10 Lehren aus der Oktoberrevolution
Vorbemerkung: Operative Strategie und politische Kunst
Die Oktoberrevolution wirft eine zentrale Frage auf: Wie konnte die ArbeiterInnenklasse unter Führung der Bolschewiki die politische Macht erobern?
Die Bolschewiki führten den revolutionären Klassenkampf mittels einer einheitlichen politisch-militärischen Gesamtstrategie. Dogmatiker mögen gegen unsere These Stalin anführen. Er hat in den ‚Grundlagen des Leninismus‘ von drei strategischen Etappen gesprochen.
Der Widerspruch löst sich auf, wenn wir den Unterschied zwischen operativer Strategie und der ‚hohen Kunst der Politik‘ berücksichtigen. Stalin spricht von der Operationskunst, die den Weg zum Ziel in einer gegebenen Etappe umreißt.
Uns geht es hier um die hohe Kunst der Politik, also jene allgemeine Fragen, die ganz grundlegend das Wesen des Kampfes zwischen Revolution und Konterrevolution betreffen.
1. These: Innovation als strategisches Element – Gegen die Kochrezepte
Da die Erscheinungen im Fluss der unaufhörlichen Veränderung sind, können wir nicht bei der Vergangenheit stehen bleiben. Es gibt keine Kochrezepte. Wir müssen uns immer wieder neu erfinden – eine Aussage, die der bürgerliche Verstand schwer verdaut.
Wenn wir über Revolutionsstrategie nachdenken, bedeutet dies zu akzeptieren, dass es keine Schemata geben kann, die uns den Weg weisen. Die Zukunft ist offen. Die gesellschaftlichen Widersprüche treiben die Entwicklung immer wieder in neue Richtungen voran, die keiner geschichtlichen Analogie folgen. Aufstand, Partisanen, Volkskrieg, Stadtguerilla – wer diese konkreten Erfahrungen des Klassenkampfes zu Handbüchern degradieren will, der wird notwendigerweise scheitern.
2. These: Revolutionsprozesse und Wendepunkt – Wie lange hat das Match gedauert
Die Oktoberrevolution ist ein Wendepunkt in einem einheitlichen Revolutionsprozess. Er umfasst eine Zeitspanne von 20 Jahren und beginnt ungefähr 1901, als Lenin in ‚Womit beginnen‘ angefangen hat, die bolschewistische Revolutionsstrategie theoretisch zu entwickeln und praktisch umzusetzen. Das Ende liegt im Jahr 1920, als der Krieg gegen die Konterrevolution gewonnen war.
Dies lässt sich durch den Vergleich mit der Pariser Commune veranschaulichen. Die Pariser Commune war ein Volksaufstand, wie ihn die Geschichte öfters gesehen hat. Manchmal siegen dabei die Aufständischen, meistens werden sie niedergemetzelt. Die Oktoberrevolution dagegen war eine Entscheidungsschlacht. Militärisch betrachtet ersetzt der Aufstand im assymetrischen Partisanenkrieg zwischen Rebellen und Staatsmacht die Hauptschlacht im konventionellen Krieg zwischen Staaten.
Kann man die Machtergreifung durch den Aufstand von der vorausgehenden langjährigen Vorarbeit trennen? Selbst wenn es keinen Moskauer Aufstand 1905, keine demokratische Revolution im Februar 1917 gegeben hätte, geht das nicht. Dies wäre genauso unsinnig, wie wenn man nach dem im Elfmeterschießen entschiedenen Fußball-Match behaupten würden, das Spiel habe nur wenige Minuten gedauert.
Die Entscheidung lässt sich in beiden Fällen nicht vom gesamten Spiel- bzw. Kriegsverlauf trennen, aus dem heraus sie ja erst entsteht! Diese dialektische Sichtweise muss gegen bürgerliches Denken verteidigt werden.
In der Revolutionsstrategie der Bolschewiki kann man eben so wenig das Politische vom Militärischen trennen wie man das Militärische auf die Entscheidungsschlacht, d.h. den Aufstand im Oktober 1917, reduzieren kann.
3. These: Aufstand oder Putsch – Die wahre Kunst zu siegen (Sun Tsu)
Eine soziale Revolution findet nur statt, wenn eine gesamtgesellschaftliche Krise heran gereift ist. Das war 1917 in Russland der Fall, wo die „linke Revolutionsregierung“ acht Monate nach dem Sturz des Zaren völlig abgewirtschaftet hatte. Die Wahl des richtigen Zeitpunktes für den entscheidenden Sturmangriff ist eine der schwierigsten Fragen der revolutionären Strategie. Das Problem verbindet sich mit dem Begriff des ‚Aufstands“. Aufstand klingt heroisch. Der Aufstand – das ist der offene Bürgerkrieg!
Wie aber einen Aufstand bewerten, der die Bedürfnisse des Publikums nach blutigem Spektakel nicht erfüllt?
Eine verbreitete Kritik an der Oktoberrevolution lautet, dass dies nur der gut organisierte Putsch von Verschwörern gewesen sei. Gegenfrage: Was gibt es daran zu kritisieren, dass die Machtfrage im November 1917 mit minimalen Blutvergießen entschieden wurde? Hier greift doch die alte Erkenntnis des chinesischen Kriegsphilosophen Sun Tsu:
„Der kluge Führer (…) besiegt der anderen Reich ohne langen Kampf auf dem Schlachtfeld. Mit seinen vollständigen Kräften wird er sich gegen den Regierenden im feindlichen Reich wenden, und sein Triumph wird vollkommen sein, ohne dass er einen einzigen Mann verliert. Das aber ist die Art des überlegten Angriffs.“[Sun Tsu, Über die Kriegskunst, Kapitel III, Der überlegte Angriff; Marix Verlag, Wiesbaden 2005, S. 39]
Das bürgerliche Argument des “Putsches“ richtet sich in Wahrheit gegen seine Urheber. Es sagt letztlich aus, dass die Bolschewiki die Kunst der revolutionären Kriegsführung perfekt beherrscht haben. Durch die Dialektik als wissenschaftliche Methode konnte Lenin im Herbst 1917 das schmale Zeitfenster von wenigen Tagen für eine welthistorische Gelegenheit korrekt bestimmen und schrieb so Geschichte.
4. These: Etappentheorie – Aufstand oder Volkskrieg als falscher Gegensatz
Lenin betont immer wieder, dass der Partisanenkampf ein unverzichtbares Mittel ist. Der „bewaffnete Kampf“ ist für ihn kein individueller Terror, kein Abgleiten in den Anarchismus. Er bildet die notwendige Vorbereitung, um dem Aufstand eine Massenbasis zu geben und der Partei sowie den Massen die benötigten militärischen Fähigkeiten und Kader zu verschaffen.
Im Mainstream der marxistisch-leninistischen-Bewegung hat sich in einem widersprüchlichem Prozess das genaue Gegenteil durchgesetzt: eine zeitliche Etappentheorie, die strategisch die politische Arbeit in einer ersten Phase von einer – mehr oder weniger als unvermeidlich und bedauerlich angesehenen – zweiten, kurzen militärischen Phase der Machtergreifung durch den ‚Aufstand‘ trennt.
Dagegen tritt der maoistische Volkskrieg mit dem Anspruch an, die metaphysische Trennung von Politik und Krieg zu überwinden.
Der Volkskrieg basiert auf einer Landguerilla, die Stützpunktgebiete errichtet. In geeigneten Gebieten (z.B. Gebirgen) wird ein Territorium dauerhaft gegen den Feind gehalten. Dort wird die revolutionäre Neue Macht errichtet. Deren revolutionäre Maßnahmen (z.B. Bodenreform) bilden die Basis für die weitere Ausdehnung der Partisanen. Der Volkskrieg strebt die Staatsmacht durch langfristige Verbindungen der Stützpunktgebiete an. Plakativ wird diese Strategie in die Formel gefasst: Die Dörfer kreisen die Städte ein.
Unterschiedliche maoistischen Strömungen geben dabei den Städten verschiedene Hilfsfunktionen als „Nebenkriegsschauplatz“. Das reicht von politischer Unterstützungsarbeit über logistische Unterstützung bis hin zu einer maoistischen Stadtguerilla.
Wie die imperialistischen Zentren dabei erobert werden sollen, bleibt offen. Damit handelt es sich beim Maoismus letztlich um eine räumliche Etappentheorie, die die Revolution in die unterdrückten Nationen des globalen Südens verlagert.
Die Stadtguerilla war die Antwort der revolutionären ’68er‘ auf die offensichtlichen Schwächen der kommunistischen Weltbewegung. Die revisionistische Lüge des „friedlichen Übergangs zum Sozialismus“ hatte die leninistische Revolutionsstrategie verdrängt. Gleichzeitig konnte der Volkskrieg den jungen RevolutionärInnen in den Metropolen keine befriedigende Antwort auf ihre Fragen liefern.
Die Stadtguerilla überträgt die Militärstrategie Maos (Guerillakrieg) auf die imperialistischen Zentren, ohne eine umfassende Revolutionsstrategie zu entwickeln. Wie die Massen organisiert werden sollen, die für die Eroberung der politischen Macht im Bürgerkrieg unerlässlich sind, wird entweder falsch – im anarchistisch-idealistischen Sinne der Fokus-Theorie – oder gar nicht beantwortet. Die tiefere Ursache für das Scheitern der Stadtguerilla liegt in dieser Begrenztheit.
5. These: Partei und Massenorganisationen – ein untrennbares Ganzes
Schon früh entwickelte Lenin die ‚Partei neuen Typs‘ als revolutionärer Kampforganisation. Sie führt den Klassenkampf des Proletariats politisch und militärisch, indem sie sich mittels einer Vielzahl unterschiedlichster Massenorganisationen mit der ArbeiterInnenklasse verbindet. Die leninistische Revolutionsstrategie besteht darin, eine politisch-militärische Kampforganisation zu schaffen, diese mit den Massen des Proletariats zu verschmelzen und so immer breitere Teile der unterdrückten Klassen in den Klassenkampf hineinzuziehen. Während die revolutionäre Seite so in einem langen Prozess wächst und Macht anhäuft, werden gleichzeitig der Feind und sein Staatsapparat zersetzt. Bis schließlich das Proletariat so stark geworden ist, dass es in einem günstigen Moment zum Sturmangriff übergeht und die politische Macht an sich reißt.
6. These: Die Revolution wird von den Massen gemacht – sie ist kein kommunistischer Aufstand
So innovativ die ‚Partei neuen Typs‘ auch gewesen ist, das Grundlegende an der bolschewistischen Revolutionsstrategie bleibt, dass es sich bei der sozialistischen Revolution um eine Massenaktion des Proletariats handelt. Die Partei neuen Typs dient dazu ein leitendes Zentrum für die proletarische Bewegung zu schaffen. Erfolgreich handeln aber, das können und müssen die ArbeiterInnen in einer selbständigen Aktion.
Deshalb verwendeten die Bolschewiki einen Großteil ihrer Kräfte auf die Massenagitation, die in gewissem Sinne entscheidend für den Ausgang des Kräftemessens gewesen ist. Sie haben keine Sekunde die alles entscheidende Bedeutung der Massen vergessen und sie führten mit der rastlosen Massenagitation – damals noch ohne Internet und Massenmedien – ein neues Element in die Strategie ein.
7. These: Die Führung – Lösungen finden und das Steuer festhalten
Führung ist eine notwendige Funktion jeder politischen Bewegung. Sie entsteht, wenn ein Problem auftaucht, für das eine Lösung gefunden werden muss. Da Lösungen finden etwas Kreatives ist, werden bestimmte Menschen aufgrund ihrer Charaktereigenschaften, ihres Bewusstseins usw. die Führung übernehmen. Die Erfahrung der Menschheitsgeschichte beweist, dass es im Kampf zweckmäßig ist, die Führung den fähigsten MitstreiterInnen zu übertragen. Die Fähigsten sind diejenigen, die am besten die Funktion erfüllen die Lösung zu finden, den Weg zu weisen und das Steuer festzuhalten. Das klingt wie eine Tautologie, ist aber das einzig objektive Kriterium.
8. These: Politische Kunst – einheitliche Gesamtstrategie
Die Revolutionsstrategie der Bolschewiki umfasst einen in sich schlüssigen Gesamtplan, der mit den unterschiedlichsten Mitteln auf den verschiedensten Ebenen einheitlich umgesetzt wurde.
Die Bolschewiki unter Lenins Führung waren die ersten in der Menschheitsgeschichte, die die Strategie, welche historisch gesehen von Militärs entwickelt wurde, dem Krieg entrissen und sie in die (revolutionäre) Politik eingeführt haben.
Der revolutionäre Klassenkampf ist eine Kunst, die den Regeln des Krieges folgt, auch wenn dieser Klassenkrieg mit politischen, psychologischen usw. Mitteln und mit der organisierten, bewaffneten Gewalt von Streitkräften einheitlich geführt werden muss.
9. These: In Unterlegenheit siegen
Wenn eine kluge Definition lautet, Strategie sei die Kunst Macht zu schaffen, dann besteht die revolutionäre Kunst darin, in der Unterlegenheit zu siegen!
Dies klingt voluntaristisch, ist es aber nicht. Vielmehr können wir mit Hilfe der Dialektik diese Kunst erlernen!
Der Opportunismus tritt dagegen in Form des metaphysischen Objektivismus an. Damit meinen wir ein Festhalten an starr verstandenen Kräfteverhältnissen. Diese werden selbst am Vorabend des Aufstands in der Regel für uns ungünstig sein. Schon Clausewitz formuliert den zentralen Grundsatz der Kriegswissenschaft, wonach große Erfolge im Krieg nur durch ein großes Risiko zu erringen sind.
Die nüchterne Mathematik der Abwägung der Kräfteverhältnisse wird in der realen Politik (fast) immer gegen uns stehen. Deshalb müssen wir auf die Dynamik der Situation setzen, auf Kräfte, die durch unser entschlossenes Handeln „geschaffen“ werden, d.h. die potenziell in der gesellschaftlichen Krise als Möglichkeit vorhanden sind, aber durch unsere Initiative zur Wirklichkeit werden.
10 These: Revolutionärer Klassenkrieg
Revolution wie Konterrevolution tendieren nach 100 Jahren Klassenkampf dazu, das Politische und das Militärische sowie die psychologische Ebene und die Kommunikation zur Beeinflussung der Moral der kämpfenden Seiten zu einer einheitlichen Gesamtstrategie im revolutionären Klassenkrieg zu verschmelzen.
Was wir aus der Oktoberrevolution lernen müssen, ist die philosophische Wahrheit zu begreifen, dass die Revolutionsstrategie ein einheitliches Gesamtkunstwerk darstellt. Wir dürfen die politische ‚Kunst Macht zu schaffen‘ nicht in einzelne Etappen und getrennte Bereiche zerlegen.
Praktisch orientierte GenossInnen werden jetzt vielleicht fragen, was bedeutet das konkret? Wie sieht unsere Strategie für die sozialistische Revolution in Deutschland aus?
Die Antwort darauf werden wir in keinem Buch der Weltgeschichte finden. Bücher liefern uns nur das Handwerkszeug, die allgemeinen Grundsätze der Strategie.
Wie der Weg zum Ziel unter den heutigen Bedingungen aussieht, das müssen wir – so wie Lenin und die Bolschewiki es vormachten – in der Praxis selbst herausfinden. Orientierung dafür mag uns ein dialektischer Merksatz bieten, mit dem wir unsere Ausführungen beenden möchten:
„Revolutionäre Politik heißt Krieg führen, immer und überall – auch wenn wir in unserem ganzen Leben keinen einzigen Schuss abfeuern!“