Inhaltsverzeichnis:
Kapitel 1: Faschismus: Entstehung und Diktatur (1918-1945)
Kapitel 2: Die faschistische Ideologie
Kapitel 3: Postfaschismus, Staatsterror & Neue Rechte (1945-1990)
Kapitel 4: Der Faschismus erhebt sein Haupt (1990-Heute)
Kapitel 5: Antifaschistische Strategie
Faschismus und Irrationalismus
Der Faschismus schafft es, Millionen von Unterdrückten dazu zu bringen, sich ihren objektiven Interessen völlig entgegengesetzt zu verhalten. Er bringt sie dazu, fanatisch für das Gesellschaftssystem zu kämpfen, das sie ausbeutet und niederhält. Er leitet sie dazu an, ihre gewalttätigen Impulse gegen soziale und ethnische Gruppen zu richten, mit denen sie sich aus rationalen Erwägungen heraus gerade gegen das Ausbeutersystem verbünden müssten. Dieses „Kunststück“ vollbringt die faschistische Bewegung mithilfe einer Ideologie, die frei von logischer Schlüssigkeit ist und deren innere Widersprüchlichkeit vor aller Welt zutage liegt. Deren philosophisches Kernelement, der Irrationalismus, schreibt sich die Bekämpfung der Wissenschaftlichkeit sogar offen auf die Fahnen. Die faschistische Ideologie, z.B. in Form der Rassentheorie, ist nicht einfach eine falsche rationale Antwort auf den marxistischen Klassenkampf, die von abgebrühten Geheimdienstleuten zur Irreführung der Massen entworfen worden wäre. Gleichzeitig sind die Faschist:innen als Bewegung entgegen eines landläufigen Vorurteils keineswegs „dumm“, noch sind es die Teile der Bevölkerung, die von ihnen beeinflusst werden. Der Irrationalismus und seine Beschwörung der Mystik entfalten ihre Wirkung bei Ingenieur:innen und Unternehmensberater:innen genau so wie bei Lagerarbeiter:innen und Köch:innen, und zwar selbst in Form der plumpsten Verschwörungstheorien. In der SS wimmelte es von hochqualifizierten Akademiker:innen, die sich bereitwillig und aus voller Überzeugung für die faschistische Vernichtungspolitik hingaben.1
Tatsächlich stellt der Irrationalismus eine über 150-jährige Traditionslinie in der reaktionären bürgerlichen Philosophie dar, die das geistige Fundament weiter Teile der heutigen bürgerlichen Intelligenz überhaupt bildet und deren Einfluss sich bis tief in die politische Widerstandsbewegung erstreckt. Die faschistische Ideologie stellt nichts wesentlich Unterschiedliches von der bürgerlichen Ideologie dar. Sie ist vielmehr eine besondere Ausprägung der bürgerlichen Ideologie und die Übergänge zwischen der faschistischen und der „gewöhnlichen“ bürgerlichen Intellektuellenszene sind nicht zufällig fließend. Als besondere Ausprägung der bürgerlichen Ideologie hat sich die faschistische Ideologie – etwa in Form der NS-Rassentheorie – infolge des Wechselspiels zwischen bürgerlicher Intelligenz, imperialistischer Bourgeoisie und faschistischer Bewegung entwickelt. Das Besondere ist jedoch, dass sie bereits vor der Entstehung des Faschismus als Bewegung in ausgearbeiteter Form bestand, etwa in den Reihen des von deutschen Industriellen gegründeten Alldeutschen Verbandes oder in den Zirkeln kaiserkritischer Nietzsche-Schüler.
Ein tiefgehendes Verständnis der faschistischen Ideologie und die Bekämpfung des Faschismus auf diesem Gebiet ist ein unerlässlicher Bestandteil des antifaschistischen und revolutionären Kampfes. Auf diese Aufgabe, den Faschismus „politisch und ideologisch nieder[zu]ringen“, weil wir ihn „nicht auf militärischem Wege allein überwinden“ können, hat Clara Zetkin schon im Juni 1923 vor dem Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale eindringlich hingewiesen.2
Die reaktionäre Wende in der bürgerlichen Philosophie im 19. Jahrhundert
Die philosophischen Wurzeln der faschistischen Ideologie reichen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, als es in der bürgerlichen Philosophie zu einer reaktionären Wende kam. Diese ging vor allem von Deutschland aus und bestand in der Ablehnung der fortschrittlichen Traditionen der Aufklärung und der klassischen bürgerlichen Philosophie, wie sie etwa von Kant und Hegel verkörpert worden waren.
In die damalige Zeit fallen zahlreiche geschichtliche Entwicklungen, die das Hinüberwachsen des Kapitalismus in Deutschland in sein imperialistisches Stadium vorbereitet und begleitet haben. Dazu gehören der Kampf der herrschenden Klassen gegen die Errungenschaften der französischen Revolution; die Niederschlagung der bürgerlichen Revolution von 1848; das Bündnis der deutschen Bourgeoisie mit dem Feudaladel; sowie das Erstarken des preußisch-junkerlichen Militarismus und die 1871 erfolgte Gründung des Deutschen Reiches.3 Im Zuge dieser geschichtlichen Entwicklung musste die Bourgeoisie all ihre vormaligen fortschrittlichen Seiten über Bord werfen und voll und ganz zu einer reaktionären Klasse werden. Es waren ihre konsequentesten Denker, Künstler und Literaten, die diese Notwendigkeit in ideologischer Form vorausahnten und in ihren Werken vorwegnahmen. Dazu gehörten auf dem Gebiet der Philosophie Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche4 und in der Kunst und Musik Richard Wagner und andere Vertreter der bürgerlichen Romantik.
In der bürgerlichen Philosophie war das wesentliche Merkmal der reaktionären Wende die Hinwendung zum Idealismus und Irrationalismus: Letzterer bezeichnet eine Weltanschauung, die dem menschlichen Verstand die Fähigkeit zur Erkenntnis der objektiven Realität abspricht, an dessen Stelle sie mystische „höhere Erkenntnisformen“ setzt – wie z.B. die „Intuition“ oder das „Erleben“ 5. Damit einher gingen das Erstarken des Antihumanismus, des moralischen Nihilismus und des geschichtsphilosophischen Pessimismus, wobei es sich um ideologische Elemente handelt, die im Zuge der Entwicklung der faschistischen Weltanschauung später stark vereinfacht, oberflächlich dargestellt und zugespitzt wurden.6
Hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Funktion entsprachen die Ablehnung der Wissenschaftlichkeit und die Rückkehr zu idealistischen Mythen, die Auffassung der Geschichte als „ewige Wiederkehr des Gleichen“, die Verneinung der Möglichkeit gesellschaftlichen Fortschritts und das daraus folgende menschenfeindliche Weltbild gerade den Interessen der sich herausbildenden Monopolbourgeoisie: Nämlich an der Aufrechterhaltung ihrer Klassenherrschaft, am Kampf gegen den wissenschaftlichen Sozialismus sowie an der imperialistischen Ausdehnung des eigenen Machtbereichs und Unterwerfung anderer Länder. In Bezug auf die Menschen, die diese Weltanschauung produzierten oder (typischerweise als Bürger:innen und Kleinbürger:innen) im Zeitgeist ihrer Entstehung heranwuchsen, beschreiben diese Merkmale zugleich die Grundzüge ihrer typischen Charakterstruktur: Die von unbewussten Zwängen getriebene, religiös-mystische Persönlichkeit, welche die Menschen verachtet, Autoritäten und starke Männer fürchtet und von Angst vor der gesellschaftlichen Entwicklung, vor Fortschritt und Revolution erfüllt ist.7 Der Irrationalismus ist damit nicht nur die (rationale) Sichtweise, dass die Welt nicht erkennbar wäre, sondern auch Ausdruck der Irrationalität seiner Schöpfer, der zugleich die irrationalen Seiten des Publikums anspricht.
Diese enge Verbindung zwischen reaktionärer Philosophie, großbürgerlichen Klasseninteressen und autoritär-patriarchaler Persönlichkeit lässt sich besonders deutlich anhand des wichtigsten Vertreters dieser neuen bürgerlichen Philosophie nachvollziehen: Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) war ein erklärter Verherrlicher des Großkapitals und der großen Männer und ein Feind der Arbeiter:innenbewegung, der die Massen8 und speziell Frauen verachtete; der seine Figur des Zarathustra im gleichnamigen Werk verkünden lässt: „Der Mann soll zum Kriege erzogen werden und das Weib zur Erholung des Kriegers: alles Andre ist Thorheit.“9
Nietzsche verherrlicht in seinen philosophischen Schriften den „Willen zur Macht“ als mystische Triebkraft von Natur und Gesellschaft, betrachtet die Gesellschaft als Anhäufung von Individuen mit egoistischen Instinkten und die Geschichte als das zufällige Produkt von „Überwältigungsprozessen“10: „Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens Ausbeutung.“11 Nach seiner Vorstellung sollten die „Vornehmen“ und „Edlen“ sich die Welt als „Herren“ unterwerfen. Verkörpert sah er sie durch die „prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie.“12
Alle bisher vorherrschenden Richtungen der Philosophie wie die Aufklärung, den Humanismus, den Marxismus, aber auch das Juden- und Christentum lehnte Nietzsche als Ausdruck einer „Sklavenmoral“ ab, die nur dazu dienen würde, die Herausbildung des „Übermenschen“ aufzuhalten. Den Bruch mit diesen fortschrittlichen Traditionen bezeichnete er als „Umwertung der Werte“: „Während die Ideologen des aufstrebenden Bürgertums […] mit dem großen humanistischen Anspruch auftraten, die Interessen der ganzen Menschheit zu verfechten, während ihre Weltanschauung vom Pathos der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen getragen war, verteidigte Nietzsche unverhüllt die Interessen einer kleinen Minderheit, ihren unumschränkten Herrschaftsanspruch, ihr vorgebliches Recht auf Ausbeutung, Unterdrückung und Versklavung der breiten Massen.“13
Nietzsche richtete seine philosophischen Wutausbrüche auch gegen die liberale Bourgeoisie und gegen politische Führer wie Bismarck. Ebenso trat er gegen bestimmte Erscheinungen des Kapitalismus und der bürgerlichen Kultur seiner Zeit ein.14 Dies ist einer der Hintergründe, warum heute auch Autor:innen mit antikapitalistischem Anspruch auf Nietzsche zurückgreifen. Für den Postmodernismus z.B. ist er eine der wichtigsten philosophischen Quellen.15 Es muss jedoch betont werden, dass Nietzsche der Bourgeoisie seiner Zeit gerade ihre Laschheit und das Anhängen an der „Sklavenmoral“ vorhielt. Nietzsche beantwortete die Entlarvung der bürgerlichen Ideale durch die kapitalistische Entwicklung, indem er letztlich – in ideologisch vernebelter Form – den aggressivsten Kapitalismus verherrlichte, indem er die Herausbildung von „Herrenmenschen“ propagierte: „Ich schreibe für eine Gattung Menschen, welche noch nicht vorhanden ist: für die Herren der Erde.“16 Damit nahm er den Imperialismus und den Kampf der führenden kapitalistischen Monopole um die Weltherrschaft philosophisch vorweg. Dass er den Kapitalismus und die Bourgeoisie in einzelnen Aspekten von reaktionären Standpunkten aus kritisierte, ohne die Grundlagen des Kapitalismus in Frage zu stellen, machte ihn für faschistische Ideolog:innen zu einer idealen Quelle beim Entwurf eines „Antikapitalismus von rechts“. Dies gerade auch deshalb, weil sein radikaler Irrationalismus und Idealismus, seine „Umwertung der Werte“, seine Menschenverachtung, seine Verherrlichung von Macht und „Herrenmenschentum“ die Grundbausteine für eine auf reaktionäre Weise „sinnstiftende“ Weltanschauung bildeten.17 Diese Grundbausteine konnten gerade dazu verwendet werden, denjenigen einen „Ausweg aus tiefer Seelennot“18 zu liefern, die unter dem Kapitalismus litten und zugleich dem Sozialismus nicht oder nicht mehr vertrauten. Nicht umsonst waren Mussolini und Hitler große Verehrer von Nietzsche. Das von der Schwester des Philosophen nach seinem Tod gegründete Nietzsche-Archiv in Weimar wurde faktisch zu einem Club für faschistische Intellektuelle, in dem die Naziprominenz ab 1933 ein- und ausging.19
Die gesellschaftliche Funktion der Mystik und die faschistische Rassenlehre
Das Kernelement bei Nietzsche und anderen Vertretern des Irrationalismus, das die faschistische Ideologie später in die Lage versetzen sollte, „unbändige […] Urkräfte im bürgerlichen System“20 zu wecken, ist die Rückkehr zur Mystik. Unter diesem Begriff wird religionsgeschichtlich im engeren Sinne eine Art des religiösen Erlebens bezeichnet, die durch „Abkehr von der Sinnenwelt“ und „Versenkung in das Innere, Seelische“ sowie mittels kultischer Mittel (wie z.B. Drogen) die „Herbeiführung entsprechender seelischer Erlebnisse oder physisch-psychischer Erregungszustände (Ekstase) anstrebt, um auf diese Weise die Vereinigung, das Einswerden des Seelischen mit dem Göttlichen zu verwirklichen und als unmittelbares Erlebnis zu erfahren.“21 Allgemeiner kann die Mystik als Merkmal jeder Art von Religion angesehen werden. Sie ist der ideologische Ausdruck verdrängter Emotionen und besteht darin, nicht befriedigte Bedürfnisse des Menschen im Rausch der religiösen Fantasie ersatzmäßig zu „befriedigen“. Karl Marx hat diese Funktion der Religion als „Opium des Volkes“ bezeichnet: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestaktion gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammerthales, dessen Heiligenschein die Religion ist.“22
Die Mystik erscheint in der irrationalistischen Philosophie vor allem in der Schaffung neuartiger Mythen: Etwa bei Nietzsche in der Anbetung des „Willens zur Macht“, des „Herrenmenschen“ und der „Überwältigungen“, sowie der Beschwörung der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“. Diese Elemente erfüllen auf der rationalen Ebene eine objektive Funktion für eine herrschende Klasse, deren Gesellschaftssystem seinem Ende zu geht – die also nur noch ein sehr begrenztes Interesse an einer wirklichkeitsgetreuen Betrachtung der Welt hat. Ein Geschichtsbild, das die Welt für prinzipiell unveränderbar hält, das vor allem den geschichtlichen Fortschritt und damit die Zerstörung von Unterdrückungssystemen ausschließt, ist für sie zweckmäßig. Zugleich bringen diese Mythen in vernebelter Form Emotionen und Bedürfnisse zum Vorschein, die reale Individuen in den herrschenden Klassen sowie auch in Teilen der unterdrückten Klassen tatsächlich fühlen. Dazu dürfte ganz sicher die Angst vor der revolutionären Bedrohung durch die unterdrückten Massen (in der Bourgeoisie, dem Kleinbürger:innentum und auch in Teilen der Arbeiter:innenklasse selbst!) gehören; die Angst vor der Zerstörung der eigenen Lebensweise, der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, der Familie, der Kirche, der Nation, der Kultur usw. Die Angst von Männern vor dem Verlust der geselschaftlichen Macht über die Frauen und vor allem die charakteristische Angst autoritär-patriarchaler Männer vor Frauen überhaupt dürfte ebenso dazu zählen. Schließlich befriedigt die „Herrenmenschen“- und „Macht“-Mystik in der Fantasie die Sehnsucht des deutschen Bourgeois nach der Errichtung eines Weltreichs ebenso wie den widersprüchlichen Drang der Kleinbürger:innen nach der Verteidigung und dem Ausbrechen aus ihrer kleinen, spießigen Welt.
Die Wirkung der Mystik erfordert Persönlichkeiten, die verdrängte Emotionen und Bedürfnisse auszugleichen haben. Dies trifft in der bürgerlich-patriarchalen Gesellschaft auf alle Menschen in allen Klassen in unterschiedlichem Maße zu, besonders aber auf autoritär-patriarchale Charaktere, wie sie gerade im 19. und 20. Jahrhundert für das „ständische“ Kleinbürger:innentum typisch waren, aber auch heute noch bestehen. Der literarische Prototyp eines solchen Charakters ist Heinrich Manns Figur Diederich Heßling aus dem Roman „Der Untertan“ von 1914: Ein obrigkeitshöriger, feiger, unsicherer Fabrikbesitzer und Familienpatriarch, der den deutschen Kaiser Wilhelm II. glühend verehrt und ansonsten ein politischer Opportunist ist. Eine Szene des Romans, in der Heßling auf sein Idol trifft, wie dieser auf seinem Pferd durch das Brandenburger Tor reitet, beschreibt die Wirkungsweise der Mystik treffend. Manns Roman ist zwar eine Gesellschaftssatire, die Beschreibung des rauschhaften Erlebens entspricht aber eins zu eins dem, was etwa der faschistische Schriftsteller Ernst Jünger in seinem (ernst gemeinten) Kriegsbericht „In Stahlgewittern“ zum Ausdruck bringt. Sie ließe sich ebenso auf Reichsparteitage der NSDAP, Wagner-Opern oder heute auf Trump-Rallys oder Massenexzesse nach Fussballmeisterschaftsspielen übertragen:
„‘Hurra!‘ schrie Diederich, denn alle schrien es; und inmitten eines mächtigen Stoßes von Menschen, der schrie, gelangte er jäh bis unter das Brandenburger Tor. Zwei Schritte vor ihm ritt der Kaiser hindurch. Diederich konnte ihm ins Gesicht sehen, in den steinernen Ernst und das Blitzen; aber ihm verschwamm es vor den Augen, so sehr schrie er. Ein Rausch, höher und herrlicher als der, den das Bier vermittelt, hob ihn auf die Fußspitzen, trug ihn durch die Luft. (…) Auf dem Pferd dort, unter dem Tor der siegreichen Einmärsche und mit Zügen steinern und blitzend ritt die Macht! Die Macht, die über uns hingeht und deren Hufe wir küssen! Die über Hunger, Trotz und Hohn hingeht! Gegen die wir nichts können, weil wir alle sie lieben! Die wir im Blut haben, weil wir die Unterwerfung darin haben! Ein Atom sind wir vor ihr, ein verschwindendes Molekül von etwas, das sie ausgespuckt hat! Jeder einzelne ein Nichts, steigen wir in gegliederten Massen als Neuteutonen, als Militär, Beamtentum, Kirche und Wissenschaft, als Wirtschaftsorganisation und Machtverbände kegelförmig hinan, bis dort oben, wo sie selbst steht, steinern und blitzend! Leben in ihr, haben teil an ihr, unerbittlich gegen die, die ihr ferner sind, und triumphierend, noch wenn sie uns zerschmettert: denn so rechtfertigt sie unsere Liebe!“ 23
Einschub: Gewalt als Mythos und Selbstzweck
– der Rechtsanarchist Georges Sorel
Friedrich Nietzsche war nicht der einzige geistige Vorvater der faschistischen Ideologie, der den Mythos ins Zentrum seines Denkens stellte und den Antikapitalismus von rechts neu entdeckte.
Ein weiteres wichtiges Bindeglied zwischen reaktionärer Philosophie und Faschismus war der französische Anarchosyndikalist Georges Sorel (1847 – 1922). Dieser schrieb in seiner frühen Schaffensphase für verschiedene sozialistische Zeitungen und ließ sich philosophisch und politisch von Karl Marx und vor allem Pierre-Joseph Proudhon beeinflussen. Später versuchte er Bestandteile des Marxismus mit der Lebensphilosophie von Henri Bergson zu verbinden.
Ein wichtiges Konzept dabei war die Mythologisierung der Gewalt: Laut Sorel sollten die Marxist:innen und die Arbeiter:innen ihre Zeit nicht mit politischer Theorie verschwenden, sondern sich auf das Handeln konzentrieren und dieses Handeln, die reine Tat, auf ihre Intuition und soziale Mythen gründen. Diese Mythen hätten die Eigenschaft, dass sie Gemeinschaften bilden und Energien freisetzen können. Einen sozialen Mythos sah Sorel im Generalstreik verwirklicht, der unvermeidlich in Gewalt eskalieren müsse. Diese dürfe von den Führern nicht eingeschränkt, sondern müsse vielmehr romantisiert werden24.
Die Gewalt ist für Sorel kein Mittel zu einem politischen Zweck, sondern etwas „Erhabenes“, eine Eigenschaft des menschlichen Inneren und daher ein Selbstzweck. Während des Ersten Weltkriegs tauschten Sorel und einige seiner Anhänger die Verherrlichung des Generalstreiks gegen die Verherrlichung des imperialistischen Krieges ein und wechselten politisch vom Anarchosyndikalismus zum radikalen Nationalismus. Zu den italienischen Anhänger:innen von Sorels Gewaltkult zählte der Faschistenführer Benito Mussolini, der Sorel einmal als seinen wichtigen Lehrmeister bezeichnete.
Im Gefolge Nietzsches gründet sich die gesamte reaktionäre bürgerliche Philosophie ab dem 19. Jahrhundert auf Irrationalismus und Mystik. Dazu gehören etwa die Lebensphilosophie und der Existenzialismus. Im besonderen gilt dies jedoch für die faschistische Ideologie. Nicht umsonst ist die faschistische Bewegung seit jeher von unzähligen kultischen Sekten, Thule-Gesellschaften, neuheidnischer Spiritualität und den verschiedensten Arten von Esoterik umgeben. Diese Ideologie schließt Pseudowissenschaft, die zu einem gewissen Grad mit Daten und Fakten arbeitet, nicht aus. Diese findet man etwa in der Rassentheorie oder heute in den Schriften von Thilo Sarrazin vor. Die Mystik steht aber immer im Zentrum der Ideologie. Der neurechte Ideologe Armin Mohler hat dies aus faschistischer Sicht in einer Betrachtung über den Begriff der „Weltanschauung“ wie folgt formuliert: „Kennzeichnend für die Weltanschauung ist, daß in ihr Denken, Fühlen, Wollen nicht mehr reinlich geschieden werden können, wie das bei der Philosophie in gewissen Grenzen möglich war. Das Denken nimmt werkzeughafte Züge an: es scheint nur noch der Ausgestaltung von vornherein feststehender Leitbilder zu dienen. Und diese wiederum scheinen nur da zu sein, um innerhalb der Wirklichkeit bestimmte Ziele zu erreichen.“25
Die faschistische Rassenlehre ist ein Paradebeispiel für Mystik, die mit pseudowissenschaftlichen Versatzstücken verbunden wird. Ihre Entwicklung im engeren Sinne begann etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als der französische Aristokrat Joseph Arthur Graf Gobineau in einer gleichnamigen Buchreihe die Theorie von der „Ungleichheit der Menschenrassen“ (1853) entwickelte. Gobineau, Angehöriger einer untergehenden Klasse, die ihre Macht schon verloren hat, sieht einen allgemeinen kulturellen Zerfall in der bürgerlichen Gesellschaft, den er auf die Vermischung der „weißen Rasse“ mit „niederen Rassen“ schiebt. Zeitgleich zu Gobineaus Arbeiten gewann der Sozialdarwinismus in der bürgerlichen Ideologie an Bedeutung. Diese Lehre betrachtet die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft als einen Kampf aller gegen alle, bei dem sich die Starken gegen die Schwachen durchsetzen, und sucht dies aus einer falschen Analogie zur Entwicklung der Arten im Tierreich abzuleiten. Man kann sagen, dass der Sozialdarwinismus in gewisser Weise die direkte Übertragung des Nietzscheanismus auf die Gesellschaftswissenschaft ist, die dann mit biologischen Pseudoargumenten unterlegt wird. Ab 1873 begründeten Autoren wie Wilhelm Marr, Eugen Dühring und Houston Stewart Chamberlain dann erstmals einen rassistisch begründeten Antisemitismus, der sich auf die Ideen Gobineaus stützt. Dies geschah vor dem allgemeinen gesellschaftlichen Hintergrund eines wachsenden Antisemitismus, der unter anderem vom deutschen Großkapital befeuert wurde. Ein konkreter Anlass hierfür waren die Wirtschaftskrise und der Börsencrash von 1873 („Gründerkrach“), den das deutsche Kapital gegenüber dem Kleinbürger:innentum auf jüdische Geschäftsleute schob.26
Houston Stewart Chamberlain wurde neben Alfred Rosenberg zum unmittelbaren Vordenker der völkischen Ideologie und des Nazi-Faschismus. Insbesondere entwickelte er die Rassentheorie Gobineaus weiter, indem er die „weiße Rasse“ mit dem „Germanentum“ identifizierte. Auch Kaiser Wilhelm II. unterhielt eine Brieffreundschaft zu Chamberlain und gründete sogar einen Chamberlain-Lesekreis.
In der völkischen Ideologie sind Rassismus, Antisemitismus und Sozialdarwinismus miteinander verbunden und – in der Version der NS-Ideologie – zusätzlich mit einem pervertierten „Sozialismus“ zusammengebracht. Dieser falsche „Sozialismus“ basiert auf der Ablehnung des Klassenkampfes und der Beschwörung der Volksgemeinschaft. Der Kapitalismus wird an sich bejaht und allenfalls bestimmte seiner Erscheinungen, wie z.B. das Geldkapital und der Zins, zur Ursache allen Übels erklärt.27 Der wahre Kampf in der menschlichen Gesellschaft spiele sich nicht zwischen Klassen, sondern zwischen Rassen ab.
Er kulminiere im „Endkampf“ zwischen der germanischen und der jüdischen Rasse um die Weltherrschaft. Die germanische Rasse stellt aus völkischer Sicht die „Herrenmenschen“ im Sinne Nietzsches dar. Demgegenüber sei es das Kennzeichen der schwachen, aber „verschlagenen“ jüdischen Rasse, sich in andere Völker als Parasit einzunisten und diese zu zersetzen (siehe Textauszug). Wesentliche Mittel hierzu seien der Klassenkampf und der Internationalismus, wie sie im Marxismus vereinigt seien. Das deutsche Volk müsse sich vom zersetzenden Einfluss der Juden befreien und den „wahren“, also klassenübergreifenden Sozialismus in Form einer völkischen Diktatur errichten. Diese müsse alle schädlichen Teile aus der Volksgemeinschaft entfernen und den Kampf um die Weltherrschaft aufnehmen. Dabei müsse es sich auch von den jüdischen Einflüssen auf das Kapital befreien, die für alle sozialen Ungerechtigkeiten verantwortlich seien und damit die Ordnung untergraben.28 Der völkische Rassismus wurde von Propagandaorganisationen des Monopolkapitals wie dem „Alldeutschen Verband“ schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert vertreten und systematisch in der deutschen Bevölkerung verbreitet. Später wurde er zum Kennzeichen der NSDAP, die ihn am radikalsten vertrat und unter dem Hitlerfaschismus zur Staatsdoktrin machte. Rückblickend handelt es sich dabei um die konsequenteste und umfassendste irrationalistische Weltanschauung, die dem Zweck der Mobilisierung großer Massen für den Imperialismus dient.
Der mystische Kern der völkischen Rassenlehre, der Beschwörung von Blut, Volk, Nation und Rasse, besteht in der Projektion aller Ängste, aller unterdrückten „schmutzigen“ und „niederen“ Bedürfnisse, aller verdrängten Gefühle, inneren Zwänge und Perversionen auf die „niederen Rassen“.29 Asiat:innen, Afrikaner:innen und Jüd:innen werden häufig in sehr bildhafter Sprache als zügellos, wild, triebhaft und tierisch dargestellt. Jüd:innen tauchen insbesondere immer wieder als „Parasiten“, „Insekten“ und „Schädlinge“ auf, die als besonders ekelerregend und stereotypisch gnomenhaft, etwa mit großen Ohren und Nasen gezeichnet werden.
Textauszug: Der völkische Antisemitismus in der NS-Ideologie
Auszug aus einer NS-Broschüre für weltanschauliche Erziehung30:
„Der Jude zerstört jede völkische Lebensordnung …
I. Das Judentum strebt nach der Weltherrschaft. Dies liegt in seiner Weltanschauung begründet…
II. Die zwei Hauptbegriffe, mit denen das Judentum sich in die Ideen der Völker einschleicht, sind der Materialismus und der Individualismus …
III. Der Jude verseucht und zerbricht die Lebensordnungen seiner Wirtsvölker. Musterbeispiel ist das Deutschland vor der Machtübernahme…
1. Der Jude greift durch Beherrschung des Geldes, des Handels, des Banken- und Börsenwesens nach den Schlüsselstellungen zur Weltwirtschaft …
2. Der Jude durchwühlt mit Hilfe des Freimaurertums, von Revolution, von Demokratien und Parlamentarismus die völkischen Ordnungen jeder Gemeinschaft, jedes Staates…
3. Der Jude entartet jede völkische Kultur und mißbraucht sie zur Propaganda für seine internationalistischen Pläne…
4. Der Jude unterhöhlt die Sittlichkeit und schwächt damit Zucht, Kraft und Kinderreichtum des Volkes….
5. Die jüdische Verbrechernatur verdreht jede artgemäße Rechtsauffassung und verdrängt Recht und Gerechtigkeit…
IV. Der Jude ist Anstifter und Verlängerer des gegenwärtigen Krieges …
1. Der russische Bolschewismus ist eine Ausgeburt jüdischen Denkens…
2. Der Jude stützt den britischen Imperialismus…
3. Der Jude steht hinter der amerikanischen Plutokratie…“
Die eigene „Rasse“ dagegen ist die Verkörperung des Edlen und Vornehmen, die schon bei Nietzsche in Gestalt als „römischer, arabischer, germanischer, japanesischer Adel, homerische Helden, skandinavische Wikinger“31 daherkommt. Gelegentlich müsse diese „vornehme Rasse“ nach Nietzsche jedoch ihre inneren Spannungen, ihre unterdrückten gewalttätigen Triebe entladen, ihr inneres Raubtier herauslassen: „… dieselben Menschen, welche so streng durch Sitte, Verehrung, Brauch, Dankbarkeit, noch mehr durch gegenseitige Bewachung, durch Eifersucht inter pares in Schranken gehalten sind, die andererseits im Verhalten zu einander so erfinderisch in Rücksicht, Selbstbeherrschung, Zartsinn, Treue, Stolz und Freundschaft sich beweisen, – sie sind nach Aussen hin, dort wo das Fremde, die Fremde beginnt, nicht viel besser als losgelassne Raubthiere. Sie genießen da die Freiheit von allem socialen Zwang, sie halten sich in der Wildnis schadlos für die Spannung, welche eine lange Einschließung und Einfriedung in den Frieden der Gemeinschaft giebt, sie treten in die Unschuld des Raubthier-Gewissens zurück, als frohlockende Ungeheuer, welche vielleicht von einer scheusslichen Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folter mit einem Übermuthe und seelischen Gleichgewichte davongehen, wie als ob nur ein Studentenstreich vollbracht sei, überzeugt davon, dass die Dichter für lange nun wieder Etwas zu singen und zu rühmen haben. Auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist das Raubthier, die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie nicht zu verkennen; es bedarf für diesen verborgenen Grund von Zeit zu Zeit der Entladung, das Thier muss wieder raus, muss wieder in die Wildnis zurück…“32
Die Passage aus Nietzsches Schrift enthält bereits die verherrlichende Beschwörung von Gewalt bis hin zur sexualisierten Gewalt, die auch für die faschistische Rassentheorie typisch ist und später von der SS in die Tat umgesetzt wurde. Sehr häufig findet man in rassentheoretischen Erzeugnissen eine direkt sexualisierende Darstellung anderer Völker, die bis zur Pornographie geht: Die vom fränkischen NSDAP-Gauleiter Julius Streicher ab 1932 herausgegebene antisemitische Hetzschrift „Der Stürmer“ etwa schrieb sich den Kampf gegen die „Degeneration der nordisch-germanischen Rasse“ auf die Fahne. Dabei setzte das Wochenblatt vor allem auf die sexualisierende Darstellung von Jüd:innen als tierisch-triebhafte Wesen, die sich an „arischen“ Mädchen, Frauen und Kindern vergehen und die deutsche Rasse durch Homosexualität, Sodomie, Prostitution und die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten vernichten wollten. Diese Botschaft wurde regelmäßig durch drastische Schilderungen von sexualisierter Gewalt untermauert.
Immer wieder operiert die Rassentheorie mit körperlichen Bezügen und der Beschwörung der „Reinheit“: „Reinheit des Blutes“, „Reinheit des Volkskörpers“, „Rassenhygiene“, Kampf gegen die „Verseuchung“ etc. Die „Rasse“ ist in diesem mystischen Weltbild die Verkörperung der Reinheit, der Zivilisation, Kultur und Ordnung. Der NS-Chefideologe Alfred Rosenberg beschreibt die „Seele“ als „Rasse von innen“: „Und umgekehrt ist Rasse die Außenwelt der Seele. (…) Rassengeschichte ist deshalb Naturgeschichte und Seelenmystik zugleich, die Geschichte der Religion des Blutes aber ist umgekehrt die große Welterzählung vom Aufstieg und Untergang der Völker, ihrer Helden und Denker, ihrer Erfinder und Künstler.“33
Der materielle, gesellschaftliche Kern in der faschistischen Mythologie einer „Bedrohung von Rasse, Blut, Volkskörper, Zivilisation“ ist in letzter Instanz der revolutionäre Kampf der unterdrückten Klassen einschließlich der Frauen. Dieser bleibt nicht bei der Enteignung des Kapitals stehen, sondern drängt zur permanenten Revolution gegen alle Unterdrückungsverhältnisse – einschließlich des Patriarchats als dem ältestem, das in Form der bürgerlichen Familienordnung die Persönlichkeiten der Menschen in ihren innersten Grundzügen als erstes prägt, und das deshalb auf dem Weg zum Kommunismus überwunden werden muss. Die bürgerliche Familienordnung ist in den unterdrückten Klassen durch die Einbeziehung der Frau in den Arbeitsprozess bereits in Auflösung begriffen. Die Lebensverhältnisse des Proletariats weisen nicht die Spießbürgermoral der Bourgeoisie und des Kleinbürger:innentums auf. Das Proletariat steht mit seiner Lebensweise für alles, was das Spießbürgertum in sich unterdrückt und fürchtet – ob es nun um sexuelle Ausschweifungen oder die Nichtbeachtung des Eigentumsrechts geht. Es stellt die lebendige Bedrohung der beschaulichen Bürgerwelt dar.
Einschub: Faschismus in der Popkultur
Die faschistische Mythologie hat ihren Weg längst in die Popkultur gefunden. Ein bekanntes Beispiel ist Zack Snyders Comicbuchverfilmung „300“ aus dem Jahr 2006. Darin wird die historische Schlacht bei den Thermopylen, bei der eine kleine Zahl spartanischer Soldaten gegen eine persische Übermacht kämpfte, heroisierend und bildgewaltig dargestellt. Der Film stellt dabei nicht nur den Mythos vom Untergangskampf der weißen Zivilisation dar, sondern benutzt dabei auch alle Elemente der faschistischen Mystik und Ästhetik. Darunter die Betonung der spartanischen Krieger-Ideologie inklusive der Aussonderung der Schwachen durch das Töten behinderter Säuglinge; die verherrlichende Darstellung der Soldatenkörper sowie die zum Teil sexualisierende Darstellung der Perser; oder die an antisemitischen Motiven orientierte Zeichnung verräterischer Priester als von Hautkrankheiten gezeichneter Parasiten, die vom Gold der Spartaner leben und sich an jungen Frauen vergehen.
In der Rassenideologie wird dieses Bedrohungsgefühl nach außen, auf Jüd:innen, Rom:nja, die „Wilden“ oder die „asiatische Gefahr“ übertragen. Auch hier ist der materielle Kern hinter dem vernebelnden Mythos zu erkennen.
Er besteht im internationalen Charakter der proletarischen Revolution, welche die Grenzen der Staaten niederreißen und die unterdrückten Völker vereinigen will, was nicht nur für das Kapital schlecht ist, sondern für die einzelnen Bourgeois und ihre kleinbürgerlichen Gefolgsleute den Albtraum aller Albträume schlechthin darstellt! Insbesondere Jüd:innen und Rom:nja waren als ethnische Gruppen in Europa, die in verschiedenen Nationalstaaten lebten, seit Jahrhunderten unterdrückt und in besondere Lebensbedingungen gedrängt worden waren, aus rassentheoretischer Sicht die Verkörperung der Bedrohung von Nation und Volk.
Die Jüd:innen in Osteuropa waren schon unter dem russischen Zarismus immer wieder Pogromen und grausamen Verfolgungswellen ausgesetzt. Große Teile von ihnen gehörten zudem der Arbeiter:innenklasse an und waren in verschiedenen politischen Flügeln der Arbeiter:innenbewegung organisiert, nämlich Bolschewiki, Menschewiki, Allgemeiner Jüdischer Arbeiterbund oder dem (nationalistischen) Zionismus.
Die sozialistische Weltrevolution will alle Grundlagen der Gesellschaftsordnung umwälzen – Staat, Familie, Nation, Volk – und die Rassenideologie strickt um diese Bedrohung der bürgerlichen Welt einen Mythos von „Blutsschande“, „Verseuchung“ und „Degeneration“.
Hitler wettert deshalb in „Mein Kampf“ gegen die „Sünde wider Blut und Rasse“ als die „Erbsünde dieser Welt“. Es gebe nur ein „heiligstes Menschenrecht“, das zugleich„die heiligste Verpflichtung“ sei: „nämlich: dafür zu sorgen, daß das Blut rein erhalten bleibt, um durch die Bewahrung des besten Menschentums die Möglichkeit einer edleren Entwicklung dieses Wesens zu geben.“ (siehe Textauszug).
Textauszug: Hitlers Rassenweltbild in „Mein Kampf“
„Die Sünde wider Blut und Rasse ist die Erbsünde dieser Welt und das Ende einer sich ihr ergebenden Menschheit. (…) Demgegenüber erkennt die völkische Weltanschauung die Bedeutung der Menschheit in deren rassischen Urelementen. Sie sieht im Staat prinzipiell nur ein Mittel zum Zweck und faßt als seinen Zweck die Erhaltung des rassischen Daseins der Menschen auf. Sie glaubt somit keineswegs an eine Gleichheit der Rassen, sondern erkennt in ihrer Verschiedenheit auch ihren höheren oder minderen Wert und fühlt sich durch diese Erkenntnis verpflichtet, gemäß dem ewigen Wollen, das dieses Universum beherrscht, den Sieg des Besseren, Stärkeren zu fördern, die Unterordnung des Schlechteren und Schwächeren zu verlangen. Sie huldigt damit prinzipiell dem aristokratischen Grundgedanken der Natur und glaubt an die Geltung dieses Gesetzes bis herab zum letzten Einzelwesen. Sie sieht nicht nur den verschiedenen Wert der Rassen, sondern auch den verschiedenen Wert der Einzelmenschen. Aus der Masse schält sich für sie die Bedeutung der Person heraus, dadurch aber wirkt sie gegenüber dem desorganisierenden Marxismus organisatorisch. (…) Allein sie kann auch einer ethischen Idee das Existenzrecht nicht zubilligen, sofern diese Idee eine Gefahr für das rassische Leben der Träger einer höheren Ethik darstellt; denn in der verbastardisierten und vernegerten Welt wären auch alle Begriffe des menschlich Schönen und Erhabenen sowie alle Vorstellungen einer idealisierten Zukunft unseres Menschentums für immer verloren. Menschliche Kultur und Zivilisation sind auf diesem Erdteil unzertrennlich gebunden an das Vorhandensein des Ariers. (…)
Nein, es gibt nur ein heiligstes Menschenrecht, und dieses Recht ist zugleich die heiligste Verpflichtung, nämlich: dafür zu sorgen, daß das Blut rein erhalten bleibt, um durch die Bewahrung des besten Menschentums die Möglichkeit einer edleren Entwicklung dieses Wesens zu geben. Ein völkischer Staat wird damit in erster Linie die Ehe aus dem Niveau einer dauernden Rassenschande herauszuheben haben, um ihr die Weihe jener Institution zu geben, die berufen ist, Ebenbilder des Herrn zu zeugen und nicht Mißgeburten zwischen Mensch und Affe.“34
Aus genau demselben Grund wendet sich die faschistische Ideologie schon zur Zeit des Hitlerfaschismus nicht nur gegen den marxistischen Klassenkampf und beschwört ihm gegenüber die mystische „Volksgemeinschaft“. Noch viel grundsätzlicher richtet sie ihren Kampf gegen den „Kulturbolschewismus“ und konzentriert sich auf den Schutz von Familie, Religion und Moral – Hitler: „Ein völkischer Staat wird damit in erster Linie die Ehe aus dem Niveau einer dauernden Rassenschande herauszuheben haben…“35
Diesen „mythischen“ Kampf gegen „Blutsschande“ und „Degeneration“ haben die Faschist:innen ab 1933 dann in die Tat umgesetzt – von der faschistischen Familienpolitik zur Rassengesetzgebung, von der Aussonderung von „Volksschädlingen“ über die Euthanasie an Menschen mit Behinderung bis zur organisierten Vernichtung der europäischen Jüd:innen und Sinti:zze und Rom:nja.
Der gesellschaftliche Kern der rassenideologischen Mystik ist also, dass sie die unbewussten Ängste in den Köpfen unterdrückter Massen gegen die inneren und (vermeintlich) äußeren Feinde des eigenen bürgerlichen Staates mobilisiert. Die faschistische Ideologie funktioniert genau wie die Religion. Deshalb ist es kein Zufall, dass Hitler im März 1933 vor dem Reichstag die Entschlossenheit seiner Regierung betont, die „Voraussetzungen für ein wirklich tief inneres religiöses Leben“ zu schaffen und zu sichern. Politische Vorteile aus Kompromissen mit atheistischen Organisationen würden „nicht annähernd die Folgen auf[wiegen], die in der Zerstörung der allgemeinen religiös-sittlichen Grundwerte sichtbar werden.“36 Schon 1931 hat ein faschistischer Pfarrer namens Braumann in einer Broschüre geschrieben: „Jede Religion ist die Befreiung von der Welt und ihren Mächten durch die Verbindung mit der Gottheit. Deshalb wird der Bolschewismus die Menschen nie ganz in Ketten legen können, solange etwas von Religion in ihnen ist.“37
Diesen mystisch-irrationalistischen Kern hat die faschistische Ideologie bis heute bewahrt. Entweder beschwört sie einfach weiter den Endkampf der „Rassen“ und die Vernichtung der Jüd:innen. Oder sie mobilisiert leicht angepasst für den Endkampf gegen den Untergang der „weißen Zivilisation“ durch „Überfremdung“ und den Rückgang der Geburtenraten – ein Projekt, das „Feministinnen“, „LGBTI+ Woke“, „Kulturmarxisten“ und „Liberale“ gemeinsam im Interesse von „Globalisten“ vorantreiben würden. Dieser Mythos von der „Umvolkung“ wird heute etwa vom französischen Rassemblement-National-Vordenker Renaud Camus oder den italienischen Fratelli d‘Italia von Giorgia Meloni vertreten. Eine relativ neue Variante dieser Verschwörungstheorie ist der „Great Reset“, der unter anderem vom russischen Faschisten Alexander Dugin propagiert wird (siehe Einschub).
Einschub: Dugins „Großes Erwachen“: Querfront gegen die Vernichtung der Menschheit
Der russische Philosoph und Kreml-Ideologe Alexander Dugin beschwört in seiner Schrift „Das große Erwachen gegen den Great Reset“ von 2021 nicht weniger als den Endkampf der Menschheit gegen ihre Vernichtung. Diese drohe durch das „transhumanistische“ Projekt einer globalistischen Elite zur Auflösung aller kollektiven Identitäten: Von der Auflösung der Nation über das Geschlecht bis zur Auflösung der Menschheit selbst, nämlich durch die Kreuzung von Mensch und Maschine und die Erzeugung einer bewusstseinsfähigen künstlichen Intelligenz. Diese sei das logische Endziel der liberalistischen Ideologie, welche sich die Befreiung des Individuums auf die Fahnen geschrieben habe.
Ein wichtiger Vorbote der Vernichtung der Menschheit sei die versuchte Auflösung der kollektiven Identität des Geschlechts durch den Postmodernismus und die Queer-Ideologie. Gegen diesen „Great Reset“ formiere sich jedoch ein spontaner Widerstand, den Dugin als das „Große Erwachen“ bezeichnet. Dieser werde getragen von den „gewöhnlichsten und einfachsten“ Menschen, die lediglich „Menschen sein und bleiben wollen“ und „ihre Freiheit, ihr Geschlecht, ihre Kultur und ihre lebendigen, konkreten Bindungen an ihr Heimatland, an die Welt um sie herum, an die Menschen haben und behalten wollen.“38 Die These vom Großen Erwachen sollte deshalb „nicht vorschnell mit ideologischen Details überfrachtet werden, sei es der Fundamentalkonservatismus (einschließlich des religiösen Konservatismus), der Traditionalismus, die marxistische Kapitalkritik oder der anarchistische Protest um des Protestes willen. Das Große Erwachen ist etwas Organischeres, Spontaneres und zugleich Tektonisches. So wird die Menschheit plötzlich von dem Bewusstsein erhellt, dass ihr Ende unmittelbar bevorsteht.“39
Der rationale Unterbau von Dugins Endkampf-Mythos und seinem Werben für eine Querfront zwischen Links und Rechts wird in den hinteren Kapiteln seiner Schrift deutlich. Hier wirbt er für die Ersetzung der „unipolaren“, US-geführten Weltordnung der „Globalisten“ durch eine multipolare Weltordnung. Der globalistischen „Internationale der Eliten“ müsse sich eine „Internationale der Nationen“ entgegenstellen. Die Kräfte dafür sieht Dugin in den Trumpisten der USA, den europäischen „populistischen“ Kräften im Stile der AfD, der Volksrepublik China und den islamischen Ländern wie der Türkei und dem Iran. Angeführt werden solle diese „antiglobalistische Internationale“ aber von Russland: „Was bedeutet es für Russland, unter diesen Umständen zu ‚erwachen‘? Es bedeutet, die historische, geopolitische und zivilisatorische Bedeutung Russlands wiederherzustellen und ein Pol der neuen multipolaren Welt zu werden. (…) unsere Wiederbelebung ist nicht denkbar ohne die Rückkehr zur imperialen Mission, die in unserer historischen Bestimmung festgelegt ist. Diese Mission steht in diametralem Gegensatz zu dem globalistischen Projekt des Great Reset. Und es wäre natürlich zu erwarten, dass die Globalisten in ihrem entschlossenen Eiltempo alles in ihrer Macht Stehende tun werden, um eine imperiale Renaissance in Russland zu verhindern. Dementsprechend brauchen wir genau das: eine imperiale Renaissance. Nicht, um anderen Völkern, Kulturen und Zivilisationen unsere russische und orthodoxe Wahrheit aufzuzwingen, sondern um unsere Identität wiederzubeleben, zu stärken und zu verteidigen und um anderen bei ihrer eigenen Renaissance zu helfen, ihre eigene zu stärken und zu verteidigen, so gut wir können. Russland ist nicht das einzige Ziel des ‚Great Reset‘, obwohl unser Land in vielerlei Hinsicht das Haupthindernis für die Umsetzung ihrer Pläne ist. Aber das ist unsere Mission, der Katechon zu sein, ‚derjenige, der zurückhält‘, der die Ankunft des letzten Übels in der Welt verhindert.“40
Was hier in mythologischer Form, als Kampf gegen die „Ankunft des letzten Übels in der Welt“ ausgedrückt wird, ist unter dem Strich also nichts anderes als die Geostrategie des russischen Imperialismus.41 Die Bildung von Querfronten, die heute von verschiedenen faschistischen Kräften unter anderem bei den „Querdenken“-Protesten verfolgt wird, dient in der russischen Strategie zur Untergrabung der politischen Stabilität in konkurrierenden imperialistischen Ländern: „Das Fatalste am europäischen Populismus ist jedoch nicht so sehr seine Entideologisierung, sondern das Fortbestehen der tiefen, gegenseitigen Ablehnung zwischen Links und Rechts, die seit früheren historischen Epochen anhält. Die Entstehung eines europäischen Pols des Großen Erwachens muss die Lösung dieser beiden ideologischen Aufgaben beinhalten: die endgültige Überwindung der Grenze zwischen der Linken und der Rechten (d.h. die obligatorische Ablehnung des erfundenen ‚Antifaschismus‘ durch die einen und des erfundenen ‚Antikommunismus‘ durch die anderen) und die Aufwertung des Populismus als solchem – integraler Populismus – zu einem eigenständigen ideologischen Modell. Seine Bedeutung und seine Botschaft sollten eine radikale Kritik des Liberalismus und seiner höchsten Stufe, des Globalismus, sein und gleichzeitig die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und die Bewahrung der traditionellen kulturellen Identität verbinden.“42
Die Übergänge zwischen faschistischer und bürgerlicher Ideologie
Die faschistische Ideologie bestand in verschiedenen Ausprägungen bereits Jahrzehnte vor dem Aufstieg der NSDAP. In der Nachfolge Nietzsches entwickelte sich in Deutschland eine vielfältige und diffuse Szene aus seinen Schülern sowie aus allerlei Intellektuellen und Schriftstellern, die sich als „Opposition von rechts“ zum Kaiserreich43 und später zur Weimarer Republik verstanden. Zu den bekanntesten Namen aus diesem Spektrum gehören die Historiker Arthur Moeller van den Bruck und Oswald Spengler44, der Rechtsphilosoph Carl Schmitt, der Schriftsteller Ernst Jünger sowie auch der Philosoph Martin Heidegger. Der Ideologe der Neuen Rechten Armin Mohler verklärte diese Szene später in seinem gleichnamigen Werk von 1950 als „Konservative Revolution“ und als „Trotzkisten des Nationalsozialismus“.45 Das einigende geistige Band dieser Intellektuellen und der verschiedenen politischen Strömungen aus „Völkischen“, „Jungkonservativen“, „Nationalrevolutionären“, „Bündischen“ und „Landvolkbewegung“ sieht Mohler in einem Neuverständnis des „Konservatismus“. Dieses gehe von Nietzsches Bild der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ aus. Es betrachte die Weltgeschichte als „zyklisch“ anstatt „linear“: „Gleich bleibt die Grundform, ‚gleich‘ bleibt die Gestalt des Ganzen. Im gegnerischen Lager jedoch, dem des Fortschritts, kommt zum Ganzen immer noch etwas hinzu, so daß sich dieses Ganze ständig vergrößert. Der Kykliker leugnet das Werden nicht. Aber er glaubt, daß ihm durch ständiges Vergehen die Waage gehalten wird.“46 Die politische Konsequenz verdeutlicht er anhand des Verständnisses vom Staat: „Nehmen wir zum Beispiel den Aufbau des Staates, so ist der Ausgangspunkt durch den Satz gegeben, daß alles immer da ist. Das postuliert, daß nicht alle Menschen einmal gleich waren oder einmal gleich sein werden, sondern daß der Zustand der Ungleichheit, den wir vorfinden, Ausgangspunkt für jeden Staatsaufbau sein muß.“47
Die rechtsintellektuelle Szene des frühen 20. Jahrhunderts unterhielt enge Kontakte und überschnitt sich mit Kreisen des deutschen Kapitals (zunächst vor allem der Kohle- und Stahlindustrie), des preußischen Adels, des Militärs und weiteren Teilen des Staatsapparates, die für ein stärkeres Weltmachtstreben Deutschlands und später für den Sturz der Republik durch eine völkische Diktatur eintraten.48 Aus diesen Kreisen gingen schon Jahrzehnte vor der Schaffenszeit von Schmitt, Spengler und Co. zahlreiche offene und geheime Clubs, Interessenverbände, Stiftungen, Verlage, Propagandaorganisationen und Parteien hervor, die letztlich dem Hitlerfaschismus den Weg bereiteten. Aus ideologischer Sicht bildete die rechte Intellektuellenszene eine „Gegenkraft“ zur „Welt der Französischen Revolution“49, zu den aufklärerischen Traditionen des Bürgertums, zur Idee des Fortschritts und der Veränderbarkeit des Menschen und erst recht zum Marxismus. Alle diese Elemente werden in der bürgerlichen Philosophie häufig unter dem Begriff der „Moderne“ zusammengefasst. Die rechte Intelligenz verstand und versteht sich bis heute als „Anti-Modernisten“. Aus ihren Reihen wurde die faschistische Ideologie letztlich entwickelt, ausgefeilt und dabei geholfen, ihren Einfluss bis weit in bürgerlich-liberale und selbst linke Kreise auszudehnen. Das schloss nicht aus, dass einige ihrer Vertreter:innen den völkischen Sozialismus der NSDAP oder Elemente daraus wie den Rassenkampf oder den Sozialismus ablehnten und sich später vom Hitlerfaschismus distanzierten.
Carl Schmitt und die „Theorie des Partisanen“
Manche faschistische Intellektuelle wiederum standen den mystischen Elementen der NS-Ideologie eher fern, brachten sich aber als anpassungsfähige politische und theoretische Köpfe intensiv erst in der faschistischen Diktatur und später in der postfaschistischen BRD ein: Carl Schmitt gilt heute als „einer der führenden juristisch-theoretischen Wegbereiter des Nazireichs“50, der unter anderem die Nürnberger Rassengesetze von 1935 in einem juristischen Aufsatz als „Verfassung der Freiheit“ bezeichnet und zuvor schon die Prinzipien des Führerstaats rechtstheoretisch begründet hat: „… Die organisatorische Durchführung des Führergedankens erfordert zunächst negativ, daß alle der liberal-demokratischen Denkart wesensgemäßen Methoden wegfallen. Die Wahl von unten mit sämtlichen Residuen bisheriger Wählerei hört auf.“51 Schmitts Werke, in denen er für einen autoritären Staat bei gleichzeitiger Freiheit für das Kapital eintritt, sind heute eine der wichtigsten theoretischen Quellen für den Neoliberalismus ebenso wie für autoritäre Regimes.
Nach 1945 blieb Schmitt einer der wichtigsten juristischen Vordenker der Bundesrepublik Deutschland und beeinflusste selbst die Frankfurter Schule. Von besonderer Relevanz sowohl aus imperialistisch-faschistischer als auch aus marxistischer Sicht sind zwei Vorträge von ihm, die er 1962 im faschistischen Spanien zur „Theorie des Partisanen“52 hielt. Darin betrachtet er die theoretische Verarbeitung des Partisanenkriegs beim preußischen Militärphilosophen Carl von Clausewitz, bei Lenin und Mao Tse-Tung (siehe Textauszug). Letzteren bezeichnet Schmitt sogar als den „größten Praktiker“ und „Theoretiker“ des revolutionären Krieges. Lenin wiederum habe als erster begriffen, dass der revolutionäre Krieg „aus absoluter Feindschaft“ entspringe und daher „keine Hegung“ kenne, also gesetzmäßig zum Äußersten dränge: „Was Lenin bei Clausewitz lernen konnte und gründlich gelernt hat, ist nicht nur die berühmte Formel vom Krieg als der Fortsetzung der Politik. Es ist die weitere Erkenntnis, daß die Unterscheidung von Freund und Feind im Zeitalter der Revolution das Primäre ist und sowohl den Krieg wie die Politik bestimmt. Nur der revolutionäre Krieg ist für Lenin wahrer Krieg, weil er aus absoluter Feindschaft entspringt.“53 Nach Mao sei der revolutionäre Krieg „zu neun Zehntel nicht-offener, nicht-regulärer Krieg, und zu einem Zehntel offener Militärkrieg“54. Der Kombattant dieses totalen Krieges wird von Schmitt gleich zu Beginn seiner Schrift als der Partisan eingeführt: „Der moderne Partisan erwartet vom Feind weder Recht noch Gnade. Er hat sich von der konventionellen Feindschaft des gezähmten und gehegten Krieges abgewandt und in den Bereich einer anderen, der wirklichen Feindschaft begeben, die sich durch Terror und Gegen-Terror bis zur Vernichtung steigert.“55 Und in diesem „Teufelskreis von Terror und Gegenterror“ sei „die Bekämpfung des Partisanen oft nur ein Spiegelbild des Partisanen selbst.“56
Den sich hieraus ergebenden Typus des konterrevolutionären Partisanen beschreibt Schmitt anhand von Raoul Salan, einem General der französischen Armee, der bei der Bekämpfung der nationalen Befreiungsbewegung in Indochina den Partisanenkrieg und seine Verbindung mit der subversiven Kriegsführung und psychologischem Massenterror kennengelernt habe. Als Frankreichs Präsident de Gaulle die Bereitschaft zeigte, die französische Kontrolle über Algerien aufzugeben, gründete Saoul 1961 die Organisation d‘Armée Secrète (OAS), die einen Putschversuch in Algerien startete und, als dieser scheiterte, Terroranschläge in Algerien und Frankreich verübte: „… planmäßig im Sinne der Methoden einer sogenannten psychologischen Kriegsführung des modernen Massenterrors.“57 Die OAS war später Vorbild für die Strategie der Spannung, bei der faschistische paramilitärische Strukturen in Verbindung mit NATO-Geheimdiensten Bombenanschläge in verschiedenen westeuropäischen Ländern verübten, um die politische Atmosphäre dort zu beeinflussen.
Was Schmitt in seiner Schrift zum Partisanen entwickelt, ist nicht weniger als die theoretische Begründung des faschistischen Kadertyps als Konterrevolutionär neuen Typs. Mit seinem Hinweis auf die „absolute Feindschaft“ zwischen Revolution und Konterrevolution, die den revolutionären Krieg gesetzmäßig zum totalen Krieg drängt, liefert Schmitt letztlich die Antwort auf die Frage, warum der deutsche Imperialismus den NS-Staat und die Judenvernichtung hervorgebracht hat; warum der Imperialismus faschistische Kader:innen als Verkörperungen von Nietzsches „blonder Bestie“ hervorbringt, die mit mystischen Ideen im Kopf in den „Endkampf“ ziehen; warum der Imperialismus gesetzmäßig die Notwendigkeit eines Kombattantentyps erzeugt, der in der Bekämpfung der Revolution keinerlei legale, moralische oder sonstige Grenzen anerkennt; der nicht nur bereit ist, selbst im Kampf zu sterben, sondern weiß, „daß ihn der Feind außerhalb von Recht, Gesetz und Ehre stellt“58; der nicht nur bereit ist, hinter den sowjetischen Frontlinien unsagbare Massaker zu verüben wie die Waffen-SS, sondern auch im eigenen Land Oktoberfestbesucher:innen in die Luft zu jagen59; der die Konterrevolution zu einhundert Prozent verinnerlicht hat und ihr politisches Werkzeug geworden ist.
Dass die Konterrevolution aber nicht einfach mit dem Staat gleichzusetzen ist, ergibt sich aus Schmitts Darstellung der revolutionären Partei: „Im revolutionären Krieg impliziert die Zugehörigkeit zu einer revolutionären Partei nicht weniger als die totale Erfassung. Andere Gruppen und Verbände, insbesondere auch der heutige Staat, vermögen ihre Mitglieder und Angehörigen nicht mehr so total zu integrieren wie eine revolutionär kämpfende Partei ihre aktiven Kämpfer erfaßt. In der umfangreichen Diskussion über den sogenannten totalen Staat ist noch nicht recht zum Bewußtsein gekommen, daß heute nicht der Staat als solcher, sondern die revolutionäre Partei als solche die eigentliche und im Grunde einzige totalitäre Organisation darstellt.“60
In genauer Umkehrung dieser revolutionären Partei und als ihr äußerstes Gegenstück muss die Konterrevolution nach dieser Logik letztlich in Gestalt der faschistischen Partei auf den Plan treten.
Textauszug: Carl Schmitts faschistische Neudeutung Maos in der „Theorie des Partisanen“
„In der konkreten Lage Maos treffen verschiedene Arten der Feindschaft zusammen, die sich zu einer absoluten Feindschaft steigern. Die Rassenfeindschaft gegen den weißen, kolonialen Ausbeuter; die Klassenfeindschaft gegen die kapitalistische Bourgeoisie; die nationale Feindschaft gegen den japanischen Eindringling gleicher Rasse; die in langen, erbitterten Bürgerkriegen wachsende Feindschaft gegen den eigenen, nationalen Bruder – alles das paralysierte oder relativierte sich nicht gegenseitig, wie es an sich denkbar wäre, sondern bestätigte und intensivierte sich in der konkreten Lage. Stalin ist es gelungen, während des zweiten Weltkrieges das tellurische Partisanentum des nationalen Heimatbodens mit der Klassenfeindschaft des internationalen Kommunismus zu verbinden. Mao war ihm darin schon viele Jahre vorangegangen.“61
Die Charakterstruktur als Schlüssel zur Erforschung der Wirkung von Ideologie
Der Sieg des Faschismus in Deutschland und anderen europäischen Staaten hat in den 1930er und 40er Jahren die wissenschaftliche Erforschung der Ursachen seines Aufstiegs und seines Masseneinflusses nach sich gezogen. Dabei ist bezeichnend, dass die Analysen aus den Reihen der kommunistischen Weltbewegung in dieser Frage weitgehend bei der Feststellung stehenblieben, dass der Faschismus „Demagogie“ bei den Massen anwende. Diese Erklärung greift dahingehend zu kurz, dass sie die Quelle des faschistischen Masseneinflusses noch weitgehend rational zu erfassen sucht, dass sie unbewusste und irrationale Verhaltensweisen bei den Massen außer acht lässt. Hier machte sich geltend, dass die Psychologie als Wissenschaft, die eben gerade auch die unbewussten Verhaltensweisen der Menschen untersucht, für die Kommunist:innen noch weitgehend unbekanntes Terrain war, dass sie nicht über eine materialistisch fundierte psychologische Wissenschaft verfügten.62
Erste Ansätze, die Frage der „brennendsten Nöte und Bedürfnisse“ konkret und materialistisch zu untersuchen, kamen dagegen von Psychologen und Sozialforschern, die sich am Rand der kommunistischen Bewegung bzw. des Marxismus bewegten. Ihnen ist gemeinsam, dass sie die Charakterstruktur der Menschen in den unterschiedlichen Gesellschaftsklassen ins Visier nehmen und die Frage aufwerfen, wie die Charakterstruktur die Menschen empfänglich für bestimmte Ideologien macht. Der österreichische Psychoanalytiker Wilhelm Reich, der in den 1930er Jahren zeitweise in der deutschen kommunistischen Bewegung aktiv war, ist dieser Fragestellung in seiner Schrift „Die Massenpsychologie des Faschismus“ (1933) nachgegangen. Reich untersucht darin die Rolle des Patriarchats und der autoritären Familie in der kleinbürgerlichen und proletarischen Persönlichkeit von einem materialistischen Standpunkt aus. Dabei neigt er zwar in der Tradition seines früheren Mentors Sigmund Freud dazu, die Auswirkung des Patriarchats auf die bloße Unterdrückung von Sexualität zu reduzieren und geht soweit, in der unterdrückten Sexualität die wichtigste psychologische Triebkraft für den Faschismus zu sehen.63 Die richtige Erkenntnis, dass das Patriarchat und die autoritäre Familie als bürgerliche Institution einen zentralen Schlüssel zur Frage der Quelle des faschistischen Masseneinflusses bilden, bedeutete jedoch einen deutlichen Schritt nach vorne im Vergleich zu den oben genannten rein rationalen Erklärungsmustern sowie vulgärmaterialistischen Vorstellungen, die das Wesen des Faschismus allein auf ökonomische Fragen reduzierten: „Die Unkenntnis der charakterlichen Struktur der Menschenmassen ergibt immer wieder unproduktive Fragestellungen. Die Kommunisten erklärten z.B. die Machtergreifung durch den Faschismus aus der irreführenden Politik der Sozialdemokratie. Diese Erklärung führte im Grunde in eine Sackgasse, denn es war ja eben ein Wesenszug der Sozialdemokratie, Illusionen zu verbreiten. Diese Erklärung ergibt also keine neue Praxis. Ebenso unproduktiv ist die Erklärung, die politische Reaktion hätte in Gestalt des Faschismus die Massen ‚vernebelt‘, ‚verführt‘ oder ‚hypnotisiert‘. Das ist und bleibt die Funktion des Faschismus, solange er existiert. (…) Liegt es nicht nahe zu fragen, was in den Massen selbst vorgeht, daß sie die Funktion des Faschismus nicht erkennen konnten und wollten? Mit der typischen Auskunft: ‚Die Arbeiter müssen nun erkennen …‘ oder ‚Wir haben es nicht verstanden …‘ ist nicht gedient. Weshalb erkennen die Arbeiter nicht, und warum haben wir nicht verstanden? (…) Der Wirklichkeit hätte entsprochen festzustellen, daß der durchschnittliche Arbeiter einen Widerspruch in sich trägt, daß er also weder eindeutig revolutionär noch eindeutig konservativ ist, sondern in einem Konflikt steht: seine psychische Struktur leitet sich einerseits aus seiner sozialen Lage ab, die revolutionäre Einstellungen anbahnt, andererseits aus der Gesamtatmosphäre der autoritären Gesellschaft, was einander widerspricht. Es ist entscheidend, einen solchen Widerspruch zu sehen und zu erfahren, worin sich konkret das Reaktionäre und das fortschrittlich Revolutionäre im Arbeiter darstellen. Die gleiche Fragestellung gilt natürlich auch für den Mittelständler. Daß er in der Krise gegen das ‚System‘ rebelliert, verstehen wir unmittelbar. Daß er aber, obwohl bereits ökonomisch verelendet, trotzdem den Fortschritt fürchtet und extrem reaktionär wird, ist nicht unmittelbar sozialökonomisch zu verstehen. Auch er hat also einen Widerspruch in sich zwischen rebellierendem Fühlen und reaktionären Zielen und Inhalten. (…)
Wenn der Werktätige weder eindeutig reaktionär noch eindeutig revolutionär ist, sondern in einem Widerspruch zwischen reaktionären und revolutionären Strebungen steht, so muß sich, wenn wir diesen Widerspruch entdecken, zwangsläufig eine Praxis ergeben, die den konservativen psychischen Kräften die revolutionären entgegensetzt. Jede Mystik ist reaktionär, und der reaktionäre Mensch ist ‚mystisch‘. Wenn man die Mystik verlacht, als ‚Vernebelung‘ oder ‚Psychose‘ unerklärt abtut, so geht keine Maßnahme gegen die Mystik daraus hervor. Wenn man aber die Mystik korrekt erfaßt, so muß sich zwangsläufig ein Gegengift gegen sie ergeben. Um aber diese Aufgabe zu leisten, müssen die Beziehungen zwischen sozialer Lage und Strukturbildung, im besonderen die nicht unmittelbar sozialökonomisch erklärbaren, irrationalen Ideen, soweit die Erkenntnismittel reichen, erfaßt werden.“64
Im Kern geht es bei Reichs Analyse darum, diejenigen psychologischen Mechanismen zu untersuchen, die Menschen dazu bringen, sich irrational zu verhalten, gegen ihre rationalen Interessen zu handeln, die sie „freiheitsunfähig“65, das heißt unfähig dazu machen, ihr Verhalten bewusst zu steuern und ihre gesellschaftlichen Interessen konsequent wahrzunehmen.
Reich wirft die Frage auf, wieso der Mittelstand, der weder „über die Hauptproduktionsmittel verfügt noch an ihnen arbeitet“ und deshalb eigentlich zwischen Kapital und Arbeiterschaft hin- und herschwanken muss, als Massenbasis des Faschismus für kurze Zeit eben doch „Geschichte machen“ kann und so eine entscheidende Rolle für die Stabilität des bürgerlichen Staates spielt.66 Dabei nimmt er die soziale Stellung des Mittelstandes unter die Lupe, die bestimmt sei „a) durch seine Stellung im kapitalistischen Produktionsprozeß, b) durch seine Stellung im autoritären Staatsapparat, c) durch seine besondere familiäre Situation, die unmittelbar von der Stellung im Produktionsprozeß bestimmt ist und den Schlüssel zum Verständnis seiner Ideologie abgibt.“ Kleinbauerntum, Beamtentum und mittlere Kaufmannschaft zeigten zwar wirtschaftliche Verschiedenheiten, seien aber durch ihre gleichartige Zwischenstellung zwischen Kapital und Arbeiter:innenklasse, zwischen Obrigkeit und Handarbeiterschaft sowie durch eine im wesentlichen gleichartige soziale Situation gekennzeichnet, nämlich die autoritär-patriarchale Kleinfamilie. Die Familie sei beim kleinbürgerlichen Mittelstand zudem mit der wirtschaftlichen Position direkt verwoben, weil sie außer beim Beamtentum zugleich den wirtschaftlichen Kleinbetrieb bilde.
Der soziale Absturz des Mittelstands bewirke vor diesem Hintergrund seine eigentümliche politische Reaktion: Da der Kleinbürger zuallererst Kleinunternehmer und damit Konkurrent seiner Standesgenoss:innen ist, will er sich nicht organisatorisch mit anderen von der Krise Betroffenen zusammenschließen: „mit seiner eigenen Schicht nicht, weil da die Konkurrenz vorherrscht, mit dem Industriearbeiter nicht, weil er gerade die Proletarisierung am meisten fürchtet“.67 Er entwickele kein Solidaritätsgefühl wie die Arbeiter:innenklasse im Betrieb, weil er seine soziale Zwischenstellung zwischen Obrigkeit und Handarbeiter:innenschaft verinnerlicht habe. Seine schlechte materielle Stellung, die zum Teil schlechter ist als die der Arbeiter:innen, gleicht er innerlich aus durch seine moralische Stellung als Vertreter der Obrigkeit, was sich in einem zwanghaften Drang zur Abgrenzung nach unten und zur Identifizierung mit der Obrigkeit äußert. Diese psychologischen Mechanismen bestimmen seine ganze Lebenshaltung: „Ständig den Blick nach oben gerichtet, bildet der Kleinbürger eine Schere aus zwischen seiner wirtschaftlichen Lage und seiner Ideologie. Er lebt in kleinen Verhältnissen, aber er tritt nach außen repräsentativ auf, dies oft bis zur Lächerlichkeit übertreibend. Er ernährt sich schlecht und ungenügend, aber er legt großen Wert auf ‚anständige Kleidung‘.“68
Die Familie wiederum ist ein fundamentaler Bestandteil dieses Kompensationsmechanismus und wird zu seiner tragenden Institution. Durch die Familie und die durch sie verkörperte Sexualmoral kann sich der Kleinbürger nach unten abgrenzen und moralisch erhaben fühlen: „Da man nicht so gestellt ist wie das Großbürgertum, gleichzeitig aber mit ihm identifiziert ist, müssen die sexualmoralischen Ideologien wettmachen, was die wirtschaftliche Lage nimmt. Die sexuellen und die von ihnen abhängigen kulturellen Lebensformen dienen im wesentlichen der Abgrenzung nach unten. Die Summe dieser moralischen Haltungen, die sich um die Stellung zum Sexuellen gruppieren und gemeinhin als ‚Spießertum‘ bezeichnet werden, gipfelt in den Vorstellungen – wir sagen Vorstellungen, nicht Taten – von Ehre und Pflicht.“69 Die geschilderten psychologischen Mechanismen, die Lebenshaltung des Kleinbürger:innentums, das innere Festhalten an der Familie und der reaktionären Sexualmoral seien mit ihrer zunehmenden Verbürgerlichung zudem auch in die Arbeiter:innenklasse, vor allem die Arbeiteraristokratie, eingedrungen.
Genau hier, an den geschilderten Empfindungen von moralischer Erhabenheit, die wiederum auf der Unterdrückung der eigenen Sexualität aufbaue, setzt nach Reich die faschistische Agitation – und zwar weitgehend unbewusst! – an, wie er ausführlich und mit zahlreichen Textauszügen, z.B. von Hitler und Goebbels, darlegt. Es ist nicht die rationale Argumentation, sondern die Erregung von Empfindungen, die Erregung von verinnerlichter Gewalt und unterdrückten Bedürfnissen, das Appellieren an mystische Vorstellungen von Volk, Blut, Rasse und Nation, das teilweise mit direkt sexualisierenden Sprachbildern70 oder gar in pornographischer Form71 erfolgt, mit denen die faschistische Agitation Millionen Kleinbürger:innen dazu bringe, sich entgegen ihrem rationalen Konkurrenzdenken in Zusammenschlüssen wie der NSDAP und der SA zu sammeln (von Opportunist:innen, die sich davon z.B. Jobaussichten versprechen, einmal abgesehen). Dort können sie sich als neue kämpfende Elite aus Herrenmenschen72, als wahre Vertreter von Volk und Nation fühlen und ihre gewalttätigen Impulse, ihren Drang zur Machtausübung und zum Sadismus hemmungslos ausleben. Soweit die Grundgedanken von Reich.
Diese sind jedoch, und hier muss man ihn kritisieren und über ihn hinausgehen, nicht allein auf die Unterdrückung der Sexualität zurückzuführen, sondern auf eine Vielzahl von gesellschaftlichen und psychologischen Faktoren. Dazu zählen mindestens alle verinnerlichten (vor allem kindlichen und jugendlichen) Gewalterfahrungen durch das Patriarchat und die autoritäre Familie. Diese verknüpfen sich in der oben beschriebenen Weise unauflöslich mit der Verinnerlichung sozialer Hierarchien im Kapitalismus, woraus eine Vielzahl von Widersprüchen, unterdrückten Emotionen und Bedürfnissen in der Persönlichkeit des Individuums resultiert.73 In den 1920er und 30er Jahren kamen die traumatischen Gewalterfahrungen des 1. Weltkriegs sowie das Erleben der Niederlage und des Zusammenbruchs des kaiserlichen Staates hinzu. Dies vor dem Hintergrund eines tief in der deutschen Nationalkultur verwurzelten Untertanengeistes und der Sehnsucht nach Autorität. Reich setzt in seiner Arbeit zwar grundsätzlich einen richtigen historischen-materialistischen Rahmen und verweist dabei auf die Rolle des Patriarchats, verfällt mit seiner Sex-Theorie jedoch in eine extreme Einseitigkeit und einen idealistischen Irrweg.
Einschub: Friedrich Engels über die materialistische Geschichtsauffassung in Abgrenzung zum Vulgärökonomismus
„Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase. Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate – Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw. – Rechtsformen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente, worin schließlich durch alle die unendliche Menge von Zufälligkeiten (d. h. von Dingen und Ereignissen, deren innerer Zusammenhang untereinander so entfernt oder so unnachweisbar ist, daß wir ihn als nicht vorhanden betrachten, vernachlässigen können) als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt. Sonst wäre die Anwendung der Theorie auf eine beliebige Geschichtsperiode ja leichter als die Lösung einer einfachen Gleichung ersten Grades. (…)
Zweitens aber macht sich die Geschichte so, daß das Endresultat stets aus den Konflikten vieler Einzelwillen hervorgeht, wovon jeder wieder durch eine Menge besonderer Lebensbedingungen zu dem gemacht wird, was er ist; es sind also unzählige einander durchkreuzende Kräfte, eine unendliche Gruppe von Kräfteparallelogrammen, daraus eine Resultante – das geschichtliche Ergebnis – hervorgeht, die selbst wieder als das Produkt einer, als Ganzes, bewußtlos und willenlos wirkenden Macht angesehen werden kann. Denn was jeder einzelne will, wird von jedem andern verhindert, und was herauskommt, ist etwas, das keiner gewollt hat. So verläuft die bisherige Geschichte nach Art eines Naturprozesses und ist auch wesentlich denselben Bewegungsgesetzen unterworfen.“74
Was bei der Herausbildung der autoritär-patriarchalen Persönlichkeit im Sinne Engels‘ (siehe Einschub) in letzter Instanz psychologisch wirkt, sind also die grundlegenden Widersprüche in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung im Kapitalismus (nämlich der Widerspruch zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit, zwischen geistiger bzw. anleitender und körperlicher bzw. ausführender Arbeit sowie zwischen Stadt und Land)75, und damit ökonomische Momente, die sich vermittels unzähliger Erscheinungen im gesellschaftlichen Überbau (Familie, Staat, Schule, Kirche, Religion) und den damit einhergehenden Gewalterfahrungen und der Unterdrückung von Bedürfnissen in der menschlichen Charakterstruktur niederschlagen.
Reich legt dar, dass die faschistische Ansprache der inneren Widersprüche der Persönlichkeit genau der Wirkungsweise von Religion und Mystik auf die menschliche Psyche entspricht.76 Mit rationalen Argumenten könne die faschistische Agitation niemals ihre Ziele – sondern eher nur das Gegenteil – erreichen: Der Widerspruch des Faschismus, dass er dem Kleinbürger:innentum den Kampf gegen das Großkapital und dem Großkapital die Wahrung seiner Interessen verspricht, ist so offenkundig, dass er gegründet auf eine rationale Agitation immer sofort auffallen und die Agitation damit ihre Wirkung verfehlen müsste. Dies gelte auch für die Wirkung der Rassentheorie und des Antisemitismus in den Massen.77
Die faschistische Agitation könne und müsse also frei von Rationalität und logischer Schlüssigkeit sein: „Die nationalsozialistischen Versammlungsreden zeichneten sich (…) durch sehr geschickte Maßnahmen aus, mit den Gefühlen der Massenindividuen zu operieren und sachliche Argumentation tunlichst zu vermeiden. Hitler betonte an verschiedenen Stellen seines Buches ‚Mein Kampf‘, daß die richtige massenpsychologische Taktik auf Argumentation verzichten und nur das ‚große Endziel‘ unausgesetzt den Massen vorführen müsse“.78 Man kann hinzufügen, dass sich genau hier die Praxis der faschistischen Agitation mit ihren irrationalistischen philosophischen Wurzeln trifft.
Auch langjährige soziologische Studien des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, an denen spätere Vordenker und zentrale Personen der bürgerlichen „Kritischen Theorie“ wie Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Erich Fromm beteiligt waren, haben sich mit dem „potentiell faschistischen Individuum“ befasst und dabei sowohl die Charakterstruktur der Individuen als auch die Rolle von Autorität und Familie79 in den Blick genommen: „Da Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen, wie wir gesehen haben, von menschlichen Bedürfnissen abhängen, und da der Charakter im wesentlichen eine Organisation von Bedürfnissen ist, kann er als Determinante ideologischer Präferenzen betrachtet werden, ist jedoch nicht als endgültige Determinante zu hypostasieren. (…)“.80 Es werde immer deutlicher, „daß die Menschen sich sehr oft nicht im Sinne ihrer materiellen Interessen verhalten; selbst dann nicht, wenn ihnen klar ist, wo diese Interessen liegen. Der Widerstand der Angestellten gegen gewerkschaftliche Organisation beruht nicht auf der Ansicht, bei den Gewerkschaften in wirtschaftlicher Hinsicht keine Hilfe zu finden; (…) In solchen Fällen scheint das Individuum seine Interessen nicht nur zu ignorieren, sondern ihnen sogar zuwiderzuhandeln, scheint es sich mit einer größeren Gruppe zu identifizieren, so als ob weniger rationale Erwägungen der eigenen Interessen seinen Standpunkt bestimmten, sondern vielmehr das Bedürfnis, diese Gruppe zu unterstützen und gegensätzliche zu unterdrücken. (…) Wenn die Menschen die soziale Welt beurteilen sollen, treten grelle irrationale Züge hervor. Denkbar ist der Fachmann, der die Einwanderung jüdischer Flüchtlinge ablehnt, weil sie die Konkurrenz vermehre und sein Einkommen verringere. Wie undemokratisch dies auch sein mag, es ist zumindest in begrenztem Sinne rational. Schlicht unlogisch aber ist dieser Mann, wenn er dann noch den Juden alles mögliche Schlechte in der Welt zuschreibt, wie es die meisten Personen tun, die aus beruflichen Gründen die Juden ablehnen und die verschiedensten Ansichten akzeptieren, von denen viele sich im allgemeinen widersprechen.“81
Die Bedeutung der autoritären Charakterstruktur bzw. des damit einhergehenden Weltbildes wird heute auch in der Soziologie anerkannt, etwa wenn es um die Beschreibung gesellschaftlicher „Milieus“ geht. Die menschlichen Persönlichkeitstypen werden in den dortigen Analysen jedoch meist rein empirisch bestimmten sozialen Gruppen zugeordnet, während eine konkrete materialistische Analyse der Charakterstruktur und ihrer gesellschaftlichen Entstehung in der Regel ausbleibt. Trotzdem bringen die Ergebnisse aus solchen empirischen Untersuchungen häufig auch für die marxistische Klassenanalyse gute Anhaltspunkte: Zum Beispiel wenn es um die Beobachtung geht, dass der Faschismus historisch nicht in alle Teile der Massen eindringen konnte, dass insbesondere ein großer Teil der Arbeiter:innenklasse schon in den 1930er Jahren innerlich widerstandsfähig gegenüber einer Macht- und Unterwerfungsideologie zu sein schien. In der Arbeit „Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel“ von Vester, von Oertzen u.a. wird der historische „Mittelstand“ in Deutschland in Bezug auf seine Gebundenheit an Hierarchien und Autorität bzw. seine Neigung zur Eigenverantwortung untersucht und diesbezüglich grob in zwei Gruppen unterteilt: „Die ‚respektablen‘ Volksmilieus teilen sich in zwei Traditionslinien und eine von diesen abgesetzte Jugendkultur. (…) Die linke Mitte gehört den Milieus der Facharbeit bzw. der praktischen Intelligenz. Sie richten sich nicht gern nach Autoritäten, sondern wollen eigenverantwortlich und gleichberechtigt handeln, gegründet auf ein besonderes Arbeits-, Bildungs- und Gemeinschaftsethos. Die Milieus dieser Traditionslinie sind zugleich sehr modern und historisch sehr alt, da sie auf die vorindustriellen Volksmilieus freier Bauern, Handwerker und Stadtbürger zurückgehen. (…) In der rechten Mitte finden sich große Milieus mit einem hierarchischen, obrigkeitsgebundenen Weltbild. Es entspricht der Herkunft aus kleinbürgerlich-ständischen Traditionen, wie sie sich über lange Zeit in den ‚subalternen‘ Milieus von stadtbürgerlichen, staatsbürokratischen oder dorfgesellschaftlichen Hierarchien herausgebildet und konserviert haben. Väter, Chefs, Honoratioren und Politiker gelten noch als Vorbilder. Ihnen ist zu folgen, sie haben aber auch eindeutige Fürsorgepflichten gegenüber ihren Untergebenen. (…) Am äußeren rechten Rand finden sich hier auch noch ungebrochen autoritäre Arbeiter und Angestellte. (…) Die ‚unterprivilegierten‘ Volksmilieus erfahren die soziale Welt über den Gegensatz von Macht und Ohnmacht. Da ihre eigenen Kräfte nicht hinreichen, lehnen sie sich an die Strategien der Traditionslinien der Mitte an. (…)“82 Man sieht, dass auch in dieser Darstellung die gesellschaftsstabilisierende Funktion des Mittelstandes festgestellt wird. Dieser strahle gesellschaftlich und politisch sozusagen auf die unteren Schichten der Arbeiter:innenklasse und des Kleinbürger:innentums aus.
Das Verständnis der menschlichen Charakterstruktur, das heißt der Persönlichkeit und der konkreten Art und Weise ihrer Herausbildung sowie der unbewussten und irrationalen Verhaltensweisen der Individuen ist aus kommunistischer Sicht nicht nur erforderlich, um die Quelle des faschistischen Masseneinflusses trockenzulegen. Sie bildet darüber hinaus auch den Schlüssel zur Frage der Revolutionierung der Persönlichkeit, der Überwindung der bürgerlichen Persönlichkeitsstruktur beim revolutionären Individuum sowie der breiten Masse der Bevölkerung im Sozialismus. Aus diesem Grund müssen sich die Kommunist:innen alle Erkenntnisse aus der Psychologie und Soziologie aneignen, die zum Verständnis dieser Fragen beitragen.
1Vgl. Christian Ingrao, „Hitlers Elite“, Propyläen Verlag
2Clara Zetkin, „Der Kampf gegen den Faschismus“, Ausgewählte Reden und Schriften 2, S. 690
3Vgl. Heinz Malorny, „Friedrich Nietzsche und der deutsche Faschismus“, aus: Eichholtz, Gossweiler, „Faschismus-Forschung – Positionen, Probleme, Polemik“, Akademie-Verlag 1980, S. 282 f.
4„Die Anfänge dieser Linie [der irrationalistischen Abkehr von den großen Traditionen der bürgerlichen Aufstiegsperiode …] reichen bis zu den philosophischen Reaktionen auf die bürgerliche französische Revolution und die revolutionären Erhebungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei dem späten Schelling und bei Arthur Schopenhauer zurück; sie wurde weitergeführt u.a. von Eduard von Hartmann, Friedrich Nietzsche, Houston Stewart Chamberlain, Oswald Spengler, Ludwig Klages, Ernst Jünger, Othmar Spann, Martin Heidegger, Alfred Bäumer und Ernst Krieck, sie führte zu Rosenbergs ‚Mythus des 20. Jahrhunderts‘, ohne bei diesem zu enden, wie die Entwicklung nach dem zweiten Weltkrieg zeigt.“, Ebd., S. 282
5Vgl. „‘Diskursanalyse‘ oder Revolution – über die postmodernen Angriffe auf den Marxismus“, Kommunismus 20 , S. 8
6Vgl. Malorny, S. 284
7„Die Struktur des Faschisten zeichnete sich durch metaphysisches Denken, Gottgläubigkeit, Beherrschtheit von abstrakten, ethischen Idealen und Glauben an die göttliche Bestimmung des ‚Führers‘ aus. Diese Grundzüge waren verknüpft mit einer tieferen Schichte, die sich durch starke autoritäre Bindungen an ein Führerideal oder die Nation kennzeichnete.“, Wilhelm Reich, „Die Massenpsychologie des Faschismus“, S. 89
8„Die Massen erscheinen mir nur in dreierlei Hinsicht einen Blick zu verdienen: einmal als verschwimmende Copien der grossen Männer, auf schlechtem Papier und mit abgenutzten Platten hergestellt, sodann als Widerstand gegen die Grossen und endlich als Werkzeuge der Grossen…“, Nietzsche, „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“, aus: „Unzeitgemäße Betrachtungen“, dtv 2019, S. 320
9Nietzsche, „Also sprach Zarathustra“, Alfred Kröner Verlag 1988, S. 70
10Nietzsche, „Zur Genealogie der Moral“, dtv de Gruyter 2020, S. 314
11Nietzsche, „Jenseits von Gut und Böse“, dtv de Gruyter 2020, S. 207
12Ebd. S. 275
13Malorny, S. 285
14Vgl. Malorny, S. 294 ff.
15Vgl. „‘Diskursanalyse‘ oder Revolution – über die postmodernen Angriffe auf den Marxismus“, Kommunismus 20, S. 9
16Nietzsche, zitiert nach: Malorny, S. 285
17„Vilfredo Pareto, an Italian economist who would later sympathize with fascism, summarized what Nietzsche meant to the generation that idolized him before 1914. The working class were continually saying they wanted to ‚destroy‘ the bourgeoisie. No one until Nietzsche had dared to say: ‚Come on then. It‘s us that will destroy you.“, Paul Mason, „How to stop fascism“, S. 92
18Clara Zetkin, „Der Kampf gegen den Faschismus“, S. 693
19Vgl. Malorny, S. 294 f.
20Antonio Gramsci, „Sul fascismo“, Edizioni Clandestine 2022, S. 60
21Klaus, Buhr, „Philosophisches Wörterbuch“, VEB Bibliographisches Institut Leipzig 1976, S. 830
22Marx, „Einleitung zu ‚Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, Marx-Engels-Werke Bd. 1, S. 378f.
23Heinrich Mann, „Der Untertan“, 1950, S.63 f.
24Vgl. Paul Mason, „How to stop fascism“, S. 96
25Mohler, „Die konservative Revolution in Deutschland 1918 – 1932“, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 17
26Vgl. „Imperialismus und rassistische Ideologie“, Kommunismus 21, S. 21
27Vgl. Joachim Petzold, „Die Entstehung der Naziideologie“, aus: Eichholtz, Gossweiler, S. 273
28Vgl. Reinhard Opitz, „Faschismus und Neofaschismus“, Verlag Marxistische Blätter 1984, S. 46 ff.
29Vgl. Wilhelm Reich, „Die Massenpsychologie des Faschismus“, S. 85 ff.
30Hofer, „Dokumente des Nationalsozialismus“, S. 34 f.
31Nietzsche, „Zur Genealogie der Moral“, dtv, S. 275
32Ebd., S. 274 f.
33Alfred Rosenberg, „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“, zitiert nach: Wilhelm Reich, „Die Massenpsychologie des Faschismus“, S. 91 f.
34Hitler, „Mein Kampf“, aus: Hofer, „Dokumente des „Nationalsozialismus“, S. 31 f.
35Ebd.
36Hitler, Rede im Reichstag vom 23.3.1933, siehe Kapitel 1., S. 35f.
37Zitiert nach: Wilhelm Reich, „Die Massenpsychologie des Faschismus“, S. 125
38Alexander Dugin, „The Great Awakening vs. the Great Reset“, Arktos 2021
39Ebd.
40Ebd.
41Vgl. „Ukraine-Krieg und sozialistische Revolution“, Kommunismus Nr. 2
42Vgl. Dugin
43Vgl. Mohler, S. 25
44„Ein ideologischer Durchbruch bei der herrschenden Klasse wurde von dem Münchner Philosophen Spengler bewirkt. Er hatte sich 1918 durch die Veröffentlichung seines Buches ‚Der Untergang des Abendlandes‘ einen Namen gemacht. Von ihm, den das Ruhrkapital hoch schätzte und der in dem Industriemanager Paul Reusch einen einflußreichen Mentor und persönlichen Freund erlangte, wurde genau erkannt, daß der Sozialismus die ‚lauteste Frage der Zeit‘ geworden war. Er begann sich deshalb ebenfalls dem Problem zuzuwenden, wie man das im Volk weit verbreitete Sozialismusstreben im reaktionären Sinne mißbrauchen konnte. 1919 veröffentlichte er zu diesem Zwecke in der Beckschen Verlagsbuchhandlung die politische Programmschrift ‚Preußentum und Sozialismus‘. Darin verlange er ausdrücklich, den deutschen Sozialismus von Marx zu befreien‘ und auf eine ganz andere, antikommunistische Grundlage zu stellen. Spengler meinte, daß das am besten dadurch geschehen könnte, wenn man sich am Preußentum orientierte. Nach seiner Meinung wäre der wahre Sozialismus bei den alten preußischen Königen zu finden. Er bedeutete: ‚Organisation der Produktion, des Verkehrs durch den Staat; jeder ein Diener des Staates; also unliberale und autoritative Forderungen schroffster Art.‘ Die von ihm entwickelte Möglichkeit, mit sozialistischen Parolen bewährte Leitbilder der Reaktion aufzuwerten und die staatsmonopolistische Entwicklung als Sozialismus auszugeben, beeindruckte die herrschende Klasse tief.“, Petzold, S. 277
45Vgl. Mohler, S. 4
46Mohler, S. 113
47Mohler, S. 127
48Vgl. Reinhard Opitz, „Faschismus und Neofaschismus“, Verlag Marxistische Blätter 1984, S. 46 ff.
49Vgl. Mohler, S. 11
50Ernst Gottschling, „Der faschistische Staat“, aus: Eichholtz, Gossweiler, S. 83
51Carl Schmitt über den Führergedanken, aus: Hofer, „Dokumente des Nationalsozialismus“, S. 36
52Carl Schmitt, „Theorie des Partisanen – Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen“, Duncker & Humblot 1975
53Ebd., S. 50 f.
54Ebd., S. 59
55Ebd., S. 10 f.
56Ebd., S. 13
57Ebd. S. 62
58Ebd., S. 29
59Siehe Kapitel 3., S. 152 ff.
60Ebd., S. 15
61Ebd., S. 58
62Vgl. „Marxismus und Psychologie“, Kommunismus 22, S. 22 ff.
63Ab Mitte der 1930er Jahre hat sich Reich zunehmend vom Marxismus abgewandt und in seiner Forschung geradezu in einer Art Zwangsvorstellung in die Überschätzung der Rolle der menschlichen Sexualfunktion hineingesteigert. Er wollte insbesondere eine neue Energieform („Orgonenergie“) entdeckt haben, die er für eine Art allgemein-physikalischer Version der in der Freudschen Psychoanalyse postulierten sexuellen Energie des Menschen (Libido) hielt. Reich versuchte diese Energie in speziellen Holzkammern aufzufangen und damit Patient:innen von ihren psychischen Leiden sowie von Krebs zu heilen. Aufgrund dessen sowie aufgrund seines kommunistischen Hintergrunds wurde Reich in den USA, wo er seit 1939 im Exil lebte, verfolgt und inhaftiert. Er starb 1957 im Gefängnis.
64Wilhelm Reich, „Die Massenpsychologie des Faschismus“, KiWi 2003, S. 41 ff., Hervorhebungen von uns
65Vgl. Reich, S. 200
66Reich, S. 59
67Reich, S. 62
68Reich, S. 63
69Reich, S. 66
70Reich zitiert etwa Sätze von Goebbels aus einer Broschüre: „‚Wenn jemand deine Mutter mit der Peitsche mitten durchs Gesicht schlägt, sagst du dann auch Danke schön! Er ist auch ein Mensch!? Das ist kein Mensch, das ist ein Unmensch! Wieviel Schlimmes hat der Jude unserer Mutter Deutschland angetan und tut es ihr heute noch an! Er (der Jude) hat unsere Rasse verdorben, unsere Kraft angefault, unsere Sitte unterhöhlt und unsere Kraft gebrochen … Der Jude ist der plastische Dämon des Verfalls … beginnt sein verbrecherisches Schächtwerk an den Völkern.‘“ Danach kommentiert Reich: „Man muß die Bedeutung der Vorstellung von der Kastration als der Strafe für sexuelles Begehren kennen, man muß den sexualpsychologischen Hintergrund der Ritualmordphantasien wie des Antisemitismus überhaupt erfassen und zudem das sexuelle Schuldgefühl und die sexuelle Angst des reaktionären Menschen richtig einschätzen, um beurteilen zu können, wie solche vom Schreiber unbewußt abgefaßten Sätze auf das unbewußte Gemütsleben der Leser aus den Massen einwirken.“, Reich, S. 72 f.
71Siehe die Ausführungen zur NS-Wochenzeitung „Der Stürmer“, S. 74 f.
72„Charakteristisch für das Selbstverständnis der SA in den Jahren vor der ‚Machtergreifung‘ war das Bewußtsein, im Gegensatz zu Parteibürokraten eine Elite von ‚Kämpfern‘ zu sein.“, Mathilde Jamin, „Zwischen den Klassen – Zur Sozialstruktur der SA-Führerschaft“, Peter Hammer Verlag 1984, S. 3
73Ein Gegenstand, der für weitere Schlussfolgerungen von der marxistischen Psychologie erst noch umfassend zu untersuchen ist.
74Engels, Brief an Joseph Bloch vom 21. September 1890, MEW 37, S. 463 f.
75Vgl. „Die Arbeiter:innenklasse als revolutionäres Subjekt“, Kommunismus 19, S. 17 ff.
76„Der faschistische Reaktionär setzt eine innige Verbindung von Familie, Nation und Religion voraus, den Tatbestand also, der bisher von der soziologischen Forschung völlig vernachlässigt wurde. Zunächst bestätigt sich in der Formulierung, daß die Religion die Freiheit von der äußeren Welt bedeute, die sexualökonomische Feststellung, daß die Religion eine phantasierte Ersatzbefriedigung für wirkliche Befriedigung biete; das paßt völlig zur Marxschen Theorie, daß Religion auf die Massen wie Opium wirke.“, Reich, S. 128 f.
77Nach Reich basiert die Wirkung der faschistischen Rassentheorie und des Antisemitismus wiederum allein auf der Erregung unterdrückter sexueller Impulse. Die Rassentheorie übersteigere die eigene „Rasse“ als edel und vornehm und damit „asexuell“, während fremde „Rassen“ als die „schmutzigen“ Träger der unterdrückten Bedürfnisse gezeichnet werden. So gelänge es der Rassentheorie, die eigene unterdrückte Sexualität in der pervertierten Form der sadistischen Gewalt z.B. gegen Jüd:innen zu richten. Vgl. Reich, S. 85 ff.
78Reich, S. 52
79Horkheimer, Fromm, u.a., „Studien über Autorität und Familie“, Dietrich zu Klampen Verlag, https://ia800504.us.archive.org/29/items/HorkheimerEtAlAutoritatUndFamilie/Horkheimer%20et%20al-%20Autorita%CC%88t%20und%20Familie.pdf
80Theodor W. Adorno, „Studien zum autoritären Charakter“, Suhrkamp, S. 7, Hervorhebungen von uns
81Theodor W. Adorno, „Studien zum autoritären Charakter“, Suhrkamp, S. 11, Hervorhebungen von uns
82Vester, van Oertzen, u.a., „Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel“, Suhrkamp 2015, S. 30 f.