oder: Warum Bücher lesen für den Kommunismus nicht reicht
Sicherlich haben sich viele von uns schon einmal gefragt, warum es immer wieder KommunistInnen gibt, die die Seiten wechseln und sich gegen ihre eigene Klasse wenden. Warum verlassen engagierte und theoretisch bewanderte AktivistInnen die Bewegung, wollen mit niemandem mehr etwas zu tun haben und kämpfen als Politiker oder Manager fortan für die Gegenseite, für den bürgerlichen Staat und den Kapitalismus? Warum arbeiten manche mit der Polizei zusammen, warum werden andere kriminell oder wenden sogar offene Gewalt gegen ihre ehemaligen GenossInnen an?
Schauen wir uns ein recht bekanntes Beispiel aus der Geschichte an: In den 1970er und 80er Jahren gab es in Westdeutschland eine im Vergleich zu heute relativ große revolutionäre und kommunistische Bewegung mit vielen verschiedenen Parteien, Organisationen und Gruppen, die starken Zulauf durch die Studierendenbewegung nach 1968 hatte. Eine nicht unbeträchtliche Anzahl damaliger Mitglieder dieser Organisationen hat später Karriere im Herrschaftssystem der Bourgeoisie gemacht: Manche haben gut bezahlte Posten im Funktionärsapparat der DGB-Gewerkschaften erhalten, manche sind zu den „Grünen“ gegangen, einige wurden gar Minister1. Nicht ganz unähnlich verhielten sich in Ostdeutschland zahlreiche frühere SED-Kader nach 1989, wobei hier die PDS ein wichtiges Auffangbecken bildete.
Was war das Problem? Lag es nur an der fehlerhaften ideologischen Ausrichtung dieser Organisationen, am Revisionismus, Maoismus, Dogmatismus? Das spielt sicherlich eine wichtige Rolle, reicht aber nicht aus, um etwas tiefergehend zu erklären, warum Menschen, die durch aktive Mitgliedschaft in einer Organisation gezeigt haben, dass sie den Kapitalismus und den bürgerlichen Staat ablehnen – was wir hier einmal unterstellen – später das genaue Gegenteil tun.
Hatten sie den Marxismus bloß nicht richtig verstanden? Fehlte es ihnen an Wissen?
Fragt man „geläuterte Ex-Kommunisten“ nach den Gründen für ihren Werdegang, verweisen manche tatsächlich auf ihr Wissen: Als Jugendliche hätten sie sich für den Marxismus begeistert, doch mittlerweile seien sie schlauer und hätten verstanden, dass er dogmatisch ist und die Welt ganz anders funktioniert2. Getreu dem Spruch: Wer mit 20 kein Kommunist war, habe kein Herz, und wer mit 30 immer noch einer sei, habe keinen Verstand…
Merkwürdig nur, dass viele spätere Überläufer in ihrer aktiven Zeit in der Bewegung durchaus weitgehende – und richtige – Kenntnisse in politischer Ökonomie, materialistischer Dialektik und anderen Gebieten des Marxismus-Leninismus erworben hatten. Mangelndes Wissen kann man den Studienzirkeln der Nach-68er nicht gerade vorwerfen! Überzeugende Widerlegungen des wissenschaftlichen Sozialismus aus den Reihen dieser Leute sind auch nicht bekannt – also kann vorhandenes oder nicht vorhandenes Wissen über den Marxismus kaum das entscheidende Kriterium gewesen sein, das für ihr Überlaufen ausschlaggebend gewesen wäre.
Wissen, auch fortgeschrittenes Wissen, ist also offenbar nicht alles. Viel entscheidender ist das Bewusstsein! Doch was ist der Unterschied zwischen Wissen und Bewusstsein, wie verhalten sich diese beiden Begriffe zueinander?
Das menschliche Bewusstsein
Nach der Definition des in den 70er Jahren von Georg Klaus und Manfred Buhr in der DDR herausgegebenen „Philosophischen Wörterbuchs“ bezeichnet „Bewusstsein“ die „spezifisch menschliche ideelle Widerspiegelung der objektiven Realität vermittels des Zentralnervensystems. Das Bewußtsein umfasst die Gesamtheit der sinnlichen und rationalen Widerspiegelungsformen sowie den Bereich der menschlichen Emotionen und des Willens, d.h. die gesamte psychische Tätigkeit des Menschen.“3
Im philosophischen Kampf mit den Strömungen des Idealismus haben die Marxisten das korrekte Verhältnis zwischen Materie und Bewusstsein herausgearbeitet und dabei das Verständnis des Bewusstseins immer weiter vertieft: Die Quelle des Bewusstseins ist nichts Übernatürliches, keine immaterielle Seele. Das Bewusstsein ist eine natürliche Tätigkeit des menschlichen Körpers und setzt die entsprechenden Organe, allen voran das Gehirn, voraus. Das Bewusstsein ist in der Lage, die objektiv existierende materielle Welt korrekt widerzuspiegeln. Wir Menschen sind daher in der Lage, uns Wissen über die Welt anzueignen, sie zu verstehen und sie aufgrund unseres Verständnisses zu verändern. Die Herausbildung des Bewusstseins war historisch eng verknüpft mit der Entwicklung der menschlichen Arbeit. Das Bewusstsein ist kein ungeordneter und zufälliger Strom von Reizen und Gedanken, sondern hat eine Struktur. Es organisiert sich nach Gesetzmäßigkeiten, die wiederum durch das Bewusstsein erkennbar sind. Das sind nur einige der zentralen marxistischen Erkenntnisse über das menschliche Bewusstsein.
Das reine Wissen ist dabei nicht alles: Die „gesamte psychische Tätigkeit des Menschen“ umfasst vielmehr unsere Wahrnehmungen in Form von Sinnesreizen, die wir wiederum zu Anschauungen und dann zu Begriffen, Urteilen und Schlüssen weiterverarbeiten, aber ebenso unsere Gefühle und unseren Willen.
Unser „Wissen“ bezieht sich dabei auf das begriffliche Denken, die Kenntnis von Begriffen und Aussagen und ihres Verhältnisses zueinander sowie zur Anschauung: Wenn wir die marxistische politische Ökonomie studiert haben, wissen wir, was der Begriff „Wert einer Ware“ bedeutet und in welchem Verhältnis er zu anderen Begriffen wie dem „Mehrwert“, der „Ausbeutung“, der „Profitrate“ steht, was das „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“ aussagt usw. Diese Wörter und Aussagen und ihre Zusammenhänge sind in unserem Gehirn „abgespeichert“ und wir können uns darunter etwas „vorstellen“, haben etwa Bilder dazu vor Augen. Je mehr praktische Erfahrung wir mit den Gegenständen eines Wissensgebietes haben, z.B. weil wir selbst im betrieblichen Rechnungswesen tätig sind und daher ständig mit bestimmten wirtschaftlichen Kennzahlen hantieren, je besser also Theorie und Praxis, Begriffe, Aussagen und Anschauungen miteinander vernetzt sind, desto tiefer wird unser Verständnis von diesem Gebiet und desto sicherer werden wir uns darin bewegen. Hier finden wir erste Hinweise auf das Wechselverhältnis des Wissens mit den anderen Tätigkeiten des Bewusstseins.
Wissen, Wahrnehmung und Gefühle
Der Blick auf die verschiedenen Tätigkeiten des Bewusstseins und eben dieses Wechselverhältnisses des Wissens mit den anderen Tätigkeiten, insbesondere Gefühlen und Willen, ist für die gesellschaftliche Praxis und für die Politik in vielerlei Hinsicht relevant.
Dazu gehört z.B. die Frage, inwiefern unser Wissen durch unsere Wahrnehmung begrenzt wird, die wiederum von unserer Gefühlslage geprägt sein kann: Wenn wir unter Stress stehen, nehmen wir Situationen und Problemlagen anders wahr als im Zustand der Entspannung. Diese Art der Wahrnehmung prägt wiederum unsere Entscheidungen.
Unsere Wahrnehmung ist auch durch unsere Stellung in der Klassengesellschaft geprägt. Wir können sehr schlau, d.h. reich an Wissen sein und trotzdem im Hinblick auf manche Probleme das sprichwörtliche „Brett vor dem Kopf“ haben. Ein klassisches Beispiel ist der antike griechische Philosoph Aristoteles, der auf vielen wissenschaftlichen Gebieten teilweise Maßstäbe für Jahrhunderte gesetzt hat. Ausgerechnet bei seiner Analyse des Warenwerts blieb er jedoch stecken – und zwar an dem Punkt, an dem er die Schlussfolgerung hätte ziehen müssen, dass auf dem Markt gleiche menschliche Arbeiten ausgetauscht werden. Das aber hätte bedeutet, dass die Arbeit von Sklaven und Freien gleichen Wert produziert – was in der griechischen Sklavenhaltergesellschaft undenkbar war!4 Aus heutiger Sicht erscheint dieser blinde Fleck in Aristoteles‘ Erkenntnis absurd. Aber das Beispiel ist sehr aktuell, wenn wir die Unterdrückung von Frauen in der heutigen Gesellschaft bis hinein in die revolutionäre Bewegung betrachten: Viele männliche Genossen können heute hervorragend gebildete Marxisten und fähig sein, „aus dem Effeff“ Vorträge über die Lage der Frau im Kapitalismus zu halten – und dennoch gar nicht wahrnehmen, dass sie sich zu Hause, in der eigenen Beziehung selbst als Unterdrücker verhalten, Frauen in der politischen Auseinandersetzung nicht ernst nehmen, ihnen ins Wort fallen, sich sozial unmöglich aufführen u.v.m. Eingespielte Rollenbilder und die dahinter stehenden Machtverhältnisse in Frage zu stellen erscheint vielen ebenso undenkbar wie Aristoteles die Vorstellung, dass auch Sklaven Menschen sind.
Emotionale Intelligenz
Gerade das letzte Beispiel leitet zu einem weiteren wichtigen Gebiet der Beschäftigung mit dem Bewusstsein über, nämlich der sogenannten „emotionalen Intelligenz“. Dabei handelt es sich um einen Begriff, der zu Beginn der 1990er Jahre von amerikanischen Psychologen geprägt wurde und u.a. durch ein gleichnamiges Sachbuch von Daniel Goleman kurze Zeit später einem breiteren Publikum bekannt gemacht wurde. Emotionale Intelligenz beschreibt die „Fähigkeit, eigene und fremde Gefühle (korrekt) wahrzunehmen, zu verstehen und zu beeinflussen“5 und überschneidet sich mit älteren psychologischen Begriffen wie der Empathie oder der sozialen Kompetenz.
Es ist kein Zufall, dass dieses Gebiet von der bürgerlichen Psychologie seit etwa 25 Jahren verstärkt erforscht wird und seitdem Eingang in Management-Seminare und die betriebliche Praxis gefunden hat: Auf der heutigen Stufe der technologisch fortgeschrittenen, kapitalistischen Produktion und Arbeitsorganisation besteht der Arbeitsprozess immer weniger aus einer sehr schematischen Trennung von Kopf- und Handarbeit, dem einfachen Bedienen von Hebeln und der klassischen Befehlshierarchie von oben nach unten mit der bevorzugten Kommunikationsform des Herumbrüllens. Stattdessen müssen in der Industrie komplexe Fertigungsprozesse von qualifizierten LohnarbeiterInnen überwacht und optimiert werden, was aber nicht nur ein fortgeschrittenes Wissen, sondern eben auch in verstärktem Maße Eigenschaften wie Teamfähigkeit und Selbstreflexion erforderlich macht. Angefangen bei Toyota in Japan haben kapitalistische Firmen in den 1990er Jahren Konzepte wie die Gruppenarbeit und die sogenannte „lean production“ („schlanke Produktion“, im deutschsprachigen Raum auch „ganzheitliche Produktionssysteme“6) eingeführt: Um das
„Gold in den Köpfen der Beschäftigten“ frei zu schaufeln und für die Mehrwertproduktion zu nutzen, bezogen die Firmen ihre ArbeiterInnen nun kontinuierlich in die Verbesserung der Produktionsabläufe ein – eine Tendenz, die heute mit dem Übergang zur digitalisierten Produktion noch einmal verstärkt zu werden scheint.
Auch bei den „Weißkragen-Jobs“ ist die Arbeit mit der emotionalen Intelligenz längst zum Standard geworden: Die Fähigkeit zur Selbstreflexion und -kritik mit dem Ziel der Verbesserung der eigenen „Gesamtperformance“ fordern Banken, Versicherungen und andere Dienstleistungsunternehmen im Rahmen von regelmäßigen Personalgesprächen über Zielvereinbarungen heute standardmäßig von ihren Angestellten ein.
Proletarisches Klassenbewusstsein
Für die kommunistische Politik ist diese Herangehensweise keineswegs etwas Neues. Die Ausbildung von Parteikadern bestand schon bei den russischen Bolschewiki und später den Parteien der III. Internationale nicht nur aus der Schulung von Wissen, sondern beinhaltete eben auch die stetige Arbeit mit der eigenen Persönlichkeit in Form der Kritik und Selbstkritik vor dem Parteikollektiv. Die heutigen Personalgespräche in Dienstleistungsunternehmen sind im Grunde ein bürgerlicher Abklatsch hiervon, der an die Interessen der Kapitalverwertung angepasst wurde.
Ziel der kommunistischen Erziehung der Parteikader ist die Herausbildung und kontinuierliche Weiterentwicklung des proletarischen Klassenbewusstseins. Darunter verstehen wir den Marxismus-Leninismus, die wissenschaftliche Verallgemeinerung der Erfahrungen aus den Klassenkämpfen des Proletariats. Wir beschränken diesen jedoch nicht auf das rein begriffliche Wissen über seine Teilgebiete Philosophie, politische Ökonomie u.a. Für das proletarische Klassenbewusstsein ist vielmehr entscheidend, dass dieses Wissen und die Gefühle, der Wille und das Handeln eine Einheit bilden.
Eine Einheit aller Bereiche des Bewusstseins ist nicht etwas, das spontan entsteht und keineswegs der heutige gesellschaftliche Standard: Im Gegensatz dazu ist es in der bürgerlichen Gesellschaft normal, noch nicht einmal eine in sich schlüssige Weltanschauung zu vertreten, sondern sich die eigenen Meinungen zu verschiedenen Themen nach Lust und Laune zusammenzustellen und ebenso zu handeln: Z.B. heute SPD zu wählen, morgen am Stammtisch AfD-Parolen über Flüchtlinge zu verbreiten, übermorgen in die Kirche zu gehen und für „Brot für die Welt“ zu spenden o.ä. Die bürgerliche Ideologie, die selbst von inneren Widersprüchen geprägt ist, erzieht die Menschen zu dieser Widersprüchlichkeit.
Es liegt ebenso auf der Hand, dass eine Einheit von Wissen, Gefühlen, Willen und Handeln nicht allein aus dem Lesen von Büchern erwachsen kann. Der Erwerb von Wissen ist zwar ein wichtiges Element und kann einen guten Beitrag dazu leisten, einen kommunistischen Willen zu formen. Die Arbeit mit den eigenen Gefühlen, den Ängsten und Hoffnungen, die einen dazu bringen oder daran hindern, bestimmte Schritte im Klassenkampf zu unternehmen (z.B. durch betriebliche Aktivität den eigenen Arbeitsplatz zu riskieren); die Herausbildung einer revolutionären Entschlossenheit; das Ziehen eines klaren Trennungsstriches gegenüber dem Klassenfeind als innere Entscheidung sind jedoch viel komplexere Aufgaben als das Anhäufen von Wissen. Sie können nur im Zusammenspiel von Theorie und Praxis und nur in einem kollektiven Prozess angegangen werden. Es gibt weltweit und in der Geschichte wahrscheinlich zehntausende Beispiele von hervorragenden KommunistInnen, die nicht einmal lesen und schreiben konnten, aber ein entwickeltes Klassenbewusstsein hatten, das sie im Kampf unter Beweis gestellt haben – eben weil sie Teil dieses Kampfes und Teil eines Kollektivs waren.
Man kann sich den Prozess, „vom Wissen zum Bewusstsein zu gelangen“, am Beispiel der inneren Haltung zur kapitalistischen Ausbeutung klarmachen: Wenn ich die politische Ökonomie studiere, erwerbe ich damit ein begriffliches Verständnis davon, worin die Ausbeutung besteht. Ich kann erklären, dass LohnarbeiterInnen nur einen geringen Teil des Arbeitstages für den eigenen Lohn arbeiten und sich die Kapitalisten den Rest des Produkts aus einem Arbeitstag unentgeltlich aneignen; dass dies die Quelle des Profits im Kapitalismus ist; dass die ArbeiterInnen sich zum Kampf organisieren müssen usw. usf. Diese rationale, abstrakte Erkenntnis ersetzt jedoch nicht das lebendige Bewusstsein dafür, wie die Arbeit im Betrieb und die Ausbeutung sich „anfühlen“; das Erleben von Machtstrukturen, Abläufen und alltäglichen Aufregern bis hin zu Demütigungen am Arbeitsplatz; aber auch das Erleben von Solidarität unter KollegInnen; die alltäglichen eigenen kleinen und kleinsten Schritte zu einem gemeinsamen Widerstand gegen die Ausbeutung; die Erfolge und Niederlagen dabei und deren Wirkung auf das eigene Bewusstsein und das der KollegInnen…
Häufig wird der beschriebene Prozess auch genau umgekehrt verlaufen, z.B. wenn sich ein Arbeiter ökonomisches Wissen erst aneignet. Das Beispiel soll auch nicht zu dem mechanischen Schluss verleiten, dass jeder Kommunist einer Lohnarbeit nachgehen muss, um Ausbeutung richtig zu verstehen und Klassenbewusstsein zu erwerben. Das proletarische Klassenbewusstsein lässt sich auf vielerlei Kampffeldern, auch im Stadtteil, in der Uni, in der Schule und anderswo, vor allem aber im direkten Kontakt mit anderen kämpfenden KommunistInnen und mit den unterdrückten Klassen entwickeln. Eine Woche von Aktionen gegen einen G20-Gipfel und das praktische Erleben der Polizei dort können z.B. ein hervorragender Ort sein, um anschaulich zu erleben, was „Staat“ und „Unterdrückungsorgane“ eigentlich heißt und warum der Begriff „Klassenfeind“ mit Bedacht gewählt ist!
Der Prozess der Bewusstseinsentwicklung verläuft, gerade weil er komplex ist, für jeden individuell sehr unterschiedlich. Neigungen, Talente und Charakterzüge unterscheiden sich. Nicht jeder ist ein geeigneter Literat, nicht jeder ein geeigneter Volksredner oder Partisanenkämpfer. Manche bringen von sich aus ein sehr hohes Maß an emotionaler Intelligenz mit, sind dafür aber vielleicht lesefaul. Manche haben ein großes Wissen und einen scharfen Verstand, sind dafür aber Choleriker, o.ä. Lebenssituationen unterscheiden sich. Daraus ergeben sich unterschiedliche konkrete Zielsetzungen und Entwicklungsschritte für den Einzelnen.
Entscheidend ist, dass eine Arbeit an der Entwicklung des eigenen Bewusstseins und der Einheit all seiner Elemente möglich und für den Klassenkampf notwendig ist: Selbst soziale Fähigkeiten und Selbstreflexion lassen sich, ausgehend von den oben genannten marxistischen Erkenntnissen über die menschliche Psyche, entwickeln und lernen! Dies ist naturgemäß nur in der Einheit von Praxis und Theorie und gemeinsam mit anderen, in einem kollektiven Prozess möglich, in dem verschiedene Blickwinkel aufeinander treffen, man gemeinsam kämpft und voneinander lernt. Der Erwerb von Wissen gehört ebenso zur Bewusstseinsentwicklung wie die Kritik und Selbstkritik und die kollektive Kontrolle.
Bewusstseinsentwicklung
ist keine Sektenphilosophie
Der wissenschaftliche Begriff des Bewusstseins und eine darauf aufbauende Arbeit an der Persönlichkeit haben nichts mit Gleichmacherei, Asketismus7 oder gar Gehirnwäsche zu tun. Ebenso wie man den Marxismus-Leninismus gegenüber Unterstellungen verteidigen muss, eine quasi-religiöse Heilslehre zu sein (wobei solche Unterstellungen besonders heftig gerade von den Vertretern der wildesten idealistischen Theorien der Bourgeoisie erhoben werden), ist der Versuch zurück zu weisen, die marxistisch verstandene Arbeit an der Persönlichkeitsentwicklung in die Nähe des Sektenwesens zu rücken. Es geht gerade nicht darum, einen Kult der „totalen Selbstentsagung“ zu entfalten, bei denen die Mitglieder zu Mönchen werden, die die gleichen Gewänder tragen, feierlich dem Kaffeekonsum, Musik, Partys und der Liebe abschwören oder das Studium des wissenschaftlichen Sozialismus in Form des Rezitierens von Klassikerzitaten betreiben.
Vorstellungen, man könne das Leben in der bürgerlichen Gesellschaft einfach mechanisch negieren und ihr auf diese Art entrinnen, gibt es aber tatsächlich. Sie sind gerade in Entstehungsphasen revolutionärer Bewegungen immer einmal wieder aufgetaucht8und treffen sich häufig mit kleinbürgerlich-sozialistischen Tendenzen (man nehme z.B. das Wiederaufleben der frühsozialistischen Kommunebewegung nach 1968). Die bürgerliche Gesellschaft lässt sich aber nicht einfach ideell, in einem einzelnen Entscheidungsakt oder durch alternative Lebensmodelle abstreifen, sondern muss in einem revolutionären Prozess, der mit dem Sturz der Bourgeoisie und der Errichtung des Sozialismus erst beginnt und über Generationen andauern wird, materiell überwunden werden. Und erst mit der Vollendung dieses Prozesses, in einer entwickelten Phase der kommunistischen Gesellschaft kann auch ein entwickeltes kommunistisches Bewusstsein bei den Menschen entstehen!
Die Versuchung mag heute bestehen, die verhältnismäßig komplizierte Aufgabe zu vermeiden – sich nämlich auf das Wesentliche zu konzentrieren und anhand der kommunistischen Ideologie und Strategie zu vereinheitlichen und danach zu arbeiten – und sich stattdessen in die Parallelwelt einer Kommune zurückzuziehen. Oder den eigenen linken Zirkel als Lifestyle-Sekte zu verstehen und dort vor allem die trivialen Fragen des Alltags der eigenen Mitglieder (vom Autokauf über die Heiratspläne bis zur Höhe des wöchentlichen Essensgeldes) kleinteilig zu diskutieren oder zu administrieren. Die bürgerliche Gesellschaft und ihre Einflüsse wird man hierdurch jedoch nicht los: Zumal sich in Zirkeln, in denen solche Unsitten herrschen, häufig gerade die sehr bürgerliche Tendenz Bahn bricht, auf diese Art persönliche Macht über andere auszuüben. Wo sich solche Zerbilder des Kommunismus in der Geschichte durchsetzen konnten, wird das stark dazu beigetragen haben, dass Mitglieder derartiger Sekten früher oder später das Weite gesucht haben.
Ein solches mechanisches Verständnis des Bruchs mit dem Kapitalismus und der revolutionären Persönlichkeitsentwicklung ist falsch. Gleichzeitig bleibt wahr, dass die kommunistische Partei für den revolutionären Kampf über Kader verfügen muss, die in diesem Kampf vorangehen, ihr Leben den Erfordernissen dieses Kampfes unterordnen und dafür teilweise erhebliche Opfer bringen: Sei es der feste Arbeitsplatz, die eigene Wohnung, die Trennung von der Familie, Leben mit minimalen finanziellen Mitteln o.ä. Dies stellt besondere Anforderungen an die Entwicklung ihrer Persönlichkeit, ihres Klassenbewusstseins. Dies ist aber nicht zu verwechseln mit einem „sittenstrengen Asketismus“ oder der Verherrlichung der Entbehrung als Selbstzweck! Die Lebensweise revolutionärer Kader im Kampf folgt aus den Bedingungen dieses Kampfes, und nicht aus irgendeiner sektiererischen Lebensphilosophie. Sie ist eine Frage der Notwendigkeit und ergibt aus den Erkenntnissen darüber, welche Art von Organisation die ArbeiterInnenklasse benötigt, um die Bourgeoisie zu stürzen. Die konkreten Anforderungen an revolutionäre Kader unterscheiden sich darüber hinaus in unterschiedlichen Etappen des Klassenkampfes, insbesondere vor und nach der sozialistischen Revolution. Die Konstante durch alle diese Etappen ist, dass die KommunistInnen auch in Hinblick auf die Bewusstseinsentwicklung der Arbeiterbewegung vorangehen müssen.
Das gesellschaftliche Idealbild, das KommunistInnen für die Menschheit vertreten, ist nicht der asketische Mönch, sondern die Entwicklung des selbständigen, aufgeklärten Individuums – man kann sagen: die Vollendung der Befreiung aus „seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“9. Diese folgt jedoch nicht wie bei den Vordenkern der bürgerlichen Aufklärung aus irgendeiner absoluten Moral oder einem Weltprinzip. Sie findet auch nicht statt als Tat isolierter Einzelner im Kampf mit allen Anderen, sondern in der Einheit des Einzelnem mit dem Kollektiv, in letzter Instanz der proletarischen Klasse in ihrem Kampf um Befreiung und schließlich in der kommunistischen Gesellschaft.
Eine permanente Aufgabe
Die Arbeit am Bewusstsein hat zum Ziel, seine verschiedenen Elemente (Wissen, Gefühle, Wille) miteinander und mit dem eigenen Handeln zu einer Einheit zu verbinden. Dies ist die wesentliche Voraussetzung für ein Handeln als selbständiges, aufgeklärtes, revolutionäres Individuum als Teil des kommunistischen Kollektivs und der ArbeiterInnenklasse im Klassenkampf. Diese Arbeit ist niemals abgeschlossen und Rückentwicklungen sind jederzeit möglich, z.B. wenn man negativen Gefühlen freien Lauf lässt, Kritik und Selbstkritik unterbleiben, sich Selbstzufriedenheit breit macht o.ä. Unser gesellschaftliches Sein bestimmt unser Bewusstsein. Wir leben in einer bürgerlichen Gesellschaft und sind permanent der bürgerlichen Ideologie ausgesetzt. Wirken wir diesen Einflüssen nicht bewusst entgegen und lassen die Dinge laufen, kann das schlimmstenfalls dazu führen, dass ehemalige KommunistInnen den oben beschriebenen Weg der Anpassung und des Verrats gehen und den daraus sich ergebenden inneren Widerspruch im kapitalistischen Sinne lösen, z.B. indem sie das eigene Wissen über den Klassenkampf psychologisch zur „Jugendsünde“ machen.
Die Geschichte hat gezeigt, dass derartige negative Prozesse nicht nur von Einzelpersonen, sondern sogar von ganzen Organisationen durchlaufen werden können. Z.B. wenn sich Kriegsmüdigkeit einstellt, eine Organisation sich von der wissenschaftlichen Herangehensweise an den Klassenkampf entfernt, sich Liberalismus breit macht oder sie den Anschluss an die Wirklichkeit verliert. Oder wenn die KommunistInnen sich sektenmäßig nur noch mit ihresgleichen umgeben und nicht immer wieder aufs Neue mit den unterdrückten Klassen verbinden.
Die Aufgabe der Bewusstseinsentwicklung stellt sich deshalb für alle KommunistInnen immer und überall.
1 Darunter: Winfried Kretschmann (Grüne), früher aktiv für den „Kommunistischen Bund Westdeutschlands” (KBW), heute Ministerpräsident von Baden-Württemberg; Jürgen Trittin (Grüne), früher im Umfeld des “Kommunistischen Bund” (KB), später Bundesumweltminister unter Kanzler Schröder; Ulla Schmidt (SPD), früher aktiv im KBW, später Gesundheitsministerin unter Schröder; Berthold Huber, früher „Kommunistischer Arbeiterbund Deutschlands“ (KABD), später Vorsitzender der IG Metall
2 Auf Winfried Kretschmanns Homepage lesen wir in der biographischen Rubrik unter der Überschrift „Linksradikale Verirrung”: Winfried Kretschmann studierte Biologie und Chemie auf Lehramt. In diese Phase fiel auch – so Kretschmann – ‘die Zeit meiner linksradikalen Verirrung im Kommunistischen Bund Westdeutschlands’. Eine Erfahrung, die Kretschmann bis heute beschäftigt: ‘An dem Irrtum knapse ich mein Leben lang.’ Das Anziehende war für ihn ursprünglich das Libertäre an der Achtundsechzigerbewegung gewesen. Die Realität war dann aber ein enges, autoritäres Denken: ‘Wenn ich heute aus dem Hauptbahnhof komme und die Zeugen Jehovas mit dem Wachturm stehen sehe, dann denke ich: Genauso standest du damals mit der Kommunistischen Volkszeitung vor irgendeinem Betrieb im Regen.’ Wie kam Kretschmann wieder raus aus der Politik-Sekte? ‘Da hat mir geholfen, dass ich die bürgerlichen Halteseile nie gekappt hatte, von der Kirchenmusik bis zum Schützenverein. Meine Schützenkameraden haben sich damals köstlich darüber amüsiert, dass sie einen linksradikalen Studenten dabei hatten, und wilde Debatten mit mir geführt.’” (www.winfried-kretschmann.de)
3 „Philosophisches Wörterbuch”, Leipzig 1976, S. 224
4 Vgl. Marx, „Das Kapital, Band I”, MEW 23, S. 73 f.
5 Vgl. Wikipedia-Eintrag zu: „Emotionale Intelligenz” (de.wikipedia.org/wiki/Emotionale_Intelligenz)
6 Vgl. Wikipedia-Eintrag zu: „Schlanke Produktion” (de.wikipedia.org/wiki/Schlanke_Produktion)
7 siehe unten (Fußnote 8)
8 Engels legt dies in seiner Schrift „Der deutsche Bauernkrieg” anhand der Entstehung der ersten Bauernverschwörungen gegen Ende des 15. Jahrhunderts und den Lehren eines ihrer Führer, Hans Böheim von Niedersachsen (genannt: „Pfeiferhänslein”) dar, der laut eigenen Angaben von der Jungfrau Maria aufgefordert worden sei, „seine Pauke zu verbrennen, dem Tanz und den sündigen Wollüsten nicht ferner zu dienen, sondern das Volk zur Buße zur ermahnen”. Bei allen mittelalterlichen Aufständen und auch im Anfang jeder proletarischen Bewegung sei das Phänomen der „asketische(n) Sittenstrenge” aufgetreten, die mit der Forderung nach Entsagung von allen Lebensgenüssen gegenüber den herrschenden Klassen „das Prinzip der spartanischen Gleichheit” aufgestellt habe. Dies habe in den Anfangszeiten dieser Bewegungen der unterdrückten Klassen eine notwendige Durchgangsstufe ihrer Entwicklung dargestellt, unter anderem „um über ihre feindselige Stellung gegenüber allen andern Elementen der Gesellschaft sich selbst klar zu werden”. Dieser „plebejisch-proletarische” Asketismus verliere aber mit der weiteren Entwicklung der Produktivkräfte seinen revolutionären Charakter: Einerseits, weil diese das „Material des Genießens ins Unendliche vermehrt und damit die spartanische Gleichheit überflüssig macht” und andererseits die Lebensstellung des Proletariats immer revolutionärer wird. Der Asketismus verschwinde im Zuge dieser Entwicklung und verlaufe sich bei den Sektierern, während der Masse des Proletariats die Entsagung um so weniger gepredigt zu werden braucht, „als sie fast nichts mehr hat, dem sie noch entsagen könnte.” (Engels, „Der deutsche Bauernkrieg”, MEW 7, S. 359 f.)
9 Bekannter Ausspruch des Philosophen der bürgerlichen Aufklärung Immanuel Kant aus dem Artikel „Was ist Aufklärung?”