Überleben in der Braunzone – Interview mit der Gruppe „Proletarische Autonomie“

Reiseimpressionen und eine intensive Debatte über antifaschistischen Selbstschutz

Wir dokumentieren die Einführung eines Genossen:

Die Eindrücke meiner Untersuchungsreise in die südbrandenburgische Provinz sind vielfältig und verwirrend widersprüchlich. Die Aufgabe schien mir klar und einfach zu sein. Ich sollte im Gespräch mit den GenossInnen der ‚Proletarischen Autonomie'(1) herausfinden, wie in den 1990er Jahren mitten in der Braunzone eine revolutionäre Widerstandshochburg entstehen und bis heute gehalten werden konnte. Das Ergebnis war weit weniger eindeutig. Es passt nicht unbedingt in die üblichen Schemata der stark westdeutsch geprägten Politischen Widerstandsbewegung.

Die Eisheiligen dauerten dieses Jahr einen ganzen Monat von Mitte April bis Mitte Mai. Jetzt war es endlich warm geworden. Ich bin viel zu dick angezogen und schwitze. In Calau (Niederlausitz) muss ich umsteigen, sozusagen ein Bahnkonten im Nirgendwo. Die letzten 20 Kilometer Bahnfahrt führen durch unberührte Landschaften, außer einem einsamen Gehöft kann ich keine Spuren von Menschen entdecken. Wie vereinbart warten die GenossInnen am Bahnsteig. Nachdem wir uns gegenseitig identifiziert haben, ist die Begrüßung herzlich. Beim Infoladen(2) grüßen eine bunte Fassade und standesgemäß die schwarz-rote Fahne den Gast. Drinnen die erste Überraschung. Ich betrete keinen versifftes Zentrum, wie so oft im Westen. Hier ist aufgeräumt und geraucht werden darf nur vor dem Haus oder im Konzertkeller hinten. Die GenossInnen zeigen mir das Haus und wir kommen schnell in ein angeregtes Gespräch. Nach dem ersten Kaffee und der zweiten Kippe planen wir den Tag um. Es ist klar, dass wird nicht ein kurzes Interview werden, dafür gibt es viel zu viel zu reden. Am Ende werde ich nach Stunden zum Bahnhof rennen, um gerade noch den eingefahrenen Zug zu erwischen. Vor dem Einschlafen geht mir der Satz einer GenossIn durch den Kopf:

Wenn du als Revolutionär in einer national befreiten Zone lebst, macht es für deine Lebensrealität keinen Unterschied, ob die politische Staatsform noch eine bürgerliche Demokratie ist oder nicht. Das Niveau der Konfrontation wird davon bestimmt, dass du im Faschismus lebst!“

Finsterwalde – geografische Lage und revolutionäre Traditionen
KOMMUNISMUS: Finsterwalde ist eine Kleinstadt im südlichen Brandenburg an der Grenze zu Sachsen, grob gesagt auf halbem Weg zwischen Dresden und Berlin. Es gehört verwaltungstechnisch gesehen zwar zu Brandenburg. Politisch liegt Finsterwalde aber bereits in der national befreiten Zone Sachsen. Im einen Kilometer entfernten Nachbardorf Massen fanden von 1992 bis 2002 regelmäßig Nazikonzerte statt, organisiert u.a. vom führenden Kader des militanten Kameradschaftsspektrums Christian Worch. Anfang der 90er Jahre gab es hier sogar eines der größten bis dato stattgefundenen faschistischen Festivals mit mehr als 1.500 Besuchern und Szenegrößen wie der Band Screwdriver.(3) (6) Finsterwalde scheint auf den ersten Blick also keineswegs dafür geeignet zu sein, dass ausgerechnet dort eine bundesweit einmalige schwarz-rote Widerstandshochburg in der Braunzone entstehen kann. Und doch ist genau dies passiert. Um zu verstehen, wie es zu dieser Entwicklung gekommen ist, muss man sich mit den Besonderheiten der geografischen, sozialen und politischen Lage auseinandersetzen. Vielleicht fangt ihr mal damit an, etwas über eure Stadt zu erzählen?
Proletarische Autonomie: Wenn du die Entwicklung in Finsterwalde verstehen willst, spielen die geografische Lage und die Kontinuität eine große Rolle. Die nächsten Städte sind mit Berlin 120 km, Dresden und Leipzig jeweils 90 km und Cottbus 60 km entfernt. Das sind hier auf dem Land schon erhebliche Entfernungen. Du kannst du dann zwar mal am Wochenende dort alternative Konzerte, Demos oder Veranstaltungen besuchen. Aber man kann sich z.B. bei Stress mit den Faschos nicht auf Unterstützung aus den Großstädten verlassen weil die zu weit weg sind. Allein durch diese Lage ist man also gezwungen, auf die eigenen Kräfte gestützt, etwas aufbauen, wenn man nicht untergehen will.
Das ist dann auch ein Unterschied zu Städten im Speckgürtel wie z.B. Potsdam oder Königswusterhausen. Von dort gehen Leute, die sich politisieren, in der Regel nach Berlin. In Finsterwalde bleiben sie eher. Das hängt auch damit zusammen, dass wir hier keine Uni haben. Die Leute sind in der Regel proletarisch geprägt, bleiben daher eher vor Ort. Es zieht sie nicht aus Region weg. Man kann daher kontinuierlicher mit Menschen arbeiten und eine Langzeitwirkung der politischen Arbeit etabliert sich.
KOMMUNISMUS: Diese Kontinuität reicht bis Anfang der 1990er Jahre zurück oder fängt sie noch früher an?
Es kommt natürlich darauf an, wie weit du in der Geschichte zurückgehen möchtest. Aber wir würden schon mit der Weimarer Republik beginnen. Es gab damals eine für die Größe der Stadt relativ starke Massenbasis für Arbeitersportvereine und den Rotfrontkampfbund, so dass Antifa-Selbstschutz dort gut verankert gewesen ist. Die letzte Demo der Arbeiterbewegung fand denn auch tatsächlich am 1. Mai 1933 statt. Sie wurde von den Faschisten nicht wirklich behindert. Erst danach kamen die Verbote, Massenverhaftungen und die Zersplitterung der Strukturen durch den faschistischen Terror und die Notwendigkeit, sich in die Illegalität zurückzuziehen. Es gab aber während der ganzen Zeit des Faschismus wohl noch Strukturen in den Betrieben.
Zu Tradition roter PartisanInnen gehört auch die Tatsache, dass 24 InternationalistInnen aus Finsterwalde in den Internationalen Brigaden im spanischen Bürgerkrieg gekämpft haben. In einer Kleinstadt, wo jede(r) jede(n) kennt, ist so etwas nicht einfach Geschichte. Es gibt persönliche Kontinuität und revolutionäre Traditionen, die durch die Familien weitergegeben werden. So war der Großvater einer Genossin im RFB und durfte in der Wehrmacht daher keinen Dienst an der Waffe leisten. Nach der Befreiung wurde er dann deswegen als Volkspolizist eingesetzt.
Soziale Lage und Jugendkultur nach der Wiedervereinigung
KOMMUNISMUS: Welche Rolle haben die Wiedervereinigung und die nachfolgende Deindustrialisierung für die Eskalation in den 1990er Jahren gespielt? Wie war die soziale Lage damals?
PA: In der Spitze in den 1980er Jahren hatte Finsterwalde mal 24.000 EinwohnerInnen, heute sind es noch 16.000. Zeitweise war es bundesweit die Kleinstadt mit der höchsten Arbeitslosenquote, die Jugendarbeitslosigkeit lag in der Spitze bei 30%. Die Jahrgänge 1979 bis 1985 waren die geburtenstärksten in der DDR. Es gab daher eine große Jugendkultur in den 90er Jahren im Alter zwischen 15 und 20 Jahren. Die ganze staatliche Fürsorge, von Krippen und Kitas bis z.B. zur  Förderung in Sportvereinen, ist 1990 für die Jugendlichen schlagartig weggebrochen. Es gab einen enormer Umbruch in den Familien durch die Treuhand: Die Arbeitslosigkeit explodierte; von 10.000 Industriearbeitsplätze in Finsterwalde zu DDR-Zeiten sind heute noch ca. 1.000 übriggeblieben. Die gigantische Deindustrialisierung sowie die kapitalistischen Privatisierungen im sozialen, gesundheitlichen und kulturellen Bereich hatten natürlich enorme soziale Auswirkungen. Die Klassenverhältnisse waren krass zugespitzt. Aufgrund dieser Situation existierte eine Atmosphäre aus Resignation,Verzweiflung und Ohnmacht. Das Gefühl, nichts mehr zu verlieren zu haben führte zum Aufbruch, Ausbruch und einer rebellischen Stimmung in großen Teilen der Jugend.
 
KOMMUNISMUS: Hatte dies auch politische Auswirkungen? Wie hat der Staat in diesem sozialen Pulverfass agiert? Im benachbarten Cottbus wurde ja zur Beruhigung der wie sie sagen „Rechts-Links-Gewaltspirale“ viel auf Sozialarbeit gesetzt, war das hier ähnlich?

Seit Wiedervereinigung gab es nur konservative Stadtregierungen, erst 16 Jahre FDP, dann abgelöst von CDU. Dem stand in etwa gleicher Stärke die Linkspartei gegenüber, was politisch die sehr polarisierten Verhältnisse in der Stadt im Parlament wiedergespiegelt hat. Die Konservativen hatten nichts für Jugend übrig. Es gab keine Förderung oder Sozialarbeit z.B. durch kommunale Jugendzentren. Das hatte aber auch seine guten Seiten, denn so konnte sich eine linke und rebellische Jugendkultur entwickeln. Der Staat hat eher auf Polizei gegen auffällige proletarische Jugendliche gesetzt als auf Sozialarbeit. Dazu muss man wissen, dass es bereits in den 80er Jahren eine große Punkszene in Finsterwalde gegeben hatte. Das war ja in der DDR keineswegs Standard. Die Entwicklung Anfang der 90er Jahre lief dann ähnlich wie bei der Antifa Genclik, die sich aus Jugendgruppen rekrutiert hat, die aus verschiedenen proletarischen Milieus stammten.(4) Die Gewaltfrage musste gar nicht so debattiert werden, wie das in vielen politischen Kreisen heute üblich ist. Die Polarisierung war so stark, dass 80% der Jugendlichen links/rechts waren und nur noch 20% unpolitisch. Bezogen nur auf Finsterwalde waren Linke und Rechte etwa gleichstark.

 
Die brutalen Kämpfe in den 90er Jahren

KOMMUNISMUS: Die Kräfteverhältnisse in der gesamten Region sprachen ja gegen die revolutionäre Linke. Wie wurde Finsterwalde dann trotzdem gehalten?

PA:  Damals waren wir in autonomen Gruppen organisiert, die sowohl kommunistisch, anarchistisch wie sub-kulturell unterwegs waren. In den 90ern wurde die Machtfrage von links gewonnen, indem man bereit war in der Gewaltspirale einen Schritt weiter zu gehen als die Faschos. Das ganze war ein offener und auch ein öffentlicher Krieg.

KOMMUNISMUS: Inwiefern öffentlich?

PA:  Die Eskalation hat sich von 90 bis 95/96 durchgezogen. Ein Beispiel, meiner Erinnerung nach war das 94, ich war damals noch Schüler: 30 vermummte Leute laufen durch die Plattenbauten; wir sind aus Neugierde hinterher. Es gab ein Spiel im Fußballstadium, wo sich 120 bis 150 Neonazis und 300 Autonome, durch Bullen getrennt, gegenüberstanden. Ein regelrechter Schlagabtausch durch Wurfgeschosse usw. hat sich im Stadium entwickelt, direkt im Plattenbaugebiet und Bevölkerung hat wie bei Volksfest zugeschaut. Die Polizei hat dann einen Reisebus gerufen, um Situation zu entspannen, und die Neonazis abzutransportieren, die wegen ihrem Verein, der spielte, angereist waren. Nach 150 Metern hatte der Bus Totalschaden, alle Scheiben waren raus und mehrere Mollis wurden gegen ihn geworfen. Das war alles total öffentlich. 

KOMMUNISMUS: Wie weit ging die militärische Eskalation?
PA: Es gab damals einen großen Militärflugplatz der Sowjets, dieser wurde 1992 freigegeben. Ältere GenossInnen erzählten uns, dass die damals abziehenden Rotarmisten Waffen für wenig Geld vertickten. Diese wurden dann auch eingesetzt. 
Gefühlt war es für beide Seiten ein Überlebenskampf. Die linke Szene war nicht bereit zu kapitulieren, wie es im Rest von Süd-Brandenburg mehr oder weniger passiert ist. Es gab auch Morde: In Senftenberg, was wenige Kilometer weg von hier ist, wurde der linksorientierte Genosse Timo Kählke von der Wehrsportgruppe „Werwolf – Jagdeinheit Senftenberg“ mit Kopfschuss im Auto hingerichtet und das Auto danach angezündet. Das war am 12. Dezember 1992.(5)
KOMMUNISMUS: Welche Rolle spielte die Sozialstruktur einer Kleinstadt für die Konfrontation und ihren Ausgang?
PA: Wenn man in einer Kleinstadt wie Finsterwalde politische Ansicht vertritt und der Gegner das weiß, hat man Möglichkeit wegzuziehen, die politische Position aufzugeben oder den Kampf zur Erhaltung bis zum letzten Punkt durchzuziehen.
Der Standard in 90er Jahren war es, Türen einzutreten und Faschos in ihren Wohnungen zu überfallen. Bestimmte faschistische AktivistInnen/Kader, die sich vor Ort entwickelt hatten, mussten dann wegziehen. Die Machtfrage hat sich dann nochmal zwischen 1999 und 2003 gestellt(6), wo gezielt Fahrzeuge von Kadern angezündet wurden. Generell wurde versucht, einen Angstraum für Neonazis zu schaffen. Das bedeutete, dass sie im Alltag, ob nachts oder am Tag, von Gruppen oder durch die Selbstinitiative einzelner Personen angegriffen wurden, auch in aller Öffentlichkeit, wenn Hunderte drumherum standen (z.B. bei Stadtfesten etc.). Auch gab es organisierte Stadtpatrouillen und militante Spaziergänge. Das damalige Neonazi Bekleidungsgeschäft „Magnumania“ (was unter der Ladentheke die örtliche Naziszene mit Waffen, Propaganda und illegalen Tonträgern versorgte) bekam dann so um 2000 eine ordentlich feurige Abreibung und verschwand kurze Zeit später.
Das hat von 1990 bis in 2000er rein, wenn nicht gar bis heute für gewissen Ruf gesorgt, dass man in Finsterwalde als Neonazi nicht lange unerkannt bleibt, und das es eine schnelle Mobilisierungsstärke der Linken gibt.
Dadurch wurde im öffentlichen Bewusstsein eine linke Hegemonie erstritten. Es gab und gibt Neonazis, aber die hatten keine Öffentlichkeit. Daher wurde soziale Frage (z.B. Arbeitslosigkeit) immer von links besetzt.
Auch heute gilt, so etwas wie Faschisten will man in der Stadt nicht haben. Die Leute werden diffus links anpolitisiert. Auch wenn sie aus dem Drogenmilieu oder der Kleinkriminalität kommen, auch da sind gewisse Standards etabliert. So spielen Rocker und rechte Türsteher im örtlichen Drogenhandel keine Rolle, der wird eher von „links-alternativen“ Dealern kontrolliert.
Nazis können in Finsterwalde bis heute nichts im größeren Stil machen. Es gibt mal Auseinandersetzungen, aber in der Regel ziehen Nazis den Kürzeren. Wenn Nazis „Grenzen überschreiten“ wird ein Exempel statuiert um das Verhältnis wieder herzustellen. Bezogen auf die Öffentlichkeit spiegelt sich dieses Verhältnis wie folgt wieder: ca. 10 Fascho-Sticker auf 1000 linke Aufkleber. 
 
Umbau des Polizeiapparats und staatliche Repression
 
KOMMUNISMUS: Wir können nicht glauben, dass Polizei und Justiz einfach zugeschaut haben, wie die Faschisten von der Straße weggehauen wurden? Wie war die staatliche Reaktion auf diese Zuspitzung? Kam es nicht zu massiver Repression?

PA: Anfang bis Mitte der 1990er Jahre hatte man einen generell überforderten Polizeiapparat gehabt. Der Umbau der Volkspolizei durch Westchefs, die neu eingesetzt wurden, war noch nicht abgeschlossen. Viele alte DDR-VolkspolizistiInnen hatten durchaus ein antifaschistisches Grundverständnis und haben manchmal gezielt weggeschaut bei den Linken. Dies gilt für einzelne Polizisten, Die Polizei insgesamt versuchte immer öffentliche Orte von Jugendlichen zu säubern, damit keine Treffpunkte entstehen. Es gab immer wieder Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht. Das ging bis zu Misshandlungen auf der Wache hin, wo Leute angebunden und verprügelt wurden. Auch die Dienstpistole war bei Räumungen aber auch kleineren Auseinandersetzungen wie z.B. Ruhestörungen ganz schnell mal zur Hand.

Andererseits kannte man auch die Orte, wo Polizisten und ihre Familien lebten, was dazu geführt hat, dass die örtliche Polizei bestimmte Grenze eingehalten hat. Am Höhepunkt der Auseinandersetzungen gab es brennende Reifenbarrikaden, ausgebrannte Fahrzeuge, geplünderte Geschäfte in der Stadt und Molotows gegen die Polizeiwache.

Auf den Straßen hat der Krieg getobt, was auch ältere StreifenpolizistInnen heute noch so sagen, das wollen sie nicht mehr erleben.

KOMMUNISMUS: Hört sich fast nach so etwas wie einer Art Doppelmacht in der Provinz in der Umbruchsituation Anfang der 90er Jahre an. Aber diese tit for tat-Strategie (Wie du mir, so ich dir) kann ja nicht ewig funktioniert haben?

PA: Es hat tatsächlich bis Anfang der 2000er Jahre gedauert. Aber dann war der Umbau des Repressions- und Polizeiapparats auch vor Ort abgeschlossen. Der Staatsschutz hat GenossInnen bei Verhören dann ganz offen gesagt: „Wir haben jetzt die gesetzlichen Befugnisse, die personellen Ressourcen und die Ausbildung, um euch fertig zu machen.“
Es gab auch schon in den 90er Jahren massivst Prozesse und Knaststrafen. Dadurch hat sich die Zahl der Leute Mitte bis Ende der 90er Jahre halbiert. In den 90er Jahren haben Nazis in der Regel keine Anzeigen gegen Linke gemacht, ab 2000 wurde dies ihre Strategie, weil sie wussten, dass viele Linke Bewährung hatten. Aber die Zerschlagung der Strukturen ist der Gegenseite nicht gelungen.
 
Massen- und Basisarbeit in der Provinz

KOMMUNISMUS: Bisher habt ihr ja vor allem über den Antifa-Selbstschutz gesprochen. Welche anderen linken Strukturen wurden denn aufgebaut?

PA: In 25 Jahren gab es rund 20 besetzte Häuser und Projekte in Finsterwalde. Viele wurden geräumt, einige haben sich selbst aufgelöst, aber es blieben mehr übrig als in anderen Städten Süd-Brandenburg. Sonst überall sind die Strukturen größtenteils eingeschlafen, hier haben sie sich gehalten. 
KOMMUNISMUS: Was habt ihr anders gemacht als vergleichbare Strukturen in anderen Städten?
PA: Durch die Kleinstadt wird politische Auseinandersetzung ganz schnell persönlich. Das führt dazu, dass eine Beteiligung am Konflikt „links gegen rechts“ nicht zwangsläufig mit politischen Analysen verbunden ist. 
Die autonomen Gruppen haben keine öffentliche politischen Aktionen wie Demos gemacht, es gab immer die direkte Aktion (Konfrontation mit Faschos oder Polizei) als Kampfform. Dies führt u.a. dazu, dass Selbstschutzstrukturen einschlafen, wenn es keine faschistische Offensive gibt. 
 

KOMMUNISMUS: Nach dem letzten gescheiterten Versuch der NPD 2010 haben die Faschos dann ja um Finsterwalde einen Bogen gemacht und euch 7 Jahre lang relativ in Ruhe gelassen. Den üblichen Auflösungstendenzen habt ihr eurer Konzept einer anarcho-kommunistischen Struktur entgegengesetzt. Wie sah eurer Konzept Antifa aus und wie hat es sich vom bundesweiten Standard unterschieden?

PA: Noch vor der NPD sah die DVU Finsterwalde als ihr Einzugsgebiet. Mit der Zerstörung ihrer Parteizentrale 2006 war ihr Standort in der Stadt Geschichte.(7)
Die NPD hat 2007 erstmals begonnen, hier zum Beispiel mit Mahnwachen, öffentlich auf sich aufmerksam zu machen. Bis 2010 waren sie mehrfach in Finsterwalde , ihre Anwesenheit wurde jedes mal von großen Protesten vieler Menschen aus der Stadt begleitet. Dieser Protest war 2010 besonders militant, mit dem Resultat, dass sie seitdem die Finger von Finsterwalde ließen.(8)
 
Zur Frage nach der Struktur: Ab 2004 entstand die Idee, mit dem Konzept Antifa dem ganzen einen kontinuierlichen Rahmen mit Inhalt und Struktur zu geben. Unser eigenes Wesen der autonomen Antifa Finsterwalde(9) war geprägt durch vorangegangenen Erfahrungen. Aufgrund des kämpferischen Charakters gab es nie Interesse an der Strategie, ein Bündnis mit bürgerlichen Kräften einzugehen, wie es beim Aufstand der Anständigen bundesweit vielfach zum Standard wurde. Unser Eigenbild war damals bezogen auf das Konzept des revolutionären Antifaschismus und eher angelehnt an die antifaschistischen Partisanenverbände. Selbstorganisiert und offensiv, antiparteilich und staatsfeindlich, hinter den feindlichen Linien.
Das geht einher mit einem Antifa-Begriff, der Faschismus in den Mittelpunkt rückt, aber nicht in Form von NS, sondern Faschismus als Wertigkeitseinordnung, die sich auch in Staat, Polizei und Militär findet. Wir verstehen Antifa bis heute als Organisationsmodell, das sich selbst ganz klar als anarcho-kommunistisch definiert. Wir verstehen die schwarz-rote Antifafahne sehr tiefgehend als Absage an diesen Staat und für eine alternative Gesellschaftsentwicklung fernab von Kapitalismus und Imperialismus. Es gilt Faschismus als Extremform des Kapitalismus zu verstehen, also zwei Brüder mit gleichen Geiste. Aus diesem Verständnis heraus entwickelte sich ab 2008 aus dem ursprünglichen Antifa Organisationskonzept eine sozialrevolutionäre Struktur, die deutlicher die Klassenverhältnisse und Gesellschaftswidersprüche in den Mittelpunkt rückte, wo der antifaschistische Selbstschutz als Teil unserer Struktur weiter besteht.
 
KOMMUNISMUS: Neben dem politischen Selbstverständnis als anarcho-kommunistisch, habt ihr dann auch eine Basisarbeit entwickelt, aus der sich die Struktur reproduziert hat.
 
PA: Viele autonome Gruppen haben die Struktur- und Basisarbeit vernachlässigt, was zum Scheitern von revolutionärer Politik durch Auflösung der Strukturen geführt hat.  Durch die Entfernung der Großstädte, der verweigerten Beteiligung an Bündnissen und bundesweiten Debatten, konnten wir ein eigenes und autonomes Profil entwickeln. Was dann zur Entstehung der „Organisierten AnarchistInnen“ führte. Eine plattformistische Organisation, revolutionär strukturiert nach festen, klaren Mustern und einem Fokus auf Basis und Strukturarbeit. 
Wir haben dem Trend zur Selbstauflösung in Finsterwalde eine Jugendarbeit und Stadtteilarbeit entgegengesetzt. Vor allem in dem Kollektivität gestärkt und gemeinsame Alltagsrealitäten geteilt wurden, um daraus Kämpfe zu entwickeln. So hat man eine neue Generation in der Jugend gewonnen. Natürlich sind einzelne immer wieder durch Lohnarbeit und bürgerliche Realität aus Bewegung rausgegangen, aber dem setzen wir kollektive Verantwortung entgegen. Mit den „Organisierten AnarchistInnen“(10) sind wir bei der Basis sehr hoch eingestiegen. Unsere Erwartungen waren zu hoch, was durch kollektive Prozesse letztendlich 2014 zur Auflösung und Umstrukturierung führte.Aus dieser Entwicklung gründete sich 2016 die „Proletarische Autonomie“ als reine Basisgruppe.
Ziel der Basisarbeit ist der Versuch, außerhalb von Szenen eine gemeinsames kollektives Bewusstsein zu entwickeln, Menschen zu organisieren, zu emanzipieren und ihnen die Möglichkeit zu bieten, zu partizipieren in einer ansonsten entmündigenden Gesellschaft.
Die nächste Bereitschaftspolizei ist 60 km entfernt. Das stellt einen taktischen Vorteil bei nicht angemeldeten Aktionen dar.(11) Aufgrund der jahrezehntelangen kontinuierlichen Präsenz linksradikaler Politik und der Basisarbeit im Stadtteil können wir auf eine direkte Mobilisierung von Teilen der Massen ohne öffentliche Werbung setzen.
 
KOMMUNISMUS: Habt ihr euch nur über klassische Jugendarbeit reproduziert oder konntet ihr euch tatsächlich in der Arbeiterklasse verankern?

PA: Militante Politik wurde hier öffentlich , u.a. durch eine Vielzahl bekannter Personen, die auf Grund direkter Aktionen verurteilt worden sind und militanter Politik so ein „Gesicht“ gaben. Leute, die sich für diese Politik interessieren, finden so einen Ansprechpartner, ohne, dass sie in einer Szene sein müssen. Das läuft über die „kommunale Ebene“, sprich, soziale Beziehungsgeflechte ermöglichen es, antikommunistische und antianarchistische Vorurteile aufzubrechen. Militante sind dann plötzlich nicht mehr anonyme steinewerfende Chaoten, sondern die Person XY, die als ganz normaler Mensch mit anderen Ansichten wahr- und ernstgenommen wird (z.B. auf Geburtstagen usw.).

Die Jugend redet mit den Älteren und diese mit ihr. Vorausgegangene Erfahrungen können reflektiert und aufgearbeitet werden.
So kann man Menschen an einem persönlichen Nerv treffen, der integraler Bestandteil ihrer Realität ist, z.B. bei gemeinsamen Kampf mit Nachbarn. So entstehen auch Kontakte mit Menschen aufgrund der proletarischen Klassenlage, die ähnliche Interessen haben wie man selbst. Es gilt Veränderungen bei Einzelnen hervorzurufen durch direkte Aktionen, die auf Sympathien treffen. Die Erfahrbarkeit ist gegeben, wenn MieterInnen von Zwangsräumung bedroht sind und man den Menschen unterstützend bei Seite steht und bei ihren Alltagsproblemen hilft. 
 
 
Aktuelle Lage und Ausblick
 

PA: Die Hauptbedrohung in Finsterwalde heute sind Polizei, Staat und Justiz (und nicht wie in anderen ostdeutschen Städten die Neonazis) und auf anderer Seite ein massives Drogenproblem. Auch wenn es viel Positives gibt, ist die Lage alles andere als ein Paradies.

Wir haben den Status Quo in den 2010er Jahren von Kleinstadt mit gewisser linken Hegemonie gehalten, wo es nicht schick ist, als Rassist oder Neonazi zu gelten. Und wo gewisse linke Strukturen kontinuierlich über 30 Jahre bestanden haben und bestehen.
Ein Problem heute ist, dass sich die nachkommende Jugend ins „gemachte Nest“ setzen kann. Sie genießen die Freiräume, z.B. das man ohne Angst als MigrantIn oder Linke(r) durch die Stadt laufen kann. Aber sie müssen nicht dafür kämpfen. Sie haben nicht persönlich erlebt, wie hart der Kampf in den 1990er Jahren gewesen ist, mit dem das erreicht wurde. Bei alternativen Strukturen besteht somit auch die Gefahr, dass sie einfach einschlafen und in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Wir halten dagegen.
 
Fussnoten
(1) Proletarische Autonomie (offiziele Homepage)
(2) Infoladen Black Mask Finsterwalde (seit 2014)
(3) Aufmarsch der „Nationalen Offensive“ in Dresden und faschistisches Festival mit mehr als 1500 Besuchern in der Umgebung von Finsterwalde am 03. Okt. 1992 ( Antifaschistisches Infoblatt 20 / 5.1992 )
(4) „Wir müssen unsere Erfahrungen aufarbeiten“( Interview mit Kemal, Gründungsmitglied der Berliner ImmigrantInnengruppe Antifasist Gençlik ) arranca #4: Bis hierher und nicht weiter (Juli 1994)
(5)  Die Wehrsportgruppe „I.Werwolf-Jagdeinheit Senftenberg“ und der Mord an dem 27-jährigen Senftenberger Timo Kählke ( Opferperspektive Brandenburg )
(6) Reportage „taz“ 04. nov. 2000 Nazikonzerte seit 1992, Überfall von Neonazis in Finsterwalde im Jahr 2000
(7) Drei DVU-Büros in zwei Ta­gen ver­wüs­tet( 25.nov.2006, Inforiot)
(8) Sprengkörper explodiert bei NPD-Demo in Finsterwalde ( 28.jun.2010, Lausitzer Rundschau)
NPD Kundgebung in Finsterwalde massiv gestört
(9) Polizei konfiziert Gedenkkranz wegen der Verunglimpfung des Staates, Verfahren gegen die Autonome Antifa Finsterwalde ( 28.jan.2005)
(10) Organisierte AnarchistInnen Finsterwalde ( offiziele Homepage bis 2014)
(11) Spontandemonstration gegen Rassismus am 23.jan 2015 und Kranzniederlegung zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27.jan 2015
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