaltensweisen geformt und dauerhaft entwickelt.
1Vgl. Klaus, Buhr, „Philosophisches Wörterbuch“, VEB Bibliographisches Institut Leipzig 1976, S. 993
2Ebd., S. 224
3Marx, Engels, „Die deutsche Ideologie“, MEW 3, S. 36 f.
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Das individuelle Bewusstsein
Zu den bisher gemachten Ausführungen, in denen wir klarstellen, dass das Individuum und sein Bewusstsein durch seine Lage in der Klassengesellschaft und die Erfahrungen in seiner Biografie geprägt werden, müssen wir weitere Aspekte der Bewusstseinsbildung bzw. Beeinflussung hinzunehmen.
Im Zeitalter des Imperialismus bestehen nicht nur eine ganze Fülle von Bedürfnissen der Menschen, die sich über die Jahrtausende der Menschheitsgeschichte gebildet und entwickelt haben. Zusätzlich hat der Imperialismus das Erschaffen, Hervorrufen und Verändern von Bedürfnissen zu einem entscheidenden Mittel zur Beeinflussung der ausgebeuteten und unterdrückten Klassen gemacht. Dieses Erschaffen, Hervorrufen und Verändern von Bedürfnissen hat einen direkten, aber oftmals unbewussten Einfluss auf das Bewusstsein der Arbeiter:innen und verändert damit ihre Lebensrealität. Der Kampf um das Bewusstsein hat damit eine neue Stufe erreicht.
Heute bilden alle aus der kapitalistischen Klassengesellschaft entstandenen gesellschaftlichen Widersprüche in Wechselwirkung mit der eigenen Klassenlage, sowie die Auswirkungen der ideologischen Angriffe des Imperialismus das Bewusstsein des Individuums. So entsteht bei den Arbeiter:innen ein regelrechtes vieldimensionales Patchwork-Bewusstsein, welches sowohl von den eigenen Erfahrungen der Ausbeutung und Unterdrückung, als auch den idealistischen und bewusst durch den Imperialismus geschaffenen Bedürfnissen geprägt ist. Unter den durch den Imperialismus geschaffenen idealistischen Bedürfnissen verstehen wir unter anderem solche wie etwa das Verlangen nach Konsum, einem bestimmten Livestyle oder Markenprodukten. Diese „designten“ Bedürfnisse nutzt der Imperialismus, um die Arbeiter:innenklasse zu spalten, gegeneinander aufzuhetzen und von ihrem objektiven Bedürfnis, dem Klassenkampf gegen das kapitalistische System, abzulenken. Für das Thema dieses Artikels ist es besonders wichtig zu verstehen, welche Auswirkungen das auf die Psyche der einzelnen Arbeiter:innen und die Entstehung des individuellen Bewusstseins und seine Zusammensetzung hat.
So führen selbst bei ähnlicher Klassenlage des Elternhauses, die unterschiedlichen biografischen Einflüsse in bestimmten Teilen zu einem unterschiedlich ausgeprägten Bewusstsein. Durch die immer vielschichtigere Auffächerung der Arbeiter:innenklasse in ökonomisch und damit auch sozial unterschiedliche Lebensrealitäten im Imperialismus verstärkt sich dieser Aspekt. Hinzu kommen die individuellen Erfahrungen von Gewalt und patriarchaler Unterdrückung, sowie die unterschiedlichen Auswirkungen der Widersprüche und Gegensätze der kapitalistischen Klassengesellschaft auf das Individuum und die jeweilige Biografie. Durch die daraus insbesondere in der Kindheit und Jugend entstehende Bewusstseinsstruktur der individuellen Persönlichkeit wird die Grundlage für die mitunter stark unterschiedliche Wahrnehmung und Reaktion in vergleichbaren Situationen gelegt. Das auf der Persönlichkeit des Individuums aufbauende Bewusstsein entwickelt sich durch alltägliche Eindrücke und Erfahrungen dauerhaft weiter und bildet die Grundlage für das alltägliche Fühlen, Denken und Handeln des Individuums.
Hieraus ergibt sich auch, dass konkrete objektive Situationen von verschiedenen Individuen unterschiedlich wahrgenommen werden können. Ihre subjektive Einordnung oder Interpretation bzw. welche Gedanken, Gefühle und Handlungen die Situationen in uns auslösen, können sehr unterschiedlich sein. Diese hängen von der historischen Entwicklung bzw. den Einflüssen ab, denen das jeweilige Individuum in seiner Entwicklung ausgesetzt war und weiterhin ist.
Hinzu kommen die bereits erwähnten durch den Imperialismus „designten“ Bedürfnisse. Sie zielen direkt oder indirekt stets darauf ab, die Klassenwidersprüche zu verdecken und das einzelne Individuum als allein verantwortliches und handelndes Subjekt heraus zu stellen. Zentrales Mittel dazu ist die quasi religiöse Verehrung des bürgerlichen Individualismus. Diese ist geprägt durch die schier nicht enden wollende Überhöhung der scheinbaren eigenen inneren Bedürfnisse, die doch allzu oft nur die Widerspiegelung der vom Imperialismus geschaffenen Bedürfnisse zur Aufrechterhaltung seiner Herrschaft sind.
Doch diese scheinbar alleine auf sich und die eigenen Bedürfnisse bezogenen Gefühle, Gedanken und Handlungen funktionieren in Konkurrenz bzw. Anlehnung und Abgrenzung zu anderen. Seien es „Stars und Sternchen“ oder Freund:innen und Genoss:innen: Die meisten Menschen definieren sich in erster Linie über andere Menschen. Mit dem Ergebnis, dass man sich entweder über diese stellt oder sich als minderwertig fühlt. Aus diesem Verhalten entstehen dann im folgenden zahlreiche Probleme, mit denen das Individuum umgehen muss.
Die Entwicklung in Kindheit, Pubertät und die Erziehung
Wenn wir davon ausgehen, dass die Persönlichkeit und das Bewusstsein des Individuums nichts Fertiges, nichts Angeborenes sind, dann müssen sie durch bestimmte äußere Einflüsse geprägt werden und sich entwickeln. Das bedeutet für uns in der Konsequenz dann auch, dass wir der Entwicklung der Psyche, des Bewusstseins und der Persönlichkeit des Individuums nicht machtlos gegenüber stehen, sondern es für uns ein konkretes Aufgabenfeld im Klassenkampf ist, in diese Entwicklung gezielt einzugreifen.
Doch schauen wir uns zunächst an, welche Rolle die Beeinflussung dieser Entwicklung gesellschaftlich in der Geschichte gespielt hat und heute einnimmt. Denn wir müssen uns klarmachen, das viele Dinge, die uns heute normal oder gar „natürlich“ vorkommen, selbst nur Konzepte sind, die durch Menschen erdacht wurden und ihre Quellen und Ursachen in der jeweiligen gesellschaftlichen Realität haben.
So hat sich das gesamte Feld der „Erziehung“ erst nach und nach über die Jahrtausende der Menschheitsgeschichte entwickelt und jeweils der vorherrschenden Produktionsweise und ihrer Bedingungen und Notwendigkeiten angepasst. In der Urgesellschaft zum Beispiel können wir nicht von einem wirklichen Konzept der Erziehung sprechen. Sondern hier passt eher der Begriff der „natürlichen“ Sozialisation, der sich in dieser Entwicklungsstufe auf das reine Erlernen von überlebensnotwendigen Fähigkeiten, durch Nachahmen von Tätigkeiten und Verhaltensweisen von älteren und erfahreneren Menschen beschränkt. Ebenso waren Konzepte wie Kindheit und Pubertät hier kaum bzw. nicht existent. Erst in späteren Gesellschaften wurde die Einteilung der kindlichen Entwicklung in verschiedenen Stufen entwickelt und theoretisiert. Gerade in der Urgesellschaft, aber auch später in der Sklavenhaltergesellschaft, dem Feudalismus und in Teilen der Arbeiter:innenklasse der heutigen abhängigen Ländern gab und gibt es für die Unterdrückten und Ausgebeuteten nicht den „Luxus“ einer „behüteten“ Kindheit und Pubertät, wie sie in der bürgerlichen Erziehungswissenschaft der imperialistischen Länder oftmals gepredigt wird. In diesen Entwicklungsstufen und Ländern wird die Entwicklung der Kinder den nackten ökonomischen Interessen untergeordnet, welche die Verwertung ihrer Arbeitskraft fordern, sobald dies physisch möglich ist.
Gleichzeitig teilen sich mit der Entstehung der Klassengesellschaft die jeweiligen Konzepte der Erziehung und ihre Anwendung eben auch in die verschiedenen Klassen auf. Dabei entstehen natürlich insbesondere komplett andere Konzepte je nachdem, ob es um die Entwicklung und Formung des Individuums der unterdrückten oder der unterdrückenden Klasse geht. Hier sehen wir zudem, dass der Kern der „Erziehung“ nach wie vor das Überleben innerhalb der eigenen Klassenrealität bleibt.
Zentraler Aspekt der Erziehung ist seit Jahrtausenden nicht nur die Einnahme des jeweiligen Platzes in der Klassengesellschaft, sondern eben auch die Unterordnung der Kinder unter die Herrschaft der Eltern. Allen geschichtlichen wie heutigen herrschenden Erziehungskonzepten ist daher der Bruch des Willens des Kindes gemein. Seit den frühesten Überlieferungen ist hier die physische Gewalt, meist durch den Vater und andere männliche Familienmitglieder, die zentrale Methode der Erziehung. In den vergangenen Jahrzehnten wird diese Form der patriarchalen Gewalt ergänzt durch die zunehmende psychische Gewalt, die in der Erziehung heute in Deutschland zum Teil die physische Gewalt verdrängt. Die ersten Erfahrungen der gewaltsamen Unterdrückung und Unterordnung werden so in der Familie gemacht. Erst danach trifft das Individuum auf andere gesellschaftliche Unterdrückungsverhältnisse wie die Lohnarbeit oder den bürgerlichen Staat, denen es sich dann meist mit weniger Widerstand unterwirft.
Die moderne Erziehung, wie wir sie heute kennen, mit ihren Begriffen der Kindheit, Jugend, Pubertät und dem Erwachsenenleben ist selber ein geschichtliches Produkt. Es hat sich insbesondere beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus herausgebildet. Zuvor war die Einteilung der Lebensabschnitte, insbesondere der unterdrückten Klassen, vor allem von der Kindheit, also dem Zeitraum in dem ein Mensch noch nicht arbeiten konnte und dem Zeitraum, ab der die Heranwachsenden zum Überleben der Familie und ihrer ökonomischen Situation etwas beitragen konnten, geprägt. Dieser Zeitpunkt lag und liegt je nach ökonomischer Situation bereits in sehr frühen Jahren. In den herrschenden Klassen entwickelten sich bestimmte Erziehungskonzepte historisch bereits viel früher, da hier nicht der ökonomische Zwang bestand, die Kinder zum Überleben arbeiten zu lassen.
Heute ist die Erziehung ein weites Wirtschaftsfeld, in dem mit Kita, Schule und Ausbildung/Universität zahlreiche staatliche und wirtschaftliche Institutionen ihre Interessen durchsetzen wollen. Klares Ziel ist dabei die Formung der Psyche und des Bewusstseins des Kindes und Jugendlichen bei der Herausbildung seiner Persönlichkeit zu einem arbeitssamen unterwürfigen Wesen, welches die herrschende Ordnung nicht in Frage stellt. Diese gesellschaftlich bedingten Eingriffe in die Entwicklung der Menschen orientieren sich dabei heute zeitlich oftmals an biologisch bedingten Entwicklungsstufen eines jungen Menschen hin zu einem Erwachsenen. Dabei wird insbesondere die Phase des Heranwachsens in Form der „Pubertät“ heute verabsolutiert und als scheinbarer Erklärungsansatz für vielfältige Erscheinungen herangezogen. Dabei wird von den Heranwachsenden erwartet, sich wie ein Erwachsener zu benehmen und unterzuordnen, während sie selber oftmals weiter wie Kinder behandelt werden.
Hier prallt dann das Selbstständigwerden der Heranwachsenden in ihrer Sturm und Drang-Phase, mit den Zielen der bürgerlichen Erziehung (Anerkennung von Autorität und Unterordnung) gewaltsam aufeinander. Es ist nicht verwunderlich, dass quasi alle bürgerlichen Wissenschaftler:innen der Erziehung, Pädagogik und Psychologie in dieser Lebensphase der Menschen heute eine besondere Aufmerksamkeit zuwenden. Denn es ist tatsächlich so, dass in diesem Entwicklungszeitraum wichtige biologische und psychische Veränderungen im Menschen stattfinden. Dies gilt sowohl für das Auswachsen der Gliedmaßen und inneren Organe, Bildung der Gehirnstrukturen, als auch der Geschlechtsorgane und Veränderungen des Hormonhaushalts.
Die in dieser Zeit angenommenen und erlernten Denkmuster und Fähigkeiten sowie gemachten Erfahrungen prägen das Individuum und seine Gefühle, Gedanken und Handlungen nachhaltig. Gleichzeitig ist das Individuum in dieser Entwicklungsphase auch besonders offen für neue Erfahrungen und das Infragestellen herrschender Konzepte, Ideen und Normen. So ist das Individuum in dieser Zeit eben auch besonders umkämpft zwischen Revolution und Konterrevolution.
Hier werden dem Individuum grundlegende Vorstellungen und Verhaltensweisen anerzogen und eingepflanzt. Dies gilt nicht nur für die politische Einstellung, sondern ganz grundlegend für das eigene Verhalten und den Umgang bzw. die Herangehensweise mit quasi jeder Situation unseres Alltags und Lebens. So wird hier und grundlegend auch schon in vorherigen Phasen der Kindheit erlernt, wie wir uns gegenüber anderen Menschen verhalten, wie ausgeprägt und wovon abhängig etwa unser Selbstbewusstsein und unser Schamgefühl ist. Was uns Spaß und glücklich macht, was uns missfällt und traurig oder ängstlich macht. Hier erlernen wir ebenso was scheinbar „richtig“ und was „falsch“ ist. Unsere bürgerliche Moral und unser Gerechtigkeitsempfinden sind genauso ein Produkt gesellschaftlicher Widersprüche und Erfahrungen wie unser sonstiges Verhalten, unsere Gefühle, Gedanken und Handlungen.
Wir können hier feststellen – und das muss von besonderer Bedeutung für die praktische politische Arbeit sein – dass sich in dieser Entwicklungsphase des „Erwachsenwerdens“ ein qualitativer Sprung in der Bildung und Festigung der Persönlichkeit vollzieht. Dabei ist klar, dass sich dieser Sprung, diese Entwicklung jeweils im Spannungsfeld der Gesellschaft und ihrer jeweiligen Rückwirkungen und Einflüsse auf das Individuum vollzieht. So wie das Individuum in dieser Phase von außen beeinflusst wird, so verändert sich auch seine Psyche, sein Bewusstsein und noch grundlegender auch seine Persönlichkeit.
Bei dieser Betrachtung dürfen wir indes nicht dahin geraten, metaphysische Standpunkte einzunehmen, welche davon ausgehen, dass die Psyche des Menschen einmal grundlegend in seiner Kindheit und Jugend geformt und geprägt wird und dadurch sein gesamtes Denken und die Rückwirkungen der Psyche auf sein Handeln festgelegt wären. Solchen zum Teil in der bürgerlichen Wissenschaft vertretenen Ansätzen müssen wir eine klare Absage erteilen. Denn aus einer dialektisch-materialistischen Analyse der Psyche, des Bewusstseins und der Persönlichkeit wird schnell klar, dass sich diese unser ganzes Leben über verändern und auf die von uns gemachten Erfahrungen reagieren.
Es ist zwar richtig, dass in der Kindheit und Jugend bestimmte Grundlagen für unser Denken, Fühlen und Handeln in unserem Leben gelegt und erlernt werden und sich grundlegend unsere Persönlichkeit entwickelt. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir diese nicht ändern oder überwinden können. Dabei wird es unter den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen als bürgerliches Individuum sicher mit den Jahren und Jahrzehnten schwieriger, eingeschleifte Denkmuster, das jeweilige Verhalten und unbewusste Reaktionen auf äußere Reize gezielt zu verändern. Das bedeutet aber nicht, dass dies nicht möglich ist.
Als Kommunist:innen ist es vielmehr unsere Aufgabe, die Veränderung des Denkens, Fühlens und Handels in jedem Lebensabschnitt als zentralen Aspekt der Revolutionierung unserer Persönlichkeit anzuerkennen und in der Praxis anzugehen. Wir dürfen nicht zulassen, dass das Bewusstsein und die Persönlichkeit eines Erwachsenen als etwas fertiges angesehen wird, dessen grundlegende Beeinflussung und Veränderung nicht mehr möglich sei. Gerade solche Annahmen und der entsprechende Umgang führen zur Verkümmerung und Verfestigung der erwachsenen Psyche. Vielmehr müssen wir auch an Erwachsene mit der Forderung und Förderung der Veränderung des Denken, Fühlens und Handels herantreten.
Wir haben uns in der Vergangenheit bereits in verschiedenen Texten und Artikeln mit dem Denken, Fühlen und Handeln, ihrer gesellschaftlichen Dimension und ihrer Widersprüche beschäftigt. Den Zusammenhang von Individuum und Kollektiv3 in der revolutionären Arbeit haben wir in einem grundlegenden Artikel beleuchtet. Ebenso haben wir bereits beleuchtet, dass die Einheit von revolutionärem Denken, Fühlen und Handeln4 das notwendige Handwerkszeug für Revolutionär:innen ist. In unseren ersten Thesen zur revolutionären Kultur5 als einem Gegenentwurf zur kapitalistischen Kultur der Konkurrenz, des Individualismus und der individuellen Identität, haben wir versucht, eine erste grundlegende Ausrichtung für die Entwicklung einer neuen revolutionären Kultur und eines revolutionären Zusammenlebens und Umgangs zu schaffen.
Die in diesem Artikel zusammengefassten Annahmen reihen sich damit in eine Reihe von Texten ein, in denen wir uns mit den Fragen der bürgerlichen Persönlichkeit, ihrem Bewusstsein und der Veränderung hin zu einer revolutionären, zu einer kommunistischen Persönlichkeit beschäftigen. Ihre Begrenztheit liegt dabei bisher nicht nur in der Schwäche der heutigen revolutionären Bewegung, sondern ebenso in unseren begrenzten praktischen Erfahrungen der revolutionären Persönlichkeitsveränderung im imperialistischen Zentrum.
Psychologisierung der Gesellschaft
Die Widersprüche, welche die kapitalistische Gesellschaft durch ihre Spaltung in Klassen und die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen mit sich bringt, spitzen sich im heutigen imperialistischen Stadium immer weiter zu. Sie haben damit drastische Auswirkungen auf das Individuum und den Umgang mit diesen Widersprüchen und den daraus entstehenden Problemen in der gesamten Gesellschaft.
Die Anforderungen und Normen der bürgerlichen Gesellschaft an das Individuum werden dabei durch die fortschreitende Entwicklung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung immer enger, während sie durch die künstliche Überhöhung der „individuellen Entwicklung“ scheinbar immer mehr Freiheiten zur Selbstverwirklichung geben. Dabei wissen wir, dass es eine wirklich freie und individuelle Entwicklung des Menschen nur in der befreiten kommunistischen Gesellschaft geben kann, in der alle Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse der Vergangenheit angehören. Dieser offensichtlich paradoxe Widerspruch bildet eine der grundlegenden Ursachen der heute massiv fortgeschrittenen Psychologisierung der Gesellschaft.
Ergebnis und zweifellos auch bewusste Zweckbestimmung dieser allgemeinen Psychologisierung der Gesellschaft ist, dass die Ursachen der Widersprüche und Ausbeutungsverhältnisse, welche das Bewusstsein und die Psyche formen und beeinflussen, auf der einen Seite für die Persönlichkeit in der kapitalistischen Gesellschaft geradezu charakteristisch sind. Auf der anderen Seite wird versucht, diese zu verdecken und zu leugnen.
Doch was verstehen wir hier genau unter dem Begriff der Psychologisierung der Gesellschaft? Der anhaltende Prozess der Psychologisierung der Gesellschaft ist eine vielschichtige, ja wir können sogar sagen eine vieldimensionale Erscheinung. Er ist sowohl in seinen Ursachen, Ausprägungen und Zielen bzw. Folgen von verschiedenen Ebenen oder Blickrichtungen aus zu betrachten.
Wir können hier zunächst eine allgemeine Tendenz erkennen, nach der versucht wird, letztlich alle Probleme, Erscheinungen und Widersprüche, die im Leben, im Alltag und auch in der politischen Arbeit auftauchen, aus der Psyche des Individuums heraus zu erklären. Eine wissenschaftliche Erklärung muss stattdessen bei den gesellschaftlichen Verhältnissen, ihrer Arbeitsteilung, Unterdrückung und Ausbeutung beginnen. Der Imperialismus versucht so Probleme und der Umgang mit ihnen einerseits auf eine rein „gedankliche“ Ebene zu verschieben. Andererseits wird der eigene Einfluss auf diese verneint oder versucht, diesen als stark reduziert zu betrachten. Besonders zugespitzt lässt sich dies an dem Beispiel des durch den Buddhismus geprägten Ansatzes der Psychotherapie, der Radikalen Akzeptanz, sehen. Zentraler Aspekt ist hier die „radikale Akzeptanz“ das die eigene Realität nun mal ist, wie sie ist, nicht geändert werden kann und das Individuum darauf getrimmt wird, in dieser klar zu kommen.
Parallel dazu finden wir eine Verschiebung der psychischen Frage von der gesellschaftlichen Ebene auf eine individuelle und von einer politisch-sozialen auf eine rein medizinische Ebene. So kommt mit der immer engeren Definition, was „normal“ und „gesund“ ist, zu der Tendenz der Psychologisierung der Gesellschaft, die Ebene der Pathologisierung der Gesellschaft hinzu. Unter Pathologisierung verstehen wir hier die immer engere Definition des psychisch „Normalen“ und jeder kleineren Abweichung von dieser Norm, egal ob zeitlich oder anders bedingt, als krankhaft. Wobei wir hier eben auch die Einheit der Widersprüche und damit die Auswirkungen der kapitalistischen Gesellschaft auf das Individuum betrachten müssen. Dies führt dazu, dass neben der Pathologisierung eben auch die Zuspitzung der Widersprüche des imperialistischen Systems das Individuum immer stärker angreifen. Somit kommt es tatsächlich auch zu einer stärkeren Belastung für die Psyche, was zu einer möglichen Erkrankung führen kann.
Wir haben heute fast keine belastbaren Zahlen, auf die wir uns stützen können, inwieweit die psychische Belastung und psychische Krankheiten heute deutlich weiter verbreitet sind als in anderen gesellschaftlichen Entwicklungsstufen. Selbst die Fallzahlen der vergangenen 70 Jahre lassen sich kaum vergleichen, da sich, wie oben beschrieben, der Umgang mit, aber auch die Definition von psychischen Krankheiten und dem, was als die Norm angesehen wird, radikal verändert hat.
Während heute immer mehr psychische Krankheiten und Störungen diagnostiziert und definiert und immer mehr Medikamente und Therapien verschrieben werden, gab es viele Aspekte und „Erkenntnisse“ der heutigen Gesundheitsindustrie vor einigen Jahrzehnten noch gar nicht. Gleichzeitig haben die direkten und indirekten Auswirkungen und Folgen für Gesundheit, Psyche und Erziehung von Faschismus und Kriegsgenerationen ganz andere Spuren hinterlassen, als dies die heutige Gesellschaft mit neuen Phänomenen der digitalen Kommunikation und Anforderungen der kompletten Flexibilisierung und totalen Selbstoptimierung des Lebens und Arbeitens tut.
Gleichzeitig haben verschiedene soziale Bewegungen und die Arbeiter:innenbewegung in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder erfolgreich um die An- oder Aberkennung von dem, was als psychische Krankheit oder eben als „normal“ gilt, gekämpft. Dies geht von der Jahrhunderte langen Geschichte der Verleugnung der weiblichen Sexualität als „Hysterie“, über die Streichung von Homosexualität und Transgeschlechtlichkeit als psychische Erkrankung, bis hin zu der Anerkennung von zahlreichen psychischen Arbeitskrankheiten.
Diese erfolgreichen Kämpfe und die sich entwickelnden Anforderungen an die Psyche des Individuums und den Drang der Anpassung des Individuums an die vorherrschende Normalität hat jeweils einen Einfluss auf den Umgang mit und die Definition von Symptomen und Krankheiten. Diese sind dadurch einer dauerhaften Entwicklung unterzogen. Vieles, was gestern noch als krankhaft und zwangsweise zu verändern galt, ist heute akzeptiert oder gar Teil der neuen „Normalität“. Dabei haben diese Veränderungen nicht unbedingt direkten Einfluss auf das individuelle Empfinden oder Leiden der Betroffenen.
Anerkannte psychische Krankheiten in Zahlen
Mit diesem Verständnis können wir uns dann den aktuellen bürgerlichen Zahlen und Statistiken rund um das Thema der psychischen Gesundheit bzw. Krankheit in Deutschland nähern. Dabei besteht neben der geschichtlich gewachsenen und undialektischen Einordnung von Normalem und Krankem vor allem das Problem der Erfassung der tatsächlichen Krankheitsbilder und ihrer Ursachen.
Bürgerliche Studien gehen heute davon aus, dass jeder vierte bis fünfte Mensch innerhalb eines Jahres an einer psychischen Erkrankung leidet.6 Dabei ist der Begriff der psychischen Krankheit hier recht weit gefasst und schließt in seiner allgemeinen Definition etwa auch den missbräuchlichen Konsum von Alkohol, Medikamenten und anderen Drogen mit ein. Die Lebenszeitprävalenz, also das Risiko in seinem Leben eine psychischen Erkrankung zu bekommen, wird für Deutschland nach einer Studie der TU Dresden auf mehr als 50% geschätzt.7
Gerade bei psychischen Krankheiten zeigen sich die gesellschaftlichen Einflüsse als zentrale Ursachen besonders stark. Bei den uns zur Verfügung stehenden Zahlen der bürgerlichen Statistik gibt es hier ein besonderes Auseinanderklaffen etwa von Häufigkeit und Symptomen je nach Geschlecht. So wird bei Frauen im Durchschnitt 2-3 Mal häufiger eine Depression diagnostiziert als bei Männern. Männer neigen dafür viel häufiger zum missbräuchlichen Konsum und zur Abhängigkeit von Drogen. Auch bei der Suizidrate sehen wir einen signifikanten Unterschied je nach Geschlecht. So sind zwei Drittel der Menschen, die Suizid begehen, Männer. Während die Zahl der diagnostizierten psychischen Erkrankungen immer weiter steigt, nimmt die Zahl der Suizide in Deutschland seit Jahrzehnten immer weiter ab. Seit den 80er Jahren bis heute hat sich die Zahl der jährlichen Suizide halbiert: von 18.451 (1980) auf 9.296 Fälle (2018).8 Das Thema des Suizids und der Suizidversuche (ca. 100.000 bis 150.000 pro Jahr) ist in Deutschland bis heute größtenteils ein Tabuthema. Dazu trägt im Besonderen bei, dass die Presse hier oftmals ganz auf Berichte über Suizide verzichtet. Dies wird mit dem sogenannten Werther-Effekt9 begründet, welcher eine statistische Häufung von Selbstmorden nach der Berichterstattung über solche beschreibt. Dabei wird meist außer Acht gelassen, dass diese Häufung nicht dadurch zustande kommt, dass über den Suizid an sich berichtet wird, sondern vielmehr wie genau. Der entgegengesetze sogenannte Papageno-Effekt10 zeigt, dass bei sensibler Berichterstattung die Zahl der Suizide sogar gesenkt werden kann. Hierbei zeigt sich erneut der massive Einfluss der Gesellschaft auf das Handeln und die Psyche des Individuums.
Wie sehr die gesellschaftlichen Umstände ebenso wie kulturelle und historische Besonderheiten hier Einfluss nehmen, zeigt ein Vergleich der unterschiedlichen Suizidraten weltweit. Während in Syrien auf 100.000 Einwohner:innen im Jahr 2016 1,9 Fälle kommen, sind es in Deutschland 13,6 und in Litauen 31,9 Suizide.11 Auch die Aufteilung nach Geschlecht ist in den jeweiligen Ländern stark unterschiedlich. In fast allen Ländern der Welt ist die Suizidrate unter Männern jedoch um ein vielfaches höher als die bei Frauen. In den meisten Ländern gibt es keine umfangreichen Statistiken zur Betroffenheit von anderen Geschlechtern.
Allein für Deutschland betrachtet können wir demnach feststellen, dass durch die Entwicklung des Imperialismus die Anforderungen und psychischen Belastungen für das Individuum immer weiter zunehmen. So steigt im Zuge der stetigen Erhöhung der Arbeitsintensität und des Voranschreitens der Individualisierung die Zahl der Arbeiter:innen, die mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen haben, stark an. Stress, unsichere Lebensperspektiven, fehlende soziale Sicherheit usw. sind massive Risikofaktoren für psychische Erkrankungen und Süchte. Die Arbeiter:innenklasse ist all diesen Aspekten besonders ausgesetzt. So sind Leistungsstress auf der Arbeit, Angst vor Arbeitslosigkeit, Zerfall der Kleinfamilie, patriarchale Rollenbilder und Gewalt wichtige gesellschaftliche Hintergründe, aus denen sich psychische Krankheiten entwickeln können.
Laut AOK hat die Zahl der Krankschreibungen aufgrund psychischer Erkrankungen von 2006 bis 2016 um mehr als 50% und die Anzahl der Arbeitsunfähigkeitstage um knapp 80% zugenommen. Laut BKK waren psychische Erkrankungen für rund 15% aller Arbeitsunfähigkeitstage verantwortlich. Einen besonderen Anstieg lässt sich beim sogenannten „Burn-out-Syndrom“ sehen. Die Zahl derjenigen Menschen, die sich wegen psychischer Erkrankungen frühverrenten lassen müssen, übersteigt mittlerweile alle anderen Erkrankungen bei weitem.12 Im Zuge der Corona-Pandemie und der damit einhergehenden Regierungsmaßnahmen wie Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren können wir schon jetzt einen erneuten explosionsartigen Anstieg der psychischen Belastung und damit einhergehenden psychischen Krankheiten feststellen.
Teilweise behandeln sich die Menschen mit Medikamenten „selbst“. Auch das führt dazu, dass geschätzt rund 1,2 bis 1,5 Millionen Menschen in Deutschland von Arzneimitteln abhängig sind – insbesondere von Tranquilizern und Schlafmitteln. Besonders betroffen sind ältere Menschen, vor allem Frauen. Tatsächlich sind auch andere Süchte stark verbreitet. Was Alkohol angeht, ist Deutschland international ein „Hochkonsumland“. Jede:r sechste in Deutschland trinkt Alkohol in einem gesundheitlich schädlichen Ausmaß. 2016 wurden rund 430.000 Menschen vollstationär wegen psychischen oder Verhaltensstörungen aufgrund von Drogen behandelt. Fast drei Viertel der Fälle wurden durch Alkohol ausgelöst (322.608).13 Der Rest entfällt auf Cannabis und andere illegale Drogen. Damit ist Alkohol die Volksdroge Nr. 1 in Deutschland. Auch Glücksspiel ist verbreitet. Rund ein Drittel (37%) der Deutschen gab 2017 an, innerhalb der vergangenen zwölf Monate gespielt zu haben.
Diese Ausführungen sollen einen Eindruck davon vermitteln, wie die Psyche und die Einordnung der psychischen Gesundheit in Deutschland heute umkämpft sind und welche Dimensionen allein die anerkannten und untersuchten Krankheiten laut bürgerlichen Statistiken heute annehmen. Wir müssen davon ausgehen, dass das reale Ausmaß noch deutlich größer ist, als diese Zahlen darstellen. Dies hängt vor allem mit der anhaltenden Stigmatisierung psychischer Krankheiten und der nicht ausreichenden medizinischen und therapeuthischen Versorgung zusammen. Dies bringt viele Menschen dazu, sich bei anhaltenden psychischen Problemen erst gar keine Hilfe zu suchen.
Gesellschaftliche Ursachen
Ähnlich wie bei einem großen Teil der körperlich bedingten Krankheiten liegen auch die Ursachen psychischer Krankheiten im Wesentlichen im gesellschaftlichen Bereich. Dabei ist vollkommen klar, dass es sowohl im körperlichen, wie psychischen Bereich auch Krankheiten, Krankheitsbilder und Ursachen gibt, die rein oder überwiegend biologische Ursachen haben. Dies gilt vor allem für durch biologische Defekte hervorgerufene Stoffwechselstörungen im Gehirn (z.B. die fehlende oder zu große Synthetisierung von Serotonin oder Dopamin), sowie durch genetische Veranlagung bedingte Krankheiten (dies gilt zum Beispiel für bestimmte Formen von Demenz oder Depressionen).
Gleichzeitig müssen wir immer auch die dialektischen Verbindungen und Rückwirkungen zwischen biologischen und gesellschaftlichen Ursachen bzw. Auswirkungen von psychischen Krankheiten auf unseren Körper und andersherum die Auswirkungen körperlicher Krankheiten auf unsere Psyche berücksichtigen. So führen unter anderem chronische Krankheiten und schwere Verletzungen, die das gewohnte Leben langfristig beeinträchtigen, oft zum Ausbruch oder der Verstärkung von psychischen Erkrankungen. Gleichzeitig kann auch das psychische Leiden zu körperlichen Erkrankungen führen. Ein Auseinanderreißen von körperlichen und psychischen Krankheiten bzw. ihren Ursachen ist dabei nicht nur oftmals gar nicht möglich, sondern führt in der Praxis eben zu vollkommen falschen Schlussfolgerungen und Ergebnissen.
Wir wollen uns hier einmal etwas genauer anschauen, wie sich die Strukturen, Ausbeutungs- und Machtverhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft in ihrem imperialistischen Stadium in Deutschland auf die Psyche, das Bewusstsein und die Persönlichkeit des Individuums auswirken.
Die grundsätzlichen Unterdrückungs- und Ausbeutungsmechanismen im heutigen Imperialismus, welche auf die Psyche des Individuums einwirken, sind die der politischen Ökonomie des Kapitalismus und des Patriarchats. Hinzu kommen unzählige bürgerlich idealistische Theorien und Methoden, die das Bewusstsein und die Persönlichkeit des Individuums angreifen und in eine bestimmte Richtung formen wollen.
Durch die der politischen Ökonomie des Kapitalismus zugrunde liegende Spaltung der Gesellschaft in Klassen und die damit einhergehende gesellschaftliche Arbeitsteilung sowie weitere daraus entstandene Widersprüche wie der zwischen Stadt und Land und zwischen leitenden und ausführenden Arbeiten, entwickelt sich das Individuum unterschiedlich und wird von ihnen geprägt. Da sich alle diese Widersprüche heute massiv zuspitzen, nimmt auch die Belastung der Psyche des Individuums immer weiter zu. Wirtschaftskrisen, zunehmende soziale Unsicherheit, Angst vor dem Abstieg in der sozialen Hirarchie, Arbeitslosigkeit und der dauerhafte Druck, das eigene Verhalten an die gesellschaftlich vorgegebenen Ideale anzupassen und diesen nachzueifern, sind zentrale Aspekte, welche nicht nur das Denken, Fühlen und Handeln des Individuums stark beeinflussen, sondern eben auch direkte Ursachen oder Auslöser psychischer Erkrankungen und Instabilität sein können.
Auf der anderen Seite wird unser Denken, Fühlen und Handeln wohl von keinem anderen Unterdrückungsmechanismus direkt und indirekt so stark beeinflusst wie vom Patriarchat in seiner heutigen Ausprägung. Unsere heutige Gesellschaft ist in allen Bereichen fundamental von den Strukturen des Patriarchats durchdrungen. Schon seit der frühsten Kindheit an werden wir anhand der durch das Patriarchat vorherrschenden Werte- und Moralvorstellungen geprägt. In quasi allen Lebensbereichen prägt das Patriarchat unser Bewusstsein und unsere Persönlichkeit als Individuum.
Die Rollenverteilung in der Familie, patriarchale Gewalt im Elternhaus, in der eigenen Erziehung und den eigenen Beziehungen, ebenso wie die immer weiter fortschreitende gesellschaftliche Vereinzelung durch Auflösung der bürgerlichen Familie, ohne das ihr etwas anderes Positives entgegengesetzt wird, formen und belasten das Individuum nachhaltig.
Hinzu kommt die gezielte Schaffung immer neuer, durch den Imperialismus „designter“ Bedürfnisse, die das Bewusstsein des Individuums angreifen und seine Psyche immer neuen Widersprüchen aussetzen. So kommen zu den grundlegenden Widersprüchen des kapitalistischen Systems eben solche wie Probleme mit der eigenen „Identität“ hinzu. Befeuert werden diese Probleme durch Theorien der idealistischen bürgerlichen Philosophie, welche die „Identität“ des Individuums zu etwas rein gedanklich Veränderbarem machen, ganz im Sinne von „Du bist was oder wie du dich fühlst“. Dabei sind letztendlich immer weiter ausufernder hedonistischer Individualismus und die vollkommene Aufgabe des Individuums durch die Anpassung an bürgerliche Trends lediglich zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Zu den jeweiligen Strukturen der Gesellschaft und wie diese gezielt das Bewusstsein des Individuums angreifen und in ihrem Sinne formen wollen, haben wir bereits in unserem Artikel „Wogegen wir kämpfen müssen“ als Teil unserer Ausarbeitungen zur Klassenanalyse einige vertiefende Feststellungen aufgelistet.14
Besonders traumatisierende Erfahrungen im Leben des Individuums sind dabei meist die unmittelbaren Auslöser von psychischen Erkrankungen, etwa die Folgen von Naturkatastrophen, Wirtschaftskrisen, Kriegen und Flucht oder Arbeitslosigkeit, ebenso massive Veränderungen im persönlichen Leben wie Trennungen und andere Verluste, sowie alle Formen von gewaltsamen Erlebnissen. Gleichzeitig wird die Psyche des Individuums in dieser Gesellschaft dauerhaft so massiv beansprucht, dass es zu immer mehr Erkrankungen kommt, die keine direkten Auslöser haben, sondern Folgeerscheinungen der dauerhaft auf einen einwirkenden Widersprüche und Zwänge der Gesellschaft sind. Durch den dauerhaften Druck auf das Individuum nach Selbstoptimierung und Anpassung an bürgerliche Ideale sinkt dabei gleichzeitig die Wiederstandkraft gegen krankhafte Entwicklungen und Symptome.
Wir sehr psychische Krankheiten und in diesem Zusammenhang vor allem Traumata das Leben unzähliger Menschen heute nachhaltig beeinflussen, zeigen nicht nur die bereits oben benannten Zahlen, sondern auch der Fakt, dass sie zu direkten und nachhaltigen Veränderungen in der Biologie des Individuums führen. So können erlebte Traumata, insbesondere wenn sie nicht behandelt und aufgearbeitet werden, zu dauerhaften Veränderungen der Hirnstruktur und -funktionen führen. Dies geht soweit, dass sich Gefühle und Verhaltensweisen stark verändern und laut bürgerlichen Wissenschaftler:innen besonders schwere Traumata sogar über Generationen vererbbar sind.15
Wenn wir davon ausgehen, dass die jeweiligen gesellschaftlichen Umstände eine wesentliche Ursache für die Entstehung und Häufung von psychischen Problemen sind, dann müssen wir uns auch für jedes Land und jeden geschichtlichen Zeitabschnitt die jeweiligen konkreten Bedingungen vor Ort und auch ihren jeweiligen Umgang mit den besonderen Ausprägungen von psychischen Problemen genauer anschauen. Ein plumper Vergleich etwa zwischen verschiedenen Ländern und historischen Zeitpunkten würde hier aufgrund unterschiedlicher gesellschaftlicher Normen, geschichtlicher und kultureller Hintergründe und der jeweiligen besonderen Ausformung des Patriarchats zu keinem stichhaltigem Ergebnis führen.
Bürgerlich individualistische Lösungen
Wenn wir also wie oben beschrieben davon ausgehen, dass unser Bewusstsein und unsere Persönlichkeit maßgeblich von den auf uns einwirkenden gesellschaftlichen Strukturen, Ausbeutungsformen und Unterdrückungsmechanismen geprägt wird und diese vielfach die Ursachen und Auslöser psychischer Probleme und Krankheiten sind, dann wird klar, dass die Lösung dieser Probleme eben auch eine gesellschaftliche sein muss.
Diese Feststellung gilt insbesondere, wenn es eben nicht um eine reine Bekämpfung einzelner Symptome, sondern einen grundsätzlichen Ansatz zur Bekämpfung der Auslöser und Ursachen gehen soll. Die Frage der psychischen Gesundheit und der Kampf um sie und gegen psychische Krankheiten ist daher eine gesellschaftliche Frage. Ist es diese Gesellschaft die krank macht, dann muss diese überwunden und durch eine andere Gesellschaft ersetzt werden, welche die krankmachenden Elemente nicht mehr in sich trägt. Diese Gesellschaftsform ist der Sozialismus, als Übergangsform zum Kommunismus. Der Kampf um die psychische Gesundheit muss daher auch als Teil des Klassenkampfes verstanden werden.
Ganz im Gegenteil dazu wird heute in der auf dauerhafte Profitmaximierung ausgerichteten kapitalistischen Ordnung mit dem Thema der psychischen Krankheiten umgegangen. So ist das vordergründige Ziel der meisten Therapien und Behandlungen das schnellstmögliche wieder richtig funktionieren im kapitalistischen Sinn. Die Patient:innen sollen wieder fit gemacht werden für eine krank machende Gesellschaft und das so schnell und so günstig wie irgend möglich. Dabei stehen eben nicht das Wohl und die Bedürfnisse der Patient:innen im Mittelpunkt, sondern die Interessen der Wirtschaft und der Medizin- und Pharmaindustrie.
Den dauerhaft steigenden Krankheitstagen und Kosten auf Grund von psychischen Krankheiten und Störungen kann dabei von diesem System keine konstruktive Lösung entgegen gesetzt werden. Auch die Psychologie und die Medizin im allgemeinen wird damit zu einem Herrschafts- und Integrationsmittel mit einem klaren Klasseninteresse. Wie sollte es auch anders sein in einer Klassengesellschaft? Doch dies zu erkennen, kritisch zu hinterfragen und zu verinnerlichen scheint heute selbst in der revolutionären Bewegung kaum zu passieren.
Die bürgerlichen Behandlungsmethoden gehen auf die gesellschaftlichen Ursachen so gut wie gar nicht ein. Wie könnten sie auch, hätten sie dann doch keine Lösung anzubieten. Vielmehr stellen sie das Individuum und sein Handeln in den Mittelpunkt der allermeisten Behandlungen. Die bürgerliche Medizin hat dazu mittlerweile unzählige Ansätze zur therapeutischen und medikamentösen Behandlung psychischer Krankheiten entwickelt. Von „Radikaler Akzeptanz“ über Gesprächstherapien, Yoga und unzählige weitere Meditationspraktiken gibt es heute in der bürgerlichen Psychologie wohl nichts was es nicht gibt. Parallel wird ein Großteil der Therapien durch die massenhafte Verschreibung von Psychopharmaka, vor allem von Schlaf- und Betäubungsmitteln, sowie Stimmungsaufhellern begleitet oder findet allein auf medikamentöser Basis statt. So steigen auch die medikamentöse Behandlungen ohne Therapie, welche zum Teil über längere Zeit allein vom Hausarzt verschrieben werden, immer weiter an.
Trotz der immer weiter steigenden Verschreibung von Psychopharmaka bzw. Antidepressiva als „Wundermittel“ gegen fast alle psychischen Krankheiten führt dies nicht zu einer Senkung der erkrankten Personen. Ganz im Gegenteil steigt die Zahl diagnostizierter psychischer Krankheiten parallel immer weiter an. Laut der Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM) hat sich von 1983 bis 2018 die Anzahl der verschriebenen Antidepressiva um mehr als 700% erhöht.16 Dabei werden die Medikamente heute bei rund der Hälfte der Patient:innen nicht von Fachärzt:innen sondern den jeweiligen Hausärzt:innen und in vielen dieser Fälle selbst ohne eine genaue Diagnose und begleitende Psychotherapie verschrieben.
Mittlerweile gehen einige kritische Wissenschaftler davon aus, dass der positive Effekt von Antidepressiva zu 90% ein Placebo-Effekt ist, der nicht auf die enthaltenen Wirkstoffe zurückzuführen sei.17 Einige gehen sogar soweit, dass sie die Medikamente daher nicht nur als größtenteils nutzlos, sondern auch für potenziell schädlich halten. Dies hängt mit den massiven Nebenwirkungen der starken Psychopharmaka und ihrer oftmals jahre- oder gar jahrzehntelangen Einnahme zusammen. Die Nebenwirkungen können dabei bei den Patient:innen ebenso starke Krankheitssymptome hervorrufen, wie sie eigentlich verhindern sollen. Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie weißt zudem daraufhin, dass insbesondere bei jungen Menschen unter 25 Jahren in klinischen Studien nachgewiesen wurde, dass sich das Risiko für Suizidversuche bei Einnahme von Antidepressiva (statt einem Placebo) sogar verdoppelt hat.18
Damit wollen wir in keinem Falle sagen, dass eine ärztliche bzw. therapeutische Behandlung psychischer Erkrankungen nicht oder nur in einem Extremfall sinnvoll ist. Vielmehr gehen wir davon aus, dass eine zielführende Behandlung und besonders die Vorsorge sich eben mit den gesellschaftlichen Ursachen auseinandersetzen muss. Das ist notwendig, damit es wirklich zu einer Behandlung kommen kann und nicht nur zu einem dauerhaften Ruhigstellen durch Medikamente und dem Training für das Individuum, unaushaltsame Situationen nun doch über sich ergehen zu lassen. Als nachhaltige Strategie für einen gesunden Umgang mit unserer Psyche und auch mit psychischen Krankheiten kann man das Vorgehen der bürgerlichen Medizin wohl kaum bezeichnen. Gerade bei erlebten Traumata, sowie biologischen Ursachen psychischer Krankheiten und schweren psychischen Erkrankungen ist bei aller Kritik der bürgerlichen Medizin eine professionelle medizinische und therapeutische Hilfe heute trotzdem der notwendige Weg.
Doch nicht nur auf medizinischer und therapeutischer Ebene werden die gesellschaftlichen Ursachen und Auslöser verkannt und sich meist ausschließlich auf das Individuum und seine Handlungen, Lebensweise, sowie Gedanken und Gefühle bezogen. Mittlerweile hat der Imperialismus einen eigenen Wirtschaftszweig geschaffen, der sich allein auf die Entwicklung und Vermarktung von Methoden, Konzepten und Artikeln zur Selbstoptimierung des Individuums konzentriert. Unzählige Ratgeber, Anleitungen, Selbstdiagnosebücher sollen dabei helfen, das Individuum an die vorherrschende Normalität anzupassen. Gelingt das nicht, führt scheinbar kein Weg an medizinischer und therapeutischer Behandlung vorbei.
Gleichzeitig wird in dem Individuum durch eben diese Industrie der „designte“ Drang zur Verwirklichung des eigenen Individualismus immer offensiver geweckt. Je individueller, je einzigartiger um so besser ist die Devise. So stehen nicht mehr gesellschaftliche Faktoren und eine sich aus denselben Interessen bildende Gemeinschaft, ein Kollektiv oder gar eine Klasse im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des eignen Denken, Fühlens und Handelns, sondern allein die individuelle Selbstverwirklichung.
Ansätze für die politische Praxis
Nachdem wir uns nun grundlegend mit den Fragen der Psyche, des Bewusstseins und der Persönlichkeit, sowie den Rückwirkungen von Individuum und Gesellschaft auf eben diese aus marxistischer Sicht beschäftigt haben, wollen wir uns nun überlegen, welche Ansätze für die politische Praxis wir aus den obigen Annahmen und Analysen ziehen können.
Zunächst das Offensichtlichste: Auch in der revolutionären und Arbeiter:innenbewegung müssen wir weiter um die Enttabuisierung von psychischen Problemen und Krankheiten kämpfen. Auch hier gibt es, wie in der gesamten Gesellschaft, nach wie vor oftmals keinen Raum, um über seine psychische Gesundheit, Bedürfnisse und Probleme zu sprechen oder sich Gehör zu verschaffen. Dies ist neben anderen Ursachen auch ein Grund, warum immer wieder Genoss:innen aus der politischen Arbeit ausscheiden. In Zukunft gilt es für uns, kollektive Konzepte zu entwickeln, die genau das verhindern.
Auch wir als Revolutionär:innen und Kommunist:innen müssen das Gebiet der psychischen Gesundheit als ein politisches Arbeitsfeld verstehen und verinnerlichen. Als revolutionäre Individuen, ebenso wie als Kollektive haben wir eine Verantwortung nicht nur für die körperliche, sondern auch die psychische Gesundheit unserer Genoss:innen. Gleichzeitig dürfen wir eben nicht den Fehler der bürgerlichen Psychologie reproduzieren und in die strategische Falle tappen, in dem wir versuchen, das Individuum von allen „negativen“ Einwirkungen aus seiner Umwelt abzukapseln und so scheinbar eine Lösung für die vorhandenen psychischen Probleme zu finden.
In der revolutionären Arbeit stehen wir vor dem strategischen Problem, dass die Belastungen und negativen Einwirkungen auf die Psyche in ihrer Gesamtheit gesellschaftlichen Ursprung haben. Um diese zu bekämpfen bzw. zu verändern, müssen wir also die gesellschaftliche Grundlage verändern. So ist der Kampf um die Psyche, das Bewusstsein und die Persönlichkeit ein direkter Teil unseres Kampfes für die sozialistische Revolution.
Die drei folgenden Punkte sollen dabei eine vorläufige Richtschnur für unsere politische Arbeit auf dem Gebiet der Psychologie bieten. In Zukunft wird es dann darum gehen müssen, diese Punkte in der Praxis zu überprüfen, sie auszubauen und so mit diesen und weiteren Analysen der Erarbeitung einer marxistischen Psychologie einen Schritt näher zu kommen.
Das Psychische ist politisch
Schon oft wurde in der politischen Widerstandsbewegung und auch in der revolutionären Bewegung in den vergangenen Jahrzehnten darüber debattiert, dass die undialektische Trennung verschiedener Teile des eigenen Lebens in Bereiche, die „privat“ und solche die „politisch“ sind, auf Dauer zu massiven Problemen in allen Bereichen politischer Arbeit führt. Diese Spaltung ist bis heute ein maßgebliches Problem für die Entwicklung kommunistischer Kader:innen und den Aufbau einer kommunistischen Partei neuen Typs.
Auch auf dem Gebiet der Psyche spielt diese Frage eine entscheidende Rolle. Die dauerhafte Spaltung von Teilen unseres Lebens und Alltags in Politisches oder Privates bzw. um es von einem anderen Standpunkt aus zu betrachten, in revolutionäre Arbeit und bürgerliches Leben bilden ein massives Spannungsfeld. In diesem Spannungsfeld wird unsere Psyche starker Belastung und Stress ausgesetzt, wenn wir im einen Teil uns gegen die herrschende Ordnung und all ihre Strukturen, Normen und Werte auflehnen und im anderen versuchen uns in Partnerschaft, Familie und Beruf so gut es geht diesen anzupassen. Dies gilt insbesondere, wenn es in diesen scheinbar „privaten Räumen“ zu massivem Widerstand gegen die eigenen revolutionären Ansichten kommt.
Dabei ist klar, dass die Überwindung dieser künstlichen Spaltung dem Individuum einiges abverlangt und zunächst häufig eine noch größere psychische und emotionale Belastung mit sich bringt. Schafft diese Spaltung doch in gewissem Sinne auch „reaktionäre Rückzugsräume“ in denen man sich in die Überbleibsel der bürgerlichen Teile der eigenen Persönlichkeit fallen lassen kann, ohne dauerhaft gegen gefühlt alles und jede:n in seiner Umgebung ankämpfen zu müssen.
Gleichzeitig ist die Überwindung eben dieser Trennung und die aktive Bekämpfung dieser „reaktionären Rückzugsräume“ der notwendige Schritt hin zur Entwicklung einer revolutionären Persönlichkeit. Ohne diese Überwindung wird die Psyche und das Bewusstsein des Individuums dauerhaft hin- und hergerissen sein und im schlimmsten Falle massiv unter diesen Widerspruch leiden. Auch und besonders im Kampf gegen das Patriarchat und seine Auswirkungen auf das jeweilige Denken, Fühlen und Handeln des Individuum hat dies massive Auswirkungen.
Wenn wir die Spaltung in Politisches und Privates aktiv bekämpfen, wird dies auf Dauer unsere Psyche im politischen Kampf stark entlasten und wir können damit strategische Angriffe auf unser Bewusstsein zurückschlagen. Wir müssen jedoch noch einen Schritt weiter gehen und den Kampf um unser Bewusstsein und damit um unser revolutionäres Denken, Fühlen und Handeln als Akt der politischen Kriegsführung verstehen. Der Kampf um unsere psychische Gesundheit ist daher untrennbar mit dem Klassenkampf verbunden. Ohne eine ausgeglichene Psyche, ohne einen starken Willen zum Widerstand werden wir die vor uns liegenden Klassenkämpfe nicht erfolgreich meistern können.
Zu diesem Feld der politischen Arbeit zählt auch die Fähigkeit, eine richtige Selbsteinschätzung von sich und seinen Fähigkeiten zu erlangen. Viele von uns werden das heute erst neu erlernen müssen und dadurch die negative Beeinflussung und Verfälschung ihrer eigenen Wahrnehmung überwinden und ihre Fähigkeiten voll entfalten können. Erst durch die Erkenntnis über die eigenen Fähigkeiten und Grenzen und eine realistische Einschätzung von dem, was ich kann und was nicht, können wir auch eine Grundlage dafür legen, die eigenen Grenzen zu überwinden und uns kollektiv weiter zu entwickeln.
Kollektive Räume schaffen
Es reicht dabei aber eben nicht allein, wie oben beschrieben, (abstrakt) anzuerkennen, dass gesellschaftliche Ursachen eben auch gesellschaftliche Lösungen brauchen, sondern wir müssen einen konkreten Kampf darum führen, die im Kapitalismus scheinbar individualisierten Probleme wieder auf eine gesellschaftliche Ebene zu heben. Das heißt vor allem, die Menschen nicht allein zu lassen mit ihren Problemen, sondern diese kollektiv zu bearbeiten und kollektive Lösungsansätze zu entwickeln. Eine wesentliche Voraussetzung dafür sind kollektive Räume, in denen sich über körperliches und psychisches Wohlbefinden ausgetauscht und Hilfe angeboten oder angefragt werden kann.
Wir müssen dabei sowohl Räume und Kollektive schaffen, in denen Menschen über ihre persönliche Situation reden und sich austauschen können, als auch solche Räume für Menschen, die sich für einen bestimmten Zeitraum zurückziehen wollen oder müssen, ohne das man diese Genoss:innen dadurch dauerhaft für den Kampf für eine sozialistische Gesellschaft verliert.
Wir müssen immer wieder neu hinterfragen, wie die Bedürfnisse des Individuums und die des kollektiven Kampfes zueinander stehen und wo sie auch in Widersprüche zueinander geraten können. Unser Ziel muss es dabei stets sein, aus dem jeweiligen Individuum ein aktives kollektives Individuum zu machen. Mit Hilfe revolutionärer Kritik und Selbstkritik, das heißt einer produktiven und konstruktiven Kultur der Kritik, kann sich die Persönlichkeit des bürgerlichen Individuums zu einem kollektiven sozialistischen Individuum entwickeln. Dadurch können wir die Vereinzelung und die dem bürgerlichen Individualismus entspringende Resignation überwinden. Unser kollektiver Kampf darf nicht allein auf den direkten politischen Kampf auf der Straße beschränkt werden, sondern muss ebenso den Kampf um die Entwicklung und Veränderung jedes einzelnen Individuums und des gesamten Kollektivs umfassen.19 Wir müssen den Kampf um die revolutionäre Überwindung des Kapitalismus eher als einen Langstreckenlauf als einen Sprint verstehen. Dabei dürfen wir uns nicht in wenigen Monaten so sehr physisch und psychisch verausgaben oder ruinieren, dass wir danach nicht mehr weiter kämpfen können. Auch wenn dieses Verständnis natürlich nicht dazu führen darf, unsere subjektiven Grenzen nicht zu überwinden bzw. einzureißen. Gerade in Zeiten zugespitzter Klassenkämpfe kommt es natürlich darauf an, besondere Anstrengungen und Herausforderungen zu meistern und in den jeweiligen Situationen alles zu geben, um die Klassengegner:innen in die Knie zu zwingen. Doch auch in diesen Situationen muss das Kollektiv stets das Individuum und seine physische und psychische Lage im Blick haben.
Gleichzeitig müssen wir ein dialektisches Verständnis von psychischem Wohlbefinden bzw. psychischer Gesundheit entwickeln. Wir haben oben gesehen, dass das, was heute als Norm für eine gesunde Psyche gilt, zumindest zeitweise auf immer weniger Menschen zutrifft. Die kapitalistisch definierte „Gesundheit“ ist dadurch eben nicht mehr das Normale. Dabei müssen wir die Stigmatisierung und Isolierung von Menschen mit psychischen Problemen und Krankheiten aktiv bekämpfen und sie aktiv in unsere Kollektive einbinden.
Kultur und Kollektive neuen Typs schaffen
Auf dem Weg zur sozialistischen Revolution wird es neben dem Kampf um die politische Macht und die ökonomische Umgestaltung der Gesellschaft eben auch um den gezielten Aufbau und die Entwicklung einer neuen Art der Kultur und des Zusammenlebens gehen müssen. Alle bisher herrschenden bürgerlichen Anschaunungen von Moral, Ethik und Rollenbildern müssen dabei auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen und durch eine durch und durch neue sozialistische Kultur ersetzt werden. Dabei wird es entscheidend sein, den Kampf um die Entwicklung dieser Kultur nicht erst im Sozialismus zu beginnen, sondern schon heute zu einem zentralen Kampffeld innerhalb unserer Kollektive und im Umgang mit unseren Genoss:innen und unseren Klassengeschwistern zu machen.
Durch den Kampf um die Entwicklung einer Kultur und eines Kollektivs neuen Typs werden wir ganz neue Voraussetzungen für den Kampf als vereintes sozialistisches Kollektiv schaffen, aus dem das Individuum, egal wie seine oder ihre Lebenslage oder psychische Situation ist, nicht herausfallen sondern in der jeweiligen Situation einen Platz für sich finden wird.
Der Kampf gegen das herrschende barbarische und ausbeuterische System und für eine freie sozialistische Gesellschaft kann in vielen Bereichen sehr belastend sein. Dasselbe gilt für Gewalt- und Unterdrückungserfahrungen nicht nur in der Familie, Beruf und Alltag, sondern eben auch in der politischen Arbeit. Hierzu gehört auf der einen Seite die dauerhafte Beschäftigung mit dem „Leid der Welt“ und den grausamsten Ausprägungen des kapitalistischen Systems, was belastend ist. Auf der anderen Seite kommt neben der Ausbildung und Lohnarbeit mit der revolutionären Arbeit ein zeitlich und kräftemäßig anstrengender Arbeitsbereich hinzu. Auch hierfür müssen wir einen bewussten und gezielten Umgang finden. Dies gilt insbesondere wenn wir uns klar machen, dass die revolutionäre Arbeit zeitlich langwierig ist und vielfältige Anforderungen an uns stellt.
Hier müssen wir zur Revolutionierung von Individuum und Kollektiv spezielle Methoden entwickeln, mit denen die persönliche und gemeinschaftliche Widerstandsfähigkeit erhöht werden kann. Diese Resilienz ist eine notwendige Voraussetzung, um die gesellschaftlichen Ursachen psychischer Probleme und die Angriffe des Imperialismus auf Psyche, Bewusstsein und Persönlichkeit des Individuums zurück zu schlagen.
Dabei dürfen wir das Individuum eben auch nicht mit der Verantwortung für seine Situation allein lassen, sondern müssen die Probleme kollektiv angehen. Die bereits oben genannte Bewusstseinswerdung, dass die wesentliche Ursache für psychische Probleme in der kapitalistischen Wirtschaftsweise mit ihrem permanenten individuellen Verwertungszwang liegt, ist eine Grundlage für eine revolutionäre und nachhaltige Entwicklung von Individuum und Kollektiv.
Eine neue Art der solidarischen und sozialistischen Kultur muss ein Gegenstück zur vorherrschenden bürgerlichen Erziehung und Sozialisation bilden. Das politische Kollektiv muss dazu gleichzeitig ein soziales Kollektiv sein bzw. werden. Dabei muss das Kollektiv zum zentralen Punkt der sozialistischen Selbstermächtigung werden, in dem schon heute im kleinen eine sozialistische Kultur entwickelt und gelebt werden kann.
Doch das Kollektiv darf eben nicht als reiner „Wohlfühlraum“ missverstanden oder umgedeutet werden. Es muss vielmehr aus dem Individuum ein sozialistisches Individuum machen, indem es den Raum schafft, in dem sich das Individuum immer wieder selbst revolutionieren kann. Dies ist ein erfolgreiches Gegenkonzept zur individualistischen Abschottung in sogenannten „Safe Spaces“, welche letztendlich zu einem Abbau von persönlicher und gemeinschaftlicher Widerstandsfähigkeit führen.
Im Sinne einer ganzheitlichen polytechnischen Entwicklung und Erziehung des Individuums müssen im Kollektiv zudem erste Ansätze einer Überwindung der Trennung von Kopf- und Handarbeit eine Rolle spielen, ebenso wie der bewusste Kampf zur Zurückdrängung des Patriarchats. Ansätze dafür können wir in den Ausarbeitungen des sowjetischen Pädagogen Anton S. Makarenko finden. Diese sollten insbesondere für die Entwicklung und Ausbildung der Fähigkeiten der Kader:innen eine besondere Beachtung finden.
Das Kollektiv entwickelt sich dabei im Kapitalismus immer im Spannungsfeld von individueller Selbsterkenntnis und Veränderung auf der einen Seite und dem Kampf um kollektive Befreiung auf der anderen Seite. Es schafft dabei das notwendige Vertrauen in die Veränderbarkeit der Realität und des jeweiligen Individuums. Gleichzeitig muss es auch eine pädagogisch-regulierende Rolle haben, welche dem Individuum hilft bürgerlich individualistische Eigenschaften und Verhaltensweisen zu überwinden und seinen Platz im Kollektiv zu finden.
Schaffen wir es, diese Überlegungen und Zielsetzungen in der Praxis umzusetzen, dann geben wir damit nicht nur konkrete Antworten auf seit langem brennende Fragen der revolutionären und kommunistischen Bewegung in Deutschland, sondern legen gleichzeitig die notwendigen Grundlagen für die Schaffung des neuen Menschen, wie er sich im Sozialismus und später dann im Kommunismus herausbilden wird.
1Karl Marx, MEW Band 3, S. 6, Thesen über Feuerbach
2Vgl. dazu insbesondere die Ausführungen in „Die Arbeiter:innenklasse als revolutionäres Subjekt“, in Kommunismus Nr. 19, https://komaufbau.org/kommunismus19/
3Individuum und Kollektiv, Kommunismus Nr. 17, https://komaufbau.org/individuum-und-kollektiv
4Revolutionäres Denken, Fühlen und Handeln, https://komaufbau.org/revolutionares-denken-fuhlen-und-handeln
5Thesen zur revolutionären Kultur des Proletariats, Kommunismus Nr. 10, https://komaufbau.org/thesen-zur-revolutionaren-kultur-des-proletariats
6The global prevalence of common mental disorders: a systematic review and meta-analysis 1980–2013. In: International journal of epidemiology. Band 43, Nummer 2, April 2014, S. 476–493
7Psychische Erkrankungen in Europa: Lebenszeitrisiko mehr als 50 Prozent, Deutsches Ärzteblatt, Heft 1, Januar 2006
8Statistisches Bundesamt 2020, de.statis.com
9Der Begriff geht zurück auf den Roman “Die Leiden des jungen Werthers” von Johann Wolfgang von Goethe. Nach dessen Veröffentlichung 1774 gab es zahlreiche Nachahmungen des im Buch beschriebenen Suizids.
10Der Begriff geht zurück auf die Figur des Papageno aus der Oper “Die Zauberflöte” von Wolfgang Amadeus Mozart. In der Geschichte kann Papageno seine Suizidgedanken mit Hilfe von anderen Figuren überwinden.
11WHO Suicide rates data by country, 2018, https://apps.who.int/gho/data/mode.main.MHSUICIDE
12https://www.bfr.bund.de/cm/343/psychische-gesundheit-in-der-bevoelkerung-aktuelle-daten-und-hintergruende.pdf
13https://www.drogenbeauftragte.de/fileadmin/dateien-dba/Drogenbeauftragte/Drogen_und_Suchtbericht/pdf/DSB-2018.pdf
14Wogegen wir kämpfen müssen, Kommunismus Nr. 19, https://komaufbau.org/kommunismus19/
15Epigenetik: Wenn wir Traumata vererben: https://www.dw.com/de/epigenetik-wenn-wir-traumata-vererben/a-50547821
16https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/98188/Experten-beklagen-hohe-Zahl-verordneter-Antidepressiva
17Vgl. Michael P. Hengartner „Bei rund 90% wirken Antidepressiva nicht besser als Placebo“, sowie die Bewertung der Lancet Studie (https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(17)32802-7) durch Peter Gotzsche und Joanna Moncrieff
18Annahmen und Fakten: Antidepressiva, DGSP e.V., https://www.dgsp-ev.de/fileadmin/user_files/dgsp/pdfs/Stellungnahmen/DGSP_FA_Psychopharmaka_Annahmen_und_Fakten_Antidepressiva_2019.pdf
19Individuum und Kollektiv, Kommunismus Nr. 17, https://komaufbau.org/individuum-und-kollektiv