In der politischen Praxis haben wir ständig mit Parolen, Losungen und Forderungen zu tun: Sei es das „Für den Sozialismus“-Transparent auf der letzten Demonstration, ein Volksbegehren für die „Enteignung von Deutsche Wohnen & Co“ oder die Forderung nach „5 % mehr Lohn!“ vom letzten Streik. Zudem gibt es bekannte Losungen aus vergangenen Kämpfen der kommunistischen Bewegung wie „Land, Brot, Frieden“ oder später „Alle Macht den Räten“, welche die russischen Bolschewiki in Heranführung an die sozialistische Revolution 1917 herausgaben.

Doch wann macht es für uns als Kommunist:innen Sinn, welche Losung an wen zu richten?

Die Antworten auf diese Frage entwickeln wir im folgenden Text. Um uns diesem Themenkomplex zu nähern, müssen wir zuerst einige Grundlagen klären.

Wir können mit einer Definition beginnen: Die Losungen sind knappe und klare Formulierungen der nächsten oder entfernteren Ziele des Kampfes.1 Sie werden natürlich von allen möglichen politischen Kräften herausgegeben. Im Folgenden beschränken wir uns jedoch auf die Losungen der Kommunist:innen.2

Bei der Frage der Losungen handelt es sich im engeren Sinne um eine Teilfrage der kommunistischen Taktik. Die Taktik beschäftigt sich mit der richtigen dialektischen Verbindung der Kampf- und Organisationsformen mit den Losungen unter konkreten Bedingungen in einem bestimmten Zeitabschnitt. Wir widmen uns in diesem Artikel dabei insbesondere der Frage des richtigen Einsatzes der Losungen.

Bekanntlich sind taktische Entscheidungen jedoch der kommunistischen Strategie untergeordnet, weshalb die Frage der Losungen dialektisch verstanden im weiteren Sinne auch bzw. an sich vor allem eine Frage der kommunistischen Strategie ist.

Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus der Einbeziehung  unserer Haltung zu den Losungen in die revolutionäre Strategie? Vereinfacht gesagt leiten wir aus unserer Strategie und der Einschätzung, in welcher strategischen Phase wir uns befinden, ab, wie wir an die Losungen herangehen und wann und wie wir welche Losungen aufstellen oder eben auch nicht aufstellen.

Wie können die Eckpunkte der kommunistischen Strategie für Deutschland heute umrissen werden? Kurz gesagt beinhaltet unsere Strategie die politische, ideologische und organisatorische Vorbereitung und Durchführung der sozialistischen Revolution in Deutschland als Teil eines weltrevolutionären Prozesses durch den Zusammenschluss der entscheidenden Teile der Arbeiter:innenklasse in Deutschland zu einem revolutionären politischen Subjekt.

Mit der sozialistischen Revolution und dem anschließenden Aufbau des Sozialismus beginnen wir mit der Verwirklichung des kommunistischen Programms, welches unter anderem folgende Elemente umfassen wird:

Ökonomische Umwälzungen: Das „große“ Privateigentum an Produktionsmitteln wird sofort enteignet. Die großen Fabriken, Ländereien, Straßen, Bürogebäude usw. werden in die Hände des sozialistischen Staats übergeben, welcher von der Rätemacht geführt wird. Die Produktionsmittel werden nun nicht mehr anarchisch von einzelnen Kapitalist:innen eingesetzt, sondern nach einem systematischen Plan.          

Politische Umwälzungen: Der bürgerliche Staatsapparat wird zerschlagen und durch die sozialistische Staatsmacht ersetzt. Der bürgerliche Parlamentarismus als offizielles Steuerungsorgan wird aufgelöst. An seine Stelle tritt ein rätedemokratisches System, welches die Aufgabe hat, die sozialistische Gesellschaft auf allen Ebenen zu entwickeln. Die bürgerlichen Repressionsorgane werden zerschlagen und durch Organe der Arbeiter:innen ersetzt.                  

Kulturelle und soziale Umwälzungen: Die nun mögliche sozialistische Kulturrevolution richtet sich gleichsam gegen die Überreste der kapitalistischen wie der patriarchalen Kultur. Sie muss in allen gesellschaftlichen Bereichen, in den Betrieben, den Räten, den staatlichen Behörden und den Organisationen der Arbeiter:innenklasse unablässig und bewusst geführt werden. Es liegt auf der Hand, dass die ökonomische und politische Umwälzung nicht voranschreiten wird, ohne dass die Revolution auch in diesen Fragen vorankommt.

Die Voraussetzung zur Verwirklichung unserer Strategie und unseres kommunistischen Programms ist, dass die Arbeiter:innenklasse sich ihr eigenes Instrument zur Befreiung schafft, die Kommunistische Partei.3

Der Aufbau dieser Partei wird bestimmte Entwicklungsschritte durchlaufen, die unterschiedliche Schwerpunktsetzungen mit sich bringen. Da es aktuell noch keine kommunistische Partei in Deutschland gibt, die in der Lage wäre, die oben genannte Strategie erfolgreich umzusetzen, besteht unser strategisches Zwischenziel darin, eben diese Kampforganisation zu schaffen. 

Um den Aufbau der Partei korrekt zu führen, benötigen wir ein Verständnis des Entwicklungsgangs des revolutionären Prozesses.

Derzeit befinden wir uns in einer Phase der strategischen Defensive, in welcher der deutsche Kapitalismus noch eine relative Stabilität zeigt, wir uns uns aber in Erwartung kommender qualitativer Veränderungen der objektiven Verhältnisse befinden. Es ist zudem eine frühe Phase des Parteiaufbaus, in der wir zum einen die Aufgabe haben, unsere Kampfbedingungen zu verstehen und Strategie und Programm für die Revolution in Deutschland vertieft auszuarbeiten. Zum anderen besteht die Aufgabe, die fortgeschrittensten Teile der Arbeiter:innenklasse zu sammeln, zu organisieren und Teile davon zu Kader:innen und professionellen Revolutionär:innen zu entwickeln. Dies geschieht hauptsächlich vermittels Propaganda – in dem Sinne, dass unsere Politik in dieser Phase vor allem das Aufzeigen der allseitigen gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge zum Inhalt haben muss. 

Daran muss sich auch die kommunistische Massenarbeit orientieren: Auch wenn wir konkrete Kämpfe führen und gewinnen wollen, besteht das strategische Ziel dabei im Aufbau eines Organisationsgeflechts, welches eben die Entwicklung der fortgeschrittensten Teile der Arbeiter:innenklasse hin zu Kommunist:innen ermöglicht und fördert.

Dabei gilt es, zwei Abweichungen zu verhindern: Zum einen das „linke Sektierertum“, welches die Klassenrealität und die gesellschaftlichen Dynamiken ausblendet und nur eine sehr kleine Minderheit der Arbeiter:innenklasse und der kleinbügerlichen Schichten ansprechen kann. Zum anderen der „rechte Oppportunismus“, welcher in Tageskämpfen und politischen Bewegungen aufgeht und damit das „Endziel“ und die Massenarbeit auseinander laufen lässt. Beide falschen Richtungen laufen darauf hinaus, dass Parteiaufbau und Massenarbeit kein einheitliches Ganzes bilden. Dabei ist genau dies unsere Aufgabe: Die Einheit von Wiederaufbau der Kommunistischen Partei bei gleichzeitigem Wiederaufbau einer klassenkämpferischen Arbeiter:innenbewegung

Wenn sich die objektiven Widersprüche des Kapitalismus zuspitzen, wenn die Klassenkämpfe an Dynamik und Intensität zunehmen, wenn also eine revolutionäre Krise heranreift und wenn die kommunistische Partei eine breite Verankerung in den Kämpfen der Klasse und ihrer Massenorganisationen hat, wenn die Klasse und ihre Vorhut beginnen, die Räte als Massenorganisationen der Revolution auf breiter Front zu schaffen, geht die revolutionäre Bewegung von der strategischen Defensive zum strategischen Gleichgewicht über.

In einem solchen Stadium wird es darum gehen, eben in die letzten Winkel der Gesellschaft vorzudringen (was zum Beispiel die Bolschewiki mit der Losung „Land, Brot, Frieden“ erreichten). Dann werden die Massenaktionen und die Agitation in Vorbereitung zu den entscheidenden Schlachten zum Arbeitsschwerpunkt der Partei.

Erst nach einer vermutlich längeren Phase der strategischen Verteidigung und taktischer Angriffe, der Anhäufung der Kräfte und politisch-ideologischer Kämpfe, dem Übergang von der Defensive zum Gleichgewicht, folgt eine Phase der strategischen Offensive, deren Ziel die Übernahme der Macht ist. Dafür müssen alle objektiven Bedingungen (Die Herrschenden können nicht mehr wie bisher und die Beherrschten wollen nicht mehr wie bisher) sowie subjektiven Bedingungen (Die Existenz einer erfahrenen, entwickelten kommunistischen Partei) erfüllt sein.

Bei den hier vorgestellten Phasen des revolutionären Kampfs (strategische Defensive, Gleichgewicht, Offensive) handelt es sich um eine Untergliederung, die uns dabei hilft, gemeinsame Begriffe für verschiedene Kampfabschnitte des revolutionäreren Prozesses zu finden. Dabei dürfen wir jedoch nicht in die Vorstellung verfallen, es handele sich um ein lineares Schema, wo es kein Vor und kein Zurück, keine qualitativen Sprünge oder Rückentwicklungen geben könne. 

Dazu hielt bereits Lenin in „Der Linke Radikalismus“ fest: 

Die Geschichte im allgemeinen und die Geschichte der Revolutionen im besonderen ist stets inhaltsreicher, mannigfaltiger, vielseitiger, lebendiger, „vertrackter“, als die besten Parteien, die klassenbewußtesten Avantgarden der fortgeschrittensten Klassen es sich vorstellen. Das ist auch verständlich, denn die besten Avantgarden bringen das Bewußtsein, den Willen, die Leidenschaft, die Phantasie von Zehntausenden zum Ausdruck, die Revolution aber wird in Augenblicken eines besonderen Aufschwungs und einer besonderen Anspannung aller menschlichen Fähigkeiten durch das Bewußtsein, den Willen, die Leidenschaft, die Phantasie von vielen Millionen verwirklicht, die der schärfste Klassenkampf vorwärtspeitscht.“ 

Daraus zog Lenin zwei bedeutsame Schlussfolgerungen für die Praxis der Kommunist:innen:

erstens, daß die revolutionäre Klasse, wenn sie ihre Aufgabe erfüllen will, es verstehen muß, alle Formen oder Seiten der gesellschaftlichen Tätigkeit ohne die geringste Ausnahme zu beherrschen (…);                  

zweitens, daß die revolutionäre Klasse gerüstet sein muß, aufs schnellste und unerwartetste die eine Form durch die andere zu ersetzen.“ 4        

Wie sehr diese Schlussfolgerungen eine objektive Wahrheit sind und wie recht Lenin mit seiner Analyse hatte, hat der Ausbruch eines imperialistischen Raubkrieges in Europa durch den Einmarsch des russischen Imperialismus in die Ukraine am 24. Februar 2022 erneut gezeigt. Dieses aktuelle Bespiel wie die theoretische Analyse unterstreichen die Notwendigkeit, die kommunistische Partei von Beginn an als konspirative Kader:innenorganisation aufzubauen, die in die Lage kommt, tatsächlich alle Formen des Klassenkampfs zu beherrschen. 

Dies unterstreicht auch, dass die Unterscheidung verschiedener strategischer Phasen im revolutionären Prozess nicht dazu führen darf, dass wir in eine revisionistische Etappentheorie verfallen: Also etwa solche Vorstellungen wie dass es eine „Etappe der nicht-revolutionären Situation“ gibt, in der dann im wesentlichen legale, „demokratische“ Arbeit notwendig wäre, die dann von einer kurzen „Etappe der revolutionären Situation“ abgelöst würde, in der dann illegale und bewaffnete Kämpfe auf die Tagesordnung kommen. Dies würde bedeuten, in der Praxis in Reformismus zu verfallen und im Falle der Veränderung der objektiven Bedingungen nicht auf die neuen Kampfformen und die notwendige Avantgarderolle vorbereitet zu sein.

Was heißt das alles nun zusammengefasst für die Ursprungsfrage, wie wir mit den Losungen arbeiten? 

Zu jeder Phase des Klassenkampfs müssen wir unsere Losungen aus dem Endziel ableiten, aus der Strategie, die auf dieses Endziel hinführt, aus der strategischen Phase, in der wir uns befinden, aus unserem Fortschritt im Aufbau der kommunistischen Partei. 

Eine Losung ist also nicht nur ein Slogan, eine Überschrift oder eine Parole – also die konzentrierte Form, was wir am Ende rufen, schreiben, malen, an die Klasse heranbringen. Sie verkörpert unsere grundlegende Herangehensweise im Hier und Heute an den revolutionären Kampf. Sie ist aufs Engste mit der Frage verwoben, was wir wie tun und was für Kämpfe wir führen. Dementsprechend müssen wir Losungen nicht nur in unserem Denken, sondern auch in unserem Fühlen und Handeln verinnerlichen. Um eben dies zu ermöglichen, wollen wir im folgenden einen Überblick über die Dimensionen von Losungen geben, mit denen wir in der Praxis arbeiten können. Hierbei berücksichtigen wir grundlegend zwei verschiedene Dimensionen: 

  • den Typ der Losung (Endlosung, Teillosung und Übergangslosung)
  • die Rolle der Losung (Propagandalosung, Agitationslosung, Aktionslosung, Direktive)

Verschiedene Typen von Losungen

Grundsätzlich können wir verschiedene Typen von Losungen unterscheiden: die Endlosung, die Teillosung und die Übergangslosung.

Endlosung

Bei einer Endlosung handelt es sich um eine klare Formulierung unseres Ziels als Kommunist:innen: „Für die Revolution, für den Sozialismus, für den Kommunismus“. Doch die sozialistische Revolution ist keine Revolution der kommunistischen Führung, sondern des entscheidenden Teils der Arbeiter:innenklasse. 

Kommunist:innen sind also mit der Frage konfrontiert, wie es ihnen gelingt, dass immer größere Teile der Klasse bereit sind, sich für diese Endlosungen zu organisieren, aktiv zu werden, selbst zu Kommunist:innen zu werden. Ganz offensichtlich ist dafür notwendig, diese Endlosungen, d.h. das kommunistische Programm, der breiten Masse durch kommunistische Agitation und Propaganda schon heute bekannt zu machen. Es gilt den Kommunismus aus etwas „utopischem“ oder „gescheitertem“ in etwas erstrebenswertes zu verwandeln. Das kommunistische Programm ist auf Grundlage wissenschaftlicher Analysen die einzige Lösung für die Probleme der Arbeiter:innenklasse und der werktätigen Massen, die Abschaffung von Ausbeutung und Unterdrückung. Dies kann nur dadurch geschehen, in dem wir den Sozialismus als notwendige Alternative argumentativ in den realen Klassenkämpfen konkret herleiten, erläutern und unsere Losungen in unserem eigenen Verhalten verkörpern und sie zu diesem Zweck auch in unserer Psyche verankern.

Teillosungen

Doch die absolut notwendige Propagierung der Endlosungen alleine reicht noch nicht aus, um die Arbeiter:innenklasse für den Kampf um den Sozialismus zu gewinnen. Schon der III. Weltkongress der Kommunistischen Internationale hielt 1921 dazu fest: „Nicht darauf kommt es an, dem Proletariat nur die Endziele zuzurufen, sondern darauf, den praktischen Kampf zu fördern, der allein imstande ist, das Proletariat zum Kampfe um die Endziele zu führen.“ 5 Die Aufgabe besteht darin, dass die Arbeiter:innenklasse sich auf Grund ihrer eigenen Erfahrungen von der Richtigkeit der  politischen Linie der Kommunistischen Partei überzeugt.

Diese eigenen Erfahrungen macht die Klasse im alltäglichen Klassenkampf, wovon der Kampf um ihre sofortigen, unmittelbaren Tagesbedürfnisse ein entscheidender Teil ist. Diesen führt sie oftmals zuerst anhand von Teillosungen.6  

Kämpfe um Teillosungen unterscheiden sich vom Kampf um die Endlosung, dem Kampf „ums Ganze“: Teillosungen bringen die sofortigen, unmittelbaren Bedürfnisse der Massen aus einer Klassenposition zum Ausdruck, ohne unmittelbar zur Eroberung der politischen Macht aufzurufen.

Es gibt Teillosungen auf verschiedenen Maßstabsebenen. Eine „kleine“ Teillosung könnte zum Beispiel die Wiedereinstellung einer entlassenen Kolleg:in sein. Eine „größere“ Teillosung wäre die Einführung des 6-Stunden-Tags.

Hier kann man sowohl von Losungen als auch von Forderungen sprechen, denn wir stellen hier Aufforderungen an den Klassengegner – sei es den kapitalistischen Staat, eine:r konkreten Kapitalist:in o.ä. – eine bestimmte Maßnahme sofort umzusetzen. Denn wir können sie selbst noch nicht umsetzen, da wir weder die Macht im Staat noch in den Betrieben haben. 

Doch warum sollte man überhaupt solche Forderungen aufstellen? Sind wir nicht Revolutionär:innen und keine Reformist:innen? Das führt zur Frage nach dem Verhältnis von Revolution und Reform. Wie verstehen die Kommunist:innen die Rolle von Reformen im Prozess des Klassenkampfs? Dazu lohnt es sich zwei klassische Aussagen von W. I. Lenin anzusehen:

Das Verhältnis von Reformen und Revolution ist nur vom Marxismus genau und richtig bestimmt worden (…): Reformen sind das Nebenprodukt des revolutionären Klassenkampfes des Proletariats. Für die ganze kapitalistische Welt bildet dieses Verhältnis das Fundament der revolutionären Taktik des Proletariats, das ABC (…)“ 7

Mit anderen Worten: Während wir für die Revolution kämpfen, erreichen wir auch Reformen. Die Geschichte hat das hinlänglich bewiesen. Es ist kein Zufall, dass die bedeutende Teillosung des „8-Stunden-Tags“ weltweit in den Jahren 1917-1920 durchgesetzt wurde, als die Bourgeoisie versucht hat, mit militärischen Mitteln, aber auch mit massiven Zugeständnissen die Weltrevolution zu verhindern. 

Auf unserem Weg zur Revolution erkämpfen wir also auch Reformen, die uns manövrierfähiger machen, die uns eine verbesserte Position im Stellungskrieg gegen die Bourgeoisie besetzen lassen. Von dieser Position ausgehend können und müssen wir jedoch weiter voranschreiten. 

Damit Reformen eben dieser Positionseroberung dienen und nicht zum Kerninhalt unserer politischen Praxis werden, sondern der Sozialismus im Fokus bleibt, muss sich dies dann auch in unserer Agitation und Propaganda niederschlagen. Laut Lenin dürfen sich Kommunist:innen nicht auf den Kampf für Reformen beschränken, sondern müssen ihn dem Kampf für die Revolution unterordnen.

Am Beispiel des Kampfes gegen Teuerungen von Lebensmitteln usw. erklärte er: 

Wir sind nicht (…) gegen Reformen zur Milderung der Teuerung, aber an die erste Stelle setzen wir die wahrheitsgetreue Aufklärung der Massen, nämlich darüber, daß es unmöglich ist die Teuerung anders zu überwinden als durch die Expropiierung der Banken und Großbetriebe, d.h. durch die sozialistische Revolution“.8

Das ist das Bewusstsein, mit dem wir grundsätzlich an die Kämpfe um Teillosungen, um Reformen innerhalb des kapitalistischen Systems herangehen müssen.

Unsere konkrete Organisierungsarbeit im Kampf um Reformen zielt auf die Entwicklung von revolutionärem Klassenbewusstsein bei gleichzeitigem und längerfristigem Aufbau der eigenen Machtposition durch immer massenhaftere Mobilisierung, Politisierung und Organisierung der Arbeiter:innenklasse ab.

Gerade wenn kein revolutionärer Aufschwung vorhanden ist, führt die Aufstellung von Teillosungen und der Kampf um sie zu folgenden „Nebenprodukten“:

  • Sie verbessern die Lebensbedingungen der Klasse und eröffnen uns neue Kampfpositionen.
  • Sie sind Anknüpfungspunkt für viele Menschen, um Teil von dauerhaften Bewegungen zu werden.
  • Sie dienen als Übungsfeld für grundsätzliche Veränderungen („Schule des Klassenkampfs“).
  • Sie ermöglichen den Kämpfenden ihre eigene Macht als vereint kämpfende Klasse tatsächlich zu verspüren und somit Hoffnung auf größere grundlegende Veränderungen zu entwickeln.
  • Sie ermöglichen den Kämpfenden in der Praxis die Halbheit des alleinigen Kampfs um Reformen (und den Betrug der Reformist:innen) zu erkennen; zu erkennen, dass die Reformist:innen nicht im Stande sind, darüber hinauszugehen und dass umgekehrt nur die kommunistischen Losungen zu grundlegenden Verbesserungen führen.

Doch diese „Nebenprodukte“ sind uns nur dann dienlich, wenn wir sie in den Kampf um die sozialistische Revolution einbetten. Die Kommunistische Internationale hat diese Haltung in Ihrem Programm von 1928 wie folgt richtig auf den Punkt gebracht: „Die Tagesforderungen und Tageskämpfe der Arbeiterklas­se zu vornachlässigen, ist ebenso unzulässig wie die Beschränkung der Tätigkeit der Partei auf diese allein. Aufgabe der Partei ist es, ausgehend von den Tagesnöten, die Arbeiterklasse in den revolutio­nären Kampf um die Macht zu führen.“ 9

Doch wie betten wir nun den Kampf um die Teillosungen in den Kampf um die Macht ein?

Die Arbeiter, die um ihre Teilforderungen kämpfen, werden automatisch zum Kampf gegen die ganze Bourgeoisie und ihren Staatsapparat gezwungen. In dem Maße, wie die Kämpfe um Teilforderungen, wie die Teilkämpfe einzelner Gruppen der Arbeiter sich auswachsen zum allgemeinen Kampf der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus, hat die kommunistische Partei auch ihre [Aktions]-losungen zu steigern und zu verallgemeinern bis zur Losung der direkten Niederwerfung des Gegners. (…) Alle konkreten Losungen, die den wirtschaftlichen Nöten der Arbeitermassen entspringen, müssen hineingeleitet werden in das Bett des Kampfes um die Kontrolle der Produktion nicht als eines Planes der bürokratischen Organisation der Volkswirtschaft unter dem Regime des Kapitalismus, sondern des Kampfes gegen den Kapitalismus durch die Betriebsräte wie die revolutionären Gewerkschaften.“ 10

Doch wie genau sehen solche Losungen aus, die hineinleiten in den Kampf um die Kontrolle der Produktion, also den Kampf um die Übernahme der politischen Macht?

Übergangslosungen

Übergangslosungen sind Losungen des Kampfs um die Übernahme der politischen Macht

Ein typisches Beispiel dafür ist die Übergangslosung auf politischem Gebiet „Aufbau von Arbeiter:innenräten, welche über die Belange der Gesellschaft entscheiden“. Es ist keine Teillosung mehr, da sie bereits die Hülle der parlamentarischen kapitalistischen „Demokratie“ sprengt. Sie ist zugleich noch nicht die Endlosung „Kollektive Verwaltung aller gesellschaftlichen Belange durch den Rätestaat“, sondern der erste Schritt zur Verwirklichung dieser Endlosung. Es handelt sich um den Aufruf an die Klasse, die Schritte hin zum Aufbau der Doppelmacht, hin zum strategischen Gleichgewicht zu tun, in dem sie Räte schafft – zuerst in wenigen und dann in immer mehr Teilen des gesellschaftlichen Lebens – die real die Macht gegenüber den Institutionen des kapitalistischen Staats in die Hand nehmen. 

Ein weiteres Beispiel ist die Übergangslosung auf wirtschaftlichen Gebiet: „Gesellschaftliche Leitung der Produktion durch die Arbeiter:innenklasse“. Dies ist keine Teillosung mehr, da sie die Frage der Eroberung der politischen Macht unmittelbar aufwirft. Diese Losung ist aber auch noch nicht die Endlosung „Zentralisierte Leitung der in die Hände des proletarischen Staats überführten Produktionsmittel durch Wirtschaftsorgane des Rätestaats“, die erst nach der vollständigen Eroberung der politischen Macht möglich ist. Sondern sie ist ebenfalls nur der erste und zweite Schritt dahin. Sie beginnt in einzelnen Betrieben mit der tatsächlichen Übernahme der Kontrolle der Produktion durch die Belegschaft und weitet sich mit dem Prozess der Revolution auf das gesamte Land, auf die Enteignung aller Kapitalist:innen aus und schafft damit die Voraussetzung für die reale Umsetzung der Endlosung, in der die Kontrolle der Arbeiter:innen im Rätestaat neue Formen annimmt und verallgemeinert wird.

Voraussetzung dafür, dass Übergangslosungen wirksam werden, sich in Aktion umsetzen, wir sie als Aktionslosungen einführen, ist eine revolutionären Situation. Die Aufgaben in einer solchen Situation fasste die Kommunistische Internationale wie folgt zusammen:

Im Falle eines revolutionären Aufschwunges, wenn die herrschenden Klassen desorganisiert, die Massen im Zustande revolutionärer Gärung sind, wenn die Mittelschichten dem Proletariat zuneigen und die Massen sich kampf- und opferbereit erweisen, hat die proletarische Partei die Aufgabe, die Massen zum Frontalangriff gegen den bürgerlichen Staat zu führen. Erreicht wird dies durch die Propagierung stufenweise gesteigerter Übergangslosungen (Arbeiterräte, Arbeiterkontrolle der Produktion, Bauernkomitees zur gewaltsamen Aneignung des grundherrlichen Bodens, Entwaffnung der Bourgeoisie und Bewaffnung des Proletariats usw.) und durch die Organisierung von Massenaktionen, denen alle Zweige der Agitation und Propaganda der Partei unterordnet werden müssen, die Parlamentstätigkeit mit eingeschlossen.“ 11

Das bedeutet aber natürlich nicht, dass Übergangslosungen oder auch Endlosungen nur in Phasen des revolutionären Aufschwungs eine Rolle spielen und die Kommunist:innen sich davor nicht mit ihnen beschäftigen sollen. Das führt uns zur folgenden Frage hin, wie mir mit den verschiedenen Losungen in den verschiedenen Phasen des Klassenkampfs arbeiten und welche Rolle sie spielen.

Verschiedene
Rollen von Losungen

Wir haben oben drei verschiedene Typen von Losungen beschrieben: Endlosungen, Teillosungen und Übergangslosungen. Doch das reicht noch nicht, um die komplexe Frage der Losungen ausreichend zu durchdringen. Wir müssen uns noch mit einer weiteren Dimension der Frage beschäftigen, nämlich welche Rolle sie spielen, welche Funktion sie wann einnehmen. Die Erfahrungen der russischen Kommunist:innen auswertend hat Stalin zwischen Propagandalosungen, Agitationslosungen, Aktionslosungen und Direktiven unterschieden:

  • die Propagandalosung zielt darauf ab, „die standhaftesten und ausdauerndsten Kämpfer einzeln und in Gruppen für die Partei zu gewinnen“.
  • Die Agitationslosung zielt auf „die Gewinnung der Millionen der werktätigen Massen ab“.
  • Die Aktionslosung zielt darauf ab, die Millionenmassen für eine konkrete Aktion in Bewegung zu setzen.
  • Die Direktive ist ein „direkter Aufruf der Partei zur Aktion in einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort, der für alle Parteimitglieder bindend ist und von den Millionenmassen aufgegriffen wird, wenn er die Forderungen der Massen richtig und treffend formuliert, wenn die Situation wirklich gereift ist.“ 12

Versuchen wir nun diese Dimension auf die verschiedenen Typen von Forderungen anzuwenden und für die heutige Situation zu konkretisieren:

Unsere Endlosungen wie „Für die sozialistische Räterepublik“ oder „Sozialistische Planwirtschaft statt Kapitalismus“ müssen wir heute schon als Propagandalosungen herausgeben, denn nur so können wir die fortschrittlichsten Teile der Arbeiter:innenklasse für die kommunistische Organisierung gewinnen. Dies geschieht zum Beispiel, wenn wir in der kommunistischen Massenarbeit direkt auf der Straße oder im Betrieb mit der Arbeiter:innenklasse über den Sozialismus diskutieren, oder wenn wir auf Demonstrationen mit dieser Losung auf Transparenten erkennbar sind. Es ist jedoch klar, dass wir auf dem aktuellen Niveau des Klassenkampfs und Klassenbewusstseins, in der noch keine revolutionäre Situation und noch keine kommunistische Partei besteht, damit noch nicht die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse ansprechen können – aber eben durchaus die fortschrittlichsten Teile der Arbeiter:innenklasse, die auf der Suche nach grundsätzlichen Alternativen zum Kapitalismus sind und damit auch für Endlosungen bereits empfänglich sind. Um diese Teile anzusprechen, zu organisieren und ihr Bewusstsein höherzuentwickeln reicht es nicht aus, bei „Antikapitalismus“ stehen zu bleiben. Wir müssen die Revolution, den Sozialismus und Kommunismus als Endlosungen propagieren.

In der Phase des revolutionären Aufschwungs müssen wir unsere Endlosungen dann von Propagandalosungen zu Agitationslosungen werden lassen, da eine viel größere Masse in die revolutionäre Bewegung hineingezogen wird. Millionen beginnen offen für die Endziele der Kommunist:innen zu werden.

Nach der sozialistischen Revolution, nach der Machtübernahme durch die Arbeiter:innenklasse, sind die Bedingungen dafür geschaffen, die reale Umsetzung unserer Endlosungen vorzubereiten und diese dann zu gegebener Zeit als Aktionslosung aufzustellen, die unmittelbar in die Tat umgesetzt werden müssen. Dies geschieht insbesondere durch Direktiven der Partei, welche alle Kommunist:innen in Bewegung setzen, an die Umsetzung der Endlosungen heranzugehen.

Es ist klar, dass der Kampf um die Macht agitatorisch, propagandistisch und organisatorisch vorbereitet werden muss; dass die fortgeschrittensten Teile der Arbeiter:innenklasse sich über den Prozess der Revolution, den Ablauf der Machteroberung im Klaren sein müssen, bevor wir von einem erfolgreichen revolutionären Prozess ausgehen können. Das bedeutet, dass auch Übergangslosungen in Verbindung mit den Endlosungen schon heute durchaus als Propagandalosungen aufgestellt werden müssen, um den fortgeschrittensten Teilen der Massen den konkreten Weg des Übergangs zur Räterepublik aufzuzeigen.

Teilweise werden wir in der Propaganda schon heute sogar unsere Endlosungen aus Übergangslosungen ableiten. Wenn beispielsweise eine Arbeiter:in in einer Diskussion mit uns bereits feststellt: „Eigentlich brauchen wir die Bosse nicht, sondern wir Arbeiter:innen können die Produktion sehr wohl alleine kontrollieren“, dann wirft sie selbst damit inbegriffen die Losung der „gesellschaftlichen Leitung der Produktion durch die Arbeiter:innenklasse“ auf. Unsere Aufgabe ist es dann an dieser Stelle, sie unbedingt zu unterstützen und zugleich darauf hinzuweisen, dass dies aber in einem Betrieb alleine nicht glücken kann, sondern dafür eine revolutionäre Umwälzung der ganzen Gesellschaft notwendig ist. 

Wenn sich die revolutionäre Gärung verschärft, haben die Kommunist:innen die Aufgabe, von der Propagierung der Übergangslosung unter den fortgeschrittensten Teilen der Klasse hin zur breiteren Agitation der Übergangslosungen überzugehen – mit dem Ziel diese auf unmittelbare Aktionen vorzubereiten. 

Mit Eintreten in die strategische Offensive, die Phase des unmittelbaren Kampfs um die politische Macht, hat die Kommunistische Partei die Aufgabe, die Übergangslosungen zu Aktionslosungen werden zu lassen und den eigenen Mitgliedern Direktiven zu erteilen, wo, wann, welche Übergangslosung bereits konkret in die Tat umgesetzt werden soll. Denn in einer solchen revolutionären Situation hat die Kommunistische Partei die Aufgabe, mit der Klasse die reale Übernahme der Macht zu beginnen, und zwar indem Räte geschaffen werden, Betriebe übernommen werden, sich die Arbeiter:innen bewaffnen usw. 

Die revolutionären Übergangslosungen werden sodann verwirklicht im Prozess des Kampfs um die Zerschlagung der bürgerlichen Macht, zum Aufbau der neuen Arbeiter:innen-Macht. Dieser Kampf mündet in die tatsächliche Eroberung der Macht. Nach Eroberung der politischen Macht wird von den revolutionären Übergangslosungen weiter gegangen zur Verwirklichung der Endlosungen.

Beim Aufstellen von Übergangslosungen kann es besonders folgende zwei Abweichungen geben:

Der eine Fehler besteht darin, auf die Propagierung der Übergangslosungen vor der revolutionären Situation gänzlich zu verzichten („Nachtrabpolitik“). Mit der Propaganda über den konkreten Ablauf des Machtkampfs anzufangen, wenn dieser bereits begonnen hat, bedeutet hinter der Bewegung der Massen zurück zu bleiben. Es bedeutet eben die subjektiven Bedingungen außer Acht zu lassen, die für die Verwirklichung der Übergangslosungen notwendig sind, nämlich dass ein gewichtiger Teil der Klasse sich ihrer Notwendigkeit bereits zuvor bewusst geworden ist und bereit ist, für diese zu kämpfen.

Der andere Fehler besteht darin, in nicht-revolutionären Situationen Übergangslosungen statt als Propagandalosungen bereits als Agitationslosungen oder gar als Aktionslosungen aufzustellen. Also konkret die Losung „Revolution jetzt!“ so aufzustellen, dass aktiv zur direkten Eroberung der politischen Macht aufgerufen wird, aber ohne dass die Bedingungen dafür geschaffen sind, dies wirklich in die Tat umzusetzen. Dieser Fehler wird von sehr vielen Organisationen begangen.13 Besonders von trotzkistischen Gruppen wird diese Abweichung vom Marxismus-Leninismus sogar theoretisiert (siehe dazu den Exkurs zu Übergangsforderungen). Auch wenn dieser Fehler auf den ersten Blick besonders „links“ zu sein scheint, so ist er letztendlich Ausdruck von fehlendem strategischen Verständnis und löst die revolutionäre Politik von den Massen.

Unsere Ausführungen dürfen hier jedoch nicht meachnisch als eine sture zeitliche Abfolge oder eine Art „Kochrezept“ missverstanden werden. So wie Strategie und Taktik dialektisch zusammenwirken, so ist es z.B. in der politischen Praxis offensichtlich möglich und manchmal auch notwendig, dass die Propagierung der End- und/oder Übergangslosungen mit konkreten Direktiven an Mitglieder der kommunistischen Organisation verbunden wird.

Kommen wir zuletzt zum Umgang mit den Teillosungen. Diese geben wir heute sowohl als Agitationslosungen als auch als Aktionslosungen und Direktiven heraus.

Teillosungen sind zumeist Forderungen an den Staat oder (einzelne) Kapitalist:innen, die nur von diesen – natürlich aufgrund des Drucks von unten – umgesetzt werden können. Sie sind deshalb notwendigerweise immer mit der Aufforderung an die Klasse verbunden in eine bestimmte Aktion zu treten, z.B. „streiken wir für
5 % mehr Lohn“ oder „demonstriert mit uns für den 7-Stunden-Tag bei vollem Lohnausgleich“. Sie sind jedoch noch keine Aktionslosungen, da wir ihre Ziele noch nicht selbst verwirklichen können.

Es gibt jedoch auch einige Teillosungen, die wir sehr wohl schon heute als Aktionslosungen und damit als Aufforderung an unsere Klasse aufstellen können. Ein Beispiel wäre „Nehmen wir die Essensversorgung und Aufräumarbeiten selbst in die Hand“, wenn der Staat in einem Hochwassergebiet die grundlegende Versorgung der Bevölkerung nicht sicherstellen kann. Es ist jedoch klar, dass solche Phasen gerade in Deutschland, wo der imperialistische Staat stark ist, nur von kurzer Dauer sein werden – sie sind jedoch notwendige Erfahrungen der Klasse um ihre eigene Kraft zu spüren. Dies ist dann auch mit Direktiven der Organisation an ihre Mitglieder verbunden, die Vorhut in dem Kampf für die Aktionslosung zu sein.

Exkurs: Die trotzkistische Übergangsforderung

Ausgangspunkt für die spezifisch trotzkistische Art, mit Übergangslosungen (bei den Trotzkist:innen „Übergangsforderungen“ genannt) umzugehen, ist Leo Trotzkis Text „Die Agonie des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale“ aus dem Jahre 1938. Dieser bildet die programmatische Grundlage der von ihm in Abgrenzung zur Komintern gegründeten „IV. Internationale“ und ist einer der für die trotzkistische Bewegung wichtigsten Texte überhaupt. In ihrer Gesamtheit wird die Schrift auch als „Übergangsprogramm“ bezeichnet.

Dort schreibt Trotzki: „Man muß der Masse im Verlauf ihres täglichen Kampfes helfen, die Brücke zu finden zwischen ihren Sofortforderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution. Diese Brücke muß aus einem System von Übergangsforderungen bestehen, die ausgehen von den augenblicklichen Bedingungen und dem heute vorhandenen Bewußtsein breiter Schichten der Arbeiterklasse und die unabänderlich zu ein und demselben Schluß führen: der Eroberung der Macht durch das Proletariat.“ 14 Trotzki geht bei der Aufstellung seiner Übergangsforderungen von folgender Weltlage aus: „Die objektiven Voraussetzungen der proletarischen Revolution sind nicht nur schon „reif“, sie haben sogar bereits begonnen zu verfaulen.“ 15 Aus diesem Grunde sollten sofort Übergangsforderungen nicht nur propagiert, sondern auch agitiert, also als Aufforderung in die Klasse getragen werden, jetzt sofort für die Umsetzung dieser Forderung zu kämpfen.

Laut der trotzkistischen „Revolutionären Internationalistischen Organisation“ (RIO) und ihrem Organ „Klasse gegen Klasse“ sei das Übergangsprogramm „ein programmatisches Manifest, dessen inhaltlicher Kern (…) die Methode zur Vorbereitung der Massen auf die Machteroberung ist.“16 Worin besteht also der Kern dieser Methode? Trotzki schreibt: „Die „Möglichkeit“ oder „Unmöglichkeit“, diese Forderungen zu verwirklichen, ist hierbei eine Frage des Kräfteverhältnisses, die nur durch den Kampf gelöst werden kann. Auf der Grundlage dieses Kampfes werden die Arbeiter – was auch immer seine unmittelbaren praktischen Erfolge sein mögen – am besten die Notwendigkeit begreifen, die kapitalistische Sklaverei zu liquidieren.“ 17

Anstatt also den Arbeiter:innen propagandistisch zu erklären, welche Losungen zwar notwendig, aber im Kapitalismus noch nicht umsetzbar sind, welche Losungen einen revolutionären Aufschwung und eine revolutionäre Situation und welche bereits einen proletarischen Staat voraussetzen, sollen diese im Kampf darauf „gestoßen“ werden. 

Wie sieht das konkret aus? Laut Trotzki soll beispielsweise grundsätzlich die Forderung aufgestellt werden, bestimmte Industriezweige zu enteignen, wenn sich die Gelegenheit dafür bietet – also auch innerhalb des Kapitalismus: „Das sozialistische Programm der Expropriation, d.h. des politischen Sturzes der Bourgeoisie und der Beseitigung ihrer wirtschaftlichen Herrschaft, darf uns, wenn sich die Gelegenheit dafür bietet, auf keinen Fall davon abhalten zu fordern, daß bestimmte Industriezweige, die für die nationale Existenz am wichtigsten sind, oder bestimmte Gruppen der Bourgeoisie, die am parasitärsten sind, enteignet werden.“ 18

Machen wir die Fehlerhaftigkeit dieser Herangehensweise an einem aktuellen Beispiel fest. So fordert die Organisation RIO in ihrer Zeitung „Klasse gegen Klasse“ ausgehend von Trotzkis Herangehensweise in einer Erklärung zur Bundestagswahl 2021 in einem „Notfallprogramm“, welches die „dringendsten Maßnahmen“ betrifft, folgendes: „Verstaatlichung der Autoindustrie, der Metall- und Elektroindustrie, der Chemie- und Energiekonzerne und aller essentiellen Dienstleistungen unter Arbeiter:innenkontrolle zum Zweck des ökologischen Umbaus“.19

Natürlich handelt es sich dabei um eine inhaltlich richtige Losung, eine die sogar angesichts der Klimaentwicklung drängt. Gleichzeitig ist sie eben heute nur bewusstes Tagesbedürfnis einer verschwindenden Minderheit von Sozialist:innen in Deutschland. Es ist klar, dass eine solche Maßnahme den Rahmen des deutschen Kapitalismus sprengen würde, von seinem Staat niemals zugelassen werden könnte, die Übernahme der politischen Macht durch die Arbeiter:innenklasse notwendig macht, es sich also um eine Übergangslosung handelt. Zugleich wissen wir, dass RIO sich durch eben diese Art, Übergangslosungen schon heute als Aktionslosungen vorzuschlagen, erhofft, dass die Arbeiter:innen im unmittelbaren Kampf um diese Losungen mit dem bürgerlichen Staat in Konfrontation geraten und dadurch „erkennen“, dass der Staat diese Losungen nicht umsetzen wird und dann über ihn hinausgehen werden. 

Seien wir jedoch realistisch: Es ist offensichtlich, dass wir heute – ausgehend von den Kriterien einer revolutionären Situation – keine Lage haben, in der die Herrschenden nicht mehr herrschen können wie zuvor, oder die Beherrschten nicht mehr leben wollen wie zuvor, oder es eine in der Klasse verankerte revolutionäre Partei gibt. Es ist also klar, dass sich durch die „geschickten Aufrufe“ von RIO heute nicht plötzlich eine revolutionäre Situation und starke Arbeiter:innenbewegung entwickeln wird. Was ist also das Ergebnis dieser Art Losungen aufzustellen?

Im schlechten Fall führt sie dazu, dass in den Massen eben nicht das Verständnis geschaffen wird, was im Kapitalismus umsetzbar ist und wofür es eine sozialistische Revolution braucht. Dass die Arbeiter:innen sich eben nicht durch ihre Erfahrung von der „Richtigkeit der Parteilinie“ überzeugen können, weil die richtige Parteilinie („Enteignung der zentralen Industrien geht nur und macht auch nur Sinn im Sozialismus“) ihnen vorher nicht bekannt war und auch nicht vermittelt wird. Es führt dazu, dass praktisch die Propaganda für den Sozialismus durch die Agitation für Übergangslosungen ersetzt wird.

Im schlechtesten Fall führt sie dazu, dass man selbst für die „Überführung in Arbeiterhand“ unter kapitalistischen Herrschaft kämpft, worauf auch Trotzkis obrige „Übergangsforderung“ nach Enteignung auch unter kapitalistischen Bedingungen hinausläuft. Dies soll in dieser Größenordnung ohne Revolution dann in Form einer „Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle“ stattfinden. Das würde zum einen bedeuten, Arbeiter:innenorganisationen zu schaffen, die unter den heutigen nicht-revolutionären Bedingungen einfach mit dem kapitalistischen Staatsapparat verschmelzen würden, so dass die Vertreter:innen der Arbeiter:innen aufgesaugt und umgedreht werden, wie es heute schon ganz offiziell vermittels der „Betriebsräte“ und gelben Gewerkschaften, die in Großkonzernen sogar Plätze im Aufsichtsrat innehaben, geschieht.20 Zum anderen würden z.B. in einer verstaatlichen Automobilindustrie die Betriebe genauso kapitalistisch wirtschaften, wie heute, wo sie in Privatbesitz der Finanzoligarchie sind. Hierzu hielt bereits Friedrich Engels fest: „Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist. Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier. Das Kapitalverhältnis wird nicht aufgehoben, es wird vielmehr auf die Spitze getrieben.“ 21 Solche trotzkistischen Übergangsforderungen werden dadurch zu Forderungen an den Staat, die diesen vervollkommnen anstatt ihn zu zerstören. Um Verwirrung zu vermeiden, sollten wir deshalb auch den trotzkistischen Begriff der Übergangsforderungen nicht verwenden, sondern wie schon die Komintern unter Lenin von Übergangslosungen sprechen.

Unsere Kritik ist übrigens nicht neu. Schon die Kommunistische Internationale stellte dazu in ihrem Programm von 1928 fest, dass „Parteien nicht solche Übergangslosun­gen aufstellen [sollen], die das Vorhandensein einer revolutionären Situation zur Voraussetzung haben und in einer anderen Situation zur Losung des Verwachsens mit dem System kapitalistischer Organisationen werden (z. B. die Losung der Produktionskontrolle und ähnliche).“ 22

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Mit welcher Methode führen wir den revolutionären Tageskampf?

Nachdem wir geklärt haben, welche verschiedenen Typen und Rollen von Losungen es gibt, wollen wir nun noch einmal darauf eingehen, wie es uns gelingt, den Kampf um die alltäglichen Probleme und Nöte der Klasse in den Kampf für die sozialistische Revolution und den Sozialismus einzubetten.  

In der Arbeiter:innenbewegung entwickelten sich darauf in der Geschichte verschiedene Antworten.

So gab es zum einen die alten sozialdemokratischen Parteien des Westens, die in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg ein „Minimalprogramm“ und ein „Maximalprogramm“ unterschieden. Das Minimalprogramm war ein System, ein Katalog von Forderungen, der innerhalb des Kapitalismus umsetzbar war und die Lage der Arbeiter:innen verbessern sollte. Das Maximalprogramm war die Endlosung des Sozialismus. 

Die Kommunist:innen polemisierten schon früh gegen diese Trennung, da diese faktisch zu reformistischer Politik führt. Das sozialdemokratische Minimalprogramm hielt sich ökonomisch im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaftsform und praktisch im Rahmen des bürgerlich-demokratischen Staates. Der Sozialismus tauchte damit nur in Sonntagsreden auf, während der Reformismus die Politik der Partei prägte. Es gab keine Verbindung dazwischen, keine Einbettung des Kampfs um Teillosungen in den Kampf um die Endlosungen.23   

Welche Herangehensweise die Kommunist:innen stattdessen haben, hat die Komintern auf ihrem III. Weltkongress 1921 erarbeitet:

An Stelle des Minimalprogrammes der Reformisten und Zentristen setzt die Kommunistische Internationale den Kampf um konkrete Bedürfnisse des Proletariats, um ein System von Forderungen, die in ihrer Gesamtheit die Macht der Bourgeoisie zersetzen, das Proletariat organisieren, Etappen im Kampfe um die proletarische Diktatur bilden und deren jede für sich dem Bedürfnis der breitesten Massen Ausdruck verleiht, auch wenn diese Massen noch nicht bewußt auf dem Boden der proletarischen Diktatur stehen.“ 24

Für uns gibt es heute im imperialistischen Zentrum also kein Minimalprogramm, sondern wir benötigen ein dynamisches System von Losungen, welches die Arbeiter:innenklasse politisch, organisatorisch und ideologisch auf den Machtkampf um den Sozialismus vorbereitet.

Dieses zu schaffende „System aus Losungen“ ist nicht statisch, sondern ein dynamisches System, eine Methode, welches die Situation des Klassenkampfs und die Kräfteverhältnisse im Blick hat und versucht, davon ausgehend die eigene Machtposition im Kampf um die konkreten Losungen aufzubauen. Die richtigen Losungen in der richtigen Art und Weise zur richtigen Zeit aufzustellen ist eine Aufgabe der korrekten taktischen Führung, die sich wie zu Beginn ausgeführt an der Strategie orientieren muss. Was sind also die Kriterien und Richtlinien auf die wir bei der Aufstellung unserer Losungen achten?

Voraussetzung für die korrekte Festlegung unserer Losungen ist, dass wir die gesellschaftliche Lage allseitig analysieren, „die gegebene innere und äußere Lage, das Verhältnis der Klassenkräfte, den Grad der Festigkeit und der Stärke der Bourgeoisie, den Grad der Kampfbereitschaft des Proletariats, die Haltung der Mittelschichten usw. in Rechnung stellen.“ 25 

Dies bedeutet zum einen, dass wir grundlegend den deutschen Kapitalismus im internationalen Zusammenhang, seinen imperialistischen Staatsapparat, seine Methoden der Herrschaft ebenso wie die Zusammensetzung und inneren Dynamiken der Arbeiter:innenklasse in Deutschland verstehen müssen. Diese Grundlagen haben wir versucht mit unseren ersten Ausarbeitungen zur Klassenanalyse zu legen.26

Dies bedeutet zum anderen, dass wir tagesaktuell die Angriffe der Herrschenden, ihre inneren Widersprüche, die Stimmungen innerhalb der Klasse verfolgen und analysieren müssen. Nur mit einer regelmäßigen Analyse der politisch-ökonomischen Lage sind wir selbst im Stande, rasch und mit den richtigen Losungen einzugreifen .

Schon heute sehen wir in dieser Analyse „an allen Fronten“ Not, Bedürfnisse unserer Klasse und die objektive Notwendigkeit, Kämpfe zu führen. Dabei stehen unsere eigenen Kräfte im Missverhältnis zu den Notwendigkeiten. Das wird bis zur Revolution so sein, ist jedoch in der aktuellen Periode besonders offensichtlich. Deshalb gilt es jetzt und auch in Zukunft gezielt auszuwählen, wo wir als kommunistische Organisation das Potenzial sehen, die Machtposition unserer Klasse besonders aufzubauen.

Hierbei spielen die entstehenden „Bruchlinien“ und Gärungsprozesse des Systems eine besondere Rolle.27 Es gilt, solche Bruchlinien zu erkennen, in die wir mit unserem eigenen organisatorischen Potenzial am besten eingreifen können und dies dann auch auf Grundlage korrekter Losungen zu tun.

Bei der Aufstellung von Teillosungen setzen wir zudem an den sofortigen Bedürfnissen, konkreten Problemen und unmittelbaren Nöten unserer Klasse an, die wir aufgrund der Analyse der Klassenlage und der Verankerung in der Arbeiter:innenklasse erfassen. Hier stellen wir solche Teillosungen auf, welche diese Nöte kurzfristig lindern können. Dabei interessiert es uns nicht, ob dies den „Standort“ in Gefahr bringt und dieser nicht mehr „international wettbewerbfähig“ ist, sondern nur die Grenzen der Not, die unsere Klasse nicht ertragen kann und darf. 

Unsere Aufgabe als Kommunist-:innen ist es dann, in den Kämpfen um diese Teillosungen argumentativ herauszuarbeiten, warum diese Probleme letztlich nur durch die Revolution zu lösen sind, warum es keine andere Lösung geben kann als unsere Endlosung, den Sozialismus. Wieso wir also umbedingt für die Wiedereinstellung einer Kollegin kämpfen sollten – es aber immer wieder zu (Massen-)entlassungen kommen wird, solange der Kapitalismus besteht und erst der Sozialismus dauerhaft unsere Existenz sichern kann. Wieso wir uns natürlich für eine Senkung der Mieten und Zwangsräumungsstopp einsetzen, aber das Mietenproblem erst grundlegend mit der gesamten Nationalisierung des Grund und Bodens gelöst werden kann, was erst im Sozialismus möglich ist.

Wir vermeiden den in der kommunistischen Bewegung in Deutschland so häufig gemachten Fehler, einfach nur ausführlich die Probleme der Klasse darzulegen, dann eine Reihe an Teillosungen aufzustellen, um am Ende noch kurz einen „roten Rattenschwanz“ anzuhängen, dass wir auch noch den Sozialismus benötigen. 

Stattdessen muss es uns gelingen, die Perspektive einer sozialistischen Gesellschaft greifbar zu machen, sie argumentativ herzuleiten und vor den Augen unserer Klasse entstehen zu lassen – und dem auch genügend Platz in unseren Aufrufen, Reden, Diskussionen, Vorträgen usw. einzuräumen. Dabei propagieren wir dann neben der Agitation der Teillosungen auch Übergangslosungen in Verbindung mit Endlosungen, um sie als Perspektive bekannt zu machen, ohne jedoch Illusionen über ihre Umsetzbarkeit innerhalb des Kapitalismus zu schüren oder als heutige Aktionslosung auf die Tagesordnung zu setzen.

In ihrem Klassenkampf von oben versucht die herrschende Klasse beständig, in verschiedenen Teilen der Arbeiter:innenklasse subjektive, kurzfristige Interessen zu wecken, mit denen diese gegen andere Teile der Klasse oder kleinbürgerliche Zwischenschichten ausgespielt werden können. Ausdrücke dieser Spaltungspolitik können wir beobachten, wenn gesagt wird, die migrantischen Arbeiter:innen würden den deutschen Arbeiter:innen die Arbeitsplätze wegnehmen; wenn gesagt wird, dass die Leiharbeiter:innen für den Lohndruck bei den Stammbeschäftigten verantwortlich seien; wenn gesagt wird, dass die Bäuer:innen nur gut leben könnten, wenn die Arbeiter:innen viel mehr Geld für Lebensmittel zahlen; wenn Umweltschutz gegen Arbeitsplatzsicherheit in Stellung gebracht wird usw.

Unsere Losungen müssen dieser Spaltungspolitik entgegentreten und zum Ziel haben, eine maximale Kampfeinheit der Klasse herzustellen – ohne differenzierte Losungen beiseite zu lassen.28 Das bedeutet, dass – ausgehend von unseren Endlosungen – hinter unseren Teillosungen sich möglichst viele Segmente unserer Klasse versammeln können. Dafür ist es auch nötig, differenzierte Losungen für die Nöte der verschiedener Teile unserer Klasse aufzustellen, die sich anhand ihrer Position im Produktionsprozess, Geschlecht, Wohnort, Herkunft und Alter unterscheiden. Dabei müssen wir auch die Lage und Nöte unserer strategischen Bündnispartner:innen im Kleinbürgertum beachten. Wir können auch deshalb von einem System aus Losungen sprechen, da es die verschiedenen Losungen miteinander in Einklang bringt ohne ein Segment unserer Klasse gegen das andere auszuspielen. 

Im Kampf werden wir dabei auch Losungen aufstellen, die als Forderungen an die Regierung, einzelne Kapitalist:innen oder Kapitalvereinigungen gestellt werden. Dabei gilt es diese jedoch nicht als Bittsteller, sondern als organisiertes Subjekt in einer antagonistischen Kampfsituation, welches in einem Machtkampf Zugeständnisse erkämpft, zu formulieren. 

Unser Ziel ist es, unsere Seite zu stärken und den Imperialismus zu schwächen: Wenn wir Forderungen an den Gegner stellen, sollten wir damit Illusionen in das bürgerliche System, das heißt den Staat und den Kapitalismus, zerstören und nicht durch Schaffung oder Stärkung bürgerlicher Institutionen aufbauen.29 So wäre es zum Beispiel falsch mehr „Kameraüberwachung“ in einem Stadtteil zu fordern, in dem es eine hohe Kriminalitätsrate gibt. Stattdessen gilt es hier zum einen, an den Staat Forderungen zur Verbesserung der sozialen Lage zu stellen und zugleich eine Arbeit in unserer Klasse zu machen, bei der wir selber Stück für Stück Anziehungskraft entwickeln, um mafiösen Strukturen in unserem Stadtteil etwas entgegen zu setzen. 

Wenn wir Losungen aufstellen, sollten wir selbstredend die oben beschriebenen unterschiedlichen Typen und Rollen von Losungen beachten und sie richtig miteinander verbinden und höher entwickeln. In der Phase der strategischen Defensive und der Frühphase des Parteiaufbaus hat die Propagierung von Übergangs- und Endlosungen eine hohe Bedeutung, um die fortgeschrittensten Teile der Klasse für den Kommunismus und als Kader:innen zu gewinnen. Diese Propaganda verbinden wir geschickt mit den Kämpfen um die Teillosungen der Klasse, die wir als Agitations- und Aktionslosungen ausgeben. Wir betten den Kampf um die Teillosungen in die Propagierung unserer Endlosungen ein. So verbinden wir den Parteiaufbau mit der kommunistischen Massenarbeit und dem Wiederaufbau einer klassenkämpferischen Arbeiter:innenbewegung.

Wenn sich die Angriffe des Kapitals verschärfen, die objektiven Klassenwidersprüche sich zuspitzen, ist es die Aufgabe der kommunistischen Vorhut, die Kämpfe höher zu entwickeln. Dies bedeutet, nicht der Klasse hinterherzulaufen, sich von ihr „überholen zu lassen“ und den entscheidenden Augenblick verstreichen zu lassen, sondern immer einen Schritt weiter zu gehen. Das ist der Inhalt des Begriffs Avantgarde und eine zentrale Aufgabe der Kommunistischen Partei. 

Diese Höherentwicklung der Kämpfe geschieht auch vermittels der „Höherentwicklung“ der Losungen, also der Entwicklung von früheren Propagandalosungen zu Agitationslosungen und dann zu Aktionslosungen. 

Beim Übergang zur Agitation neuerer, schärferer Losungen hielt die Komintern die folgende „Grundregel der politischen Taktik des Leninismus“ als Richtschnur fest: „Die Partei muß es verstehen, die Massen an die revolutionären Positionen so heranzuführen, daß sie sich durch ihre eigene Erfahrung von der Richtigkeit der Parteilinie überzeugen.“ 30 Es reicht eben nicht, einfach die richtigen Losungen aufzustellen, diese zu propagieren oder zu agitieren. Die Klasse muss auch im Kampf um diese Losungen sehen, dass sie richtig sind bzw. dass andere falsch sind.

Wenn die Klasse ihre Erfahrungen im Klassenkampf mehr in Bewusstsein verwandelt, das Vertrauen zur kommunistischen Führung wächst und eine revolutionäre Situation entsteht, macht es Sinn, schärfere Losungen als Agitations- und dann als Aktionslosungen auszugeben. Es gilt in dieser Phase, das Selbstbewusstsein unserer Klasse zu wecken – hin zum Willen und dem Bewusstsein, den Kampf um die Macht, den Kampf um die Verwirklichung der Endlosungen aufzunehmen.

Dabei werden wir inhaltlich keine neuen Losungen aufstellen, sondern abgeleitet aus dem kommunistischen Programm, das wir zuvor schon als Übergangs- oder Endlosungen propagiert haben, für die Situation angemessene Losungen formulieren. So kämpfte zum Beispiel in der russischen Oktoberrevolution vor allem der klassenbewussteste Teil der Arbeiter:innen direkt unter der Losung „Für den Kommunismus“, während ein gewichtiger Teil der Arbeiter:innen- und Bauernklasse mit der Losung „Land, Brot, Frieden“ für den revolutionären Umsturz gewonnen wurde, dessen Verwirklichung sie am ehesten unter Führung der Bolschewiki sahen. Dies zeigt auch, wie der Kampf um Teillosungen in den Kampf um die Endlosungen umschlägt, wie die Endlosungen zum unmittelbaren Tagesbedürfnis werden, was insbesondere in Phasen des revolutionären Aufschwungs der Fall ist. 

Um unsere Ziele zu erreichen, sollten unsere Losungen dem Wesen nach organisierende Losungen sein, mit dem Ziel bestimmte Teile unserer Klasse und Bündnispartner:innen in den Kampf um diese Losung zu aktivieren und einzubeziehen. Die Frage der Losungen muss deshalb richtig mit Fragen der Organisations- und Kampfformen verbunden werden. Dafür müssen wir jene Kampf- und Organisationsformen wählen, die in der jeweiligen Phase am meisten dafür geeignet sind, die Heranziehung der Klasse an die kommunistische Partei zu ermöglichen. So kann es bei einigen Losungen sinnvoll sein, dass diese von einer kommunistischen (Aufbau-)Organisation aufgestellt werden, bei anderen, dass diese durch Massenorganisation aufgestellt werden, in welchen die Kommunist:innen arbeiten. Zudem sind bestimmte Organisationsformen Voraussetzungen, um Kampfformen und dementsprechende Losungen in die Tat umsetzen zu können: So benötigt es beispielsweise verdeckte Betriebsgruppen und eigene Aktionsleitungen, um in einem Betrieb einen wilden Streik unter einer korrekten Losung organisieren können. Für die Losung des „Generalstreiks“ müssen auch die organisatorischen Potenziale vorhanden sein: Das bedeutet kämpferische gewerkschaftliche Organisationen und starke kommunistische Betriebsgruppen. In einem späteren Stadium des Klassenkampfs muss die Organisationsform der Arbeiter:innenräte, die eine breite Masse an Menschen bereits umfassen, schon vorhanden sein, um überhaupt die Übergangslosung der Enteignung und Übernahme der Betriebe durch eine Rätemacht in die Tat umsetzen zu können. Unser „dynamisches System von Losungen“ darf also nicht nur auf dem Papier stehen bleiben, sondern muss durch die richtigen Kampf- und Organisationsformen in Bewegung gesetzt werden. Wir müssen nicht nur die richtigen Losungen aufstellen, sondern auch das Gewicht schaffen, welches die Ideen zur materiellen Gewalt werden lässt. 

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Fassen wir zum Schluss noch einmal die wichtigsten Ergebnisse unserer Ausarbeitung zusammen:

Die Frage der Losungen ist im engeren Sinne eine Teilfrage der korrekten taktischen Führung. Diese ist unserer sozialistischen Strategie untergeordnet, die wiederum den Weg zu unserem Endziel beschreibt. Zu jeder Phase des Klassenkampfs müssen wir unsere taktischen Antworten aus dem Endziel ableiten, aus der Strategie, die auf dieses Endziel hinführt, aus der strategischen Phase in der wir uns befinden, sowie aus unserem Fortschritt im Aufbau der kommunistischen Partei.         

Losungen sind knappe und klare Formulierungen der nächsten oder entfernteren Ziele des Kampfes. Bei ihrer Untersuchung müssen wir zwei verschiedene Dimensionen betrachten:

Zum einen den Typ der Losung (Endlosungen, Teillosungen, Übergangslosungen): Endlosungen sind prägnante Zusammenfassungen von Aufgaben, die unmittelbar nach der Eroberung der Macht durch die Arbeiter:innenklasse anstehen. Teillosungen bringen die sofortigen Bedürfnisse der Massen aus einer Klassenposition zum Ausdruck und können zugleich noch innerhalb des Kapitalismus verwirklicht werden. Übergangslosungen sind Losungen des Kampfs um die Macht.

Zum anderen die Rolle der Losung (Propagandalosung, Agitationslosung, Aktionslosung, Direktive): Die Propagandalosung zielt darauf ab, die fortgeschrittensten Teile der Klasse für die Partei zu gewinnen. Die Agitationslosung zielt auf die Gewinnung der Millionenmassen ab. Die Aktionslosung zielt darauf ab, die Millionenmassen in Bewegung für eine konkrete Aktion zu setzen. Die Direktive ist ein direkter Aufruf an die Parteimitglieder, in Aktion zu treten.

Aufbauend auf dieser Differenzierung benötigen wir für das imperialistische Deutschland kein Minimalprogramm, sondern ein  dynamisches System von Losungen, welches die Arbeiter:innenklasse politisch, organisatorisch und ideologisch auf den Machtkampf um den Sozialismus vorbereitet.

Um dieses dynamische System von Losungen zu erarbeiten und anzuwenden, müssen wir die Lage regelmäßig grundlegend, allseitig und aktuell analysieren und Bruchlinien erkennen. Es gilt an den sofortigen Bedürfnissen unserer Klasse anzusetzen und diese zum Endziel hinzuführen, indem wir argumentativ herausarbeiten, warum nur der Sozialismus die Probleme grundlegend löst. Der Spaltungspolitik gegen unsere Klasse treten wir entgegen, indem wir eine maximale Kampfeinheit durch differenzierte Losungen herstellen; wir haben eine Klarheit bezüglich des Adressats unserer Forderung und stellen nur solche Losungen auf, die unsere Seite stärken. Wir verbinden die verschiedenen Typen und Rollen von Losungen richtig miteinander und ermöglichen so den Arbeiter:innen, sich in der Praxis von der Richtigkeit der Parteilinie zu überzeugen. Nicht zuletzt kombinieren wir Losungen, Organisations- und Kampfformen so miteinander, dass sie ineinander greifen und uns an die sozialistische Revolution heranführen.

1Siehe dazu Stalin, Zur Frage der Strategie und Taktik der russischen Kommunisten, SW Band 5, S. 141 – 158

2Alternativ kann auch der Begriff der „Forderung“ im Sinne der „Aufforderung“ – sei es an den Klassengegner oder die eigene Klasse – verwendet werden. Wir denken jedoch, dass unter Forderungen im Alltagsgebrauch oftmals einseitig Forderungen an den Staat verstanden werden, weshalb wir an dieser Stelle zur wissenschaftlichen Klärung für die Verwendung des Begriffs Losung plädieren.

3Siehe dazu die Broschüre Kommunistische Partei im 21. Jahrhundert https://komaufbau.org/organisation/kommunistische-partei-im-21-jahrhundert-ein-gespenst-kehrt-zuruck/

4Lenin, Der ‘linke Radikalismus’ , die Kinderkrankheit des Kommunismus, LW Band 31, S. 82 f

5Protokoll des 3. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale: 5. Teilkämpfe und Teilforderungen.

6In der kommunistischen Literatur wird gelegentlich auch der Begriff “Tageslosungen” verwendet. Dieser kann jedoch zum falschen Verständnis verleiten, dass Tageslosungen quasi die Losungen des alltäglichen Kampfes sind, während z.B. Endlosungen nicht alltäglich propagiert werden sollten. Auch wenn dies in der kommunistischen Literatur nicht gemeint ist, benutzen wir den Begriff der “Teillosung” statt der “Tageslosung”, um Verwirrung zu vermeiden.

7Lenin, Über die Bedeutung des Goldes jetzt und nach dem  vollen Sieg des Sozialismus, LW Band 33, S. 108, Hervorhebung von uns.

8Lenin, Offener Brief an Charles Naine, LW Band 23, S. 230 f; Hervorhebung von Lenin

9Kommunistische Internationale, Programm der Kommunistischen Internationale, Hervorhebung von KI

10Kommunistische Internationale, Protokoll des 3. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale: 5. Teilkämpfe und Teilforderungen, Hervorhebung von KI

11Kommunistische Internationale, Programm der Kommunistischen Internationale, Hervorhebung von KI

12Stalin, Zur Frage der Strategie und Taktik der russischen Kommunisten, SW Band 5, S. 95 f

13So forderte die „Deutsche Kommunistische Partei“ beispielsweise inmitten der Weltwirtschaftskrise 2008: „Überführung der Banken und Konzerne in öffentliches Eigentum unter demokratischer Kontrolle! – Das Grundgesetz muss jetzt angewandt werden!“ (http://dkp-queer.de/dkp-finanzkrise/33). Warum dies fatal ist, wird im Teil zur trotzkistischen Methodik der Übergangsforderungen am Beispiel der Automobilindustrie erläutert.

14Trotzki, Übergangsprogramm, https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1938/uebergang/index.htm; Hervorhebungen von uns.

15Trotzki, Übergangsprogramm

16Schneider, Stefan, Zur Aktualität des Übergangsprogramms, https://www.klassegegenklasse.org/zur-aktualitat-des-ubergangsprogramms/; Hervorhebung von uns

17Trotzki, Übergangsprogramm

18Trotzki, Übergangsprogramm

19Klasse gegen Klasse, Unser Leben ist mehr wert als ihre Profite, https://www.klassegegenklasse.org/wahlen-2021-unser-leben-ist-mehr-wert-als-ihre-profite/

20Oder eine ganze Generation kämpferischer Aktivist:innen in das bürgerliche System integriert wird, wie es z.B. bei einer zentralen Forderung der Kampagne „Deutsche Wohnen & Co enteignen“, in welcher trotzkistische Kräfte führend sind, geschen könnte. So fordert die Kampagne formal festgelegte Delegierte der Mieter:innen in einer „Gesellschaft Öffentlichen Rechts“, d.h. in einer staatlichen Institution, welche die zurückgekauften („enteigneten“) DW-Wohnungen verwalten soll.

21Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEW Band 19, S. 222

22Kommunistische Internationale, Protokoll des 3. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale: 5. Teilkämpfe und Teilforderungen, S. 46 f

23Von der Polemik gegen die sozialdemokratische Form von Minimal- und Maximalprogramm ist die Frage zu trennen, ob in einigen Ländern mit feudalen Überresten oder faschistischer Staatsform noch eine demokratischen Revolution (als „Minimalprogramm“) notwendig ist, die dann in einer ununterbrochenen Revolution in den Sozialismus (als „Maximalprogramm“) übergeht. Diese richtige Unterscheidung kann in Stalins „Grundlagen des Leninismus“ (1924) im Abschnitt „Strategie und Taktik“ nachgelesen werden. Sie ist in dieser kommunistischen Polemik aber nicht gemeint. Die Polemik richtete sich gegen den Einsatz eines Minimalprogramms in Ländern, in der die nächste Etappe eindeutig die sozialistische Revolution ist, sowie gegen eine starre Trennung des Tageskampfs vom revolutionären Kampf.

24Kommunistische Internationale, Programm der Kommunistischen Internationale (1928), Hervorhebung von KI

25Ebd.

26Siehe dazu die einzelnen Artikel in Kommunismus Nr. 13, 14, 16 und 19 https://komaufbau.org/zeitung/

27Siehe dazu Kommunimus Nr. 19

28Ein Beispiel dafür, wie dies gelingen kann, sind die Losungen in der Erklärung „Wie gelingt es eine Anti-Krisen-Bewegung von links aufzubauen?“ des Bündnisses „Nicht auf unserem Rücken“, https://nichtaufunseremruecken.noblogs.org/post/2021/03/14/wie-gelingt-es-eine-anti-krisen-bewegung-von-links-aufzubauen/

29Ein Beispiel dafür wäre die Kampagne „Zero Covid“, die letztendlich zu einer Stärkung des bürgerlichen Staates und seiner Repressionsorgane führt.

30Kommunistische Internationale, Programm der Kommunistischen Internationale, Hervorhebung von KI