Einleitung

Was ist Philosophie und warum beschäftigen wir uns damit?

In der vorliegenden Schulung befassen wir uns mit der marxistisch-leninistischen Philosophie, dem dialektischen Materialismus.

Dazu wollen wir zunächst die Frage klären, was „Philosophie“ eigentlich ist und warum wir uns damit beschäftigen.

Was verstehen wir unter Philosophie?

Die Philosophie vermittelt dem Menschen eine allgemeine Anschauung von der ihn umgebenden Welt. Sie antwortet beispielsweise auf die Fragen, ob die Welt ewig besteht, ob sie irgendwie entstanden ist, welchen Platz der Mensch in der Welt einnimmt, was das Bewusstsein des Menschen ist, wie es sich zur Welt verhält usw.

Die marxistisch-leninistische Philosophie ist eine wissenschaftliche Philosophie. Das heißt: Sie stützt sich bei der Beantwortung dieser Fragen nicht auf irgendwelche Spekulationen, sondern auf die Erkenntnisse der Wissenschaften, und zwar sowohl der Natur- als auch der Geisteswissenschaften. Sie unterscheidet sich von den Einzelwissenschaften wie Physik, Biologie, Sozialwissenschaft, Psychologie usw. dadurch, dass sie die allgemeinsten Gesetzmäßigkeiten herausarbeitet, die in allen Bereichen der Wissenschaften, in allen Bereichen des Seins und des Bewusstseins gelten. Die große Grundfrage der Philosophie ist das Verhältnis des Denkens zum Sein, des Bewusstseins zur Materie. Mit dieser Frage wollen wir uns im ersten Abschnitt dieser Schulung befassen.

Warum beschäftigen wir uns also mit Philosophie? Sind das alles nicht furchtbar komplizierte Fragen, die keinen direkten Bezug zu unserem täglichen Leben haben? Welche Rolle spielen diese Fragen im Kampf auf der Straße? Soll man ihre Beantwortung nicht lieber den Schlaumeier:innen überlassen?

Keineswegs! Schauen wir uns die oben gestellten Fragen nach dem Ursprung der Welt, nach dem Verhältnis des Bewusstseins zur Materie einmal genauer an, so finden wir, dass sich aus ihrer Beantwortung bestimmte gesellschaftliche und politische Schlussfolgerungen ergeben: Ein bestimmtes Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit, bestimmte Auffassungen vom gesellschaftlichen Leben, den geschichtlichen Aufgaben, bestimmte Moralprinzipien usw. Diese Schlussfolgerungen und Prinzipien sind sehr unterschiedlich, weil eben auch die Antworten auf die Grundfragen der Philosophie sehr unterschiedlich sind.

Heute ist die herrschende Weltanschauung die bürgerliche Philosophie, die in ganz verschiedenen Varianten daherkommt. Die bürgerliche Philosophie gibt auf die Grundfragen der Philosophie falsche Antworten. Sie verfolgt den Zweck, zu praktischen Schlussfolgerungen zu kommen, die der Bourgeoisie nützen. Diese falschen, bürgerlichen Schlussfolgerungen werden dann als herrschende „öffentliche Meinung“ in der Gesellschaft verankert und haben großen Einfluss auf das Denken der Menschen. Ein Beispiel für eine verbreitete, jedoch bürgerliche und falsche Auffassung ist die Aussage: „Der Mensch ist von Natur aus gierig und egoistisch!“ – Mit dieser Aussage soll der Kapitalismus, die Gesellschaft der Gier und des Egoismus, zum unüberwindlichen Naturgesetz und der Sozialismus zur unrealistischen Träumerei erklärt werden.

Dabei sind selbstverständlich die philosophischen Grundlagen der bürgerlichen Ideologie den allermeisten Menschen nicht bewusst.

Wollen wir die Bourgeoisie bekämpfen, so müssen wir uns von ihrem ideologischen Einfluss freimachen, der sich eben im Großen und Ganzen unbewusst durchsetzt. Deshalb ist es von großem Nutzen, sich die Grundfragen der Philosophie bewusst zu stellen und sich die wissenschaftlichen Antworten auf diese Fragen anzueignen. Dies ist eine scharfe Waffe gegen die bürgerliche Ideologie, die sich als gesellschaftlich herrschende Ideologie auf spontanem Weg in das Denken auch derjenigen Menschen einschleicht, die diese Gesellschaft ablehnen und bekämpfen.

Wir sehen also: Die Beantwortung der philosophischen Grundfragen „den Schlaumeier:innen“ zu überlassen, bedeutet letztlich, dass man sich von ihnen an der Nase herumführen lässt. Um die Gesellschaft erfolgreich in unserem Sinne zu verändern, müssen wir schon selber unseren Kopf benutzen!

Die marxistisch-leninistische Philosophie, der dialektische Materialismus ist unser notwendiges Handwerkszeug dafür.

Der Dialektische Materialismus

Aber was steckt hinter dem komplizierten Wortungetüm „dialektischer Materialismus”? Ist das wieder eine besondere Heilslehre aus „10 Geboten“ oder „114 Suren“, nur eben die der Kommunist:innen und ohne Gott? Das will uns die bürgerliche Ideologie ja immer weismachen.

Das genaue Gegenteil ist der Fall: Die marxistisch-leninistische Philosophie stellt keine konstruierten Prinzipien auf, die sie in die Welt hinein interpretiert. Sie stützt sich im Gegenteil – wie oben erwähnt – bei der Erforschung der allgemeinsten Gesetzmäßigkeiten der Welt auf die Erkenntnisse der Wissenschaften und verallgemeinert diese. Sie heißt dialektischer Materialismus, weil ihr Herangehen an die Erscheinungen der Natur und der Gesellschaft, ihre Methode zu deren Erforschung und Erkenntnis die dialektische ist, und weil ihre Deutung dieser Erscheinungen, ihre Theorie materialistisch ist.

Der historische Materialismus ist die Ausdehnung der Leitsätze des dialektischen Materialismus auf die Erforschung des gesellschaftlichen Lebens, z.B. der Geschichte der Gesellschaft.

Der dialektische Materialismus ist also kein Lehrsystem, das ein für alle Mal fertig ist und die absolute, allumfassende Wahrheit verkündet. Er ist ein Feind der Buchstabengelehrsamkeit und lehnt das schematische Anwenden von Lehrsätzen auf die Wirklichkeit ab. Das Leben ist ursprünglich und steht über aller Philosophie. Das erkennende Denken ist für das Leben da und nicht umgekehrt. Der dialektische Materialismus muss stets konkret auf die vielseitige und sich verändernde Wirklichkeit angewandt werden. Er ist, wie Engels formulierte, kein Dogma, sondern eine Anleitung zum Handeln. Die Philosophie muss mit der gesellschaftlichen Praxis und den wissenschaftlichen Fortschritten mitgehend sich weiterentwickeln. Frühere Weltanschauungen hatten regelmäßig den Anspruch, ein abgeschlossenes und fertiges System darzustellen. Im Gegensatz dazu enthält der dialektische Materialismus in sich die Voraussetzungen zu seiner eigenen konsequenten Weiterentwicklung.

Wir werden uns in diesem Kapitel mit den Grundzügen des Materialismus und der Dialektik beschäftigen, indem wir sie den falschen Auffassungen des Idealismus und den falschen Methoden der Metaphysik gegenüberstellen. Indem wir dies tun, werden wir auch lernen, was unter diesen Begriffen zu verstehen ist!

Der Materialismus

Die Hauptströmungen in der Philosophie

Die große Grundfrage der Philosophie ist das Verhältnis von Denken und Sein, von Bewusstsein und Materie. Die großen Strömungen der Philosophie lassen sich danach unterscheiden, wie sie diese Grundfrage beantworten:

Der Materialismus hält die Materie, die Natur für das Ursprüngliche (Primäre) und das Denken als Produkt der Entwicklung der Natur für sekundär.

Der Idealismus hält den Geist, das Denken für das Ursprüngliche und die Materie für sekundär. Dabei unterscheidet man zwei Gruppen. Der objektive Idealismus (wie z.B. bei dem deutschen Philosophen Hegel) geht von einem geistigen Prinzip (“Weltgeist”) aus, das unabhängig vom menschlichen Bewusstsein besteht und die Welt erschaffen hat. Der subjektive Idealismus hält das menschliche Bewusstsein für ursprünglich und bestreitet entweder die Existenz der Außenwelt überhaupt oder behauptet, diese würde erst durch unser Bewusstsein erschaffen.

Daneben gibt es dualistische Philosophien, die versuchen, dieser Grundfrage auszuweichen, indem sie z.B. von einem gleichwertigen Nebeneinander von Sein und Bewusstsein ausgehen. Der Dualismus ist letztlich aber nur ein Ausdruck des nicht überwundenen Idealismus.

Schauen wir uns die Frage nach dem Verhältnis von Materie und Bewusstsein also einmal etwas genauer an und sehen dabei, was es bedeutet, sich auf die Erkenntnisse der Wissenschaften zu stützen.

Materie und Bewusstsein

Zunächst klären wir, was wir meinen, wenn wir von den Begriffen „Materie“ und „Bewusstsein“ im Sinne der philosophischen Erkenntnistheorie sprechen:

Der physikalische Materie-Begriff umfasst alle Körper, die aus Masse bestehen, die man also sozusagen „anfassen” kann. Wenn wir philosophisch von Materie sprechen, meinen wir mit dem Begriff Materie im Gegensatz dazu die gesamte Außenwelt mit allen ihren Erscheinungen (im folgenden auch als objektive Realität bezeichnet). Sie besteht unabhängig vom menschlichen Bewusstsein und wird durch dieses – Empfindungen, Vorstellungen und das Denken – abgebildet.

Zum Bewusstsein gehören also: Die Empfindungen, die Vorstellungen und das Denken. Das Bewusstsein ist das Erzeugnis eines stofflichen, körperlichen Organs: des Gehirns. Bereits mit dieser Feststellung ist die Grundfrage der Philosophie beantwortet: Die Materie ist nicht ein Erzeugnis des Geistes, sondern umgekehrt ist der Geist das höchste Produkt der Materie.

Um das zu verdeutlichen, führen wir folgendes Zitat aus dem sowjetischen Lehrbuch „Grundlagen der marxistischen Philosophie” an: „Das psychische Leben ist untrennbar mit der materiellen Tätigkeit des Gehirns verbunden, ist ein Produkt dieser Tätigkeit. Dafür spricht vor allem die Tatsache, dass psychische Erscheinungen nur in normal funktionierenden lebenden Organismen auftreten, die über ein Nervensystem verfügen. Hierbei ist das logische abstrakte Denken als die höchste Form des Bewusstseins an ein besonders hochorganisiertes Nervensystem, das nur der Mensch besitzt, und seinen höchsten Abschnitt, das Gehirn gebunden. Je tiefer die Lebewesen auf der Stufe der Evolution stehen, je einfacher ihr Nervensystem organisiert ist, um so elementarer sind die psychischen Erscheinungen, die sich schließlich auf ihre einfachste Art reduzieren, auf die Empfindung. Bei den einfachsten Lebewesen, die über kein Zentralnervensystem verfügen, gibt es überhaupt keine Spur psychischer Erscheinungen.” 1

Es ist äußerst wichtig zu begreifen, dass jegliche psychische Tätigkeit nur durch bestimmte körperliche Organe, also aufgrund der Existenz der Materie, möglich ist. Daraus folgt, dass Bewusstsein, dass geistige Tätigkeit außerhalb der Materie nicht möglich ist. Dies zeigt sich auch daran, dass die geistige Tätigkeit des Menschen gestört wird, wenn die entsprechenden Organe des Körpers infolge von Krankheiten wie z.B. Schlaganfällen und Alzheimer, von Verletzungen oder durch Einwirkung bestimmter Substanzen wie z.B. Drogen nicht in normaler Weise funktionieren.

Die modernen Neurowissenschaften sind heute in der Lage, sehr genau nachzuweisen, welche stofflichen Organe durch welche Funktionsweisen ganz bestimmte Teilbereiche der psychischen Tätigkeit ermöglichen. Man weiß z.B. heute, welcher Teil des Gehirns für die Sprachfunktionen, für das Sehen usw. zuständig ist. Das ist ein schlagender, wissenschaftlicher Beweis für die materialistische Beantwortung der Grundfrage der Philosophie.

Die Außenwelt besteht unabhängig vom Bewusstsein

Wir haben bisher von der Bedeutung gesprochen, die das Gehirn bzw. das Nervensystem für die psychische Tätigkeit, für das Bewusstsein hat. Nervensystem und Gehirn können aber nur tätig werden, wenn ein Reiz von außen auf sie einwirkt. Die Reize von außen wirken auf die fünf Sinne (Sehen, Hören, Tastsinn, Riechen und Schmecken) und bewirken eine Empfindung. Das ist die erste und unabdingbare Voraussetzung jeglicher psychischer Tätigkeit. Diese Überlegung ist sehr einfach, aber die philosophische Schlussfolgerung daraus ist äußerst wichtig: Im Gegensatz zur Auffassung des Idealismus besteht die Außenwelt objektiv, d.h. unabhängig vom menschlichen Bewusstsein, unabhängig von den Wahrnehmungen und vom Denken der Menschen.

Die objektive Realität und die Gesetzmäßigkeiten ihrer Bewegung sind auch nicht das Erzeugnis eines „Weltgeistes“. Die zahlreichen und unterschiedlichen Erscheinungen in der Welt bestehen materiell, sie stellen verschiedene Formen der sich bewegenden Materie dar. Mit der Bewegung der Materie werden wir uns im zweiten Abschnitt dieses Kapitels „Die dialektische Methode“ befassen. Die Vorstellung eines „Weltgeistes“ diskutieren wir im Einschub über Religion.

Dass die Außenwelt objektiv besteht, scheint ganz selbstverständlich – und wird doch von den Idealist:innen bestritten. Dabei verhält sich so ziemlich jeder Mensch – inklusive der bürgerlichen Philosophieprofessor:innen2 – in seinem beruflichen und privaten Alltag so, als ob er davon ausgeht, dass die Außenwelt um ihn herum wirklich „real“ ist. Trotzdem hält das viele Professor:innen nicht davon ab, die Welt als „Ansammlung von Empfindungen“ zu interpretieren und die materialistische Weltanschauung als „naiven Realismus“ zu verspotten. Man kann sich die Frage stellen, warum und für wen sie eigentlich ihre Bücher schreiben, wenn sie tatsächlich konsequent davon ausgehen würden, die Außenwelt bestehe bloß in ihrem Bewusstsein? Wir werden später darauf zurückkommen, warum es in Wahrheit das – sehr materielle – Klasseninteresse der Bourgeoisie ist, das hinter solch absurden Theorien steckt.

Von den Empfindungen zum begrifflichen Denken

Durch die Sinnesorgane wirkt die Außenwelt auf die Psyche des Menschen: Er nimmt die Außenwelt wahr, und zwar zunächst in Form von Empfindungen.

Das Bewusstsein des Menschen beschränkt sich jedoch nicht auf die Empfindungen, die durch die Sinnesorgane vermittelt werden. Dies zeigt sich bereits dadurch, dass sich das menschliche Denken auch mit vergangenen oder zukünftigen Erscheinungen befasst. Vergangene und zukünftige Dinge können aber nicht empfunden, nicht sinnlich wahrgenommen werden. Hierzu ist abstraktes Denken erforderlich3. Die Wissenschaft deckt Erscheinungen auf, die teilweise überhaupt nicht sinnlich wahrgenommen werden können. Man kann sich z.B. die Lichtgeschwindigkeit (ca. 300.000 km in der Sekunde) nicht vorstellen. Aber man kann die Lichtgeschwindigkeit verstehen, erkennen und wissenschaftlich beweisen. Moleküle und Atome kann man nicht sehen, die Wissenschaft kann ihre Existenz aber aufgrund theoretischer Schlussfolgerungen erkennen. Diese theoretischen Schlussfolgerungen bauen aber letztlich immer auf sinnlichen Wahrnehmungen auf. Die Stärke des Denkens liegt darin, dass es die Welt nicht in Form einer Fotografie widerspiegelt, sondern in Form von Begriffen. Diese Begriffe bringen allgemeine und wesentliche Merkmale der zu erkennenden Gegenstände zum Ausdruck. Deshalb beschränkt sich das Bewusstsein des Menschen nicht darauf, einzelne Erscheinungen der Außenwelt wahrzunehmen, ohne die Beziehungen zwischen diesen Erscheinungen zu erkennen, ohne das Wesen eines Gegenstandes per Begriffsbildung herauszuarbeiten. Die Fähigkeit des logischen, abstrakten Denkens gibt dem Menschen die Möglichkeit, Gesetzmäßigkeiten wie Naturgesetze zu erkennen.

Ein einfaches Beispiel: Ein Schäferhund, ein Pitbull-Terrier und ein Pudel weisen auf der Ebene der Erscheinung offensichtlich erhebliche Unterschiede auf. Dem Wesen nach sind sie alle aber Exemplare der Spezies Hund. Um das festzustellen, muss man von ihren äußerlichen Unterschieden absehen und die Wesensmerkmale dieser Spezies herausarbeiten. Ein anderes Beispiel: SPD, CDU, FDP, Grüne, Linke und AfD sind auf der Erscheinungsebene verschiedene Parteien mit unterschiedlichen Programmen, unterschiedlicher Anhängerschaft etc. Dem Wesen nach sind alle jedoch Parteien des deutschen Monopolkapitals. So groß aber die Bedeutung des Denkens, der theoretischen Erkenntnis, auch ist: Man darf nicht vergessen, dass jedes Denken letzten Endes stets auf den Daten der sinnlichen Wahrnehmung der Welt beruht.

Einschub 1: Empfindung, Vorstellung und Begriff bei Pawlow

Ein genaueres Verständnis der materiellen Voraussetzungen des menschlichen Bewusstseins, der Unterschiedlichkeit zwischen menschlichem und tierischem „Bewusstsein“ sowie der verschiedenen Abstufungen Empfindung, Vorstellung und Begriff liefern die Arbeiten des sowjetischen Wissenschaftlers I. P. Pawlow. Sie ermöglichen auch ein vertieftes Verständnis davon, inwiefern wir vom Bewusstsein als dem „höchsten Produkt der Materie” sprechen können. Sie zeigen auf, warum die mechanische Vorstellung falsch ist, das Denken sei nur eine Illusion, eine „Sekretion des Gehirns”, bei der das Bewusstsein auf die ihm zugrunde liegenden elektrischen und chemischen Prozesse im Gehirn reduziert wird.

Pawlow hat einerseits die gemeinsamen Elemente und Eigenschaften der tierischen und menschlichen Nerventätigkeit erforscht, andererseits die Besonderheiten des menschlichen Nervensystems. Für die Idealist:innen unterscheidet sich der Mensch vom Tier durch den Geist, durch das geheimnisvolle „Etwas“, das sich materialistisch nicht erklären lässt. Der mechanische Materialismus kennt keinen wesentlichen qualitativen Unterschied zwischen tierischem und menschlichem Bewusstsein. Dagegen stellt Pawlow einen sprunghaften qualitativen Unterschied in der Funktion des menschlichen Nervensystems im Vergleich zur tierischen Nerventätigkeit fest: „In der Entwicklung der tierischen Welt bereicherte sich der Mechanismus der Nerventätigkeit, beim Menschen angelangt, durch einen außerordentlichen Zusatz. Für das Tier sind die Signalisierungsweisen der Wirklichkeit beinahe ausschließlich der Reflex und seine Spuren in den großen Hemisphären, die unmittelbar in den speziellen Seh- und Hörzellen und den übrigen Aufnahmeorganen (Rezeptoren) des Organismus eintreffen. Das sind unsere Eindrücke, Empfindungen und Vorstellungen von der uns umgebenden äußeren Umwelt, ausgenommen das gehörte und gesehene Wort. Hierin haben wir das erste Signalsystem der Wirklichkeit, das Menschen und Tieren gemeinsam ist. Aber das Wort hat ein zweites Signalsystem der Wirklichkeit zustande gebracht, unser spezielles System, das die Signalisierung der ersten Signale ist.” 4

Nach Pawlow stehen die menschliche Arbeit, die Sprache und das Denken mit den speziellen Struktureigenschaften der menschlichen Gehirntätigkeit in Zusammenhang:

„Wenn unsere, auf die Umwelt sich beziehenden Empfindungen und Vorstellungen für uns die ersten Signale der Wirklichkeit, konkrete Signale sind, so sind die von den Sprechorganen ins Gehirn schreitenden kinästhetischen Reflexe Signale zweiten Grade, Signale von Signalen. Diese Signale bedeuten ein Abstrahieren von der Wirklichkeit, ermöglichen die Verallgemeinerung, dasjenige, was unser speziell menschliches, höheres Denken ausmacht, was erstens den allgemeinen Empirismus und schließlich die Wissenschaft zustande bringt, die das höchste Mittel des Menschen ist, um sich in der Umwelt und in sich selbst zu orientieren. Wahrscheinlich ist die Gehirnrinde dieses rein menschliche Denkorgan, für das aber die allgemeinen Gesetze der Nerventätigkeit höheren Grades, wie wir glauben, gültig bleiben.” 5

Analyse und Synthese (Auflösen z.B. einer Wahrnehmung in Einzelelemente sowie Zusammensetzung von Elementen zu einem Ganzen) spielen laut Pawlow bereits auf der Stufe des ersten Signalsystems, also bei der Bildung von Empfindungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen eine Rolle (also bei Menschen und bestimmten, höher entwickelten Tieren!). Das begriffliche Denken – die Verallgemeinerung, das Vordringen von der Erscheinung zum Wesen eines Gegenstandes – ist dagegen eine Tätigkeit, für die nur das menschliche Gehirn die physiologischen Voraussetzungen ausgebildet hat: Nämlich im Zuge der Entwicklung der Lautsprache, die wiederum im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Arbeit des Menschen entstanden ist.

Die objektive Wahrheit und die Praxis als ihr Kriterium

Die obigen Überlegungen führen zu einem weiteren, grundlegenden Kernsatz des dialektischen Materialismus: Das richtige Denken spiegelt die objektive Außenwelt korrekt wieder. Das heißt: Die Welt und ihre Gesetzmäßigkeiten sind erkennbar! Das ist gleichbedeutend mit der Aussage: Es gibt eine objektive Wahrheit, nämlich die richtige Widerspiegelung der Materie im Bewusstsein. Die objektive Wirklichkeit ist der Inhalt der Wahrheit. Es gibt „richtig“ und „falsch“.

Auch das sehen die bürgerlichen Ideolog:innen anders, die in Bezug auf die Erkennbarkeit der Welt mit dem Fortschreiten des Imperialismus immer pessimistischer werden. Soweit die Idealist:innen überhaupt das Bestehen einer objektiven, außerhalb des Bewusstseins vorhandenen Welt anerkennen, behaupten sie, diese objektive Welt sei grundsätzlich nicht erkennbar. So bereits der berühmte Philosoph Immanuel Kant, der ein „Ding an sich”, also eine objektive Welt zwar anerkannte, aber erklärte, dieses „Ding an sich” sei nicht erkennbar. Für Kant waren Wesen und Erscheinung von Gegenständen also durch eine unüberwindliche Mauer getrennt! Die Strömung in der Erkenntnistheorie, die behauptet, eine (erschöpfende) Erkenntnis der Welt sei nicht möglich, wird auch als Agnostizismus bezeichnet. Auf ihr gründet auch die heute in der bürgerlichen Natur- und Gesellschaftswissenschaft weit verbreitete Irrlehre des sogenannten Positivismus. Er vertritt die Auffassung, es könne in der Wissenschaft nicht darum gehen, die Welt tatsächlich zu verstehen, sie korrekt abzubilden, sondern nur darum, die „Erfahrungstatsachen”, also Erscheinungen zu beschreiben, zu sortieren und zu vereinfachen.

Ein Beispiel dafür ist die Klassenanalyse als Frage nach der inneren Struktur einer bestimmten Gesellschaft. Die bürgerliche Soziologie beantwortet sie mit dem Milieubegriff, indem sie bestimmte Großgruppen anhand äußerer Kriterien (z.B. dem Einkommen) bestimmt. Maximal stellt sie noch deren zahlenmäßige Entwicklung im Zeitablauf dar. Es ist klar, dass eine solche Auffassung zutiefst wissenschaftsfeindlich ist, da sie die Ausgangsfrage – welche Klassen gibt es und warum und wie entwickeln sie sich – unbeantwortet lässt. Die bürgerliche Soziologie als eine konkrete Ausprägung des philosophischen Positivismus erklärt nichts, sondern beschreibt nur Erscheinungen („Es gibt Arme und Reiche“).

Hält man die Welt für nicht erkennbar, so ist dies das Ende jeglicher ernsthaften Wissenschaft! Es ist auch klar, warum der Imperialismus solche absurden Theorien braucht und fördert: Eine wissenschaftliche Betrachtung der heutigen Probleme zeigt klar, dass der Imperialismus überholt ist und abtreten muss. Deshalb muss der Imperialismus erkenntnisfeindlich sein! Deshalb muss er bestrebt sein, jegliche Form von schwärmerischen Gedanken, Wunder- und Aberglauben zu fördern und der Wissenschaft entgegenzustellen6.

Wir haben oben vom „richtigen Denken“ gesprochen. Wer entscheidet aber nun wie darüber, was „richtiges“ und was „falsches Denken“ ist?

Die Antwort ist naheliegend und einleuchtend: Das Kriterium für die Wahrheit ist die Praxis. In der Praxis wirkt das Bewusstsein auf die Materie zurück und verändert diese. Die Praxis bestätigt das, was wahr und wissenschaftlich ist und widerlegt alle unwissenschaftlichen Anschauungen. Sie widerlegt auch die Behauptung von der Unerkennbarkeit der Welt.

Hören wir dazu Engels in der Auseinandersetzung mit den Kantschen „Dingen an sich”: „Die schlagendste Widerlegung dieser, wie aller andern philosophischen Schrullen ist die Praxis, nämlich das Experiment und die Industrie. Wenn wir die Richtigkeit unsrer Auffassung eines Naturvorgangs beweisen können, indem wir ihn selbst machen, ihn aus seinen Bedingungen erzeugen, ihn obendrein unsern Zwecken dienstbar werden lassen, so ist es mit dem Kantschen unfassbaren ‚Ding an sich‘ zu Ende. Die im pflanzlichen und tierischen Körper erzeugten chemischen Stoffe blieben solche ‚Dinge an sich‘, bis die organische Chemie sie einen nach dem andern darzustellen anfing; damit wurde das ‚Ding an sich‘ ein Ding für uns, wie z.B. der Farbstoff des Krapps, das Alizarin, das wir nicht mehr auf dem Felde in den Krappwurzeln wachsen lassen, sondern aus Kohlenteer weit wohlfeiler und einfacher herstellen. Das kopernikanische Sonnensystem war dreihundert Jahre lang eine Hypothese, auf die hundert, tausend, zehntausend gegen eins zu wetten war, aber doch immer eine Hypothese; als aber Leverrier aus den durch dies System gegebenen Daten nicht nur die Notwendigkeit der Existenz eines unbekannten Planeten, sondern auch den Ort berechnete, wo dieser Planet am Himmel stehn müsse, und als Galle dann diesen Planeten wirklich fand, da war das kopernikanische System bewiesen.” 7

Die Praxis ist die Grundlage der Erkenntnis, ihr Ausgangspunkt und Ziel. Unter Praxis versteht der dialektische Materialismus vor allem die Arbeitstätigkeit der Menschen im materiellen Produktionsprozess, in welchem sie die Natur ihren Bedürfnissen entsprechend verarbeiten bzw. anwenden. Das Bewusstsein bleibt also nicht bei der passiven Widerspiegelung der Materie stehen! Alle Erkenntnis geht von der Praxis aus und mündet wieder in sie ein. Die praktische gesellschaftliche Tätigkeit liegt der Bildung der Begriffe und der Denkformen, schließlich der Wissenschaften und aller Formen des gesellschaftlichen Bewusstseins zugrunde. Und sie ist das Kriterium der Wahrheit.

Die Wahrheit einer Theorie ergibt sich also nicht z.B. daraus, dass die Mehrheit an sie glaubt. Ein Beispiel hierzu: Auch wenn die Bourgeoisie bis heute vielen Menschen in vielen Ländern weismachen konnte, dass wir in einer “Demokratie” leben, in der die gesamte Bevölkerung herrscht, ist diese Auffassung noch lange nicht wahr: Wir leben in einer Klassengesellschaft, in der die Bourgeoisie herrscht. Ein anderes Beispiel: Auch wenn in der politischen Widerstandsbewegung heute in Europa die reformistische Ideologie vorherrschend ist, die besagt, man könne den Kapitalismus ohne Revolution überwinden, man brauche keine kommunistische Partei und keine Diktatur des Proletariats – und überhaupt sei das alles nicht mehr zeitgemäß – so werden diese falschen Ansichten doch laufend von der Praxis widerlegt und die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution durch die Krise des kapitalistischen Systems immer stärker aufgezeigt.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass wir als Kommunist:innen uns in unserer Politik eben nicht danach richten dürfen, was gerade der Standard oder der herrschende „Trend“ in der politischen Widerstandsbewegung ist oder was der Durchschnitt der Arbeiter:innenklasse zu einem gegebenen Zeitpunkt denkt. Wir müssen vielmehr objektiv an die Welt herangehen, uns von den Tatsachen leiten lassen und diese gründlich studieren, um auf dieser Grundlage unsere politische Linie zu entwickeln.

Auch wenn wir damit anfangs eine kleine, scheinbar „unbedeutende“ Minderheit darstellen und andere politische Strömungen uns vehement und mit den unterschiedlichsten Mitteln bekämpfen, werden sich die unterdrückten Massen uns anschließen, wenn wir eine richtige, die objektive Realität korrekt widerspiegelnde Politik verfolgen und in die Praxis umsetzen.

Das Denken entwickelt sich spiralförmig

Was ist jetzt aber mit dem „falschen Denken“? Wie läuft die Widerspiegelung der Materie im Bewusstsein konkret ab?

Es ist für das Denken nicht leicht, die komplizierte Realität immer vollständig richtig zu erfassen. Dies zeigt z.B. die Geschichte der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen: Die Wissenschaftler:innen arbeiten mit Hypothesen, die durch die weitere Forschung bestätigt oder verworfen werden. Meist ist es so, dass die Hypothesen modifiziert, also teilweise bestätigt, in anderer Hinsicht aber verworfen bzw. verändert werden. Das Denken entwickelt sich „spiralförmig”, nähert sich der komplizierten Realität immer mehr an.

Hierzu schreibt Lenin: „Die menschliche Erkenntnis ist nicht (resp. beschreibt nicht) eine gerade Linie, sondern eine Kurve, die sich einer Reihe von Kreisen, einer Spirale unendlich nähert. Jedes Bruchstück, Teilchen, Stückchen dieser Kurve kann verwandelt werden in eine selbständige, ganze, gerade Linie, die (wenn man vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht) dann in den Sumpf, zum Pfaffentum führt (wo sie durch das Klasseninteresse der herrschenden Klasse verankert wird). Geradlinigkeit und Einseitigkeit, Erstarrung und Verknöcherung, Subjektivismus und subjektive Blindheit, voilà die erkenntnistheoretischen Wurzeln des Idealismus. Und das Pfaffentum (= philosophischer Idealismus) besitzt natürlich erkenntnistheoretische Wurzeln, ist noch ohne Boden, es ist zwar unstreitig eine taube Blüte, aber eine taube Blüte, die wächst am lebendigen Baum der lebendigen, fruchtbaren, wahren, machtvollen, allgewaltigen, objektiven, absoluten menschlichen Erkenntnis.” 8

Also: Fehler im Denken, Abweichungen des Bewusstseins vom Sein sind keineswegs einfach nur Blödsinn, Phantasterei, die mit dem Sein nichts zu tun hätten. Es liegt vielmehr in der Natur des Denkens, dass es immer wieder zu einseitigen Betrachtungsweisen, zu Abweichungen von der Spiralbewegung kommt. Es kommt nur darauf an, solche Fehler rechtzeitig zu korrigieren. Geschieht dies nicht, so entfernt sich das Denken immer mehr von der objektiven Realität, anstatt sich ihr anzunähern.

Die ganze geschichtliche Entwicklung zeigt, dass das Wissen der Menschheit immer mehr anwächst. Natürlich wird es immer Dinge geben, die noch nicht erforscht sind. Das Bewusstsein wird niemals vollständig identisch mit dem Sein werden. Aber: Es gibt keine Dinge, die grundsätzlich nicht erkennbar sind, es gibt keine generellen Schranken für den menschlichen Geist.

Einschub 2: Religion

Ein Beispiel für die „Abweichung von der Spiralbewegung” sowie ihre Verfestigung im Denken der Massen durch die herrschende Klassen ist die Religion, die im Grunde eine primitive Form des objektiven Idealismus ist.

Der Marxismus geht an die Frage nach einem „Weltgeist”, einem Gott oder einer Seele so heran, dass er die Bedingungen untersucht, unter denen solche Vorstellungen entstehen.

Engels führt hierzu aus: „Seit der sehr frühen Zeit, wo die Menschen, noch in gänzlicher Unwissenheit über ihren eigenen Körperbau und angeregt durch Traumerscheinungen, auf die Vorstellung kamen, ihr Denken und Empfinden sei nicht eine Tätigkeit ihres Körpers, sondern einer besonderen, in diesem Körper wohnenden und ihn beim Tode verlassenden Seele – seit dieser Zeit mussten sie über das Verhältnis dieser Seele zur äußeren Welt sich Gedanken machen. Wenn sie im Tod sich vom Körper trennte, fortlebte, so lag kein Anlass vor, ihr noch einen besonderen Tod anzudichten; so entstand die Vorstellung von ihrer Unsterblichkeit.” 9

Die erkenntnistheoretischen Wurzeln der Religion, ihrer Entstehung wie ihrer Aufrechterhaltung liegen also zunächst im Unwissen. Da man Blitz und Donner nicht erklären konnte, erfand man den Blitz- und Donnergott und analog weitere Götter als „Personifikationen der Naturmächte” (Engels), „bis endlich durch einen im Verlauf der geistigen Entwicklung sich naturgemäß einstellenden Abstraktions-, ich möchte fast sagen Destillationsprozess aus den vielen mehr oder minder beschränkten und sich gegenseitig beschränkenden Göttern die Vorstellung von dem einen ausschließlichen Gott der monotheistischen Religionen in den Köpfen der Menschen entstand.” 10

Der Hegelsche „Weltgeist” ist letztlich nichts als die etwas verfeinerte Version eines solchen Gottes.

Die Götter, unsterblichen Seelen und sonstigen Gespenster sind also nicht einfach Blödsinn, der mit der wirklichen Welt absolut nichts zu tun hätte. Sie sind vielmehr Widerspiegelung ganz bestimmter, mehr oder weniger primitiver gesellschaftlicher Zustände im Bewusstsein der Menschen. Und sie sind Ausdruck eines ganz bestimmten, wenig vorangeschrittenen Standes der Spiralbewegung, die das Denken beschreibt: Solange man nicht wusste, wie sich die verschiedenen Lebewesen auf der Erde aus den ersten Einzellern entwickelt haben, ging man davon aus, ein Gott habe die fertigen Pflanzen, Tiere und den Menschen quasi auf dem Reißbrett entworfen. Solange man nicht wusste, dass und wie sich Erde, Sonne und alle anderen Himmelskörper über Zeiträume von Milliarden von Jahren aus heißen Gashaufen gebildet haben, war es die kirchliche Lehrmeinung, das Universum sei beim Akt der „Schöpfung” fertiggestellt worden und habe seitdem stets so ausgesehen wie heute. Jede neue wissenschaftliche Erkenntnis hat dagegen gerade das Verständnis der materiellen Zusammenhänge der Welt und ihrer Entwicklung befördert.

Die erste Quelle der Religion war die Unwissenheit. Mit der Entstehung von Ausbeuterklassen kam als wichtiges Element hinzu, dass diese sich die Religion für ihre Interessen zunutze machten, um z.B. den Unterdrückten Gehorsam zu predigen und ihnen die Vorstellung von einem besseren Jenseits vorzugaukeln. Schon deshalb waren die Priester:innen stets privilegiert, z.B. in der Feudalgesellschaft als Angehörige der herrschenden Klasse.

Diese Herrschaftsfunktion für die unterdrückende Klasse hat die Religion bis heute behalten. Im Kapitalismus kommt das Geschäft als treibende Kraft hinzu. In einer Gesellschaft, die den ausgebeuteten Massen keinerlei Perspektive zu bieten hat, ist innerhalb und neben den etablierten Weltreligionen ein ganzer Markt für Mystik-Kram, Heilslehren und Esoterik entstanden. Psycho-Sekten wie Scientology machen einen Milliardenumsatz mit dem Geschäftsmodell „Kirche“ und entwickeln nebenher Methoden zur Manipulation ihrer Anhänger:innen, die von kapitalistischen Firmen direkt übernommen werden.11

Eine weitere, besondere Funktion der Religion im heutigen Imperialismus entspringt aus dem Herrschaftsinteresse des Finanzkapitals, sowohl im eigenen Land als auch weltweit: Die Spaltung der Unterdrückten und ihre Mobilisierung für die Zwecke der Imperialist:innen entlang verfeindeter ideologischer Strömungen: „Das Wechselspiel von islamischem Fundamentalismus und ‚Verteidigung der christlich-abendländischen Kultur‘ ist keine Neuerscheinung des Jahres 2014 gewesen, sondern Ergebnis einer strategischen Neuausrichtung der westlichen Imperialist:innen nach der erfolgreichen Zerschlagung des Ostblocks. Der Kampf um die imperialistische Neuaufteilung der Welt trat zu dieser Zeit – Anfang der 1990er Jahre – in eine neue Phase, in der einerseits die Widersprüche innerhalb der NATO-Mächte an Bedeutung zunahmen, andererseits der chinesische Imperialismus als ihr aufstrebender Konkurrent verstärkt auf den Plan trat. Der Region Westasien kommt in dieser Phase – nach wie vor – eine geostrategische Schlüsselrolle zu. Für die Strategie der imperialistischen Mächte war und ist es weiterhin entscheidend, 1. revolutionäre und antiimperialistische Bestrebungen ebenso zu unterminieren und unter Kontrolle zu bringen wie die unterschwelligen gesellschaftlichen Gärungsprozesse sowohl in den abhängigen Ländern als auch in den imperialistischen Zentren und 2. die eigenen und fremde Bevölkerungen für ihre aggressiven Ziele im Krieg um die Neuaufteilung der Welt zu mobilisieren. Dazu organisieren sie eine – heute stärker als je zuvor international angelegte und vielfältige, d.h. auf teils entgegengesetzte reaktionäre, faschistische Strömungen setzende – ideologische Arbeit unter den Massen zur Verinnerlichung dieser Ziele. Und sie schaffen die entsprechenden politischen und militärischen Organisationen bzw. versuchen sich solche unterzuordnen, die bereits bestehen. Eine ideologische Formulierung für diese neue strategische Gesamtausrichtung der westlichen Imperialist:innen lieferte bereits 1993 der Berater des US-Außenministeriums Samuel Huntington mit seiner These vom ‚Clash of Civilizations‘: Ein grundsätzlicher Konflikt zwischen verschiedenen ‚Kulturräumen‘, vor allem dem westlichen, chinesischen und islamischen, werde in Zukunft die politische Weltordnung bestimmen.“ 12

Der „Kulturkampf” wird als Vorstellung in den Massen verbreitet, um vom Klassenkampf abzulenken. Der Imperialismus hat idealistische Heilslehren und Esoterik nicht nur zu besonderer Blüte getrieben. Er hat sich auch mit der faschistischen Bewegung eine militante Anhängerschaft herangezogen, die mit verschiedensten solcher Ideologien für seine Zwecke in die Schlacht ziehen: Siehe die Praktiken germanischer Mystik und Rituale bei den Hitlerfaschist:innen, den Steinzeit-Islamismus von faschistischen Söldnerbanden wie den Taliban, Al-Qaida und IS oder solche Geschöpfe wie den „Tempelritter“-Orden des norwegischen Massenmörders Anders Breivik.

Das Fortleben der Religionen geschieht heute also aufgrund des Klassenkampfs im Imperialismus: Mit dem Verschwinden der Klassen im Kommunismus und der allgemeinen Hebung der wissenschaftlichen Bildung der Massen wird auch die Religion nach der sozialistischen Revolution allmählich absterben.

Objektive und subjektive Wahrheit

Was ist nun aber von folgender Aussage zu halten: „Die Kommunist:innen gehen immer davon aus, sie seien im Besitz der Wahrheit. Das ist intolerant! Man muss doch anerkennen, dass jeder seine eigene Sicht der Dinge hat. Es gibt nicht nur eine einzige Wahrheit, sondern jeder hat seine subjektive Wahrheit, und es kommt doch nur darauf an, wie jeder einzelne damit leben kann.”

Wahrheit ist – wie oben beschrieben – die richtige Widerspiegelung der außerhalb und unabhängig vom menschlichen Bewusstsein bestehenden Materie durch das Bewusstsein. Zu bestreiten, dass es eine objektive Wahrheit gibt, ist gleichbedeutend damit, das Bestehen einer vom menschlichen Bewusstsein unabhängigen objektiven Realität überhaupt zu bestreiten. Und das Argument „jeder sieht die Dinge eben aus seiner Sicht” vermag an dem Bestehen der objektiven Realität nichts zu ändern. Das zeigt bereits eine ganz einfache Überlegung: Stehen mehrere Menschen in verschiedenen Positionen vor einem Tisch, so sieht jeder den Tisch „aus seiner Perspektive“, jeder sieht ihn also anders, hat aufgrund seiner jeweiligen Perspektive eine andere Sicht des Tisches. Den Tisch stört das nicht. Er ist immer gleich, egal aus welcher Perspektive ihn jemand ansieht, egal ob ihn überhaupt jemand ansieht. Die oben skizzierte gegenteilige Position unterstellt in letzter Konsequenz, dass es objektiv gar keinen Tisch gibt, sondern nur subjektive Wahrnehmungen eines Tisches.

Das ist natürlich absurd. Aber es ist die Konsequenz aus der Ansicht, es gebe keine objektive Wahrheit, sondern jede:r habe seine eigene subjektive Wahrheit – eine Ansicht, auf die man ja doch sehr häufig trifft. Und die idealistischen Philosoph:innen haben ganze Systeme ausgearbeitet, um derart absurdes Zeug zu begründen. Solcher Unsinn hält sich nicht nur, sondern er ist gerade heute – im Imperialismus – die dominierende Richtung der bürgerlichen Philosophie.

Was also sind die Klasseninteressen, die dahinter stecken? Betrachten wir dazu eine Richtung des subjektiven Idealismus, die heute eine sehr schädliche Rolle spielt, den sogenannten Pragmatismus. Er ersetzt den Begriff „wahr“ durch den Begriff „nützlich“. Ein Begründer des Pragmatismus, der Amerikaner William James, hielt die religiöse „Erfahrung” für ebenso nützlich wie die wissenschaftliche. „Nach pragmatischen Grundsätzen”, schreibt James, „ist die Hypothese von Gott wahr, wenn sie im weitesten Sinne des Wortes befriedigend wirkt.” 13

Nun ist das mit dem Nutzen so eine Sache: In einer Klassengesellschaft hat „Nutzen“ für jede Klasse einen unterschiedlichen Sinn. Was für eine Klasse nützlich ist, ist für die andere schädlich. Aber nur die Ausbeuter:innenklassen haben ein Interesse daran, die objektive Wahrheit zu leugnen, die objektiven Gesetze zu verneinen, die der Entwicklung der Gesellschaft zugrunde liegen. Es ist zum Beispiel klar, wem es „nützt“, dass der Pragmatismus die Religion hoffähig macht: den Ausbeuter:innen. Aber nicht nur die Religion. Der Pragmatismus rechtfertigt prinzipiell jedes Verbrechen, ist also ideal für den Imperialismus. Wie steht es nun aber mit der oben erwähnten „Toleranz“? Müssen Kommunist:innen tolerant sein? Gedanken, die falsch sind, die nämlich mit der objektiven Realität nicht übereinstimmen, akzeptieren wir nicht, sondern wir bekämpfen sie. In dieser Hinsicht sind wir keineswegs tolerant. Solche Begriffe wie „Toleranz“, „Meinungsvielfalt“, „Pluralismus“ usw. sind nur Schlagworte der bürgerlichen Ideologie. Sie beruhen in philosophischer Hinsicht auf subjektivem Idealismus, der nämlich die Existenz einer objektiven Wahrheit leugnet, an der sich subjektive Ideen messen lassen müssen.

Was aber die Menschen betrifft, die falsche Ansichten haben, so sind wir Kommunist:innen äußerst tolerant – wenn es sich nicht gerade um Klassenfeind:innen oder eingefleischte Reaktionär:innen handelt. Denn wir wissen ja, in welch komplizierten Spiralbewegungen sich das Denken entwickelt. Wir wissen, wie die Bourgeoisie alle Mittel anwendet, um die Menschen zu verdummen. Wir kennen insbesondere die Lebensbedingungen der Arbeiter:innen und wissen, wie schwer es für die Arbeiter:innen im Kapitalismus ist, sich Wissen anzueignen. Kommunist:innen müssen daher immer bereit sein, den Menschen geduldig zuzuhören, selbst wenn sie offenbar hauptsächlich falsche Ansichten äußern. Will man jemanden überzeugen, so muss man nämlich zuerst ziemlich genau herausfinden, was er denkt, wie er zu dieser oder jener Ansicht kommt. An welcher Spiralbewegung sein Denken zu Einseitigkeit neigt, die sich zu falschen Ansichten verdichtet. Und nicht nur um das Überzeugen geht es: Denn wir wissen ja, dass falsches Denken nicht einfach nur Blödsinn ist, sondern in der Regel Einseitigkeiten, Überspitzungen von durchaus richtigen Beobachtungen darstellt. Also: Selbst wenn jemand überwiegend falsche Ansichten äußert, kann etwas Richtiges dabei sein. Das nutzen wir, um unsere Erkenntnis weiter zu entwickeln. Denn wir wissen ja, dass auch die Überzeugungen und das kollektive Wissen jeder beliebigen Kommunistischen Partei zu jedem konkreten Zeitpunkt immer nur eine unvollständige Annäherung an die objektive Materie darstellt.

Einschub 3: Absolute und relative Wahrheit

Der dialektische Materialismus stellt also das Vorhandensein einer objektiven Wahrheit fest. Das heißt nicht, dass die objektive Wahrheit starr und unveränderlich ist. Vielmehr müssen wir gerade das Relative, das Veränderliche an den Dingen untersuchen. Wie passt beides also zusammen?

Dazu Engels: „Die Wahrheit, die es in der Philosophie zu erkennen galt, war bei Hegel nicht mehr eine Sammlung fertiger dogmatischer Sätze, die, einmal gefunden, nur auswendig gelernt sein wollen; die Wahrheit lag nun in dem Prozess des Erkennens selbst, in der langen geschichtlichen Entwicklung der Wissenschaft, die von niederen zu immer höheren Stufen der Erkenntnis aufsteigt, ohne aber jemals durch Ausfindung einer sogenannten absoluten Wahrheit zu dem Punkt zu gelangen, wo sie nicht mehr weiter kann, wo ihr nichts mehr übrigbleibt, als die Hände in den Schoß zu legen und die gewonnene absolute Wahrheit anzustaunen. Und wie auf dem Gebiet der philosophischen, so auf dem jeder andern Erkenntnis und auf dem des praktischen Handelns. Ebensowenig wie die Erkenntnis kann die Geschichte einen vollendeten Abschluss finden in einem vollkommenen Idealzustand der Menschheit; eine vollkommene Gesellschaft, ein vollkommener ‚Staat‘ sind Dinge, die nur in der Phantasie bestehen können; im Gegenteil sind alle nacheinander folgenden geschichtlichen Zustände nur vergängliche Stufen im endlosen Entwicklungsgang der menschlichen Gesellschaft vom Niedern zum Höhern. Jede Stufe ist notwendig, also berechtigt für die Zeit und die Bedingungen, denen sie ihren Ursprung verdankt; aber sie wird hinfällig und unberechtigt gegenüber neuen, höheren Bedingungen, die sich allmählich in ihrem eignen Schoß entwickeln; sie muss einer höheren Stufe Platz machen, die ihrerseits wieder an die Reihe des Verfalls und des Untergangs kommt. Wie die Bourgeoisie durch die große Industrie, die Konkurrenz und den Weltmarkt alle stabilen, altehrwürdigen Institutionen praktisch auflöst, so löst diese dialektische Philosophie alle Vorstellungen von endgültiger absoluter Wahrheit und ihr entsprechenden absoluten Menschheitszuständen auf. Vor ihr besteht nichts Endgültiges, Absolutes, Heiliges; sie weist von allem und an allem die Vergänglichkeit auf, und nichts besteht vor ihr als der ununterbrochene Prozess des Werdens und Vergehens, des Aufsteigens ohne Ende vom Niedern zum Höhern, dessen bloße Widerspiegelung im denkenden Hirn sie selbst ist. Sie hat allerdings auch eine konservative Seite: Sie erkennt die Berechtigung bestimmter Erkenntnis- und Gesellschaftsstufen für deren Zeit und Umstände an; aber auch nur so weit.” 14

Auf die Bewegung, die Dialektik, wollen wir im zweiten Abschnitt dieses Kapitels eingehen. Hier wollen wir jedoch noch das Problem der absoluten Wahrheit behandeln. Man darf das zuletzt angeführte Zitat nämlich keinesfalls so verstehen, dass der Marxismus lediglich relative Wahrheiten anerkennt. Denn das würde letztlich dazu führen, dass man eben doch die objektive Wahrheit leugnet und bei der idealistischen Plattheit landet: „Es ist eben alles relativ.”

Nein, Engels will vielmehr folgendes sagen: Die objektiven Dinge selbst ändern sich ständig. Das Denken einer Zeit entwickelt sich auch ständig, nähert sich der Erkenntnis der objektiven Welt immer mehr an. Das ist wieder die Sache mit der Spirallinie.

Aber: Zu einem bestimmten Zeitpunkt ist ein Ding in einem ganz bestimmten Bewegungszustand. Und was die Erkenntnis betrifft, so kann sie – wenn sie weit genug fortgeschritten ist – diesen Bewegungszustand durchaus richtig und vollständig widerspiegeln, ohne Wenn und Aber, ohne Rückzug auf den bedauernden Satz: „So oder so könnte es sein, aber letztlich ist alles relativ.”

Beispiele:

„Wasser verdampft bei 100 Grad Celsius.” Das ist eine objektive Wahrheit. Aber es ist nur eine relative Wahrheit: Wenn man nämlich die Druckverhältnisse ändert, stimmt die Aussage nicht mehr. Ist unser Denken so weit fortgeschritten, dass wir das erkannt haben, so können wir genauer formulieren: „Wasser verdampft bei ganz bestimmten (im Einzelnen zu bezeichnenden) Druckverhältnissen bei 100 Grad Celsius.” Das ist dann eine absolute Wahrheit, eine Wahrheit, die gesichert ist, die durch eine weitere Entwicklung der Wissenschaft nicht mehr umstoßbar ist.

Oder: „Die Winkelsumme im Dreieck beträgt 180 Grad.” Das ist eine relative Wahrheit, denn bei Dreiecken, die z.B. auf einer Kugel aufgemalt werden, stimmt das nicht mehr. Wir können präzisieren: „Im Bereich von Flächen, die nicht im Raum gekrümmt sind, ist die Winkelsumme im Dreieck 180 Grad.”

Diese Beispiele zeigen uns auch, dass in der relativen Wahrheit stets einzelne Elemente oder Seiten des Absoluten enthalten sind.

Der Satz „Wasser verdampft bei 100 Grad Celsius” ist innerhalb bestimmter Grenzen die absolute Wahrheit. Spricht man diesen Satz ohne Einschränkung aus, so formuliert man ein Gesetz, das sich „nur annähernd” als Wahrheit erweist, wobei diese Annäherung für die Druckverhältnisse, mit denen wir es im alltäglichen Leben zu tun haben, völlig ausreichend ist.

Ein weiteres Beispiel: Es ist eine absolute Wahrheit, dass das Proletariat die Kommunistische Partei braucht, um den Imperialismus zu zerschlagen, um die Macht zu ergreifen und auszuüben. Anders ist ein gesellschaftlicher Fortschritt heute nicht möglich.

Aber widerspricht das nicht dem vorhin angeführten Engels-Zitat, wonach sich die Dialektik niemals damit begnügt, eine einmal gefundene absolute Wahrheit anzustaunen, sondern “vor allem und an allem die Vergänglichkeit” nachweist?

Nein, hier besteht kein Widerspruch. Engels sagt ja sogar ausdrücklich, dass die Dialektik die Berechtigung bestimmter gesellschaftlicher Erscheinungen „für deren Zeit und Umstände” anerkennt. Wenn wir von den Bedingungen des Imperialismus und den Bedingungen der Diktatur des Proletariats sprechen, so haben wir präzise die „Umstände“ genannt, unter denen die Existenz der Kommunistischen Partei im Interesse des gesellschaftlichen Fortschritts absolut notwendig ist. Vom Standpunkt der gesamten Menschheitsgeschichte aus ist die Notwendigkeit der Kommunistischen Partei selbstverständlich nur eine relative Wahrheit. Die Partei entsteht unter bestimmten Umständen, und sie stirbt unter bestimmten Umständen wieder ab: Nämlich dann, wenn die Klassen abgestorben sind, wenn das Proletariat und seine Kommunistische Partei ihre historische Mission erfüllt haben.

Zusammenfassung

Fassen wir also die Grundzüge des philosophischen Materialismus in Abgrenzung zum Idealismus noch einmal zusammen:

Der Idealismus fasst die Welt als Verkörperung der „absoluten Idee“, des „Weltgeistes“ oder des Bewusstseins auf. Der Materialismus geht im Gegensatz dazu davon aus, dass die Welt ihrer Natur nach materiell ist, dass die zahlreichen und unterschiedlichen Erscheinungen in der Welt verschiedene Formen der sich bewegenden Materie darstellen, dass der wechselseitige Zusammenhang und die wechselseitige Bedingtheit der Erscheinungen Gesetzmäßigkeiten der sich bewegenden Materie darstellen, dass die Welt sich nach den Bewegungsgesetzen der Materie entwickelt und keines „Weltgeistes” bedarf.

Der Idealismus behauptet, dass nur unser Bewusstsein wirklich bestehen würde und dass die Außenwelt nur in unserem Denken vorhanden sei. Der Materialismus geht im Gegensatz dazu davon aus, dass die Materie, die Natur, das Sein die objektive Realität darstellen, die außerhalb unseres Bewusstseins und unabhängig von ihm bestehen; dass die Materie das Primäre, das Ursprüngliche ist, weil sie Quelle der Empfindungen, Vorstellungen, des Bewusstseins ist, das Bewusstsein aber das Sekundäre, das Abgeleitete ist, weil es ein Abbild der Materie, ein Abbild des Seins ist; dass das Denken ein Produkt der Materie ist, die in ihrer Entwicklung einen hohen Grad von Vollkommenheit erreicht hat, und zwar ein Produkt des Gehirns, das Gehirn aber das Organ des Denkens ist; dass man darum das Denken nicht von der Materie trennen kann.

Der Idealismus bestreitet die Möglichkeit der Erkenntnis der Welt und ihrer Gesetzmäßigkeiten, verneint die Zuverlässigkeit unseres Wissens, erkennt die objektive Wahrheit nicht an und ist der Ansicht, dass die Welt voll sei von „Dingen an sich“, die niemals von der Wissenschaft erkannt werden können. Der Materialismus geht im Gegensatz dazu davon aus, dass die Welt und ihre Gesetzmäßigkeiten durchaus erkennbar sind; dass unser Wissen von den Naturgesetzen durch die Erfahrung, durch die Praxis geprüft, zuverlässiges Wissen ist, dass die Bedeutung objektiver Wahrheit hat, dass es in der Welt keine unerkennbaren Dinge gibt, wohl aber Dinge, die noch nicht erkannt sind, und diese werden durch die Kräfte der Wissenschaft und der Praxis aufgedeckt und erkannt.

Die Dialektik

Einleitung

Kommen wir zunächst noch einmal kurz auf unser obiges Beispiel mit dem Tisch und seinen verschiedenen Betrachter:innen zurück. Der Tisch besteht objektiv und weist verschiedene objektive Eigenschaften auf: Material, Größe, Farbe, etc. Die verschiedenen Betrachter:innen sehen ihn aus unterschiedlichen Perspektiven. Im Bewusstsein jede:r Betrachter:in entsteht ein subjektives Abbild des Tisches. Je nach Perspektive können sich die Abbilder im Bewusstsein der verschiedenen Personen durchaus unterscheiden: Möglicherweise steht jemand nahe am Tisch und jemand anderes weit entfernt, so dass beide unterschiedliche Eindrücke hinsichtlich der Größe des Tisches bekommen. Vielleicht sieht jemand den Tisch durch eine getönte Scheibe und nimmt ihn daher in einer anderen Farbe wahr o.ä.

Was können die verschiedenen Betrachter:innen also tun, um von ihrem ersten, subjektiven Eindruck zu einem solchen Abbild des Tisches in ihrem Bewusstsein zu kommen, welches seine objektiven Eigenschaften möglichst genau widerspiegelt?

Jede:r Betrachter:in kann die Perspektive wechseln, näher an den Tisch herangehen, um ihn herumgehen, ihn von allen Seiten betrachten. Noch besser ist es jedoch, wenn die verschiedenen Betrachter:innen darüber hinaus miteinander sprechen und ihre Ergebnisse austauschen.

Das letzte Kriterium der Wahrheit ist – wie oben ausgeführt – die Praxis: Geraten die verschiedenen Betrachter:innen etwa in einen hitzigen Streit über das Material des Tisches, und schlägt einer der Diskutierenden im Verlauf dieses Streits den Tisch mit einer Axt entzwei, wird er feststellen, ob der Tisch aus leichtem Pressspan oder schwerem Eichenholz besteht.

Allseitiges Herangehen und Diskussion sind aber nicht nur deshalb erforderlich, weil verschiedene Betrachter:innen eines Gegenstandes verschiedene Perspektiven haben, sondern darüber hinaus, weil sich sämtliche Materie und damit jeder Gegenstand ständig in Bewegung befindet.

Dabei ist unter Bewegung nicht nur die räumliche Fortbewegung zu verstehen. Diese ist nur ein Spezialfall der Bewegung. Die Dialektik versteht unter Bewegung jede Veränderung im weitesten Sinn.

Bewegung und Materie sind untrennbar verbunden. Ohne Materie könnte es keine Bewegung geben, denn es ist ja Materie, die sich bewegt. Natürlich bewegt sich auch das Bewusstsein, das Denken, aber hier handelt es sich nur um eine Widerspiegelung der Bewegung der Materie. Umgekehrt kann es auch keine Materie ohne Bewegung geben:

Alle Dinge verändern sich ständig. Etwa auch unser Tisch, der scheinbar regungslos dasteht? In Wirklichkeit ist er aus Atomen zusammengesetzt, die sich in ständiger Bewegung befinden. In jedem Atom wiederum bewegen sich Elektronen um den Atomkern. Ferner ist der Tisch Witterungsprozessen, chemischen Veränderungen oder der Axt unseres hitzköpfigen Diskussionsteilnehmers unterworfen. Auch bewegt er sich ständig mit der Erde um die Sonne.

Der Philosoph Hegel hat darauf hingewiesen, dass die Dinge sich auf ihr Ende zu bewegen. („Endlich“ bedeutet: Sich auf das Ende hin bewegen.) Aber auch das Ende ist nicht absolut, sondern Anfang von etwas Neuem, das den Keim des Alten in sich trägt.

Beispiele:

Aus dem Hühnerei kommt das Küken. Es liegt an der Bestimmtheit des Hühnereis, durch das Küken abgelöst zu werden, nicht etwa durch eine Gans. Aus der Schmetterlingsraupe wird der Schmetterling, nicht etwa eine Forelle. Der Kapitalismus geht unter und wird durch den Sozialismus abgelöst. Man könnte sagen: Die Bewegung des Kapitalismus, die ihm innewohnenden Gesetze führen dazu, dass er durch den Sozialismus abgelöst wird.

Hegel sagt: „Das Neue hat die Bestimmtheit, aus der es herkommt, noch an sich.” Es herrscht also nicht blinder Zufall, sondern Gesetzmäßigkeiten. Es kommt darauf an, die inneren Gesetzmäßigkeiten zu analysieren, nach denen bestimmte Bewegungen erfolgen. Dies ist die Aufgabe der Dialektik.

Dialektik stammt von dem griechischen Wort „dialegesthai“, was: ein Gespräch führen, eine Polemik führen, heißt. Unter Dialektik verstand man im Altertum die Kunst, durch Aufdeckung der Widersprüche in den Urteilen des Gegners und durch Überwindung dieser Widersprüche zur Wahrheit zu gelangen. Im Altertum gab es Philosophen, die der Meinung waren, dass die Aufdeckung der Widersprüche im Denken und der Zusammenstoß entgegengesetzter Meinungen das beste Mittel zur Auffindung der Wahrheit seien. Diese dialektische Denkweise, die in der Folge auf die Naturerscheinungen ausgedehnt wurde, verwandelte sich in die dialektische Methode der Naturerkenntnis. Diese betrachtet die Naturerscheinungen als in ewiger Bewegung und Veränderung befindlich und die Entwicklung der Natur als Resultat der Entwicklung der Widersprüche in der Natur, als Resultat der Wechselwirkung entgegengesetzter Kräfte in der Natur.

Hegel war als Philosoph im Zeitalter der bürgerlichen Revolution zwar Idealist, aber er war ein genialer Dialektiker. Er hat die Dialektik so weit ausgearbeitet, wie das unter idealistischen Vorzeichen nur möglich war. Marx und Engels haben alles Wertvolle an der Hegelschen Dialektik übernommen, haben die Dialektik aber mit dem Materialismus verbunden. Dadurch war ein weiterer Fortschritt der Dialektik möglich, denn nun konnte sie sich bewusst darauf konzentrieren, die Bewegung der Materie zu untersuchen. Außerdem untersucht die materialistische Dialektik auch die Bewegung des Denkens, der Erkenntnis, als die Widerspiegelung der Bewegung der Materie. Dabei zeigt sich, dass in der Bewegung der Materie und in der Bewegung des Denkens die gleichen allgemeinen Gesetzmäßigkeiten herrschen.

Der dialektischen Methode steht die metaphysische Denkweise gegenüber, welche die Gegenstände einseitig, starr und isoliert voneinander betrachtet. Die metaphysische Denkweise15 bleibt an den Erscheinungen kleben, ohne zu ihrem Wesen vorzudringen. Sie entspricht dem bequemen Denken für den Hausgebrauch, das nur berücksichtigt, was augenfällig ist, ohne sich die Mühe zu machen, tiefer in einen Gegenstand einzudringen: Wenn z.B. bürgerliche Ökonom:innen seit 2008/2009 von einer Immobilienkrise, einer Finanzkrise und einer Eurokrise sprechen, ohne den inneren Zusammenhang dieser Krisenerscheinungen aufzudecken – alle diese Krisen sind dem Wesen nach Ausdruck und Folgeerscheinungen einer Überproduktionskrise, wie sie gesetzmäßig im Kapitalismus auftritt – handelt es sich um ein metaphysisches Herangehen.

Es erfordert eine bewusste Anstrengung, dialektisch zu denken. Das metaphysische Denken schleicht sich auch bei Genoss:innen, die mit dem Marxismus-Leninismus einigermaßen vertraut sind, leicht spontan ein, wenn man sich nicht in Acht nimmt.

Wir wollen im folgenden die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der Dialektik entwickeln und sie der Metaphysik gegenüberstellen. Dabei orientieren wir uns in der Darstellung an Stalins Schrift „Über dialektischen und historischen Materialismus”, in der die Grundzüge der Dialektik herausgearbeitet werden.

Die Welt als allseitig Zusammenhängendes

„Im Gegensatz zur Metaphysik betrachtet die Dialektik die Natur nicht als zufällige Anhäufung von Dingen, von Erscheinungen, die voneinander losgelöst, voneinander isoliert und voneinander nicht abhängig wären, sondern als zusammenhängendes einheitliches Ganzes, wobei die Dinge, die Erscheinungen miteinander organisch verbunden sind, voneinander abhängen und einander bedingen. Darum geht die dialektische Methode davon aus, dass keine einzige Erscheinung in der Natur begriffen werden kann, wenn sie isoliert, außerhalb des Zusammenhangs mit den sie umgebenden Erscheinungen genommen wird, denn jede beliebige Erscheinung auf jedem Naturgebiet kann in Widersinn verwandelt werden, wenn sie außerhalb des Zusammenhangs mit den sie umgebenden Erscheinungen, losgelöst von ihnen, betrachtet wird, und, umgekehrt, jede beliebige Erscheinung kann verstanden und begründet werden, wenn sie in ihrem unlösbaren Zusammenhang mit den sie umgebenden Erscheinungen, in ihrer Bedingtheit durch die sie umgebenden Erscheinungen, betrachtet wird.” 16

Also: Die Dialektik lehnt die isolierte Betrachtung einzelner Dinge ab, sie fordert Allseitigkeit im Denken, weil die Dinge in der Realität allseitig miteinander verknüpft sind. Das Denken kann diese allseitige Verknüpfung in der Wirklichkeit nur dann richtig widerspiegeln, wenn es selbst nach Allseitigkeit strebt.

Ein Beispiel: Lange Zeit hatte die Biologie rein beschreibenden Charakter. Die Pflanzen und Tiere wurden beschrieben, eine Beschreibung wurde beziehungslos neben die andere gestellt, und damit fertig. Die Darwinsche Entwicklungstheorie (= Evolutionstheorie) machte damit Schluss. Sie untersuchte die Entwicklung des Lebens, die Verwandlung einer Form des Lebens in eine andere. Sie warf damit Licht auf die Beziehung der einzelnen Arten untereinander. Sie betrachtete die einzelnen Arten von Lebewesen nicht starr, sondern in ihrer Entwicklung, in ihrer Beziehung zueinander. Die Biologie stellt die Identität des Nicht-Identischen fest: Pudel, Pitbull und Schäferhund gehören zur Spezies Hund. Der Hund stammt vom Wolf ab. Und sie arbeitet die Nicht-Identität des Identischen heraus, wenn sie z.B. Unterarten anhand neuer Unterscheidungsmerkmale klassifiziert.

Ein ganz anderes Beispiel: Kommunist:innen wollen die Banken verstaatlichen. Und siehe da: In der Wirtschaftskrise 2008/2009 wurde die Commerzbank vorübergehend teilweise verstaatlicht – von der Merkel-Regierung! Heißt das jetzt, Deutschland hat sich mit dieser Maßnahme zeitweilig dem Kommunismus ein Stück angenähert? Das ist natürlich nicht so! Warum nicht? Man kann eine einzelne politische Maßnahme nicht verstehen, wenn man sie aus ihrem Zusammenhang reißt: Die zeitweise Verstaatlichung einer Bank durch den bürgerlichen Staat mit dem Ziel, dass „der Steuerzahler“, d.h. die Arbeiter:innenklasse ihre Verluste finanziert, ist eine Maßnahme, die voll und ganz im Interesse des deutschen Finanzkapitals liegt. Das ist etwas ganz anderes als die Verstaatlichung der “Kommandohöhen der Volkswirtschaft” (Banken, Industrie, Handel) durch den Staat der Arbeiter:innenklasse als eine der ersten Maßnahmen auf dem Weg zur sozialistischen Umgestaltung der Volkswirtschaft.

Wie sehen die Beziehungen und Zusammenhänge zwischen den einzelnen Erscheinungen nun aus? Sie bestehen zunächst einmal aus Kausalität, d.h. aus dem Verhältnis von Ursache und Wirkung. Eine Erscheinung ist Ursache, eine andere Wirkung. Die Kausalität ist ein allgemeines Gesetz, denn jede Erscheinung in Natur und Gesellschaft wie auch im Denken hat ihre Ursachen.

Jedoch ist eine Wirkung, die von bestimmten Ursachen hervorgerufen ist, wieder Ursache von anderen Wirkungen, die wiederum selbst zu Ursachen werden, und so fort. Man spricht von „Kausalketten“, wobei diese „Ketten“ in Wahrheit unendlich große und unendlich verzweigte, miteinander verbundene Komplexe sind.

Beispiele: Nehmen wir einen Stein, der ins Wasser fällt und Wellen verursacht. Der Stein ist die Ursache des Wellenschlags. Aber abgesehen davon hat der Stein eine ganze Reihe von Eigenschaften – etwa das Material, aus dem er beschaffen ist, seine Farbe, seine Form – die nicht unmittelbar den Wellenschlag verursachen; er hat also Eigenschaften, die nicht in seine Eigenschaft, Ursache des Wellenschlags zu sein, eingehen. Andererseits gibt es neben der Bewegung des Steins noch andere Ursachen für den Wellenschlag; Ursache dafür, dass der Stein ins Wasser fällt, ist die Anziehungskraft der Erde; Ursache dafür, dass er ins Wasser eindringt, ist die flüssige Eigenschaft des Wassers. Schon das einfache Beispiel mit dem Stein zeigt also, dass man allein mit dem Kausalverhältnis die komplexen Beziehungen zwischen den Dingen nicht erfassen kann.

Engels dazu: „Um die einzelnen Erscheinungen zu verstehen, müssen wir sie aus dem allgemeinen Zusammenhang reißen, sie isoliert betrachten, und da erscheinen die wechselnden Bewegungen, die eine als Ursache, die andre als Wirkung.” 17

Wie aber soll sich das Denken in dieser Vielfalt von komplexen Kausalbeziehungen zurechtfinden? Indem es lernt, zwischen Zufall und Notwendigkeit zu unterscheiden, und das bedeutet, Gesetze zu erkennen, nach denen bestimmte Bewegungen verlaufen. Fällt eine Schneeflocke zu Boden, so macht sie die verschiedensten Bewegungen, Kreise, Spiralen, zeitweise wird sie vom Wind wieder nach oben getrieben usw. Alle diese Bewegungen haben zwar Ursachen, verlaufen aber zufällig. Gesetzmäßig aber ist, dass unbeschadet aller dieser Kapriolen die Schneeflocke letztlich nach unten, auf den Boden fällt, denn dafür sorgt das Gesetz der Schwerkraft.

Oder nehmen wir einen Kleinbürger, z.B. einen selbständigen Schuster in einem kapitalistischen Land, der wirtschaftlich ruiniert und Proletarier wird. Der Schuster glaubt, das sei zufällig, das habe keine Beziehung zu einer Notwendigkeit. Und in der Tat spielt der Zufall eine Rolle: Hätte z.B. dieser oder jener Kunde früher seine Schulden bezahlt, dann hätte er selbst seine Miete bezahlen können und hätte nicht Insolvenz anmelden müssen, sondern an seiner Stelle vielleicht ein anderer selbständiger Schuster. Und dennoch verbirgt sich hinter diesem Ereignis – wie hinter jedem Zufall – eine Notwendigkeit. Der Ruin der Kleineigentümer:innen in einer kapitalistischen Gesellschaft mit entwickelter Industrie ist ein Gesetz, eine Notwendigkeit, denn sie können der Konkurrenz der großen Industrie nicht standhalten. Wie stets setzt sich diese Notwendigkeit durch eine Reihe von Zufälligkeiten durch; lässt sich eine große Schuhfabrik einer Stadt nieder, so ist es in der Tat vom Zufall abhängig, ob zunächst der Schuster Müller, Meier oder Schulze pleite geht. Sind Müller und Meier pleite gegangen, dann kann vielleicht Schulze bis zum Ende seines Lebens recht und schlecht durchhalten.

Kurz: Dialektiker:innen müssen imstande sein, von den Zufälligkeiten abzusehen, sie müssen durch die Zufälligkeiten hindurch die Notwendigkeit, das Gesetz sehen, nach dem eine bestimmte Bewegung erfolgt.

Wir haben oben gesagt, dass der menschliche Geist nirgends auf eine prinzipielle Schranke der Erkenntnis stößt, wenn auch die Materie prinzipiell unerschöpflich ist und niemals ein Zeitpunkt erreicht sein wird, zu dem das Bewusstsein mit dem gesamten Sein vollständig identisch sein wird.

Dies gilt ebenso für jede:n Einzelne:n in Bezug auf die Erkenntnis eines einzelnen Gegenstandes: Man wird die allseitige Kenntnis eines Gegenstandes niemals vollständig erreichen. Die Praxis des Strebens nach Allseitigkeit bewahrt uns aber davor, in Fehler zu verfallen. Dieses Herangehen ist für Kommunist:innen sehr wichtig.

Einschub 4: Die Relativitätstheorie

Der Gedanke, dass alle Erscheinungen in der Welt zusammenhängen und sich auf bestimmte Art und Weise gegenseitig bedingen, ist zunächst einleuchtend. Es gibt aber auch Beispiele, wo diese Erkenntnis der menschlichen Anschauung zunächst zu widersprechen scheint: Wie ist es z.B. mit Raum und Zeit?

Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die allgemeine Annahme unter Naturwissenschaftlern, dass Raum und Zeit absolute Größen seien, die ihrerseits nicht mehr durch andere Ursachen bedingt seien: Das Universum wäre demnach zwar vielleicht unendlich groß, ließe sich aber theoretisch in einem einzigen, unendlich großen Koordinatensystem abbilden. Hätte man zwei baugleiche Uhren und lässt die eine auf der Erde, während man die andere mit einem Raumschiff zu einem weit entfernten Planeten schickt, gäbe es keinen Grund, anzunehmen, dass beide irgendwann unterschiedliche Zeiten anzeigen sollten – von technischen Defekten einmal abgesehen.

Die Frage ist aber: Was sind überhaupt „Zeit“ und „Raum“?

Der berühmte englische Physiker und Mathematiker Isaac Newton machte einmal folgendes Gedankenexperiment: Was bliebe übrig, wenn man sämtliche Materie aus dem Universum entfernen würde? Seine Annahme: Der „leere Raum” und die „leere Zeit”.

Wo liegt der Fehler in dieser Annahme?

Vom materialistischen Standpunkt ist diese Gegenüberstellung von „Materie“ einerseits und „Raum und Zeit“ andererseits völlig sinnlos.

Der ganze Begriff „Zeit“ basiert nämlich auf der Bewegung der Materie: Eine Uhr ist nichts anderes als ein technischer Apparat, der auf bestimmten, sich periodisch mit derselben Geschwindigkeit wiederholenden Bewegungen basiert wie z.B. Pendelschlägen, und die Zahl dieser Bewegungen anzeigt. Die Zeiteinheit „Tag” ist bestimmt durch die Drehung der Erde um sich selbst, die Zeiteinheit „Jahr“ durch die Bewegung der Erde um die Sonne.

Mit dem „Raum” ist es genau so: Der Begriff des „Abstands“ zwischen zwei Punkten im Raum basiert stets auf der realen Ausdehnung realer Materie.

Raum und Zeit sind also materiell. Sie sind strukturelle Eigenschaften der sich bewegenden Materie und daher Teil des Weltzusammenhangs, also der Erscheinungen, die „voneinander abhängen und einander bedingen”: Man kann sich also die Frage stellen, ob und unter welchen Bedingungen alle Bewegungen in einem Raumschiff – inklusive der Bewegungen innerhalb des Apparates „Uhr“ – schneller oder langsamer ablaufen als auf der Erde – und damit die Uhren unterschiedlich gehen?

Man muss sich vom Standpunkt des dialektischen Materialismus sogar diese Frage stellen: Denn die Vorstellung eines universalen Maßstabs für die Geschwindigkeit, in der Bewegungen in voneinander unabhängigen Bezugssystemen gefälligst abzulaufen haben, der seinerseits nicht materiell durch irgendetwas bestimmt ist; die Vorstellung einer absoluten Zeit also führt ebenso wie die Vorstellung eines absoluten Raumes in letzter Konsequenz wieder zur Vorstellung eines Gottes, der – ähnlich wie ein Fabrikdirektor – den Raum aufgestellt und den allgemeinen Arbeitstakt für das Universum vorgegeben hätte.

Dem gegenüber hat der Physiker Albert Einstein zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seiner speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie erkannt, dass Raum und Zeit nicht absolut, sondern sehr wohl materiell bestimmt sind, nämlich einerseits durch die gegenseitige Bewegung von Bezugssystemen. Ausgangspunkt hierfür waren theoretische Probleme, die in der Physik hinsichtlich des Verständnisses der Ausbreitung von Licht und der Lichtgeschwindigkeit entstanden waren.

Die spezielle Relativitätstheorie besagt u.a., dass in einem System (wie z.B. einem Raumschiff), das sich gegenüber einem anderen, als „ruhend“ angenommenem System (wie z.B. der Erde) mit annähernd Lichtgeschwindigkeit bewegt, die Zeit – d.h. die Gesamtheit aller Bewegungen – langsamer abläuft als im „ruhenden“ System. Die Gleichzeitigkeit von Ereignissen ist daher nicht absolut, sondern relativ, hängt von der gegenseitigen Bewegung der Systeme ab: Zwei Explosionen z.B., die auf der Erde zeitgleich stattfinden, können aus der Sicht des Raumschiffs zu verschiedenen Zeiten eintreten. Ebenso verkürzt sich für das Raumschiff die Gesamtheit aller Abstände in der Außenwelt, gegenüber der es sich bewegt – d.h. der Raum mit all seiner Materie „zieht sich zusammen”. Wichtig ist, dass es nach Einstein kein absolutes Bezugssystem gibt, das gegenüber den anderen materiell irgendwie ausgezeichnet wäre: Mir kann es also erst einmal egal sein, wenn ich mitsamt meinem System (der Erde) aus der Sicht eines anderen Bezugssystems verkleinert bin.

Eine theoretische Spinnerei für Science-Fiction-Liebhaber:innen? Nein, denn die beschriebenen Effekte der sog. „Zeitdilatation” und „Längenkontraktion” bewirken, dass z.B. manche physikalische Teilchen aus der Erdatmosphäre (sog. Myonen), die eine extrem kurze Lebensdauer haben, überhaupt unten auf der Erde ankommen und dort gemessen werden können. Sie haben also praktische Auswirkungen.

Die allgemeine Relativitätstheorie geht nun noch weiter und besagt u.a., dass die Struktur von Raum und Zeit (bzw. der einheitlichen, zusammenhängenden „Raumzeit“) durch die Anwesenheit schwerer Körper wie z.B. Sonne oder Erde gekrümmt, also bestimmt werden. Platt gesagt führt das dazu, dass eine Uhr auf dem Gipfel eines hohen Berges schneller geht als unten im Tal. Wohlgemerkt ist nicht nur die Uhr betroffen, sondern alle Bewegungen (auch z.B. der Alterungsprozess des Uhrenträgers) laufen schneller ab als unten, wo das Gravitationsfeld der Erde stärker ist. Beim Beispiel ‚Berg – Tal‘ ist dieser Effekt so unmerklich gering, dass er in der Praxis keine Rolle spielt. Praktisch relevant ist er jedoch z.B. schon bei GPS-Satelliten, welche die beschriebenen Effekte tatsächlich ausgleichen müssen, um zuverlässige Daten z.B. für die Echtzeit-Navigation von Autos zu liefern.

Aus Platzgründen mussten wir uns hier darauf beschränken, nur ein paar Beispielergebnisse aus der Relativitätstheorie wiederzugeben. Es ist durchaus angemessen, wenn durch diesen Abschnitt zunächst einmal mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet sind18 – denn weder in der Naturwissenschaft noch in der Philosophie ist die Erforschung und Einordnung dieser Sachverhalte bis heute zu einem befriedigenden Abschluss gebracht – von anderen Gebieten, wie z.B. der Quantenphysik, ganz zu schweigen!

Hier sind Wissenschaftler:innen gefragt, die auf der Grundlage des dialektischen Materialismus arbeiten, anstatt sich von bürgerlichen Ideologien verwirren zu lassen. Ein Grund mehr also, warum wir den Sozialismus brauchen!

Absolutheit der Bewegung

„Im Gegensatz zur Metaphysik betrachtet die Dialektik die Natur nicht als einen Zustand der Ruhe und Unbeweglichkeit, des Stillstands und der Unveränderlichkeit, sondern als einen Zustand unaufhörlicher Bewegung und Veränderung, unaufhörlicher Erneuerung und Entwicklung, in welchem immer irgendetwas entsteht und sich entwickelt, irgendetwas zugrunde geht und sich überlebt. Darum verlangt die dialektische Methode, dass die Erscheinungen nicht nur vom Standpunkt ihres gegenseitigen Zusammenhangs und Bedingtseins, sondern auch vom Standpunkt ihrer Bewegung, ihrer Veränderung, ihrer Entwicklung, vom Standpunkt ihres Entstehens und Vergehens betrachtet werden. Für die dialektische Methode ist vor allem nicht das wichtig, was im gegebenen Augenblick als fest erscheint, sondern das, was entsteht und sich entwickelt, selbst wenn es im gegebenen Augenblick nicht fest aussieht, denn für die dialektische Methode ist nur das unüberwindlich, was entsteht und sich entwickelt.” 19

Wir sprachen bereits in einem Einschub des letzten Abschnitts von der Begrenztheit absoluter Wahrheiten. Dies gilt insbesondere auf dem Gebiet gesellschaftlicher Vorstellungen.

Beispiele:

In der Blütezeit der Sklavenhaltergesellschaft galt es als unverrückbare, feste, ewige gesellschaftliche Erscheinung, dass es Sklavenhalter:innen und Sklav:innen gab. Niemand dachte daran, das in Frage zu stellen oder gar daran zu rütteln – nicht die Sklav:innen, und auch nicht die besten und genialsten Denker:innen dieser Zeit. Sie konnten zwar den Begriff „Atom“ entwickeln, aber nicht erkennen, dass Sklav:innen Menschen sind. Zu Sklav:innenaufständen kam es erst später, als das ökonomische Fundament der Sklavenhalterordnung schon zerrüttet war.

Im Mittelalter war die dominierende Rolle der Religion unantastbar. Auch aufständische Schichten oder Gruppierungen, auch die Bäuer:innenschaft in den Bauernkriegen konnten es nicht wagen, die christliche Religion in Frage zu stellen – sie nahmen ihre ideologische Zuflucht zu anderen, für sie günstigeren Auslegungen der Bibel. Man wäre schlichtweg für verrückt oder eben für vom Teufel besessen erklärt worden, hätte man die Religion in Frage gestellt.

Heute scheint der deutsche Imperialismus sehr fest zu sein. Die revolutionären Kräfte, die Kommunist:innen, wirken äußerst schwach. Viele Menschen halten uns für verrückt, für Don Quichottes, weil wir den Kampf aufgenommen haben. Welche Chance hat eine kleine kommunistische Bewegung gegen den mächtigen, raffinierten, mit allen Wassern gewaschenen Imperialismus? Doch Dialektiker:innen halten sich bei solchen Vorurteilen nicht auf, die nur aufgrund statischer Betrachtung zustande kommen. Dialektiker:innen untersuchen die inneren Widersprüche der ökonomischen Struktur dieser Gesellschaft, und da zeigen sich schreiende, unüberwindliche Widersprüche, die zu gigantischen Krisen, Kriegen und Katastrophen führen müssen. Und egal, wie schwach die kommunistische Bewegung heute in Deutschland auch sein mag – die marxistisch-leninistische Linie zeigt den Weg zur Lösung dieser Widersprüche und wird zur gesellschaftlichen Macht, wenn sie mit den unterdrückten Massen verbunden wird. Diese Macht wird den Kapitalismus letztlich hinwegfegen.

Qualitative Sprünge

„Im Gegensatz zur Metaphysik betrachtet die Dialektik den Entwicklungsprozess nicht als einfachen Wachstumsprozess, in welchem quantitative Veränderungen nicht zu qualitativen Veränderungen führen, sondern als eine Entwicklung, die von unbedeutenden und verborgenen quantitativen Veränderungen zu sichtbaren Veränderungen, zu grundlegenden Veränderungen, zu qualitativen Veränderungen übergeht, in welcher die qualitativen Veränderungen nicht allmählich, sondern rasch, plötzlich, in Gestalt eines sprunghaften Übergangs von dem einen Zustand zu dem anderen Zustand eintreten, nicht zufällig, sondern gesetzmäßig, als Ergebnis der Ansammlung unmerklicher und allmählicher quantitativer Veränderungen.

Darum ergibt sich aus der dialektischen Methode, dass der Entwicklungsprozess nicht als Kreisbewegung, nicht als einfache Wiederholung des Früheren, sondern als fortschreitende Bewegung, als Bewegung in aufsteigender Linie, als Übergang von einem alten qualitativen Zustand zu einem neuen qualitativen Zustand, als Entwicklung von Einfachem zu Kompliziertem, von Niederem zu Höherem aufgefasst werden muss.” 20

Es handelt sich hierbei um das Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität. Und zwar ein Umschlagen in Form eines Sprunges. Dieser Sprung aber ist vorbereitet durch eine quantitative Anhäufung.

Man kann als Beispiel aus der Natur das Verdampfen von Wasser anführen. Wird Wärme zugeführt, so wird das Wasser zunächst einmal immer nur wärmer, seine Moleküle bewegen sich schneller, und sonst geschieht nichts. Dann aber “bricht die Allmählichkeit ab”, dann kommt es zum qualitativen Sprung: Bei 100 Grad Celsius lösen sich die Wassermoleküle massenhaft aus der Verbindung mit ihren Nachbarn, das Wasser verdampft.

Solche Sprünge gibt es auch im gesellschaftlichen Bereich sowie im Bewusstsein. Betrachten wir zunächst die krisenhafte Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft: Die verschiedenen Elemente der Krise wachsen nach und nach heran: So z.B. die Finanzkrise, die Schuldenkrise, als ein Element der Krise. An einem bestimmten Punkt aber kommt es zu plötzlichen Erschütterungen und Ausbrüchen, die die Lebensbedingungen der breiten Massen schlagartig drastisch verschlechtern. So wie beim berüchtigten Schwarzen Freitag von 1929 oder der Lehman-Pleite in den USA von 2008. Nur, dass das Ausmaß des nächsten Kriseneinbruchs in Deutschland womöglich noch größer sein wird. Dies kann man voraussehen, wenn man bedenkt, dass die Einbrüche der letzten Krise selbst im „Krisengewinnerland“ Deutschland noch nach Jahren nicht ausgeglichen sind; dass es beim nächsten Mal aller Voraussicht nach nicht mehr die Möglichkeit für das deutsche Kapital geben wird, die Krisenauswirkungen nach Südeuropa zu exportieren; und dass die Auswirkungen der letzten Krise von den imperialistischen Staaten nur durch eine weitere Ausdehnung des Kredits und das massenhafte Drucken von Notenbankgeld abgefedert wurden – Maßnahmen also, die die kapitalistischen Widersprüche nicht lösen, sondern aufschieben und verschärfen. Den genauen Zeitpunkt der nächsten Krise kann man natürlich nicht vorhersagen, da dieser wieder von mannigfachen Zufälligkeiten abhängt.

Im März 2020 während der redaktionellen Überarbeitung dieses Buches ist dann genau geschehen, was wir im obigen, vorher geschriebenen Absatz aufgrund der Dialektik allgemein als Gesetzmäßigkeit formulieren konnten. Die Notwendigkeit einer schweren Wirtschaftskrise hatte sich bereits seit Jahren abgezeichnet. Ausgelöst wurde der heftige Kriseneinbruch dann mit der globalen Corona-Pandemie durch einen auf die Wirtschaft bezogenen äußeren Zufall. „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.” – auch in dieser Erkenntnis steckt der qualitative Sprung.

Beispiele:

Ein Stück Metall hat physikalische Eigenschaften, die sich nicht erklären lassen, wenn man nur die Summe seiner Einzelatome betrachtet. Die („einfachen“) Atome entwickeln neue („komplizierte“) Gesetzmäßigkeiten, wenn sie sich im Metall verbinden (z.B. elektrische Leitfähigkeit usw.).

Eine Gesellschaft ist mehr als die Summe von Individuen mit bestimmten psychologischen Eigenschaften. Jede Gesellschaftsformation bildet bestimmte Gesetzmäßigkeiten aus, die darauf aufbauen, welche Beziehungen die Menschen im Prozess der Produktion materieller Güter miteinander eingehen21.

Schließlich noch: Der Weltzusammenhang entwickelt sich nicht als ewiger Kreislauf. Die Materie bewegt sich vielmehr vom Einfachen zum Komplizierten, vom Niederen zum Höheren. Einzelelemente verbinden sich unentwegt – wie in den obigen Beispielen – zu neuen Zusammenhängen mit neuen Gesetzmäßigkeiten. Die Materie ist dabei unbegrenzt und unerschöpflich – sowohl in Richtung Mikrokosmos als auch in Richtung Makrokosmos: Weder wird man das allerkleinste Teilchen finden, das selbst nicht mehr aus irgendetwas zusammengesetzt ist, also keine Ursache, keine inneren Widersprüche aufweisen würde. Noch ist die Materie irgendwo jenseits der Milchstraße „zu Ende“.

Die Vorstellung eines endlichen Universums, die Vorstellung einer letzten Ursache, die Vorstellung eines ewigen Kreislaufs – all das ist letztlich wieder der Idealismus, die Idee eines göttlichen Schöpfers oder eines „Weltgeistes”.

Innere Widersprüche

„Im Gegensatz zur Metaphysik geht die Dialektik davon aus, dass den Naturdingen, den Naturerscheinungen innere Widersprüche eigen sind, denn sie alle haben ihre negative und positive Seite, ihre Vergangenheit und Zukunft, ihr Ablebendes und sich Entwickelndes, dass der Kampf dieser Gegensätze, der Kampf zwischen Altem und Neuem, zwischen Absterbendem und neu Entstehendem, zwischen Ablebendem und sich Entwickelndem, den inneren Gehalt des Entwicklungsprozesses, den inneren Gehalt des Umschlagens quantitativer Veränderungen in qualitative bildet. Darum ergibt sich aus der dialektischen Methode, dass der Prozess der Entwicklung von Niederem zu Höherem nicht in Form einer harmonischen Entfaltung der Erscheinungen verläuft, sondern in Form eines Hervorbrechens der Widersprüche, die den Dingen und Erscheinungen eigen sind, in Form eines ‚Kampfes‘ gegensätzlicher Tendenzen, die auf der Grundlage dieser Widersprüche wirksam sind. ‚Im eigentlichen Sinne ist die Dialektik‘, sagt Lenin, ‚die Erforschung der Widersprüche im Wesen der Dinge selbst.‘ … Und ferner: ‚Entwicklung ist ‚Kampf‘ der Gegensätze.‘“ 22

Untersucht man die inneren Widersprüche einer Sache, so findet man die Gesetze heraus, nach denen sich diese Sache bewegt. Untersucht man z.B. die ökonomische Struktur einer entwickelten kapitalistischen Gesellschaft, so findet man – als grundlegenden Widerspruch – den Widerspruch zwischen den fortgeschrittenen Produktivkräften, die eine gesellschaftliche Planung und Kontrolle der Produktion, eine Produktion auf Rechnung der Gesellschaft erfordern, einerseits, und den rückständigen Produktionsverhältnissen, der privaten Aneignung der Produkte, die eine gesellschaftliche Kontrolle der Produktion, eine Produktion auf Rechnung der Gesellschaft unmöglich machen, andererseits. Dieser Widerspruch führt gesetzmäßig zum Untergang der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, zu ihrer Ersetzung durch sozialistische. Innere Widersprüche lassen sich bei jeder Erscheinung in Natur und Gesellschaft feststellen, und sie sind es, die den Entwicklungsprozess der Dinge vorantreiben und ihren Inhalt bestimmen.

Neben den inneren bestehen auch äußere Gegensätze zwischen den Dingen, die die Entwicklung beeinflussen. Jedoch können äußere Widersprüche niemals allein eine Veränderung der Dinge bewirken. Äußere Kräfte haben eine auslösende, fördernde oder hemmende Wirkung für die Entwicklung einer Erscheinung, aber sie können nur im Zusammenhang mit den inneren Widersprüchen und über diese wirken. Andererseits rühren äußere Kräfte selbst wieder nur aus den inneren Prozessen anderer Bereiche der Materie her.

Dazu zwei Beispiele:

Stoße ich eine rote Billardkugel mit einer anderen (blauen), bewirkt dieser Stoß, dass sich die rote Kugel fortbewegt. Der äußere Stoß wirkt aber nur deshalb, weil beide Kugeln sich im Moment des Stoßes verformen, und über diese Verformung die Bewegung übertragen wird.

Ein anderes Beispiel ist die Erfahrung der kapitalistischen Einkreisung eines (einzelnen) sozialistischen Landes, der Sowjetunion nach der Oktoberrevolution. Dieser äußere Widerspruch wirkte sich vermittelt über innere Widersprüche aus, die letztlich die entscheidende Rolle bei der Wiedererrichtung des Kapitalismus gespielt haben.23

Einschub 5: Beliebte Denkfehler im Umgang mit komplexen Prozessen

Allseitige Wechselwirkungen, alles in Bewegung, qualitative Sprünge – was sich (mehr oder weniger) einfach liest, erfordert in der Anwendung auf die Wirklichkeit eine bewusste Denkanstrengung. Dies gilt besonders, wenn es um Aussagen über Entwicklungen in der Zukunft geht. In der Politik müssen wir die Geschwindigkeit von Entwicklungen, ihre Richtung wie auch plötzliche dialektische Sprünge für eine zukünftige Zeit bestimmen. Dies und vieles andere mehr liegt aus heutiger Sicht im grauen Nebel einer ungewissen Zukunft. Und doch müssen wir ständig wissenschaftliche Prognosen erarbeiten, um eine richtige Strategie und Taktik für das Erreichen unserer Ziele zu entwickeln.

Der Frage nach Methoden zur Bestimmung zukünftiger Entwicklungen und typischen psychologischen Fallen in Entscheidungssituationen wird im Standardwerk „Strategisches Denken in komplexen Situationen“ nachgegangen. Es hält gerade für Dialektiker:innen einige sehr nützliche Anregungen und Erkenntnisse bereit. Der Autor Dietrich Dörner, ein Psychologe, widmet darin das ganze Kapitel 6 dem Thema „Zeitabläufe“: „Wir leben und handeln in einem vierdimensionalen System, nämlich in einem dreidimensionalen Raum (…) der sich – gewissermaßen auf einer Zeitachse – in einer Richtung, nämlich der Richtung ‚Zukunft‘ bewegt.“ 24

Während wir den dreidimensionalen Raum mit unserer Anschauung ganz gut beherrschen, hat die vierte Dimension der Zeit so ihre Tücken, da wir sie nicht über unsere Sinnesorgane wahrnehmen und damit nicht direkt im Gehirn verarbeiten können: „Die Zukunft aber (…) steht nicht zur Disposition. Hier kann ich allenfalls raten oder versuchen, möglichst genau vorauszusehen, was sich wohl ereignen wird. Den tatsächlichen Verlauf der Ereignisse in der Zukunft sehe ich nicht. Das alles müsste ich während meiner Beschäftigung mit der Gegenwart tun, und das würde zusätzliche Bearbeitungskapazität erfordern. (…) Die Tatsache, dass der Umgang mit Zeitgestalten erheblich schwieriger ist als der mit Raumgestalten, ist wohl der Grund dafür, dass wir ständig dabei sind, ‚Zeit‘ in ‚Raum‘ zu übersetzen. Wir zeichnen Diagramme von zeitlichen Abläufen und versuchen, auf diese Weise einen Eindruck von der Spezifität der jeweiligen Zeitgestalt zu bekommen. (…) Um die Zukunft planen zu können, müssen wir möglichst gute Prognosen über den weiteren Ablauf der Ereignisse machen. (…) Und dies können wir nur dadurch, dass wir die Charakteristika und Determinanten der zeitlichen Abläufe erkennen, um aufgrund solcher Erkenntnisse die zukünftigen Ereignisse voraussagen zu können.“ 25

Dörner weist anhand zahlreicher realer Beispiele und mit Hilfe von Simulationsexperimenten u.a. auf drei typische methodische Fehler beim Umgang mit Zeitreihen bzw. Entwicklungstrends im Hinblick auf zukünftige Ereignisse hin: „In einer Momentanextrapolation wird ein augenblicklich sinnfälliger Trend mehr oder weniger linear und ‚monoton‘, das heißt ohne jede Richtungsänderung fortgeschrieben. Dies oder jenes ist ganz schlimm. Also wird es immer noch schlimmer werden! Es kommt bei der Momentanextrapolation zweierlei zusammen: erstens die Einengung der Aufmerksamkeit des ‚Propheten‘ auf das, was ihn augenblicklich positiv oder (meistens) negativ stark anrührt, und zweitens die linear-monotone Fortschreibung der wahrgenommenen Entwicklung.“

Von AIDS bis Waldsterben: In der Politik finden wir ständig irgendwelche linearen Fortschreibungen kurzfristig wahrgenommener Trends. In der politischen Widerstandsbewegung macht sich das vor allem dann bemerkbar, wenn die Ausrichtung der eigenen Politik nach den Themen stattfindet, die aktuell „groß in den Medien” sind. Das sind natürlich gerade die Themen, welche die Bourgeoisie – die Zeitungen, Fernsehen und Internet kontrolliert – ausgesucht hat, um die Aufmerksamkeit von uns bzw. den unterdrückten Massen darauf zu lenken. Im ungünstigsten Fall kommt dabei heraus, dass man sich ohne jede Strategie von Kampagne zu Kampagne hangelt.

„Eine weitere, oft beobachtbare Tendenz bei den Prognosen ist die Zentralidee-Tendenz. (…) Sie besteht darin, dass ein Faktor zum eigentlich Bestimmenden gemacht wird und der Rest des Weltgeschehens auf ihn bezogen wird.“ 26

Ein Beispiel: Der in der antifaschistischen Bewegung in Deutschland beliebte Slogan „Das Problem ist der Rassismus.”, der die faschistische Massenbewegung ebenso “erklären” soll wie den Terror (NSU, Anschläge auf Flüchtlingsheime). Was denn die materiellen Ursachen des Rassismus sind, welche Klasse und ihr Staat die faschistische Ideologie in die Massen tragen und die entsprechende militante Bewegung aufbauen und einsetzen und aus welchem Interesse heraus – diesen Fragen weicht man durch eine solche, wenig gehaltvolle Formel gerade aus.

Ein drittes methodisches Problem beschreibt Dörner im Denkmechanismus der Strukturextrapolation: Man stellt sich einen neuen, bislang unbekannten Sachverhalt so vor wie den entsprechenden, bereits bekannten. Oder einfach als das platte Gegenteil, im dialektischen Sinn als Negation oder Anti-These des Bekannten. Dörner spricht dann von Strukturinversion. Wohin die Missachtung der Dialektik bei Analogien führt, zeigt er an einem drastischen realen Beispiel: „Attacken glanzvoller Kavallerieregimenter, die kläglich untergingen im Schnellfeuer der Infanteriewaffen – das war nichts Einmaliges in den ersten Wochen des Ersten Weltkriegs. Man machte derlei allerdings nicht mehr sehr lange. (…) Nun fragt es sich, wieso man eigentlich die Wirkung von Maschinengewehren und Artillerie auf geschlossen attackierende Kavallerieverbände nicht voraussehen konnte? ‚Eigentlich‘ ist es doch selbstverständlich, was bei einem solchen Unterfangen herauskommen muss! Aber man hat es eben nicht vorausgesehen. Man konnte es offensichtlich nicht. Man konnte sich nicht vorstellen, welche Kriegsbilder der Weltkrieg tatsächlich hervorbringen würde.“ 27

Wer über das Beispiel gelacht hat, kann sich sofort die Frage stellen, welche Vorstellung er vom nächsten imperialistischen Weltkrieg oder ernsthaften Aufständen oder einem Bürgerkrieg in Deutschland hat. Nach Jahrzehnten ökonomischer und politischer Stabilität im „rheinischen Kapitalismus“ ist es nachvollziehbar, aber trotzdem in der Praxis ein unverzeihlicher Fehler, wenn wir uns den kommenden Massenaufstand vorstellen wie in den „Thälmann“-Filmen der 1950er. Bestimmte Erkenntnisprozesse laufen um ein Vielfaches beschleunigt ab, wenn sie in der Praxis stattfinden: Es ist deshalb für die kommunistische Bewegung in Deutschland von kaum zu überschätzender Bedeutung, die Erfahrungen zu teilen, die das Weltproletariat und die kurdische nationale Befreiungsbewegung heute durch die demokratische und antiimperialistische Revolution in Rojava (Westkurdistan) im konkreten Kampf machen!

Momentanextrapolation, Zentralidee-Tendenz und Strukturextrapolation sind methodische Fehler bei Zukunftsprognosen, die naturwüchsig aus der Art und Weise hervorgehen, wie unser Gehirn spontan arbeitet. Richtige Prognosen und ein zutreffenden Umgang mit der Zeitdimension erfordern also die bewusste Anwendung der dialektischen Methode, zu der es u.a. gehört, die entsprechenden Denkfehler bei sich und bei anderen durch Kritik und Selbstkritik aufzuspüren, um zu richtigen Erkenntnissen zu gelangen.

Dialektik, Komplexität und die weltanschauliche Krise des Imperialismus

Nachdem wir nun die Grundzüge der Dialektik durchgearbeitet haben, wollen wir zum Abschluss dieses Kapitels noch einen flüchtigen Blick darauf werfen, wie die bürgerliche Wissenschaft selbst immer wieder Elemente der Dialektik hervorzubringen gezwungen ist – und welche Aufgabe sich daraus für uns ergibt.

Einerseits hat die Bourgeoisie als Klasse ein Interesse daran, idealistische Theorien und metaphysische Methoden bis hin zu Mystizismus und Esoterik zu predigen, um die unterdrückten Massen zu verwirren. Dem entgegen steht ihr Interesse daran, um der Vermehrung des Profits und anderer ihrer Ziele willen brauchbare wissenschaftliche Ergebnisse zu produzieren: Um profitablere Autos oder bessere Waffen herzustellen, reichen keine Zaubersprüche, sondern man muss objektiv forschen. Um ökonomische oder geostrategische Prognosen, z.B. als Grundlage für die Unternehmensstrategien der imperialistischen Monopole zu erstellen, kommt man nicht umhin, „allseitige“ Wechselwirkungen zu betrachten, sprunghafte Entwicklungen einzuplanen, usw., also: Elemente der Dialektik zu verwenden.

Ein Ausdruck davon, wie die Einzelwissenschaften zum Zwecke ihres Nutzens heute gezwungen sind, sich der Dialektik anzunähern – und insbesondere allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu erforschen, die in Natur und Gesellschaft vorzufinden sind – ist die Entwicklung der „Chaos-“ bzw. „Komplexitätsforschung“ in verschiedenen natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächern in den letzten Jahrzehnten.

In der knappen Einführung des Buches „Komplexität“ eines K. Mainzer lesen wir dazu: „Das Thema ‚Komplexität‘ behandelt eines der aufregendsten und spektakulärsten Lehr- und Forschungsgebiete der letzten Jahre. (…) Chaos, Ordnung und Selbstorganisation entstehen nach den Gesetzen komplexer dynamischer Systeme – in der Natur und der Gesellschaft. Komplexe dynamische Systeme werden bereits erfolgreich in Technik- und Naturwissenschaft untersucht – von atomaren und molekularen System in Physik und Chemie über zelluläre Organismen und ökologische Systeme der Biologie bis zu neuronalen Netzen der Gehirnforschung und den Computernetzen im Internet. Mittlerweile werden auch Anwendungen in Wirtschafts-, Finanz- und Sozialwissenschaften untersucht. Was können wir aus Chaos, der Entstehung von Ordnung und Selbstorganisation in der Natur lernen? Wo sind grundlegende Unterschiede in der Dynamik von Natur und Gesellschaft? Welche Konsequenzen lassen sich aus der Wissenschaft vom Komplexen für unser Entscheiden und Handeln ziehen?” 28

Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein war das mechanistische Weltbild in der Wissenschaft vorherrschend, das sich auszeichnet durch die Aufteilung eines Ganzen in unveränderliche Einzelteile, die keine inneren Widersprüche haben und nur äußeren Einwirkungen unterliegen und das nur vereinfachte Bewegungen ohne qualitative Sprünge kennt. Es ist bis heute im Alltagsdenken stark verbreitet, weil es die Entwicklung im sinnlich wahrnehmbaren Raum richtig widerspiegelt.

Die Entwicklung der Einzelwissenschaften hat dieses Weltbild, das zur Zeit des aufstrebenden Bürger:innentums im 18. und 19. Jahrhundert seine Blütezeit erlebte, jedoch an allen Ecken und Enden überholt: „Newton beschränkte sich noch auf einfache dynamische Systeme, die (…) vollständig berechenbar sind (…). Dazu wurde eine vereinfachte (‚lineare‘) Kausalität angenommen, wonach Ursachen und Wirkungen immer proportional sind. In komplexen (‚nicht-linearen‘) Systemen können kleinste Veränderungen von Ursachen zu globalen Veränderungen führen. Systeme werden instabil und chaotisch. Allerdings können auch Ordnungen entstehen, die nicht durch die Summe der Systemelemente erklärbar sind, sondern nur durch ihre komplexen Wechselwirkungen…” 29

Die objektive Realität zwingt die bürgerlichen Wissenschaftler:innen in Richtung Dialektik. Die bürgerliche Ideologie hindert sie jedoch daran, die Zusammenhänge zwischen fortschrittlichen Einzelerkenntnissen herzustellen und vor allem, sie weltanschaulich richtig einzuordnen. Was dann herauskommt, ist in der Regel ein bunter Mischmasch aus richtigen Einzelelementen und jeder Menge metaphysischem und idealistischem Unrat. So ist es z.B. bis heute offenbar in der an Komplexität interessierten Natur- und Gesellschaftswissenschaft verbreitet, Zufälligkeit und Notwendigkeit als absolutes Gegensatzpaar anstatt als dialektische Einheit zu behandeln.30

Für Wissenschaftler:innen, die in der bürgerlichen Gesellschaft vielfach privilegiert sind, und ihr Verhältnis zur Weltanschauung gilt im Allgemeinen das, was schon Engels in seiner Schrift „Dialektik der Natur” festgestellt hat: „Die Naturforscher glauben sich von der Philosophie zu befreien, indem sie sie ignorieren oder über sie schimpfen. Da sie aber ohne Denken nicht vorankommen und zum Denken Denkbestimmungen nötig haben, diese Kategorien aber unbesehen aus dem von den Resten längst vergangener Philosophien beherrschten gemeinen Bewusstsein der sogenannten Gebildeten oder aus dem bisschen auf der Universität zwangsmäßig gehörter Philosophie (…) oder aus unkritischer und unsystematischer Lektüre philosophischer Schriften aller Art nehmen, so stehen sie nicht minder in der Knechtschaft der Philosophie, meist aber leider der schlechtesten, und die, die am meisten auf die Philosophie schimpfen, sind Sklaven grade der schlechtesten vulgarisierten Reste der schlechtesten Philosophien.” 31

Wissenschaftliche Erkenntnisse, die nach dem dialektischen Materialismus verlangen, unter den heutigen Bedingungen jedoch ins Korsett der bürgerlichen Ideologie eingezwängt werden und dort, am Rand der Gesellschaft und in kleinen Spezialist:innenkreisen verkümmern müssen, während idealistische Heilslehren wie Religion und Esoterik in die Massen getragen werden – das ist ein Ausdruck davon, dass der Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium auch eine wissenschaftliche und weltanschauliche Krise hervorgebracht hat.

Was bedeutet das für uns Kommunist:innen?

Wir müssen auf allen Gebieten des Denkens auf der Höhe der Zeit sein. Es reicht nicht aus, wenn wir uns auf einen Standpunkt à la „Das haben wir alles schon vor 150 Jahren gewusst!” zurückziehen und uns darauf beschränken, Beispiele aus „Dialektik der Natur” auswendig zu lernen.

Vielmehr müssen wir alle Ergebnisse aus den Einzelwissenschaften heranziehen, studieren und kritisieren in dem Sinne, dass man die richtigen, fortschrittlichen Elemente herausschält und von der bürgerlichen Ideologie trennt – das alles mit dem Zweck, die Wissenschaft für den Klassenkampf, d.h. für die Arbeiter:innenklasse im Kampf gegen die Bourgeoisie und das imperialistische System nutzbar zu machen.

Fragen für das Selbst- und Gruppenstudium

EINLEITUNG

Warum heißt der dialektische Materialismus so wie er heißt?

Was ist der historische Materialismus?

Ist der dialektische Materialismus eine abgeschlossene Lehre?

MATERIALISMUS

Was versteht man im allgemeinen Sprachgebrauch unter Materialismus? Was unter Idealismus?

Was ist die Grundfrage der Philosophie?

Wie sehen die Materialist:innen das Verhältnis von Sein und Bewusstsein? Wie sehen es die Idealist:innen?

Was bedeutet der philosophische Begriff der Materie?

Was ist mit „Spiritualität“, gibt es das nicht?

Ist diese Frage nach dem Verhältnis von Sein und Bewusstsein wirklich wichtig? Ist das nicht die Frage nach der Henne und dem Ei?

Gibt es einen freien Willen?

Was bedeutet „Wesen“ was bedeutet Erscheinung? Wie ist das Verhältnis zueinander? Welche Beispiele kennt ihr?

Worin bestehen für Pawlow Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen tierischen „Bewusstsein“ und menschlichen Bewusstsein?

Gibt es Wahrheit? Können wir sie erkennen?

Wie erkennen wir den Unterschied zwischen richtig und falsch?

Wieso entwickelt sich das Denken spiralförmig?

Was war der Ursprung der Religionen? Welche Rolle spielt Religion für die herrschende Klasse – auch heute?

Ist das nicht sehr arrogant wenn die Kommunist:innen behaupten, sie wüssten was wahr ist?

Was ist absolute, was ist relative Wahrheit?

DIALEKTIK

Was bedeutet Dialektik? Woher kommt der Begriff?

Was ist materialistische Dialektik?

Was ist Metaphysik?

Was bedeutet der erste Grundzug der Dialektik „Die Welt als allseitiges Zusammenhängendes“? Finde Beispiele aus deinem Leben oder der Politik.

Was ist der Unterschied zwischen Zufall und Notwendigkeit?

Was bedeutet der zweite Grundzug der Dialektik, die „Absolutheit der Bewegung“? Finde Beispiele aus deinem Leben oder der Politik.

Was bedeutet der dritte Grundzug der qualitativen Sprünge? Finde Beispiele aus deinem Leben oder der Politik.

Was bedeutet der vierte Grundzug der inneren Widersprüche? Finde Beispiele aus deinem Leben oder der Politik.

Wieso ist die dialektische Methode für die Vorhersage gesellschaftlicher Entwicklungen besonders wichtig? Welche spontanen Denkprozesse führen zu typischen Fehlern bei Zukunftsprognosen?

Wieso bringt der Imperialismus eine weltanschauliche und wissenschaftliche Krise hervor?

Literaturempfehlungen

Josef Stalin, „Einführung in historischen und dialektischen Materialismus“, in: „Geschichte der KpdSU(B) – Kurzer Lehrgang“, Nachdruck: Verlag Roter Morgen, S. 131 – 166

Was der Titel verspricht, hält der Text. Die beste Einführung in den dialektischen und historischen Materialismus, die bisher veröffentlicht wurde. Die populäre und einprägsame Darbietung des Inhalts kann dazu verleiten, die Merksätze schematisch zu verstehen. Daher gilt hier wie generell: Auswendiglernen ist für die Erarbeitung des dialektischen Materialismus keine Lösung.

August Thalheimer, „Einführung in den dialektischen Materialismus“, Herausgegeben von der Gruppe Arbeiterpolitik, 191 Seiten

Einführungsvorlesungen in die Philosophie, die Thalheimer 1927 an der Sun-Yat-Sen-Universität in Moskau gehalten hat. Durch die Kürze und Verständlichkeit der einzelnen Kapitel eignen sich die ‚Philosophischen Vorlesungen‘ gut als Text für Einsteiger:innen. Als Besonderheit ist die Auseinandersetzung mit asiatischen Philosophien und ihrer Entwicklung, die in anderen Darstellungen regelmäßig fehlt, ein weiterer Pluspunkt.

Akademie der Wissenschaften der UDSSR, „Grundlagen der marxistischen Philosophie“, deutsche Übersetzung, Dietz-Verlag 1. Auflage 1959, 740 Seiten

Das Standardlehrbuch unterteilt den Stoff in 10 Kapitel (Dialektischer Materialismus) und weitere 9 Kapitel (Historischer Materialismus). Es eignet sich gut zum Selbststudium und Nachschlagen als Vertiefung zu dieser Schulung.

Friedrich Engels, „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (‚Anti-Dühring‘)“, MEW Band 20, S. 5 – 303

In der Widerlegung des bürgerlichen Intellektuellen Dühring hat Engels die einzige zusammenfassende, in sich geschlossene Darstellung des Marxismus-Leninismus zur marxistischen Philosophie hinterlassen.

M. M. Rosenthal, „Die marxistische dialektische Methode“, Dietz Verlag, 1953, 352 Seiten

Vielleicht kein Text zum Einstieg, aber eine unbedingt empfehlenswerte Gesamtdarstellung der Dialektik in der Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Philosophie, die nach wie vor sehr aktuell ist.

Wladimir I. Lenin, „Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie“, LW Band 14, Seite 7 – 366

In diesem Werk entwickelt Lenin die umfassende philosophische Antwort des Marxismus-Leninismus auf die sogenannte „Krise der Physik“, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die neuen Erkenntnisse der Quantenmechanik und Relativitätstheorie ausgelöst wurde. Ein grundlegendes Werk in der Auseinandersetzung mit den nicht immer sofort auf der Hand liegenden Grundlagen der bürgerlichen Wissenschaft und ihres ideologischen Einflusses auf die Arbeiter:innenbewegung. Wegen der Komplexität der Themen und dem hohen Niveau am besten in einem Lesekreis kollektiv erarbeiten.

Bela Fogarasi, „Dialektische Logik mit einer Darstellung erkenntnistheoretischer Grundbegriffe“, Nachdruck: Verlag Olga Benario und Herbert Baum, Offenbach, 1997, 423 Seiten

Die Logik ist seit dem griechischen Philosophen Aristoteles die „Lehre vom richtigen Denken“. Das richtige Denken bzw. die Vermeidung von Denkfehlern ist offensichtlich von zentraler Bedeutung für die politische Praxis. Daher führt für Kommunist:innen kein Weg daran vorbei, sich die dialektische Logik anzueignen. Der große Verdienst von Fogarasi liegt darin, dass er mit der “Dialektischen Logik“ offene Fragen beantwortet und eine wichtige Lücke in der Ausarbeitung des Marxismus-Leninismus schließt. Das ist zugleich der einzige „Nachteil“ des Buches: es ist keine Einführung oder populäre Darstellung. Daher am besten kollektiv erarbeiten.

1Autorenkollektiv, „Grundlagen der marxistischen Philosophie“, Dietz Verlag 1959, S. 173

2Für zahlreiche Beispiele vgl. Lenin, „Materialismus und Empiriokritizismus“, LW 14.

3Siehe dazu Einschub „Beliebte Denkfehler im Umgang mit komplexen Prozessen“.

4Pawlow, Sämtliche Werke; zitiert nach: B. Fogarasi: „Dialektische Logik mit einer Darstellung erkenntnistheoretischer Grundbegriffe“, Aufbau Verlag 1955, S. 118f.

5Ebd.

6Siehe Einschub 2 über Religion.

7Engels, „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“, MEW 21, S. 276

8Lenin, „Zur Frage der Dialektik“, LW 38, S. 344

9Engels, „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“, MEW 21, S. 274

10Ebd.

11Ein Beispiel hierfür ist der Logistikkonzern UPS, wie es dokumentiert wurde im Kapitel: „Der Fall UPS – Paketaustragen ließ die Scientology-Kasse klingeln“, in: Kleinmann, „Psychokonzern Scientology”, Bietigheim-Bissingen 2004, S. 115 ff.

12Kommunistischer Aufbau, „Die Bewegungen PEGIDA/HoGeSa und die Perspektiven des proletarischen Antifaschismus“, http://komaufbau.org/die-bewegungen-pegidahogesa-und-die-perspektiven-des-proletarischen-antifaschismus/

13Autorenkollektiv, „Grundlagen der marxistischen Philosophie“, Dietz 1959,
S. 333

14Engels, „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“, MEW 21, S. 267 f.

15Von dem hier definierten marxistischen Inhalt des Begriffs ‚Metaphysik‘ gilt es die bürgerliche Verwendung des Begriffs zu unterscheiden. Metaphysik wird von bürgerlichen Wissenschaftler:innen und Autor:innen in dem Sinne verwendet, dass damit die Bereiche „jenseits der Physik“ bezeichnet werden, also jene Gebiete die angeblich nicht durch die exakten Wissenschaften erkannt werden können.

16Stalin: „Über dialektischen und historischen Materialismus”, in: „Geschichte der KPdSU(B)“, Verlag Roter Morgen, S. 133

17Engels, „Dialektik der Natur“, MEW 20, S. 499

18Wer sich für das Thema näher interessiert, kann z.B. Einsteins populär verfasste Schrift „Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie” dazu lesen.

19Stalin: „Über dialektischen und historischen Materialismus”, in: „Geschichte der KPdSU(B)“, Verlag Roter Morgen, S. 133

20Ebd., S. 134 ff.

21Siehe dazu die Schulung zum Historischen Materialismus.

22Stalin, „Über dialektischen und historischen Materialismus”, in: „Geschichte der KPdSU(B)“, Verlag Roter Morgen, S. 137

23 Siehe dazu die Schulung zum Sozialismus, wo ausgeführt wird, welche inneren Widersprüche wie – nämlich durch die Übergangsform des Revisionismus – zur letztendlichen Wiederherstellung des Kapitalismus geführt haben.

24Dietrich Dörner, „Die Logik des Misslingens – Strategisches Denken in komplexen Situationen“, RoRoRo Verlag 2011, S. 158

25Ebd., S. 158

26Ebd., S. 160

27Ebd., S. 189

28K. Mainzer, „Komplexität“, Wilhelm Fink Verlag 2008, S. 7

29Ebd.

30Vgl. hierzu Bela Fogarasis Schrift zu den idealistischen Deutungen der Quantenphysik: Fogarasi, „Kritik des physikalischen Idealismus“, Aufbau Verlag 1953

31Engels, „Dialektik der Natur“, MEW 20, S. 480