Welche Position nahm Lenin zum bewaffneten Kampf ein?
Eine gute Zusammenfassung der leninistischen Position findet man bei dem im katholischen Herder-Verlag 1968 erschienenen monumentalen Nachschlagewerk ‚Sowjetsystem und Demokratische Gesellschaft‘. Dort wird aus bürgerlicher Sicht die kommunistische Ideologie auseinandergenommen und dazu auf einem – im heutigen Zeitalter von „fake news“ und political engineering – kaum noch vorstellbaren qualitativ hohen Niveau argumentiert.
Als Teil der Gegenargumentation wird die kommunistische Position zur jeweiligen Frage samt ihren Veränderungen überwiegend sachlich korrekt und zusammenfassend wiedergegeben.
Während die Revisionisten erst unter Chruschtschow und dann durch Breschnew das Märchen vom „friedlichen Übergang zum Sozialismus“ und der „friedlichen Koexistenz“ in der kommunistischen Weltbewegung verbreiteten, dokumentieren die Katholiken hier wahrheitsgetreu die gegenteilige Haltung Lenins:
Lenin hat sich in seiner mehr als zwei Jahrzehnte währenden Beschäftigung mit Fragen des revolutionären Kampfes mit dem bewaffneten Aufstand, den er nur als „eine besondere Form des politischen Kampfes“ ansah (LW 6, S. 166f), deswegen immer wieder beschäftigt, weil er in ihm die einzige Möglichkeit sah, in Rußland den Sturz des Zarentums herbeizuführen. Den Partisanenaktionen hat er, im Gegensatz zum individuell orientierten Terror, eine hohe Bedeutung für den Kampf um die Macht zuerkannt. „Der Terror war Rache an einzelnen Personen. Der Terror war eine Verschwörung von Intellektuellengruppen. Der Terror war absolut nicht mit irgendwelchen Massenstimmungen verbunden. Der Terror bildete keine militärischen Führer der Massen heran. Der Terror war das Ergebnis … des Unglaubens an den Aufstand …“ (LW 10, S. 106f). Mit dieser Kritik an den Terroraktionen der jungen, revolutionär gesonnenen Intellektuellen des ausgehenden 19. Jahrhunderts stellte Lenin zugleich heraus, worauf es ihm bei bewaffneten Aktionen ankommt, nämlich auf die Schaffung einer Massenbasis für den bewaffneten Aufstand. Dafür erschienen ihm Partisanenaktionen besonders geeignet:
„…Partisanenkrieg, unaufhörliche Streiks, Erschöpfung der Kräfte des Feindes durch Überfälle und Straßenkämpfe bald an dem einen, bald an dem anderen Ende des Landes – auch diese Kampfform ergab und ergibt die ernsthaftesten Resultate. Kein Staat hält a la longue diesen hartnäckigen Kampf aus, der das industrielle Leben lahmlegt, in die Bürokratie und in die Armee völlige Demoralisation hineinträgt und in allen Volkskreisen Unzufriedenheit mit der Lage der Dinge sät.“
Lenins Hauptanliegen ist die Bewegung „vom Streik zum Aufstand“ (LW 11, S. 159), für diese Eskalation einer keimhaft angelegten revolutionären Stimmung scheint ihm die Partisanentaktik der geeignete Transformationsmechanismus:
„Partisanenaktionen sind keine Racheakte, sondern militärische Operationen. Sie gleichen ebenso wenig einem Abenteuer, wie die Streifzüge von Jägerabteilungen in den Rücken der feindlichen Armee während einer Kampfpause auf dem Hauptkriegsschauplatz den Morden von Duellanten oder Verschwörern gleichen. Die Partisanenaktionen der Kampfgruppen, die schon seit langem von den Sozialdemokraten beider Fraktionen in allen größeren Zentren der Bewegung gegründet worden sind und die hauptsächlich aus Arbeitern bestehen, sind zweifellos aufs augenscheinlichste und unmittelbarste mit den Stimmungen der Massen verbunden. Die Partisanenaktionen der Kampfgruppen, bilden unmittelbar militärische Führer der Massen heran. Die Partisanenaktionen der Kampfgruppen sind heute keineswegs das Ergebnis des Unglaubens an den Aufstand oder die Unmöglichkeit des Aufstands, sondern im Gegenteil ein notwendiger Bestandteil des vor sich gehenden Aufstands. Natürlich sind in allem und stets Fehler möglich; es sind unangebrachte Versuche nicht zeitgerechter Aktionen möglich; es sind Unbesonnenheiten und Extreme möglich, die stets und unbedingt schädlich und geeignet sind, der allerrichtigsten Taktik zu schaden“ (LW 10, S. 107)
Zur Vermeidung von Fehlern, die mit sich bringen könnten, dass die Bevölkerung den Revolutionären ihre Unterstützung versagt, hat Lenin 1906 als taktische Plattform für die Parteitätigkeit eine so ausgewogene Konzeption für Partisanenaktionen vorgeschlagen, daß man diese noch heute als wegweisend bezeichnen kann.
„1. die Partei muß die Partisanenaktionen der Kampfgruppen, die zur Partei gehören oder sich an sie anlehnen, als prinzipiell zulässig und in der gegenwärtigen Periode zweckmäßig anerkennen;
2. die Partisanenkampfaktionen müssen so geartet sein, daß sie der Aufgabe Rechnung tragen, Kader von Führern der Arbeitermassen während des Aufstands zu erziehen und Erfahrung in überraschenden Angriffshandlungen zu vermitteln;
3. als unmittelbare Hauptaufgabe solcher Aktionen ist die Zerstörung des Regierungs-, Polizei- und Militärapparats zu betrachten sowie der schonungslose Kampf gegen die aktiven Schwarzhunderterorganisationen, die der Bevölkerung gegenüber zur Gewalt greifen und sie einzuschüchtern suchen;
4. Kampfaktionen sind gleichfalls zulässig, um Geldmittel, die dem Feind, d.h. der absolutistischen Regierung gehören, zu erbeuten und diese Mittel für die Erfordernisse des Aufstands zu verwenden, wobei streng darauf zu achten ist, daß die Interessen der Bevölkerung möglichst geschont werden;
5. die Partisanenkampfaktionen müssen unter Kontrolle der Partei durchgeführt werden, und zwar so, daß die Kräfte des Proletariats nicht unnütz vergeudet werden und daß dabei die Bedingungen der Arbeiterbewegung in dem betreffenden Ort und die Stimmung der breiten Massen berücksichtigt werden“ (LW 10, S. 146f).1
1 Sowjetsystem und Demokratische Gesellschaft – Eine vergleichende Enzyklopädie, Band 2, Stichwort Guerilladoktrin, B. Die kommunistische Guerilladoktrin, 1. Die Bedeutung der Massenbasis in Lenins Partisanendoktrin, S. 1127 – 1128