Im nächsten Jahr 2017 steht das hundertjährige Jubiläum der Oktoberrevolution bevor. Die Sprachrohre der Kapitalisten werden diese Gelegenheit nutzen, um an das angebliche Scheitern des Kommunismus zu erinnern.

Für uns Kommunisten ist es mehr als ein Anlaß diesen Tagen, die die Welt für immer verändert haben, zu gedenken. Die Verarmung der ArbeiterInnen, die imperialistischen Kriege, die auch im 21. Jahrhundert fortgesetzte Unterdrückung der Frau und die Migrationswellen verlangen nach neuen Oktobern. Die Menschen in Deutschland fangen an, den Status quo in Frage zu stellen und nach grundsätzlichen Alternativen zu suchen. Dass viele denken, die „AfD“ könnte diese Alternative sein, ist ein Ausdruck unserer Schwäche als Kommunisten. Wenn im Bundestagswahlkampf 2017 verschiedene bürgerliche Scheinlösungen um die Gunst der Bevölkerung buhlen werden – werden wir dann in der Lage sein ihren „Wahlprogrammen“ das Programm der Revolution als eine Alternative entgegenzustellen? Zu einem guten Teil wird das davon abhängen, ob wir Antworten auf die unvermeidliche Frage finden, „warum der Sozialismus bei bisherigen Anläufen gescheitert ist?“

Bei einem Versuch, diese Frage zu beantworten wird die Sowjetunion fürs erste im Vordergrund stehen, weil sie den reichsten Schatz an Erfahrungen bietet. Außerdem war die Entwicklung in den Volksdemokratischen Ländern stark von den Klassenkämpfen in der Sowjetunion abhängig. Leider hatten sich in fast all diesen Ländern keine starken gefestigten Kerne von Kommunistischen FührerInnen herausgebildet, die sich den wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen in kapitalistische Richtung aus der Sowjetunion kritisch entgegengestellt hätten. Somit liefert uns eine Analyse der sowjetischen Entwicklungen bereits einige Grundlagen für das Verständnis der DDR, auch wenn es natürlich nicht die Aufgabe einer eigenen Analyse erledigt.

In diesem Artikel werden wir uns erstmalig ausführlicher mit dem sowjetischen Revisionismus1 beschäftigen. Unter „Revisionismus“ verstehen wir den Bruch mit wesentlichen Prinzipien des Marxismus-Leninismus, die nicht eine Weiterentwicklung bedeuten sondern die Verwandlung der sozialistischen Weltanschauung in eine bürgerliche Weltanschauung .Chruschtchow (Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion von 1953 bis 1964), Breschnew (Generalsekretär von 1964 – 1982) und Gorbatschow (Generalsekretär von 1985 – 1991) sind die bekanntesten Vertreter dieser politischen Strömung in verschiedenen geschichtlichen Perioden.

Wir gehen davon aus, dass sich in der sozialistischen Sowjetunion aus den Reihen der Bürokratie des Staates und der Kommunistischen Partei eine neue Ausbeuterklasse entwickelt hat, die sich zunächst hauptsächlich in Form von Privilegien immer größere Teile des gesellschaftlichen Reichtums aneignen konnte. Der 20. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) im Jahr 1956 markiert den Punkt, an dem die politischen Vertreter dieser neuen Ausbeuterklasse – eben die modernen Revisionisten unter Führung Nikita Chruschtschows – ihre Machtergreifung zementierten und ihre Politik offen in Richtung der Wiederherstellung des Kapitalismus entwickelten. In den folgenden Jahrzehnten machten diese es sich zur Aufgabe, die formellen Überreste des Sozialismus zu beseitigen und dem Kapitalismus zur vollen Entfaltung zu verhelfen. Diese Entwicklung wurde durch die sogenannte Perestroika unter Michael Gorbatschow gekrönt und abgeschlossen.

Wir werden unseren Artikel mit dem Kampf, den die Bolschewiki gegen den Bürokratismus führten, und ihren Erfahrungen und Fehlern in diesen Kampf beginnen. Wir werden dann darstellen, wie die Ausbeutung in der Sowjetunion konkret funktioniert hat und die Politik der revisionistischen Ausbeuterklasse an der Macht erklären. Zuletzt werden wir uns mit der weiteren Entwicklung nach 1956 und scheinbaren und tatsächlichen Unterschieden in den verschiedenen Perioden auseinandersetzen. Besondere Aufmerksamkeit werden wir den häufigsten Argumenten derjenigen widmen, die die Sowjetunion bis in die 80er Jahre als sozialistisch bezeichnen.

Wir müssen einschränkend vorweg schicken, dass es den Rahmen dieses Artikels sprengen würde allseitig das Problem der kapitalistischen Restauration zu analysieren. Wir haben uns bewusst entschieden, den Schwerpunkt des Artikels darauf zu legen verständlich zu machen, wie ein Staat sein sozialistisches Gesicht behalten und gleichzeitig zum Ausbeuter werden konnte. Denn, wer behauptet, in der Sowjetunion sei der Sozialismus zerstört worden und durch Kapitalismus ersetzt worden, der muss beweisen, dass die „neue herrschende Klasse“ tatsächlich zu einer Ausbeuterklasse geworden war. Andere Fragen wie die Klassenkämpfe in der Sowjetunion bis in die 30er Jahre hinein, die ideologischen und politischen Kämpfe in der Partei und auch die Politik der Revisionisten nach der Machtergreifung sind ohnehin von der revolutionären Kommunistischen Weltbewegung deutlich gründlicher erforscht worden.

1. Bürokratismus – Keim der neuen Ausbeuterklasse und der Kampf der Bolschewiki dagegen

Der Kampf gegen den Bürokratismus hat die Sowjetunion seit der Oktoberrevolution beschäftigt. Jeder Staatsapparat schafft sich seinem Klassencharakter entsprechend eine Bürokratie, aber ohne Bürokratie kommt kein Staat aus. Es ist eine natürliche Eigenschaft der Bürokratie, dass sie den Status quo verewigen will, somit steht sie der Fortentwicklung zum Kommunismus im Weg. Aus diesem Grund hatte Lenin noch kurz vor der Revolution in seinem Werk „Staat und Revolution“2unter Berufung auf Marx und Engels Auswertung der Pariser Commune nochmal ganz klar gesagt, dass der alte bürgerliche Staatsapparat von der revolutionären Arbeiterklasse nicht einfach übernommen werden kann, sondern dass ein neuer Staatsapparat geschaffen werden müsste.

Das ist insofern geschehen, als dass mit einer in Sowjets organisierten Bevölkerung eine ganz neue Staatsform möglich war, nämlich eine Räterepublik. Die obersten Organe dieser sowjetischen Räterepublik bestimmten die Politik des Landes und bestimmten die politischen Leiter der einzelnen Volkskomissariate. Ein Großteil der ArbeiterInnenklasse hatte zu diesem Zeitpunkt nicht die Kenntnisse, die für Verwaltungsaufgaben im Staat notwendig waren, viele konnten noch nicht einmal lesen und schreiben. Unter diesen Umständen erklärten die Bolschewiki, dass man mit den angestrebten Zielen der Pariser Commune brechen müsste. Konkret wurden die Intellektuellen der alten Gesellschaft mit hohen Gehältern bestochen und so dazu gebracht, in den Dienst der ArbeiterInnenklasse zu treten.3 Diese Fälle waren keine Ausnahme, sondern in vielen Volkskomissariaten vorherrschend.4

In dieser Phase hieß Kampf gegen die Bürokratie vor allem, dass eine sehr kleine Kommunistische Partei, in der sich die bewusstesten KämpferInnen für die Revolution organisiert hatten, einen um ein Vielfaches größeren Staatsapparat führen und kontrollieren mussten. Insbesondere mussten sie Wege finden, die Bürokraten aus dem alten Staatsapparat, die kulturell und bewusstseinsmäßig den alten Ausbeuterklassen viel näher standen als der ArbeiterInnenklasse, daran zu hindern, die Arbeit zu sabotieren. In dieser Phase Anfang der 20er Jahre klagen die KommunistInnen über ihre Schwäche als Partei im Vergleich zum Staatsapparat.

Die Bolschewiki stellten damals die Aufgabe, dass die sowjetische ArbeiterInnenklasse eine eigene Intelligenz entwickeln müsste, um diese Situation zu verändern5 und lösten diese Aufgabe auch tatsächlich. Es zeigte sich nur, dass sich auch von den jungen Parteimitgliedern, die sich voller Euphorie in den Dienst der Revolution stellen wollten und deswegen zu Kadern ausbildeten, viele zu Bürokraten wurden. Stalin bemerkt das öffentlich immer wieder, zum Beispiel beim VIII. Kongress des Kommunistischen Jugendverbandes im Mai 1928 „Das Schlimme ist, daß es sich nicht um die alten Bürokraten handelt. Es handelt sich um die neuen Bürokraten, Genossen, die mit der Sowjetmacht sympathisieren, es handelt sich schließlich um Bürokraten aus den Reihen der Kommunisten. Der kommunistische Bürokrat ist der gefährlichste Typ des Bürokraten. Warum? Weil er seinen Bürokratismus mit seiner Parteimitgliedschaft maskiert. Und solche kommunistischen Bürokraten gibt es bei uns leider nicht wenig.6

Aus der ArbeiterInnenklasse zu stammen oder Mitglied der Kommunistischen Partei zu sein ist somit keinesfalls eine Garantie dagegen, selbst zum Bürokraten zu werden.

Wenn wir Lenins Texte zum Aufbau des Staatsapparat, zur Kontrolle und zum Kampf gegen den Bürokratismus lesen, sehen wir darin, dass Lenin den Bürokratismus für ein gesetzmäßiges Übel eines jeden Staatsapparats und insbesondere der zentralen Stellen hielt.7 Das Hauptmittel der Bolschewiki im Kampf gegen diese Erscheinungen war die Kontrolle; und zwar eine Kontrolle, die von den Massen ausgeübt wurde.

Zu diesem Zweck wurden verschiedene Organe aufgebaut, wie zum Beispiel die zentrale Parteikontrollkomission (ZPKK) oder die Arbeiter- und Bauerninspektion. In der ZPKK wählten die Parteimitglieder eigene Delegierte und eine eigene Zentrale, so dass die volle politische Unabhängigkeit vom ZK der Partei und auch vom Kongress, der das ZK bestimmte, gewährleistet war. Die Arbeiter- und Bauerninspektion diente dazu, die parteilosen Massen an die Verwaltung und Kontrolle des Staatsapparats heranzuführen.

Diese beiden Organe wurden noch auf Vorschlag Lenins8 zur Arbeiter- und Bauerninspektion – Zentrale Kontrollkomission vereinigt.

Hierbei ist hervorzuheben, dass diese Kontrollkomission unabhängig von der Führung der Partei war. Sie organisierte sich selbstständig auf allen Ebenen vom ZK bis runter auf die lokalen Ebenenen. JedeR SowjetbürgerIn hatte das Recht, sich bei den zuständigen Gremien, dieser Kontrollinstanz, die das ganze Land durchzog, zu beschweren.

Stalin fasst den Kampf der Partei gegen den Bürokratismus auf vier Linien zusammen: „auf der Linie der Entfaltung der Selbstkritik, auf der Linie der Organisierung der Kontrolle der Durchführung, auf der Linie der Säuberung des Apparats und schließlich auf der Linie der Beförderung treuer Kräfte von unten, aus der Mitte der Arbeiterklasse, in den Apparat.9

Es stellt sich nun die Frage, auf welche Probleme die Bolschewiki beim Führen dieses Kampfes gestoßen sind und welche Fehler ihnen unterlaufen sind.

2. Fehler und Mängel im Kampf gegen den Bürokratismus

Die oben genannten hohen Löhne zur Bestechung der bürgerlichen Experten zogen es nach sich, dass von Anfang an sehr große Lohnunterschiede in der Sowjetunion bestanden. Diese Lohnunterschiede wurden jedoch auch beibehalten, als die führenden Kader des Staates keine bürgerlichen Experten mehr waren, sondern Angehörige der neu ausgebildeten Intelligenz aus den Reihen der ArbeiterInnenklasse. Was als vorübergehender Kompromiss gedacht war, wurde zum Prinzip verewigt. Am krassesten kommt das vielleicht in der Abschaffung des Parteimaximums 193410 zum Ausdruck: Also der Pflicht für Kommunisten den Teil ihres Gehalts, der eine gewisse Grenze überschreitet, abzugeben. Denn dabei geht es ganz offensichtlich nicht um „bürgerliche Experten“. So entstanden im Staatsapparat in leitenden Positionen warme Nischen, in denen sich Karrieristen einnisten und ein luxuriöses Leben auf Kosten des Staates führen konnten. Das ist also die ökonomischen Grundlage für das Aufblühen der „roten Bürokraten“.

Umso schwerwiegender, dass die Bolschewiki zwar erkannt haben, dass der Bürokratismus in ihren eigenen Reihen wieder auflebt, aber nicht so weit gegangen sind, anzuerkennen, dass der Kampf gegen den Bürokratismus eine Form war, in der der Klassenkampf in der Sowjetunion fortgeführt wurde und folglich wieder Klasseninteressen aufeinander prallten. Stattdessen wurde 1934 auf dem 17. Kongress festgestellt, dass es in der Sowjetunion nur noch befreundete Klassen gäbe und dass es keine inneren Restaurationsquellen für den Kapitalismus mehr in der Sowjetunion gäbe.

Im der neuen Verfassung der Sowjetunion aus dem Jahre 193611 wurde dementsprechend endgültige Liquidierung aller Ausbeuterklassen festgestellt eine Restauration des Sozialismus von Innen wurde nicht mehr als Möglichkeit begriffen. Folgerichtig wurden Konterrevolutionäre nur noch als gewöhnliche Kriminelle behandelt, statt ihre gesellschaftlichen Wurzeln aufzudecken und den ideologischen Kampf gegen sie weiter fortzuführen. Dies hat sich im Nachhinein als eine verhängnisvolle Fehleinschätzung erwiesen.

Sie zog es auch nach sich, dass die Zentrale Kontrollkomission in ihrer bisherigen unabhängigen Form aufgelöst und der Zentrale der Partei wieder untergeordnet wurde. Den Massen wurde damit eines der wichtigsten Mittel zur Teilnahme am Klassenkampf genommen.

Auch die Sowjets büßten massiv an Aktivität ein. Das äußerte sich schon darin, dass die Sowjets ab Ende der 20er Jahre nicht mehr regelmäßig genug zusammen traten, um ihre eigentliche Bestimmung zu erfüllen. Während die Sowjets zu Beginn der Revolution vor revolutionärer Energie überschäumten, nahm ihre Aktivität immer weiter ab. Ende der 20er Jahre verloren die Sowjets auch das Recht, lokale Richter und Staatsanwälte einzusetzen. Die Abschwächung der Aktivität der Sowjets wurde zu keinem Zeitpunkt von der Kommunistischen Partei verkündet, gefordert oder theoretisiert – und dennoch gelang es in der Praxis nicht, sie lebendig zu halten.

Das Ziel der Kommunisten muss aber in Zukunft genau das sein: Die Initiative der Massen zu fördern und auch nach der Revolution aufrecht zu erhalten.

Wenn wir nach den Gründen für das Heranwachsen einer neuen Ausbeuterklasse fragen, dann müssen wir berücksichtigen, dass andere objektive Faktoren neben der gerade aufgezählten Fehler diese Entwicklung stark gefördert haben. Als erstes ist hierbei zu nennen, dass die sowjetische ArbeiterInnenklasse die erste in der Geschichte war, die vor der Aufgabe stand, den Soziaismus aufzubauen. Es gab für sie keine Erfahrungen, auf die sie sich stützen konnte und keine Fehler, die schon von anderen vor ihr gemacht worden wären.

Außerdem erlebte die Sowjetunion kaum eine längere Periode des friedlichen Aufbaus, sondern wurde praktisch ständig von Kriegen oder Kriegsgefahr erschüttert.

Im 2. Weltkrieg erlebte die Partei erneut und in einem intensiveren Maße, was sie bereits bei der Verteidigung der Revolution gegen die Weißgardisten und ausländischen Interventionstruppen erlebt hatte: Es waren die aufopferungsvollsten und wertvollsten GenossInnen, die an die Front gingen und für die Verteidigung der Revolution ihr Leben ließen. In den ersten Wochen des 2. Weltkrieges sind zwei Millionen KommunistInnen gefallen, zum Teil auch solche, die bereits verantwortliche Aufgaben in der Sowjetunion inne hatten. Wer trat an ihre Stelle? Diejenigen, die sich mit Vorwänden vor dem Krieg gedrückt hatten oder unerfahren waren.

Trotz des Krieges wuchs die Partei weiter an: Vom 18. Parteitag 1938 bis zum 19. Parteitag 1951 von ca. drei Millionen auf sechs Millionen Mitglieder. Stalin als Generalsekretär bemerkte selbst immer wieder, dass das ideologische Niveau der Masse der Mitglieder noch sehr niedrig sei.12

Zwischen dem Tod Stalins 1953 und dem 20. Parteitag 1956 schließlich bereiteten die revisionistischen Bürokraten, deren Führungsfigur Nikita Chruschtchow war, sich darauf vor die Macht zu ergreifen. Auf diesen Prozess können wir hier aus Platzgründen nicht im Detail eingehen, Nils Holmberg bietet in seinem Werk „Friedliche Konterrevolution“ jedoch eine recht detaillierte Darstellung.13 Hier sei nur soviel gesagt, dass obwohl die Kommunistische Partei offensichtlich in keinem guten Zustand mehr war es durchaus Widerstand gegen den revisionistischen Kurs gab und die Revisionisten gezwungen waren, diesen mit Intrigen und Säuberungen der Partei zu paralysieren.

Einige der aufgezeigten Fehler der Kommunisten – wie die Abschaffung des Parteimaximums – zeigen, dass schon lange vor dem 20. Parteitag 1956 die privilegierte Bürokratenschicht innerhalb des sowjetischen Staatsapparats und in der Partei einen beachtlichen Einfluss gewonnen hatten. Erst mit 1956 jedoch wurde aus dieser Schicht eine herrschende Klasse. Sehen wir uns nun an, was die Auswirkungen dieses Wendepunkts in der sowjetischen Geschichte waren.

3. Das politische Programm des Revisionismus

Für einen Großteil der Kommunistischen Weltbewegung trat die Machtergreifung der Revisionisten zunächst als ein Paradigmenwechsel auf politischer und ideologischer Ebene in Erscheinung. Der 20. Parteitag der KPdSU war zunächst vor allem auf diesem Gebiet berüchtigt. Dass die neuen Herrschenden in Moskau dabei wichtige Grundsätze des Marxismus-Leninismus über Bord warfen wurde auch bereits recht früh aufgedeckt. Wichtige Dokumente um das nachzuvollziehen sind z.B. die Rede, die Enver Hoxha im Namen der Partei der Arbeit Albaniens 1960 auf der Beratung der 81 kommunistischen und Arbeiterparteien in Moskau hielt oder der als „große Polemik“ bekannte „Vorschlag zur Generallinie der internationalen kommunistischen Bewegung 1963/64“, der vom ZK der Kommunistischen Partei Chinas verabschiedet wurde.

Wir fassen hier die wichtigsten Punkte zusammen, in denen die Revisionisten den Marxismus-Leninismus verfälschten:

  • Auf dem 20. Parteitag wurde von Chruschtschow verkündet, dass die friedliche Koexistenz mit dem Kapitalismus das Grundprinzip der sowjetischen Außenpolitik sei, dies wurde an die Stelle des proletarischen Internationalismus und der Unterstützung der revolutionären Bewegung auf der ganzen Welt gesetzt14
  • Chruschtschow behauptete außerdem, dass sich das Gesetz der Unvermeidlichkeit von imperialistischen Kriegen verändert habe und diese nun nicht mehr unvermeidlich seien; damit versuchte er sich mit dem westlichen Imperialismus auszusöhnen15
  • Die Revisionisten behaupteten ebenfalls, dass es Alternativen dazu gäbe durch eine bewaffnete Revolution vom Kapitalismus zum Sozialismus zu gelangen16
  • Auf dem außerordentlichen 21. Parteitag im Jahr 1959 wurde verkündet, dass man sich auf dem Weg befinde, den Kommunismus aufzubauen17, obwohl die sowjetische Realität noch weit davon entfernt war alle kapitalistischen Muttermale abzulegen
  • Auf dem folgenden 22. Parteitag wurde behauptet, die Diktatur des Proletariats sei überlebt, da die Klassenwidersprüche verschwunden seien und an seine Stelle trete nun der Staat des ganzen Volkes18
  • Auf dem gleichen Parteitag wurde nun auch verkündet, dass die Kommunistische Partei sich von der Partei der Arbeiterklasse zur Partei des ganzen Volkes entwickelt hatte

Wenn wir diese Punkte im Zusammenhang betrachten und auswerten, können wir sehen, dass sie vor allem in zwei Richtungen zielen: Einerseits erklären die Revisionisten ihren Triumph über die Revolutionäre in KPdSU und dass sie dementsprechend auch nicht mehr den Kampf gegen den Imperialismus mit alter Unversöhnlichkeit fortführen müssen. Sie machten aus dem Sozialismus, dem Todfeind des Kapitalismus, einen bürokratischen Staatskapitalismus, der eben nur ein Konkurrent im Wettkampf um die Beherrschung der Welt wurde. Genauso wie es heute Deutschland, die USA, China und Russland sind.

Zum anderen verkünden die Revisionisten gerade in dem Moment, in dem sie die Macht ergriffen haben, dass die Klassenunterschiede in der Sowjetunion verschwunden seien. Natürlich war das Gegenteil der Fall und die Klassenunterschiede weiteten sich in den folgenden Jahren massiv aus. Aber der Sinn dieser Entstellung des Marxismus-Leninismus lag darin, die Massen weiter einzuschläfern, sie zu beruhigen und ihre Wachsamkeit gegen die bürgerliche Ideologie zu zerstören.

Als Marxisten-Leninisten gehen wir davon aus, dass die ökonomische Basis einer Gesellschaft ausschlaggebend für den politischen Überbau ist. Wenn wir also feststellen, dass ihre politische Ausrichtung sich von einer revolutionären Linie in eine bürgerliche Linie verwandelt hat, stellt sich die Frage, wie eine neue Ausbeuterklasse entstehen konnte, die als gesellschaftliche Grundlage dieser Linie fungierte.

4. Revisionistische Ökonomie – Der Prozess der Mehrwertaneignung

Beginnen wir mit der Funktionsweise der Wirtschaft in der sozialistischen Sowjetunion. Schon Marx hat in seiner Kritik am Gothaer Programm aufgezeigt, dass es Unsinn ist davon zu reden, dass im Sozialismus die ArbeiterInnen endlich das ganze Produkt ihrer Arbeit bekommen würden. Stattdessen werden die ArbeiterInnen nur einen Teil der von ihnen geschaffenen Reichtümer selbst und individuell verbrauchen. Ein anderer Teil wird immer notwendig sein, um die Produktion überhaupt auf dem bisherigen Niveau fortzuführen, also für Rohstoffe, Reperaturen, Notfallfonds und so weiter, ein weiterer Teil wird für die Erweiterung und Modernisierung der Produktion gebraucht. Zuletzt verbraucht die ArbeiterInnenklasse einen großen Teil ihrer Reichtümer gemeinsam, zum Beispiel in Form von allen zugänglichen Bildungs- und Gesundheitssystemen, Kindererziehung, Versicherung für Menschen, die nicht in der Lage sind zu arbeiten (Alter, Krankheit etc.) Die folgende Grafik kann helfen, das zu verdeutlichen. Unter Akkumulation ist dabei der Teil des gesellschaftlichen Produkts zu verstehen, der für den Ausbau der Produktion verwendet wird.

grafik1

Zwar konsumiert die Arbeiterklasse nicht individuell den ganzen Reichtum, den sie schafft, solange aber der Staat einen wirklich sozialistischen Charakter hat, wird das ganze gesellschaftliche Produkt zur Befriedigung der Bedürfnisse der ArbeiterInnenklasse aufgewendet (wozu auch Produktionsmittel zur Vergrößerung der Produktion zählen).

Es hat Mängel und Probleme darin gegeben, wie zum Beispiel volkswirtschaftlich unnötige Privilegien für diejenigen, die zentrale und leitende Positionen im gesellschaftlichen Leben der Sowjetunion inne hatten, aber dennoch hat die sozialistische Wirtschaft in der Sowjetunion im Grundsatz so funktioniert.

Sobald die Revisionisten als politische Vertreter einer neuen Kapitalistenklasse an die Macht gekommen waren, begannen sie die sozialistische Produktionsweise zu zerstören und eine besondere Form des Kapitalismus an ihre Stelle zu setzen. Wie auch Fatos Nano, Mitglied der Patei der Arbeit Albaniens, schreibt:

Die neue revisionistische Bourgeoisie arbeitete intensiv an der Reorganisierung der sowjetischen Ökonomie auf kapitalistischer Basis, indem sie einen besonderen Mechanismus der Gewinnung und Aneignung des Mehrwerts, der kapitalistischen Ausplünderung und Ausbeutung der sowjetischen Werktätigen einrichtete und in Bewegung setzte.19 (Herv. von uns)

Was können wir uns unter einem besonderen Mechanismus der Mehrwertaneignung vorstellen? Wie hat sich dieser entwickelt?

Gehen wir zunächst einen Schritt zurück und rufen uns in Erinnerung wie die Mehrwertaneignung im klassischen Kapitalismus abläuft. Der Industriekapitalist eignet sich als erster den Mehrwert an, den die ArbeiterInnen in der Produktion geschaffen haben. Diesen Mehrwert nutzt er für unterschiedliche Zwecke: Ein Teil wird von ihm privat konsumiert (meistens diverse Luxusgüter). Wichtig ist aber, dass er einen anderen Teil seinem bisherigen Kapital hinzufügt, so dass sein Kapital insgesamt größer wird (in der Praxis sind das zum Beispiel neue Maschinen, Neueinstellungen, neue Fabrikgebäude usw.). Der Industriekapitalist behält allerdings nicht allen Mehrwert, den er aus der Produktion gewonnen hat selbst, sondern muss einen Teil an andere Kapitalisten abtreten, zum Beispiel an die Handelskapitalisten, die seine Waren verkaufen oder an die Bankkapitalisten, die ihm Kredite gewährt hatten. Jetzt stellt sich nur die Frage: Wie konnten die oben skizzierten sozialistischen Produktionsverhältnisse in eine neue Form der Mehrwertaneignung umgewandelt werden?

Die albanischen Genossen sind sich in ihrer Analyse der revisionistischen Ausbeuterklasse mit der damaligen KP Chinas und vielen anderen GenossInnen einig, dass in der Sowjetunion unpersönliches, staatliches bzw. kollektives kapitalistisches Eigentum vorherrschend war: „In der Sowjetunion haben die neuen Kapitalisten, Technokraten und Bürokraten der herrschenden Kreise kein Recht zur individuellen Vermehrung von Eigentum und Kapital, das allein dem imperialistischen Staat gehört.20

Dieser Punkt ist sehr wichtig, denn in der Auseinandersetzung mit den heutigen Verteidigern des Revisionismus wird uns oft die Argumentation begegnen, dass Staatseigentum sozialistisch sei, „Privatisierung“ aber kapitalistisch. So lässt sich leicht begründen, warum man die Sowjetunion bis in die 80er Jahre hinein als sozialistisch verteidigen muss, war doch bis dahin Staatseigentum vorherrschend. Diese Argumentation bleibt an der Form kleben, schafft es aber nicht sich damit auseinanderzusetzen, wie sich die Produktionsverhältnisse damals inhaltlich veränderten.

Richtig ist, dass mit der Machtergreifung der revisionistischen Bourgeoisie ein Widerspruch zwischen Form und Inhalt entsteht. Während die Produktionsverhältnisse formell betrachtet noch lange eine Ähnlichkeit zu den vorherigen sozialistischen Produktionsverhältnissen behielten (Staatseigentum, Planvorgaben), war der Inhalt schon staatskapitalistisch geworden (eine neue Kapitalistenklasse, die die ArbeiterInnen ausbeutete und sich den Mehrwert aneignete, Ausrichtung der Produktion auf den Profit).

Die neue Ausbeuterklasse in der Sowjetunion war nicht homogen: Sie setzte sich zusammen aus betrieblichen Direktoren, Leitern von landwirtschaftlichen Genossenschaftsbetrieben und Bürokraten aus dem Staats- und Parteiapparat. Der sowjetische Staatsapparat eignete sich den geschaffenen Mehrwert an und verteilten ihn durch ein kompliziertes System von Löhnen, Steuern, Zinsen, Abgaben, Privilegien und Prämien. Mit diesem System wurde ein Teil für den luxuriösen Lebensstil der neuen herrschenden Klassen aufgewendet, ein anderer Teil so wie es den Kapitalisten den höchsten Gewinn versprach wieder für die Produktion verwendet.

Auch hier können wir eine Skizze zur Hilfe nehmen:

grafik2

Machen wir uns die Unterschiede zum klassischen Privatkapitalismus nochmal bewusst. Die Kapitalisten eignen sich hier nicht einen bestimmten Mehrwert an, den sie selbst in den Teil für den eigenen Konsum und den Teil für die Vermehrung ihres Kapitals unterteilen, sondern der Staat agiert als Gesamtkapitalist, er eignet sich den Mehrwert an und er verteilt den Mehrwert unter die verschiedenen Angehörigen der neuen Kapitalistenklasse.

Dabei wird der Mehrwert oft über mehrere Methoden verteilt, die der Form nach sozialistisch wirken.

Sehen wir uns zuerst an, wie die Angehörigen der neuen Bourgeoisie den Teil des Mehrwerts erhielten, der für ihren immer luxuriösren Lebensstil vorgesehen war:

Wie die obige Skizze zeigt, wird ein Teil des Mehrwerts über Löhne von der neuen Ausbeueterklasse angeeignet. In dem schon zitierten Text von Fatos Nano wird aufgezeigt, dass die Lohnunterschiede zu diesem Zweck massiv ausgebaut wurden: So werden für das Jahr 1973 folgende Verhältnisse angegeben (Der Lohn eines gewöhnlichen Arbeiters wird hier als 100% angegeben):21

Gewöhnlicher Arbeiter 100%
Durchschnittsarbeiter 150%
Brigadeleiter 240%
Abteilungsleiter Über 320%
Chefingenieur Bis zu 720%
Direktor Bis zu 1080%

Diese Lohnunterschiede wurden später durch Prämien verschärft, die prozentual auf die festgesetzten Löhne draufgeschlagen wurden, wenn bestimmte Gewinnvorgaben in den Betrieben erfüllt wurden; sprich: Die neue Bourgeoisie profitierte auch am meisten von diesen Prämien.

Dazu kommen andere Mechanismen:

Im Sozialismus werden die Kosten für im Staatsapparat tätige Menschen ohne eigene produktive Arbeit auch aus dem Fonds für gesellschaftliche Aufgaben beglichen. Einmal an die Macht gekommen nutzte die neue Bourgeoisie diesen Mechanismus, um sich Zugang zu massiven Privilegien zu schaffen. Wichtig ist, dass der Luxus eigener Haushälter, Köche und Chauffeure in keiner sowjetischen Einkommensstatistik auftauchen.

Zwar wurden diese Privilegien ab den 50er Jahren massiv ausgebaut, sie bildeten sich aber bereits in den 30er Jahren in der Sowjetunion heraus, und wurden unter anderem von Stalin scharf kritisiert.

Neben Gehältern und den allgemein verbreiteten Privilegien der staatlichen Bürokratie wurde der sogenannte Direktorenfonds zu einer wichtigen Bereicherungsquelle für die neue Kapitalistenklasse. Der Direktorenfonds war ursprünglich eingeführt worden, um die Betriebe, die effizient und sparsam arbeiteten, zu belohnen. Der Direktor verfügte über diesen Fonds, der sich füllte, wenn bestimmte vorgegebene Planziele übertroffen wurden. Er bekam die Möglichkeit, Prämien an einzelne Beschäftigte im Betrieb zu vergeben aber auch Einrichtungen für alle ArbeiterInnen des Betriebes zu finanzieren (z.B. Erholungsstätten, Freizeiteinrichtungen usw.). Wichtig ist, dass diese Direktorenfonds in Zeit des herrschenden Revisionismus an den Gewinn der einzelnen Betriebe gekoppelt waren: Je mehr Gewinn ein Betrieb machte, über desto mehr gesellschaftlichen Reichtum verfügte somit der einzelne Betriebsleiter.

Die Revisionisten behaupteten, das sei notwendig, um „materielle Anreize“ für eine Steigerung der Produktivität zu setzen.

Soviel zur Aneignung des Mehrwerts, der für die Konsumtion der neuen Bourgeoisie, verwendet wurde. Jetzt kommen wir zu dem Teil, der für die Kapitalakkumulation verwendet wurde, der also genutzt wurde, um die Produktion zu erweitern. Der Ausgangspunkt der sozialistischen Produktionsverhältnisse in diesem Bereich sah so aus, dass die Betriebe hauptsächlich zu Kontrollzwecken und um die Produktivität zu steigern eine Art Gewinnstatistik führten. Sie gaben auch die von ihnen hergestellten Produkte an den sozialistischen Staat im Austausch gegen eine bestimmte Geldsumme, die ihnen gutgeschrieben wurde ab. Diese Gewinne wurden aber dann an den sozialistischen Staat abgeführt und neu verteilt, entsprechend der Planvorgaben.

Einmal an die Macht gekommen, begannen die Revisionisten ab etwa 1956 eine Kampagne für die angebliche „Entbürokratisierung“ der Wirtschaft zu führen. Konkret hieß das:

  • Der „Gewinn“ wurde nach und nach zur hauptsächlichen Planvorgabe der einzelnen sozialistischen Betriebe gemacht. Planvorgaben wie eine bestimmte Menge von Produkten, wurden dagegen gestrichen und für unnötig erklärt22
  • Auch die Planvorgabe, die eine Mindestanzahl von Arbeitern festsetzte, wurde gestrichen und somit wurden Entlassungen durch die einzelnen Betriebe möglich23
  • Ein immer größerer Teil der Gewinne verblieb in den Betrieben und wurde nicht mehr an den Staat abgeführt24
  • die Produktionsmittel wurden schrittweise wieder in Waren verwandelt, dieser Prozess begann damit, dass die landwirtschaftlichen Maschinen aus den Maschinen- und Traktorenstation, die bisher den Kolchosen nur zur Nutzung überlassen worden waren, nun zu ihrem Eigentum wurden und von ihnen gekauft werden konnten
  • in den folgenden Jahren wurden auch die Produktionsmittel der staatlichen Unternehmen immer mehr de facto zum Privateigentum dieser Unternehmen gemacht. In den 70er Jahren war es bereits Gang und Gebe, dass die Unternehmen sich Produktionsmittel direkt von anderen Unternehmen kauften, ohne mit dem Staat selbst in Kontakt zu treten25

Ein wichtiger Grundsatz sozialistischer Wirtschaftspolitik war die Konzentration auf die Entwicklung der Schwerindustrie, d.h. dass der größte Teil der im Sozialismus geschaffenen Produkte wiederum zur Weiterentwicklung der Produktion (Erweiterung und Modernisierung). Ökonomisch ist es nur so möglich, die Produktion ständig auf ein noch höheres Niveau zu heben, alles andere führt zur Stagnation der Produktifkräfte oder zu ihrem Verfall. Diese Orientierung wurde unter den Revisionisten aufgegeben und das Kapital floss zunehmend in die „rentablere“ Leichtindustrie, die den einzelnen Betriebsdirektoren auch mehr Möglichkeiten, sich zu bereichern bot.

Wir können also sehen, dass die neue bürokratische Bourgeoisie sobald sie die Macht ergriffen hatte, die sozialistischen Produktionsverhältnisse Schritt für Schritt so verändert hat, dass sich die Mitglieder dieser neuen Klasse persönlich mehr bereichern konnte; gleichzeitig aber der Anschein aufrecht erhalten werden konnte, es handele sich um Sozialismus. Es war ihnen unmöglich gleich ganz offen zu erklären, dass sie den Sozialismus beseitigen wollte, weil die ArbeiterInnenklasse dafür viel zu eng mit dem Sozialismus verbunden war und gerade 30 Jahre lang erlebt hatte, wie sehr sich ihr Leben in der sozialistische Sowjetunion gegenüber dem kapitalistischen russischen Zarismus verbessert hatte.

Die letzten Überbleibsel des Sozialismus zu beseitigen wurde somit erst möglich, nachdem die Revisionisten die Sowjetunion weitere knapp 40 Jahre heruntergewirtschaftet hatten.

5. Die Entwicklung von Chruschtschow bis zur Perestroika

In der Diskussion um die Entwicklung der Sowjetunion begegnen uns immer wieder Positionen wie zum Beispiel „Gorbatschow war ein großes Schwein“ oder „Chruschtschow war ein Verräter, aber Breschnew war ein guter Genosse“. Bezüglich der DDR gibt es manchmal eine Variation, dieser Behauptung, die Walter Ulbricht zum großen Verräter macht, aber Erich Honecker als aufrechten Kommunisten einschätzt. Was steckt hinter diesen Einschätzungen und was ist davon zu halten?

Knapp gesagt liegen all diesen Einschätzungen bestimmte Schwankungen in der Politik der revisionistischen Führer nach ihrer Machtergreifung zugrunde.

Wie schon oben gesagt, hat die Aushöhlung des Sozialismus und Errichtung eines bürokratisch-kapitalistischen Regimes bei gleichzeitiger Beibehaltung sozialistischer Formen einen Widerspruch zwischen Form und Inhalt erzeugt, der die ganze weitere Geschichte der Sowjetunion bestimmt hat, dieser Widerspruch wurde erst aufgehoben, als die Perestroika Form und Inhalt letzendlich in Übereinstimmung zueinander brachte und die Sowjetunion aufgelöst wurde.

In den Jahren bis dahin waren die Schwankungen im wirtschaftspolitischen Kurs der sowjetischen Führung vor allem Versuche, die Probleme die sich aus diesem besonderen Wirtschaftsmodell ergeben haben, unter Kontrolle zu bringen.

Unter Breschnew, der als Generalsekretär der KPdSU auf Chruschtchow folgte, wurden bestimmte Maßnahmen der Dezentralisierung wieder zurückgenommen, die ein massives wirtschaftliches Chaos nach sich zogen. Beispielsweise wurden die zuvor unter Chruschtchow abgeschafften zentralen Industrieministerien wieder eingeführt.26 Am sonstigen Kurs auf Wiederherstellung des Kapitalismus änderte sich aber sonst herzlich wenig, dieser Kurs wurde sogar fortgesetzt. In der Periode Breschnew wurde vieles, was zuvor schon in der Praxis eingeführt worden war, zur Theorie erhoben und konsequent zu Ende gedacht. Zum Beispiel setzte sich in dieser Phase durch, dass der Gewinn zum hauptsächlichen Ziel bei der Planerfüllung der einzelnen Betriebe wurde.

Es spricht viel dafür, dass Breschnew lediglich, wie es schon einige andere GenossInnen vermutet haben27, ein Vertreter der Teile der neuen Bourgeoisie war, die eher in den zentralen Positionen des Staatsapparats saßen, während Chruschtschow eng mit den Betriebsdirektoren und Kolchosleitern verbunden war.

Die Perestroika stellte da schon einen entscheidenderen Einschnitt dar. Im Angesicht von stagnierendem Wirtschaftswachstum und immer wieder auftauchenden Engpässen in der Versorgung mit bestimmten Waren sah sich die sowjetische Führung gezwungen, den Widerspruch zwischen kapitalistischem Inhalt und sozialistischer Form endgültig aufzuheben. Die Perestroika ist also vor allem das konsequente zu Ende führen, der 1956 von der neuen Bourgeoisie begonnenen Prozesses der kapitalistischen Restauration.

In der Zeit der Perestroika wurde endgültig die Eigenverantwortung der einzelnen Betriebe in den Vordergrund gestellt, sie wurden zu „finanziell eigenständigen Betrieben“ erklärt, denen nunmehr kein Kapital mehr aus dem Staatshaushalt zugewiesen wurde. Dementsprechend waren sie auch für ihre Verluste selbst zuständig. Auch die andere Überbleibsel der Planwirtschaft wurden in der Phase der Perestroika beseitigt, zum Beispiel mussten Betriebe nunmehr selbst ihre Produkte vertreiben und es konnte ihnen nicht mehr egal sein, ob Millionen ihrer Ware in Lagerhäusern verstaubten. Auch die letzten planwirtschaftlichen Preise wurden beseitigt, beispielsweise wurden in der Endphase der Sowjetunion bestimmte Produkte kaum noch hergestellt, weil ihre Preise als Element des angeblichen „Sozialismus“ staatlicherseits begrenzt waren, z.B. Babynahrung. Diese Produkte versprachen der neuen Bourgeoisie somit keinen Profit. Die in den westlichen Medien als „Oligarchen“ bezeichneten Monopolkapitalisten, die die Staaten der ehemaligen Sowjetunion heute beherrschen haben sich in dieser Phase bedient, als aus dem staatlichen Eigentum wieder Privateigentum wurde.28

Wir sehen, dass die Perestroika Hemmnisse für die freie Entfaltung der kapitalistischen Wirtschaft beseitigt hat und der verschärften Konkurrenz zwischen den einzelnen Betrieben den Weg geebnet hat. Das wiederum war nur eine notwendige Konsequenz des Weges, den die Revisionisten schon in den 50er Jahren eingeschlagen hatten. Wenn wir also dabei stehen bleiben Gorbatschow und Konsorten für die Beseitigung der letzten ohnehin nur noch formalen Überreste des Sozialismus zu beschimpfen, machen wir einen ernsthaften politischen Fehler und laufen Gefahr beim nächsten Versuch den Sozialismus aufzubauen, uns ebenso wie ein Großteil der Kommunistischen Weltbewegung und der sowjetischen ArbeiterInnenklasse betrügen zu lassen.

6. Ein Auftakt für eine intensive Auseinandersetzung mit dem Sozialismus

In diesem Artikel konnten wir nicht viel mehr leisten als eine Zusammenfassung der bisher erarbeiteten Positionen der Marxisten-Leninisten zur Zerstörung des Sozialismus in der Sowjetunion. Aber selbst innerhalb dieser Zusammenfassung konnten wir nicht allen Aspekten, das ihnen gebührende Gewicht geben, sondern haben uns bewusst auf die ökonomische Seite der Herausbildung einer neuen Ausbeuterklasse konzentriert. Viele wichtige Fragen konnten nicht oder nur sehr oberflächlich behandelt werden wie zum Beispiel der Kampf gegen die Unterdrückung der Frau, die innerparteilichen Auseinandersetzungen in den 20er und 30er Jahren (Trotzkismus und Bucharinismus) oder die sowjetische Außenpolitik vor und nach der Machtergreifung der Revisionisten. Unser Artikel ist somit auch für uns nur ein Auftakt für eine intensivere Beschäftigung mit der sozialistischen Geschichte, die wir in den nächsten Jahren leisten müssen.

Gerade deswegen wollen wir zum Abschluss stichpunktartig einige Erkenntnisse, die wir schon jetzt aus unserer Diskussion ziehen können, festhalten:

  • Der Klassenkampf setzt sich im Sozialismus nach der Revolution fort und auch nachdem die alten Ausbeuterklassen zerschlagen und geflohen sind. Er lebt im Kampf gegen neue Träger der bürgerlichen Ideologie wieder auf und muss mit besonderen Methoden geführt werden.
  • Der Kampf für die ständige Revolutionierung der Massen und der kommunistischen Partei selbst darf auch im Sozialismus nicht unterbrochen oder geschwächt werden, sondern muss sogar noch konzentrierter fortgeführt werden.
  • Die Frage, ob ein Land sozialistisch ist oder nicht kann nicht an Formfragen, wie dem Staatseigentum entschieden werden, sondern muss anhand des Wesens der Produktionsverhältnisse entschieden werden.
  • Die Zerstörung der Sowjetunion in der Perestroika und die vollständige Entfesselung der kapitalistischen ökonomischen Gesetze war nur die notwendige Konsequenz der Machtergreifung einer neuen Ausbeuterklasse in den 1950er Jahren.

Nicht der Sozialismus ist gescheitert, sondern eine neue Kapitalistenklasse, die versucht hat die Ausbeutung unter sozialistischem Banner wieder aufleben zu lassen.

Die Welt braucht neue rote Oktober!

1Manchmal wird der Begriff moderner Revisionismus verwendet, um ihn vom Revisionismus früherer Sozialisten und später sozialdemokratischer Reformisten wie Bernstein und Kautsky abzugrenzen.

2Lenin: Staat und Revolution, LW 25, S. 443 ff.

3Lenin: Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, LW 27, S. 238 ff.,

4Die bürgerliche Historikerin Ursula Nienhaus gibt Quoten zwischen 50-70% von alten in die neuen „Ministerien“ (Volkskomissariate) übernommenen Beamten an. Ursula D. Nienhaus: Revolution und Bürokratie, S. 26f.

5Stalin: Rede auf dem VIII. Kongreß des Kommunistischen Jugendverbandes, SW 11, S. 67

6Stalin: Rede auf dem VIII. Kongreß des Kommunistischen Jugendverbandes, SW 11, S. 63

7Denn der zentrale Apparat hat sich bei uns während dreieinhalb Jahren bereits so weit herausgebildet, daß er sich schon eine gewisse schädliche Trägheit angeeignet hat; wir können ihn nicht erheblich und rasch verbessern, wir wissen nicht, wie wir das anfangen sollen. […] Im Lande draußen stehen die Dinge im allgemeinen – soweit ich es übersehen kann – besser als im Zentrum, und das ist auch begreiflich, denn das Übel des Bürokratismus konzentriert sich naturgemäß im Zentrum; Moskau ist diesbezüglich zwangsläufig die schlimmste Stadt und überhaupt der schlimmste „Ort“ in der Republik“ (LW 32, S. 369)

8Lenin: Wie wir die Arbeiter -und Bauerninspektion reorganisieren sollten, LW 33, S. 468-477

9Stalin: Politischer Rechenschaftsbericht an den XVI. Parteitag, SW 12, S. 288

12Beispielsweise im Rechenschaftsbericht an den 17. Parteitag, SW 13

13Nils Holmberg, Friedliche Konterrevolution. 1974 Oberbaumverlag Berlin

14Nils Holmberg: Friedliche Konterrevolution Teil 1, S. 77f. 1974 Oberbaumverlag Berlin

15Nils Holmberg: Friedliche Konterrevolution Teil 1, S. 88

16Nils Holmberg: Friedliche Konterrevolution Teil 1, S. 90

17Nils Holmberg: Friedliche Konterrevolution Teil 2, S. 35 f., 1974 Oberbaumverlag Berlin

18Nils Holmberg: Friedliche Konterrevolution Teil 2, S. 41

19Fatos Nano: Über den Mechanismus der Gewinnung und Aneignung des Mehrwerts in der sowjetischen Gesellschaft in Der Weg der Partei Nr.1/1988, S. 2

20Fatos Nano: Über den Mechanismus der Gewinnung und Aneignung des Mehrwerts in der sowjetischen Gesellschaft in Der Weg der Partei Nr.1/1988, S. 5

21Fatos Nano: Über den Mechanismus der Gewinnung und Aneignung des Mehrwerts in der sowjetischen Gesellschaft in Der Weg der Partei Nr.1/1988, S. 12

22Willi Dickhut: Die Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion, S. 102 ff. Verlag Neuer Weg Stuttgart 1974

23Willi Dickhut: Die Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion, S. 105. Verlag Neuer Weg Stuttgart 1974

24Willi Dickhut: Die Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion, S. 91-92. Verlag Neuer Weg Stuttgart 1974

25Bill Bland: Die Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion, http://www.oneparty.co.uk/html/book/ussrchap6.html

26Willi Dickhut: Die Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion, S. 104 ff.

27Z. B. Fatos Nano: Über den Mechanismus der Gewinnung und Aneignung des Mehrwerts in der sowjetischen Gesellschaf , S. 6

28Perestroika – Sowjetunion auf dem weg zu westlichen Formen des Kapitalismus in Der Weg der Partei Nr. 1/ 1988