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‚Fluchtursachen bekämpfen‘; Erfolgreiche Aktionswoche vom 3.-9. Oktober

signal-2016-10-07-120647Täglich wird in Deutschland auf allen Medienkanälen, auf dem Arbeitsplatz, in der Uni und den Kneipen über das Thema „Flüchlinge“ gesprochen. Viel zu kurz kommt dabei die Diskssion WARUM die Menschen überhaupt aus ihren Ländern fliehen.
Wir haben uns zum Ziel gesetzt genau das zum Thema zu machen: die Fluchtursachen.
Unter dem Motto „Fluchtursachen bekämpfen“ haben verschiedene revolutionäre migrantische und nicht-migrantische Organisationen Aktionen in ganz Deutschland eine Aktionswoche organisiert.

In NRW gab es nach einer Auftaktdemonstration in Hamm am Montag (3.10) sowie verschiedenen kreativen Flugblatt und Nachtaktionen am Mittwoch (5.10), eine große gemeinsame Kundgebung am Samstag auf dem Kölner Rudolfplatz (8.10). Vier Stunden lang gab es Redebeiträge verschiedener revolutionärer Organisationen, Flugblattverteilen und revolutionäre Musik, unter anderem von S. Castro. Auch wir haben uns als Organisation unter anderem mit einer Rede zu den sog. „Wirtschaftsflüchtlingen“ beteiligt. (Siehe weiter unten). Zeitgleich hat eine kleine Kundgebung in Duisburg stattgefunden.

Auch in Berlin haben verschiedene GenossInnen eine Kundgebung am Freitag, den 8.10 am Kotti durchgeführt um einen klaren antiimperialistischen Ausdruck in der Flüchtlingskrise zum Ausdruck zu bringen.

Daneben haben noch verschiedene weitere Aktionen deutschlandweit stattgefunden die unter facebook.com/fluchtursachen eingesehen werden können.
Nun steht die Mobilisierung für die Großdemonstration am 29.10 in Nürnberg an!

Wir beteiligen uns an der Organisation von Bussen aus NRW und Berlin, wer interesse hat kann sich unter ‚info@komaufbau.org‘ melden.

Lasst uns gemeinsam zeigen, dass es neben Merkel und AfD noch eine weitere Stimme gibt, die des gemeinsamen Kampfs von Flüchtlingen und den anderen unterdrückten in Deutschland gegen dieses System!

 

Hamm (3.10)

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Köln (5.10)

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Berlin (7.10)

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Köln (8.10)

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Duisburg (8.10)

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Der Balkan – ein Protektorat des deutschen Imperialismus

Diejenigen Teile der Politiker, die sich als Freunde der Flüchtlinge, als menschlich, als demokratisch präsentieren wollen, machen immer wieder einen sehr großen Unterschied zwischen verschiedenen Arten von Geflüchteten, sie unterscheiden in Kriegs- und sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge“. Über ihre Zeitungen verbreiten sie die Geschichten von Menschen, die ihre Heimat illegal verlassen, Stacheldrähte, Flüsse und tausende Kilometer überwinden, nur um der Armut, die sie zuhause ertragen mussten zu entfliehen. Sie fliehen, weil sie die Hoffnung haben, in Deutschland würdig leben zu können.

Wer aus Hunger oder Armut flieht, hat kein Recht in Europa zu bleiben, das ist ihre Logik.

Die Protestierenden Geflüchteten haben bei ihren Protesten immer sehr klar geäußert, dass „Sie hier sind, weil Deutschland ihre Länder zerstört hat“. Das ist offensichtlich, oder? Es ist offensichtlich, dass deutsche Soldaten Afghanistan besetzt halten, dass deutsche Waffen im Syrienkrieg verwendet werden, um die Interessen der NATO durchzusetzen. Aber was ist mit den Herkunftsländern der angeblichen Wirtschaftsflüchtlinge? Hat Deutschland diese Länder etwa nicht auch zerstört?

Als Beispiel wollen wir uns etwas länger mit Jugoslawien beschäftigen. Es ist ein wichtiges Beispiel, das eine große symbolische Bedeutung hat. Der Jugoslawienkrieg war der erste Krieg, seit dem 2. Weltkrieg, an dem Deutschland wieder aktiv als Kriegstreiber teilgenommen hat. Erstmals seit dem 2. Weltkrieg hat Deutschland wieder gemeinsam mit seinen militärischen Verbündeten aus der NATO um einen größeren Einfluss gekämpft – und zwar auf dem Balkan. Und die meisten der sogenannten „Wirtschaftsflüchtlinge“ stammen heute aus dieser Region.

Der Zerfall Jugoslawiens beginnt um das Jahr 1991; Jugoslawien war ein Staat mehrerer Nationen, wie der Kroatischen, Slowenischen, serbischen und bosnischen Nation. Muslime, orthodoxe und katholische Christen lebten jahrzehntelang gemeinsam in Jugoslawien.

Ab dem Jahr 1991 brach ein Bürgerkrieg in Jugoslawien aus, bei dem verschiedene Nationen ihre Unabhängigkeit als Staaten erklärten; führend waren dabei die Faschisten und Nationalisten in der kroatischen und serbischen Regierung, die UCK (gespr. :Uh-Tsche-Ka) oder muslimische Fundamentalisten, die schon damals in Bosnien kämpften.

Tatsächlich haben viele Führungspersönlichkeiten des faschistischen IS damals ihre ersten Schritte in den bosnischen Kampfverbänden gemacht. Allerdings wurden sie nicht wie heute von den USA bombardiert, sondern von ihnen mit Waffen beliefert und vom CIA ausgebildet. Die kroatischen Faschisten wurden von Deutschland und Österreich mit Waffen beliefert und ausgebildet; und die kroatische und slowenische Regierung wurden vom deutschen Außenministerium darin bestärkt ihre Unabhängigkeit zu erklären und militärisch durchzusetzen.

Wir sehen das Jugoslawien ein Musterbeispiel der brutalen und rücksichtslosen Strategien der NATO-Imperialisten ist. Seit 1991 hat der Balkan einen Bürgerkrieg erlebt, in dem verschiedene Faschisten und Nationalisten sich in paramilitärischen Freiwilligenverbänden organisierten und einander schlachteten, gelitten haben darunter vor allem die Massen. Ein bekanntes Beispiel ist das Massaker von Srebrenica in Bosnien, das serbische Faschisten an der bosnischen Bevölkerung verübten – obwohl es nicht das einzige geblieben ist. Nicht ganz so bekannt ist, dass die UNO Truppen, die bereits im Land waren, diesem Massaker tatenlos zusahen und damit der NATO und der EU später einen Vorwand lieferten Bosnien bis heute militärisch besetzt zu halten und mit einer Kolonialverwaltung zu kontrollieren.

Der Krieg wurde 1995 vorerst damit beendet, dass Jugoslawien aufgeteilt wurde in sechs verschiedene Länder; Bosnien wurde von NATO und EU Truppen besetzt und eine Kolonialverwaltung wurde eingerichtet.

Wenige Jahre später im Jahr 1999 setzte die NATO diese Politik fort, in dem sie unter dem Vorwand einen Völkermord im albanisch besiedelten Kosovo vermeiden zu wollen, Serbien bombardierten. Heute ist klar und auch von hochrangigen deutschen Militärs der damaligen Zeit bezeugt, dass 1999 im Kosovo keine „humanitäre Katastrophe“ unmittelbar bevorstand, diese Katastrophe wurde vielmehr erst durch die Bomben der NATO geschaffen.

Nach dem Motto „Teile und Herrsche“ setzten die Imperialisten alles daran jedes einzelne dieser neu enstandenen Länder von ihnen abhängig zu machen. Den vom Krieg zerstörten Ländern wurden Kredite gewährt aber unter der Bedingung, dass sie durch Reformen optimale Anlagemöglichkeiten für ausländische Kapitalisten vorallem aus Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern schaffen sollten. Das bedeutet, dass die Löhne gesenkt und die Sozialleistungen zusammengekürzt wurden. Die verbliebene Industrie und die Banken aus der jugoslawischen Zeit wurden privatisiert und zu Spottpreisen verkauft. Noch heute sieht man überall auf dem Balkan diese verlassenen Fabrikgebäude, in denen zum Teil noch Produkte auf dem Boden verstreut liegen, aber alle Maschinen verschwunden sind. Den Käufern aus dem Ausland konnte es nicht schnell genug gehen, die Industrie dieser Länder, die sie zum Schnäppchenpreis gekauft hatten aus dem Land zu schaffen. Andere Fabriken wurden nun von deutschen, österreichischen, amerikanischen, russischen oder chinesischen Konzernen weiter betrieben; allerdings zu den erzwungenen niedrigeren Löhnen. In diesen Jahren begann somit die Entwicklung, deren Ergebnisse wir heute sehen: Auf dem ganzen Balkan leben die Menschen in krasser Armut und werden hauptsächlich von ausländischen Konzernen ausgebeutet, die den Reichtum, den sie schaffen aus dem Land ziehen.

Sehen wir uns die heutigen Lebensbedingungen auf dem Balkan genauer an. Ein Genosse, der aus Serbien stammt, hat uns einen Brief geschrieben, in dem er die Bedingungen unter denen seine Familie und seine Freunde in Serbien leben schildert. Seine Eltern sind selbst als sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge“ nach Deutschland gekommen:

„Vielen Leuten in Serbien fällt es extrem schwer ständige Arbeit zu finden. Noch schwieriger, Arbeit mit einem Arbeitsvertrag. Meistens arbeiten die Menschen, de nicht in Großstädten leben, in der Landwirtschaft, in der Gastronomie, auf dem Bau oder als selbstständige Kleinunternehmer. Es kommt immer wieder vor, dass man Monate lang keine Arbeit findet und so müssen die Menschen ihr hart erarbeitetes Geld über mehrere Monate aufteilen. Als Beispiel stelle ich euch die Situation eines Freundes dar. Wie es so oft der Fall ist, findet man meist Arbeit über die Familie. Mein Freund ist über seinen Onkel auf einen Job in einem Restaurant gekommen. Dort hat er ca. 2-3 Wochen als Aushilfe in der Küche gearbeitet. In diesen zwei Wochen hat er täglich bis zu 18 Stunden Arbeit geleistet. Für die 18 Stunden am Tag bekam er 2000 serbische Dinar, umgerechnet sind das ungefähr 16-18 Euro. Während diesen zwei bis drei Wochen hat sich mein Freund so kaputt gearbeitet, dass er dadurch körperlich und psychisch am Ende war. Er hat nun dauerhaft Schwindelgefühle, Müdigkeit und Gelenkschmerzen.

Am Ende hat er nur 2/3 seines Lohns ausbezahlt bekommen.

Ein anderes Beispiel das auch nicht selten vorkommt sollte auch vorgestellt werden. Ein Bekannter von mir der in einer Kanzlei beschäftigt ist geht schon seit Monaten zur Arbeit ohne dafür Geld zu bekommen. Er ist gezwungen, weiter zur Arbeit zu gehen, damit er die Mindestarbeitszeit erreicht, um später seine Rente ausbezahlt zu bekommen.

Wenn man z.B. in den Supermarkt geht oder in einen Klamottenladen zahlt man meist ähnliche Preise wie in Deutschland. Jedoch ist das bei einem Durchschnittslohn von 150-250 Euro extrem teuer.

Alle wünschen sich einen Neuanfang, meist ist ihre Hoffnung irgendwo nach Westeuropa zu kommen, zum Beispiel nach Deutschland. Viele wollen diesen Umständen entfliehen und werden hier als „Wirtschaftsflüchtlinge“ bezeichnet.“

Nehmen wir noch eine andere Stimme.

Viele von euch haben von den Revolten in Bosnien im Februar 2014 gehört, und einigen sind vielleicht noch die Bilder von brennenden Regierungsgebäuden im Kopf. Einige unserer Genossen haben eine Delegation gebildet und diejenigen besucht, die sie damals in Brand gesteckt haben. In einem Interview vor Ort haben sie uns erklärt, warum die Wut explodiert ist. Sie berichteten uns folgendes:

Es gab eine Vorgeschichte zu den Protesten. Etwa 150 Arbeiter aus einer privatisierten und danach ruinierten Fabrik, haben sich schon seit Jahren immer wieder in Tuzla getroffen, um zu fordern, dass ihnen ihr Lohn endlich ausgezahlt wird. Immer wurden sie ignoriert. […]

So ist es mehr als ein Jahr gelaufen. Die Arbeiter haben sich jeden Mittwoch in Tuzla versammelt. Für den 7. Februar 2014 haben dann die Arbeiter um Unterstützung für ihren Protest gebeten, vor allem über Facebook. Es gab keinen so großen Andrang, da waren nur etwa 150 Arbeiter und vielleicht 150 Unterstützer, unter denen auch wir waren. Man ist zunächst vor das Gerichtsgebäude gezogen, um die Verurteilung derer zu fordern, die die Unternehmen privatisiert haben, die nun pleite sind. Danach ist man weiter zum Regierungsgebäude gegangen, dort wurden man schon gebührend erwartet. Spezialeinheiten der Polizei warteten dort. Die politisch Verantwortlichen wollten auch gar nicht mit den Arbeitern reden. An diesem Tag wurde zum ersten Mal verlangt, dass man nicht nur Arbeiterdelegationen empfängt, sondern auch andere Delegationen der Studenten, Veteranen etc., um konkret über Möglichkeiten der Veränderung sprechen zu können. Da die Delegationen nicht eingelassen wurden, sind die Protestierenden gewaltsam in das Regierungsgebäude eingedrungen, doch die Spezialeinheiten haben verhindert, dass man bis zu den Politikern vordringen konnte. In der Zwischenzeit hat die Polizei weitere Einheiten hinzu geholt, so dass nun doppelt so viele Polizisten wie Demonstranten vor Ort waren. Sie haben versucht gewaltsam die Demo aufzulösen. Die Polizei hat also angegriffen und das hat dazu geführt, dass man Autos und Reifen angezündet hat. Auch andere Leute haben das gesehen, sind dazu gekommen und haben sich solidarisiert. Die Brutalität der Polizei an diesem Tag war sehr groß. Sie haben auch Tränengas eingesetzt, obwohl überall in der Umgebung Schulen sind und haben so auch viele Schüler getroffen. Sie haben auch einen 17 jährigen Jungen schwer Misshandelt und seinen Kopf immer wieder gegen eine Häuserwand geschlagen. Natürlich war das sehr schnell in allen Medien. Die Taktik der Polizei war es, die Menschen so einzuschüchtern, dass sie sich nicht trauen würden weiter zu demonstrieren.

Am Tag darauf kamen jedoch schon über 1000 Menschen, um sich an dem Protest zu beteiligen. Auch die Polizei hatte noch mehr Einheiten, auch aus anderen Städten in Bosnien, zusammengezogen und versuchte mit noch mehr Brutalität die Proteste zu zerschlagen. Die Polizei ging auch gegen viele unbeteiligte Menschen gewaltsam vor und verletzte viele.

Am dritten Tag waren in Tuzla schon 12-15.000 Menschen auf der Straße und es gab in weiteren 32 Städten Proteste in Solidarität mit den Demonstranten in Tuzla und mit eigenen Forderungen der dortigen Bevölkerung. Da es nun in vielen Teilen Bosniens zu großen Protesten und Auseinandersetzungen kam, konnte die Polizei ihre Spezialkräfte nicht mehr in Tuzla konzentrieren, sondern musste sie auf das ganze Land verteilen. An diesem Tag haben die Massen in Tuzla, Sarajevo und drei weiteren Städten die Regierungsgebäude gestürmt, mit Steinen beworfen und zum Teil angezündet. An diesem Tag gab es bereits einen organisierten Kampf gegen die Polizei, an dem auch viele Veteranen aus dem Bürgerkrieg teilgenommen haben.

An diesem Tag hat die Polizei in Tuzla kapituliert, sie hat es aufgegeben die Regierungsgebäude zu schützen, hat ihre Ausrüstung nieder gelegt und sich vor den Demonstranten versteckt. […] In den folgenden Tagen sind 25 Minister und 4 Premierminister in den verschiedenen Regionen Bosniens zurückgetreten. Doch nachdem die Polizei kapituliert hat und die politischen Führer das Land verlassen haben und nach und nach Minister zurücktraten, wusste man nicht was man machen sollte. Darauf war man nicht vorbereitet. Dafür gab es keinen Plan.

Und so ist der Zustand unseres Landes gleich geblieben: Bosnien-Herzegowina ist noch immer kein eigenständiges und souveränes Land. Wir leben hier in einem Protektorat, alle wichtigen Entscheidungen werden von außen diktiert. Sollten irgendwelche politischen Entscheidungen nicht im Sinne der Imperialisten oder regionalen Mächte sein, dann werden sie diese einfach durch den eigentlichen Machthaber im Land, den hohen Repräsentanten der UN, den Österreicher Valentin Inzko, zurückgenommen. Inzko ist dabei mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet, so kann er nicht nur selber Gesetze erlassen und aufheben, sondern auch alle gewählten Parlamentarier und Minister entlassen.

Ein zweiter Schalthebel der Macht, liegt beim Internationalen Währungsfond (IWF) von dessen Krediten das Land und der Staatsapparat vollkommen abhängig ist. Ohne die dauerhafte Freigabe von neuen Geldern können weder die nächsten Renten, noch die Löhne der Staatsbediensteten ausgezahlt werden. So ist das Land in einer vollkommenen Abhängigkeit. Hinzu kommt die noch immer bestehende Besatzung des Landes durch Soldaten der EU-Staaten (EUFOR) und die geheimdienstlichen Tätigkeiten der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) und der Geheimdienste zahlreicher Länder.

Fassen wir zusammen:

Die deutsche Regierung schämt sich nicht, die verarmten Menschen vom Balkan, die nach Deutschland fliehen als „Wirtschaftsflüchtlinge“ und „Asylbetrüger“ zu beschimpfen. Die deutsche Regierung schämt sich nicht, unerwähnt zu lassen, dass diese Menschen aus Ländern stammen, die Deutschland mit seinen militärischen Verbündeten zerstört hat und die Deutschland zum Teil noch heute besetzt hält.

Wo sollen wir die Verantwortung suchen für das Elend auf dem Balkan? Wenn nicht bei den Mächten die dorthin Soldaten, Kredite, Kapital und ihre Waren schicken. Wo, wenn nicht bei den Mächten, die diese Länder unter ihre Kolonialverwaltung gestellt haben?

Fakt ist, die sogenannten „Wirtschaftsflüchtlinge“ fliehen vor den Verbrechen des deutschen Imperialismus – vor den mit Bomben und den mit sauberen Verträgen verübten Verbrechen an den Völkern des Balkans. In Tuzla haben sich die Menschen 2014 erhoben und wir haben gerade gehört, welche Macht sie innerhalb von Tagen entwickelt haben. Beim nächsten Aufstand werden deutsche Soldaten zwischen ihnen und ihren Forderungen stehen.

Tod dem deutschen Imperialismus, damit wir leben können!

Der deutsche Imperialismus kämpft überall auf der Welt darum, seine Herrschaft über die unterdrückten Völker aufrecht zu erhalten und auszuweiten. Die deutsche Nationalfahne ist ebenso wie die Fahne der USA, die Fahne Russlands oder anderer Imperialisten ein Symbol der imperialistischen Herrschaft. Sie symbolisiert nicht nur die Ausbeutung der unterdrückten Völker, sondern auch den hochgerüsteten Staatsapparat, der der ArbeiterInnenklasse in Deutschland gegenübersteht. Erst wenn wir unsere Roten Fahnen auf dem Reichstag hissen, werden wir dieses Elend beenden.

Darum hat anlässlich der deutschen Nationalfeierlichkeiten am 3. Oktober ein Bündnis aus verschiedenen revolutionären Organisationen ein gemeinsames Video erstellt, das wir hier dokumentieren:

Tod dem deutschen Imperialismus, damit wir leben können!

 

Antikapitalistischer Block auf der Anti-TTIP Demo in Köln

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Am 17.09. hat sich auf der Anti-TTIP Demo in Köln ein antikapitalistischer Block mit folgenden Organisationen gebildet: Antikapitalistische Aktion Bonn, ADHK, Bonner Jugendbewegung, Kommunistischer Aufbau, Revolutionärer Jugendbund, Rote Aktion Köln, Trotz Alledem, Socialist Youth Movement, YDG und Young Struggle.

Der Block war stellte ein wichtiges Gegengewicht zu den Hauptrednern der Demo aus den oberen Gewerkschafts- und Parteietagen da, die statt sich klar gegen die sogenannten „Freihandelsabkommen TTIP und CETA“ zu stellen in ihren Beiträgen deutlich machten, dass ein „anderes“ TTIP oder CETA durchaus akzeptabel sei.

Mit Parolen, Transparenten und kämpferischen Reden machten die GenossInnen im Block deutlich, dass diese Handelsabkommen nur eine logische Konsequenz der imperialistischen Handelspolitik sind und es nicht ausreicht, solche Abkommen zu verhindern, sondern der Kampf gegen den Kapitalismus als ganzes geführt werden muss.

 

Eine Genossin hielt während der Demonstration im Namen unserer Organisation Kommunistischer Aufbau folgende Rede:

Wir nehme heute als antikapitalistischer Block an dieser Demonstration teil, um deutlich zu machen: Den „gerechte Welthandel“ für den hier demonstriert wird, wird es im Kapitalismus nicht geben.

Im Kapitalismus wird der Weltmarkt immer ein Kampffeld bleibe, auf dem die mächtigsten Kapitalisten der Welt miteinander konkurrieren. Denjenigen, die zu schwach sind, um bei diesem Wettkampf mitzumachen bleibt nichts anderes, als ökonomisch betrachtet zum Anhängsel der Mächtigsten zu werden.

Als Kommunisten müssen wir nicht nur das sagen, sondern auch sagen, dass es konkrete Alternativen gibt und wie diese aussehen.

In erster Linie denke ich dabei an die sozialistische Sowjetunion. Was bedeutet die Sowjetunion? Ich denke, sie bedeutet 35 Jahre praktische Erfahrung beim Aufbau einer anderen Gesellschaft. Das sind Erfahrungen, mit denen wir uns beschäftigen müssen und mit denen wir aufzeigen können, dass der Sozialismus keine Utopie, kein Traum ist, sondern Realität geworden ist und auch wieder zur Realität werden wird.

Das gilt auch für den Bereich der Handelspolitik. Wenn es überhaupt jemals soetwas wie einen „gerechten Welthandel“ gab, dann war das der Außenhandel, den die Sowjetunion mit anderen Ländern betrieben hat. Am intensivsten war dieser Handel natürlich unter den sozialistischen Ländern. Nach dem 2. Weltkrieg, sind sehr viele in Asien und Osteuropa hinzugekommen, wie China, Vietnam, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Tschechien, Polen und die DDR. Diese Länder gründeten den Rat für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, in dem Prinzipien für den Handel untereinander festgelegt wurden. Die industriell weiterentwickelten Länder wie die Sowjetunion, die DDR oder Tschechien übernahmen die Rolle, dass sie die weniger entwickelten Länder im Aufbau einer eigenen Industrie unterstützten, indem sie die dafür notwendigen Maschinen und Materialien exportierten. Daneben wurden auch technische Experten und wissenschaftliche Erkenntnisse zur Verfügung gestellt – und zwar kostenlos! Die Handelsbeziehungen und Handelspreise zwischen zwei Ländern wurden in Vertragsverhandlungen zwischen diesen Ländern festgesetzt.

All das ist kein Vergleich zur heutigen kapitalistischen Realität, in der die imperialistischen Mächte sich bemühen, die Märkte mit ihren Waren zu überfluten, und ihre Konkurrenz möglichst unschädlich zu machen. Die Preise sind schon lange nicht mehr so festgesetzt, dass beim Handel zwischen zum Beispiel Deutschland und abhängigen Ländern gleiche Werte ausgetauscht werden. Deutschland exportiert seine Industrieerzeugnisse zu hohen Preisen kann aber durchsetzen, dass die abhängigen Länder keine eigene Industrie aufbauen können und somit abhängig bleiben. Was ihnen bleibt sind Rohstoffe oder landwirtschaftliche Produkte zu Spottpreisen zu verkaufen.

Es ist leider Teil der Geschichte, dass diese Phase sozialistischer Handelspolitik viel zu kurz gedauert hat. In der Sowjetunion und auch in anderen sozialistischen Ländern hat sich in den 40er und 50er Jahren eine neue Ausbeuterklasse aus der staatlichen Bürokratie entwickelt und spätestens 1956 auch die politische Macht ergriffen. Sie haben schnell die Prinzipien einer sozialistischen Wirtschaftspolitik beerdigt. Etwas anderes kann man von einer neuen Kapitalistenklasse auch nicht erwarten. Stattdessen wurde mit schönen Phrasen wie „sozialistischer Arbeitsteilung“ behauptet, dass es nicht mehr notwendig wäre, dass die weniger entwickelten sozialistischen Länder eine eigene Industrie aufbauen. Das Ergebnis war schnell, dass die Sowjetunion die Rolle der heutigen Imperialisten spielte und die anderen Länder früheren sozialistischen Ländern zu abhängigen Anhängseln wurden, die die Sowjetunion mit Rohstoffen beliefern sollten. Das ganze ist soweit gegangen, dass in den 70er Jahren die Sowjetunion Industriewaren wie Eisen nach Tschechien zum doppelten Preis verkaufte wie in die westlichen kapitalistischen Länder.

Aber diese Erfahrung und dass wir die Sowjetunion als ersten sozialistischen Staat der Welt verloren haben, muss nicht heißen, dass wir aufgeben, sondern dass wir aus dieser Entwicklung leeren ziehen und beim nächsten Mal den Sozialismus erfolgreich aufbauen ohne, dass wir uns die Macht nochmal nehmen lassen.

Erfolgreiches erstes AUFBAU-Camp!

Kommunismus ist keine Utopie – lasst sie uns erkämpfen!
 
Auf einem wunderschönen Areal hat das erste Camp des Kommunistischen Aufbaus stattgefunden. Das Experiment ist gelungen: der Revolution treu gebliebene ältere GenossInnen und junge stürmische Herzen, aus der BRD und der Türkei und Kurdistan, aus dem Westen und Osten Deutschlands, aus dem Norden und Süden, aus verschiedenen Organisationen sind zusammen gekommen. Drei Tage lang haben mehrere dutzend Genossinnen und Genossen gemeinsam gelacht, gesungen, sich gebildet und weitere Pläne für den Aufbau der revolutionären Bewegung in Deutschland geschmiedet.
 
Am Freitag haben wir uns mit der Funktion des Faschismus für die Herrschenden heute auseinandergesetzt und welche antifaschistische Strategie wir dagegen entwickeln können. In einem Rollenspiel konnten wir sehen, dass die faschistische Ideologie heute sich in neuer Form präsentiert, gegen dessen Argumente wir Kommunisten uns noch intensiv vorbereiten müssen.
Am Abend haben wir uns mit den vergangenen und anstehenden Kämpfen im Betrieb auseinandergesetzt und einen konkreten Einblick über den Kampf gegen Unternehmer und auch gegen gelbe Gewerkschaften bekommen.
 
Der Samstag war vollständig der Frage gewidmet was kämpfende Frauen sind und wie kämpfende Frauen aktiv werden können. Ein praktisches Ergebnis war die vollständige Übernahme der Nachtwachenschicht durch Genossinnen.
Am Abend haben wir mit einer Gedenkveranstaltung damit begonnen das zerrissene Band unserer kommunistischen Tradition in Deutschland wieder zusammenzuflicken und unseren kämpfenden Vorfahren sowie revolutionären Gefallenen gedacht, die wie Ivana Hoffmann eine von uns waren.
 
Nach einer kurzen Diskussion über die Perspektiven für klassenkämpferische Praxis in der Pflege haben wir am Sonntag morgen das Camp gemeinsam abgebaut, aufgeräumt und ausgewertet. Besonders positiv wurde von allen Beteiligten die Offenheit zwischen den verschiedenen GenossInnen auch über Organisationsgrenzen hinweg sowie die solidarische Atmosphäre hervorgehoben. Wenn wir als revolutionäre gemeinsam zusammenkommen, können wir so ein klein wenig den Duft der Freiheit riechen, den wir in einer kommunistischen gemeinschaflichen Gesellschaft leben werden.
 
Wir bedanken uns herzlich bei den GenossInnen und Organisationen, die an dem Camp teilgenommen und sich eingebracht haben. Wir bedanken wir uns bei allen die mit ihrer Arbeit dieses Camp möglich gemacht haben für ihre revolutionäre Unterstützung.
Auf weitere gemeinsame Zusammenkünfte, Erkenntnisse und Kämpfe auf der Straße!

Kommunismus #6 – August 2016

Download der Zeitung als .pdf HIER

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Liebe FreundInnen und GenossInnen,

wie angekündigt haltet ihr nun nach einer etwas längeren Pause die sechste Ausgabe der Zeitschrift Kommunismus in euren Händen.

Den meisten Raum haben wir in dieser Ausgabe dem Thema Faschismus eingeräumt. Wir sehen einen großen Klärungsbedarf sowohl in der politischen Widerstandsbewegung als auch in den vermeintlich „unpolitischen“ Massen bezüglich dieser Frage. Der AfD wird dabei zu Recht sehr viel Aufmerksamkeit zuteil. Dennoch reicht die Vorstellungskraft vieler GenossInnen noch nicht aus, um die Ideologie dieser Partei als das zu erkennen, was sie ist: Moderner Faschismus. Im ersten Artikel widmen wir uns deswegen ausführlich der Analyse dieser Partei. Der Aufstieg der neuen Rechten ist weder ein Prozess, der erst in den letzten Jahren in Deutschland begonnen hätte, noch einer, der sich auf Deutschland beschränkt.

Der nächste Artikel über die revolutionäre Vorabenddemo am 1. Mai in Köln beleuchtet die Bemühungen der Bourgeoisie, das Bewusstsein der Bevölkerung in ihrem Sinne zu kontrollieren von einer ganz anderen, viel praktischeren Seite. Anhand einer Episode aus unserer Massenarbeit wollen wir eine Überlegungen zum Verhältnis von KommunistInnen und Massen zur Diskussion stellen.

Mit einer Filmkritik zur ARD-Fernsehproduktion „NSU: Mitten in Deutschland“ probieren wir uns im dritten Artikel an einer journalistischen Textsorte und wollen mit euch anhand dieses konkreten Beispiels unsere Gedanken zu den Anforderungen an moderne imperialistische Propaganda teilen.

Eine der häufigsten Rückmeldungen auf die letzte Ausgabe unserer Zeitschrift war, dass mit den Artikeln zur Situation der proletarischen Frauen unserer Arbeit eine wichtige Seite hinzugefügt wurde, die bisher gefehlt hatte. Wir haben das als Ermutigung verstanden, auf diesem Weg weiter zu gehen und freuen uns, dass die in dieser Ausgabe gleich zwei Artikel der neu gegründeten „Initiative Organisierte Pflege“ veröffentlicht werden können. Die KollegInnen dieser Gruppe haben sich bemüht in einem Interview mit zwei PflegerInnen einen lebendigen Eindruck von den Arbeitsbedingungen, dem Arbeitsalltag und den besonderen Problem der PflegerInnen zu geben. In einem Begleitartikel beleuchten sie von einem Klassenstandpunkt aus, die unüberwindlichen Widersprüche des Gesundheitssystems im Kapitalismus.

Unsere Zeitung endet dann mit einem zweiten Interview mit Vertretern der neu gegründeten PPDS (Watad), die aus einem Einheitsprozess der tunesischen KommunistInnen hervorgegangen ist. Es versteht sich fast von selbst, dass wir diese Erfahrung an die deutsche kommunistische Bewegung weitertragen, um zu ermöglichen, dass alle Revolutionäre sich mit dem Vorgehen der tunesischen GenossInnen auseinandersetzen können und daraus Impulse für die Lösung der Einheitsfrage in Deutschland ziehen können.

Wir wünschen euch wie immer viel Spaß beim Lesen und rufen euch nochmals herzlich zu Kritik in jeglicher Form auf, um unsere Arbeit zu verbessern.

Redaktionskollektiv ‚Kommunismus‘

August 2016

Faschismus reloaded – die AfD und ihre Funktion für das deutsche Kapital

Mit der „Alternative für Deutschland“ gibt es in der BRD seit 2013 eine Partei rechts von CDU und CSU, die das Potential hat, sich langfristig und stark in der politischen Landschaft zu etablieren. Ihr Aufstieg kam scheinbar „wie aus dem Nichts“ und erreichte mit den Wahlergebnissen in Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg im Frühjahr seinen vorläufigen Höhepunkt. Man muss kein Pessimist sein, um vorherzusagen, dass diese Partei 2017 auch den Einzug in den Bundestag schaffen wird. Mehr noch: Der Aufstieg der AfD wird begleitet von der aufkeimenden rechten Massenbewegung Pegida und dem Erstarken des militanten Faschismus (Hogesa, Terror gegen Flüchtlingsunterkünfte; Angriffe auf linke Strukturen usw.). Sie hat eine auffallend dominierende Rolle in den Medien. Ihr Personal ist in der deutschen Bourgeoisie bestens verankert. Sie unterhält gute Verbindungen zum russischen Staat. Ihr Aufstieg ist kein nationales Phänomen, sondern fällt international zusammen mit Trump in den USA, Le Pen in Frankreich, dem Ausstieg Großbritanniens aus der EU sowie den rechten Regierungen in Polen und Ungarn.

Für jeden Antifaschisten in der BRD stellen sich damit viele Fragen: Was hat die AfD, was NPD, DVU, Republikaner, Schill-Partei und die „Pro“-Bewegung nicht hatten? Woher kommt ihr Erfolg? Ist die AfD eine faschistische oder eine „rechtspopulistische“ Partei (und was soll letzteres überhaupt sein)? Was ist von dieser Partei zu erwarten? Wie kann es sein, dass sie Wähler aus allen politischen Lagern, inklusive der Linkspartei, anzieht? Ist der Spuk vorbei, wenn die Flüchtlingsproblematik geklärt ist? Und: Wie muss man ihrem Aufstieg entgegentreten? Muss man mit der AfD reden und sie verstehen, wie es die Medien und viele Sozialdemokraten raten?

Imperialismus und Faschismus

Um keinen unnötigen Spannungsbogen in diesem Artikel zu kreieren, möchten wir eine der oben aufgeworfenen Fragen an dieser Stelle direkt beantworten und klarstellen, dass wir die AfD für eine faschistische Partei halten und alle diesbezüglichen Relativierungen („faschistoid“, „rechtspopulistisch“, usw.) als falsch und gefährlich ansehen. Warum wir dies so sehen, werden wir im folgenden entwickeln.

Den Begriff „faschistisch“ verwenden Kommunisten nicht als moralisches Etikett, um eine Gesinnung oder eine Bewegung effektvoll als besonders verwerflich zu kennzeichnen (was Faschisten zweifelsohne sind). Die faschistische Bewegung, die faschistische Ideologie, faschistische Politik und faschistische Staaten sind vielmehr politische Erscheinungen, die der Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium gesetzmäßig hervorbringt und die es wissenschaftlich hinsichtlich ihrer Rolle im Klassenkrieg zu erfassen gilt1. Zusammengefasst lässt sich sagen: Die faschistische Bewegung ist der ideologische, politische und bewaffnete Vortrupp der aggressivsten Teile des imperialistischen Finanzkapitals.

Die Frage ist also: Welche Klasse vertritt die AfD?

Um diese Frage zu beantworten, ist es erstens notwendig, ihre Programmatik und deren Wurzeln zu betrachten, insbesondere also zu verstehen, für welche Ideologie die AfD steht bzw. welche Ideologie sie in die Massen trägt und wo diese Ideologie herkommt. Zweitens ist es notwendig, sich die Frage zu stellen, wer diese Partei führt.

Die Betrachtung dieser Fragen führt uns zu dem Schluss, dass die AfD tatsächlich eine Partei der besonders aggressiven Teile des deutschen Finanzkapitals ist. Sie stellt in der aktuellen Weltlage, die durch die Verschärfung der zwischenimperialistischen Widersprüche und die Vertiefung der allgemeinen Krise des kapitalistischen Systems ebenso geprägt ist wie durch etwas, das wir in früheren Ausgaben dieser Zeitschrift bereits als „Gärungsprozesse“ in den unterdrückten Massen bezeichnet haben, den strategischen „Plan B“ für das deutsche Finanzkapital dar und verleiht ihm eine organisatorische, d.h. parlamentarische Form. Ihr Name ist damit tatsächlich ihr Inhalt.

Strategische Ansätze des deutschen Finanzkapitals

Umreißen lässt sich die „Alternative“ wie folgt: „Plan A“ besteht für das Kapital im wesentlichen in der Fortführung der bisherigen machtpolitischen Instrumente und Methoden nach innen und außen – „soziale und ökologische Marktwirtschaft“ nach innen inklusive der Integration widerstandsgefährdeter Bevölkerungsteile auf der linken Seite des politischen Spektrums über die „rot-grüne“ Schiene und die Gewerkschaften. Sowie nach außen im Ausbau der Europäischen Union und der Euro-Zone und der Fortführung der Westbindung (transatlantisches Bündnis).

Im Gegensatz dazu steht „Plan B“ für die Mobilisierung der „wütenden“, reaktionär beeinflussten Massen mit rechten Parolen (siehe Pegida), die Säuberung des imperialistischen Staatsapparates von „rot-grün versifften“ politischen Inhalten und ihren Trägern, die offensive Aufhebung sozialer und umweltpolitischer Standards, darunter z.B. die Abkehr von der „Energiewende“ (siehe das Programm der AfD) und der „Genderpolitik“ sowie die Absage an die „political correctness“ im Inneren. Zusammenfassen lässt sich das als verschärfte Faschisierung. Nach außen geht es um die Ersetzung der EU durch direktere Formen der Kontrolle über die strategisch relevanten Teile Mittel- und Osteuropas2, ohne lästige und teure bündnispolitische Zugeständnisse an Franzosen und Südeuropäer machen zu müssen, sowie die Orientierung auf ein Bündnis mit Russland zuungunsten des US-Imperialismus mit dem Ziel u.a. der strategischen Sicherung der Energieversorgung der deutschen Industrie, der Abschöpfung russischer Bodenschätze und der gemeinsamen Unterwerfung Osteuropas (die Nazis sprachen vom „Lebensraum im Osten“ für das deutsche Volk).

Inwieweit es sich bei den beiden hier umrissenen Plänen um scharf voneinander abgegrenzte Strategien handelt, für die ebenso scharf voneinander abgegrenzte Machtblöcke in der deutschen Bourgeoisie stehen, darf natürlich bezweifelt werden. Klar ist für uns jedenfalls, dass auch der führende Teil des Finanzkapitals im Imperialismus kein monolithischer Block ist und dass beide Tendenzen existieren und schon früher zutage getreten sind3.

Die Gründung der AfD und ihre Vorbereitung

Die AfD ist heute die Partei, die dem „Plan B“ nach innen und außen ein festes Gesicht und vor allem eine feste organisatorische Form verleiht, die allen Erwartungen gemäß dauerhaft in den deutschen Parlamenten vertreten sein wird. Ihre Entwicklung seit ihrer Gründung 2013 gliedert sich in zwei Etappen: Der Aufbau und die Etablierung in den ersten Landesparlamenten und im Europaparlament unter der Führung von Bernd Lucke und Hans-Olaf Henkel von 2013 bis 2015 und die Übernahme durch die Neue Rechte4 im vergangenen Jahr und die Zeit danach.

Ihre Gründung war nicht so sehr das Ergebnis der Unzufriedenheit eines Wirtschaftsprofessors mit der Politik der CDU unter Merkel, wie es in den Medien den Anschein hatte, sondern wurde sorgsam vorbereitet: Nach verschiedenen früheren gescheiterten Anläufen, Parteien rechts von CDU und CSU dauerhaft zu etablieren (z.B. Schill-Partei, Pro-Bewegung, …) war diese Option seit der Regierungsübernahme durch CDU/CSU 2005 wieder ein gern angesprochenes Thema in den Medien. Verschiedene Vertreter des rechten Unionsflügels wie Friedrich Merz, Roland Koch oder der abgestürzte Verteidigungsminister Guttenberg wurden hierfür ins Gespräch gebracht.

Propagandistisch und programmatisch vorbereitet wurde die „rechte Alternative“ insbesondere durch Publikationen wie die Schriften des SPD-Rechtsaußen Thilo Sarrazin. Sie sind sicherlich nicht zufällig im DVA-Verlag erschienen – einem Verlag der Bertelsmann-Stiftung, also einem der führenden Think Tanks der deutschen Bourgeoisie, dessen Vordenker auch u.a. die „Agenda 2010“ für die Schröder-Regierung entwarfen. Sarrazin brachte mit Bertelsmann verschiedene Bücher heraus, die genau die aktuellen Themen der „Neuen Rechten“ und der späteren Pegida und AfD voranbrachten und popularisierten: die vermeintliche „Überfremdung“ und den Kulturkampf („Deutschland schafft sich ab“, 2010), die wirtschaftspolitische Alternative zur Euro-Zone („Europa braucht den Euro nicht“, 2012), die Kampfansage an die „political correctness“ und den Geist der „sozialen und ökologischen Marktwirtschaft“ („Der neue Tugendterror“, 2014) und der entsprechende politische Strategieentwurf, der u.a. eine Absage an die „Energiewende“ enthält („Wunschdenken“, 2016).

2013 erfolgte dann die Gründung der AfD durch den Hamburger Wirtschaftsprofessor Bernd Lucke. Später stieg der ehemalige BDI5-Chef Henkel als prominentes Zugpferd mit ins Boot. Dazu kamen erfahrene politische Netzwerker und Kader wie der Brandenburger CDU-Rechtsaußen Gauland. Im Gegensatz zu den früheren Rechtspartei-Versuchen war die AfD in der deutschen Bourgeoisie, im Staat, in der Bundeswehr und unter rechten Intellektuellen bestens verankert6. Mehr noch: Sie erhielt in den Medien breitesten Raum, ihre Inhalte öffentlich darzustellen und sich wirkungsvoll als Partei gegen verkrustete politische Strukturen, gegen „die da oben“ zu präsentieren. So gelang es ihr, ins Europaparlament und in mehrere Landesparlamente einzuziehen.

Was ist die Neue Rechte?

Die ideologische Vorgeschichte der AfD begann jedoch nicht erst mit Thilo Sarrazin und seinesgleichen, sondern bereits einige Jahrzehnte früher. In den 1960er Jahren war der Kalte Krieg voll im Gang. Deutschland und Europa waren entlang des westlichen und östlichen Machtblocks aufgeteilt. Während in den ehemaligen Kolonien wie in Afrika Befreiungskämpfe tobten und korrupte, pro-imperialistische Regimes durch Revolutionen gestürzt wurden, entwickelten sich auch in den imperialistischen Metropolen Widerstandskämpfe und fortschrittliche politische Bewegungen. In den USA erreichte der Kampf der afroamerikanischen Bevölkerung gegen die rassistische Diskriminierung und Unterdrückung seinen Höhepunkt. Zeitgleich war sowohl in den USA als auch in Westeuropa die Jugend- und Studentenbewegung besonders stark und richtete sich in der BRD bspw. gegen die alten Faschisten, die nach wie vor in führenden Staatsfunktionen tätig waren. Diese Bewegungen führten neben den direkten politischen Erfolgen vor allem zu einer Linksentwicklung im Bewusstsein der Massen: Auch wenn es der Bourgeoisie gelang, die 68er Bewegung und die in den 70er und 80er Jahren nachfolgende Friedens- und Anti-AKW-Bewegung vor allem über die neu geschaffene Partei der „Grünen“ in den Staatsapparat zu integrieren, bleibt es doch ein Faktum, dass es nach 1968 zumindest in bestimmten Teilen der Massen und in der jüngeren Generation der Standard wurde, „links“ (d.h. im Zweifel: diffus sozialdemokratisch, gegen den Krieg, gegen AKWs und für den gesellschaftlichen Fortschritt gesinnt) zu sein. Das Bewusstsein, die Stimmung in der jüngeren Generation war vielleicht nicht massenhaft revolutionär-marxistisch, jedenfalls aber eine andere als unter ihren Eltern, die noch unter Hitler sozialisiert wurden.

Die faschistische Bewegung musste auf diesen Einflussverlust in den Massen – der auch eine schlichte Folge des verlorenen Krieges, das Bekanntwerden der Kriegsverbrechen und der Judenvernichtung und die daraus resultierende Diskreditierung des Nazi-Regimes war – reagieren7. Der klassische Nazi-Faschismus war langfristig nicht mehr massentauglich und bedurfte einer inhaltlichen Erneuerung: Ab Ende der 1960er Jahre wurde – ausgehend von Frankreich – von faschistischen Kadern die Strömung der ‚Neuen Rechten‘ aufgebaut, die zunächst prominent angeführt von rechten Intellektuellen und anknüpfend an die schon einige Jahrzehnte alte Strömung der „Jungkonservativen“8 eine „modernisierte“ Auflage der alten völkischen Ideologie produzierte und sich zum Ziel setzte, diese über ihre Verankerung in Staat und Medien langfristig in die Massen zu tragen. Sie setzte dabei gerade auf das Kopieren von Formen und kulturellen Eigenheiten der Linken.

In Analogie zur „Rollback“-Strategie der NATO-Imperialisten gegenüber dem sowjetisch dominierten Ostblock lässt sich im Zusammenhang mit der Neuen Rechten von einer ideologischen und politischen „Rollback“-Strategie zur Wiedererlangung der rechten Hegemonie im Bewusstsein der Massen sprechen. Ihr strategischer Vorteil gegenüber der Linken liegt auf der Hand: Im Gegensatz zu ihnen konnten sich die Faschisten stets auf die Ressourcen und Organisationen des Imperialismus stützen, in dessen Dienst sie agieren.

Führendes propagandistisches Organ der Neuen Rechten in der BRD ist bis heute die „Junge Freiheit“ (gegründet 1986 von dem Ex-Republikaner Dieter Stein), die mittlerweile auch inoffizielles Zentralorgan der AfD ist9.

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Einschub: Weltanschauung, Ideologie und Zielsetzung der „Neuen Rechten

Wir geben im folgenden einige Kernelemente des Argumentationssystems der „Neuen Rechten“ wieder (vgl. Opitz, S. 318 ff.):

1. Das „biologische“ oder „realistische“ Menschenbild

Der Mensch ist im Weltbild der Neuen Rechten ein primär durch biologische Evolution, Rasse und Instinkt bestimmtes Wesen. Alle aufzustellenden gesellschaftlichen und staatlichen Normen müssten daher mit seinen natürlichen Gesetzmäßigkeiten übereinstimmen: Territorialtrieb, Dominanztrieb, Besitztrieb, Aggressionstrieb, Sozietätstrieb (gerichtet auf die Erhaltung von Familie und Volk) sowie Sexualtrieb.

2. Die „okzidentale Erkenntnistheorie“

Aus dem „realistischen Menschenbild“ wird erklärt, wie Europa zum bedeutendsten Zentrum der Weltzivilisation werden konnte: Das Zusammenwirken von Leistungsorientierung, Individualismus und biologischer Veranlagung bilde das „okzidentale Syndrom“ und mache die Stärke der Europäer aus. Es wird also eine ausdrückliche „europäische Identität“ angenommen. Asiaten und Afrikaner hätten eine geringere Fähigkeit zum logisch-abstrakten Denken, seien den Europäern aber in manueller Geschicklichkeit überlegen. Hierbei handele es sich um verschiedene „Intelligenzstrukturen“ und somit nur um eine „Andersartigkeits- und keine Wertunterschieds-Feststellung“. Als Schlussfolgerung müsse die Gesellschaftsordnung in Deutschland und Großeuropa „entsprechend dem okzidentalen Syndrom“ umgeformt werden, d.h. Umformung in eine „Leistungsgemeinschaft“ ohne Vermengung mit anderen Rassen und Kulturen. Dieses Element der neurechten Ideologie findet sich u.a. deutlich in den Schriften von Sarrazin10 wieder und bildete das Argumentationsgerüst in der Verteidigungsrede des norwegischen Nazi-Terroristen Breivik11 vor Gericht. Da die „intellektuellen Anlagen“ biologisch-rassisch strukturiert seien, sei auch eine staatlich betriebene Eugenik („Erbgesundheitsforschung“) erforderlich.

3. Der „Bio-Humanismus“

Typischerweise ist die faschistische Ideologie darauf ausgerichtet, die vorherrschenden ideologischen Strömungen und Ideen des modernen Kapitalismus (Liberalismus, Globalisierung, etc.) mit dem Marxismus zu vermengen und sich selbst im Gegensatz dazu zu positionieren, um eine glaubhafte Alternative darzustellen. Bei den Altfaschisten geschah dies durch die Beschwörung einer „jüdischen Weltverschwörung“, die ihren Ausdruck gleichermaßen im russischen Bolschewismus wie im amerikanischen Finanzkapitalismus fände.

Mit dem „Bio-Humanismus“ der Neuen Rechten, der dem „Techno-Marxismus“ entgegengesetzt wird, geschieht diese Vermengung „von einem betont ökologisch-lebensschützerisch begründeten „wachstums“- und „technik“-kritischen Einstiegspunkt“ aus. Mensch und Natur sollen „wieder zusammen“ gebracht werden. Dem „Intellektualismus“ wird das „realistische Menschenbild“ entgegengestellt, das von der menschlichen Natur und ihren angeborenen Verhaltensweisen ausgeht. Europas Zukunft hänge von der Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen Geist und Natur ab. Das „realistische Menschenbild“ gehe davon aus, dass der Mensch primär ein Natur- und sekundär ein Kulturwesen sei. Es wisse daher, dass dem Menschen ein Brutpflege-Komplex zugrunde liege zur Bildung der Familie, dem Volk, der Nation und perspektivisch der europäischen Völkergemeinschaft.

Die Technikfeindlichkeit und angebliche Naturverbundenheit der Neuen Rechten lässt sich u.a. zur „Blut-und-Boden-“Ideologie der Nazis oder der existentialistischen Philosophie Martin Heideggers zurückverfolgen, der auch großen Einfluss auf linksintellektuelle Vordenker der späteren 68er Bewegung (Adorno, Marcuse) hatte.

Der Zweck dieser Ideologie liegt auf der Hand: Wenn die Technik an sich von Übel ist, ist die herrschende Klasse, die sie in ihrem Interesse anwenden lässt und damit die Umwelt zerstört, aus der Schusslinie genommen. Zweitens ist sie im Denken der Neuen Rechten mit dem biologistischen Rassismus zu einem untrennbaren Ganzen verwoben und damit Ausgangspunkt der weiteren politischen Programmatik des modernen Faschismus.

4. Der „Ethnopluralismus“

Im Zentrum des Konzepts des Ethnopluralismus steht der Begriff der „nationalen Identität“, der sich wiederum auf die in Punkt 1. definierten biologischen Triebe, die Erhaltung von Familie und Volk usw. gründet.

Die Politik soll nach dem Willen der Neuen Rechten nach innen und außen dem Prinzip der „nationalen Identität“ zur Durchsetzung verhelfen:

Innenpolitisch heißt das zusammengefasst: „Ausländer raus!“ oder „Schluss mit Multi-Kulti!“ – keine Vermischung der weißen europäischen Rasse oder Kultur mit fremdländischen Elementen.

Außenpolitisch besteht das Konzept des Ethnopluralismus in der Forderung nach Herstellung der „Volks-Identitäten“ durch Anpassung der Staatsterritorien an sie bzw. nach Neugliederung der Staatenwelt gemäß dem ethnischen Ordnungsprinzip der völkischen Selbstbestimmung als „Keim der neuen Weltordnung“, die mehrere Ebenen umfasse:

1. die gesamt- und „groß“deutsche Ebene: In den 60er Jahren stand das Ziel der Vereinigung von BRD und DDR noch auf der Tagesordnung, die mittlerweile erfolgt ist. Darüber hinaus bezieht die Neue Rechte Österreich und Südtirol in ihr Konzept von einem „Großdeutschland“ ein. Die Orientierung nach Deutschland wird heute von der österreichischen faschistischen Partei FPÖ oder von Südtiroler Faschisten vertreten.

2. die kontinentale Ebene – die „völkische Neuordnung Europas“: Das „ethnische“ Ordnungsprinzip soll verwirklicht werden u.a. durch die Zerlegung der Vielvölkerstaaten in kleinere, „ethnisch“ homogene Einheiten. Dieses Konzept ist bei der Zerschlagung der Sowjetunion und Jugoslawiens in teilweise nicht lebensfähige Kleinstaaten (Baltikumsstaaten, Bosnien, Kosovo) bereits zur staatlichen Politik geworden. Aber auch die Abspaltungsbestrebungen in Flandern, Schottland, Baskenland, Katalonien, Südtirol, Norditalien und weiteren europäischen Gebieten müssen in diesem Zusammenhang sowie im Licht der Mitteleuropa-Pläne des deutschen Imperialismus betrachtet werden.

Hierzu sind einige Hintergrundinformationen nötig: Der deutsche Imperialismus verfolgt seit dem Kaiserreich den außenpolitischen Ansatz, über deutsche Bevölkerungsteile in anderen Ländern oder auch andere nationale Minderheiten Einfluss auf die dortigen Staaten zu nehmen. Ein Beispiel hierfür ist der 1925 gegründete „Europäische Nationalitätenkongress“ (ENK), der sich als „Dachverband nationaler Minderheiten in Europa“ bezeichnete, in Wahrheit jedoch eine Vorfeldorganisation des Auswärtigen Amtes war, die dem Ziel diente, nationale Minderheitenkonflikte in Europa für deutsche Machtinteressen auszunutzen. Im Zentrum der Ideologie dieser Organisation stand der später von der Neuen Rechten aufgegriffene Begriff der „Volksgruppe“: In der Tat ist der Begriff „Volksgruppe“ in Deutschland eingeführt worden, um ein Kollektiv vorgeblich blutshomogener Menschen zu bezeichnen (…). In einer „Geheimen Denkschrift“ des deutschen Außenministers wurde die verdeckte Finanzierung der im Ausland lebenden „Volksgruppen“ geregelt.12 Der ENK organisierte auch bewaffnete Aufstände – u.a. in der deutschsprachigen Region Eupen-Malmedy in Belgien. Höhepunkt seiner Aktivitäten waren die sudetendeutschen Aktivitäten des Jahres 1938, mit denen die Einverleibung der Tschechoslowakei durch das faschistische Deutschland ein Jahr später vorbereitet wurde. Die Zeitschrift „Nation und Staat“, die der ENK zwischen 1927 und 1944 herausgab, wird seit 1958 unter dem Namen „Europa Ethnica“ weitergeführt – ebenso wie der ENK selbst in Gestalt seiner Nachfolgeorganisation „Föderalistische Union Europäischer Volksgruppen (FUEV) mit Sitz in Flensburg, die wie ihre Vorgängerin vom deutschen Außenministerium finanziert wird.

Das neurechte Konzept des Ethnopluralismus ist also im Kern nichts anderes als ein vom deutschen Staat betriebenes außenpolitisches Paradigma, das quasi den „doppelten Boden“ für den Erhalt der deutschen Vorherrschaft über Europa bildet, sollte sich die Europäische Union als instabil erweisen oder aus anderen Gründen abgeschafft werden.

3. Auf der internationalen Ebene soll die in Europa zur Ausführung gelangte „völkische“ Staaten-Ordnung dann „ein Beispiel für alle sein“. Vor diesem Hintergrund solidarisieren sich neurechte Strömungen gerne mit allen möglichen nationalen Bewegungen, gleichgültig ob diese nun faschistisch, reaktionär, fortschrittlich-antiimperialistisch oder was auch immer sind. Hier ist der politische Hintergrund der, dass gerade die bürgerlichen Flügel innerhalb von nationalen Befreiungsbewegungen im Interesse des Imperialismus gestärkt werden sollen.

Die „Identitäre Bewegung“ ist ein Beispiel für eine Bewegung, die ganz offen auf dem Konzept des Ethnopluralismus beruht.

5. Der „Befreiungsnationalismus“

Die Neue Rechte geht davon aus, dass sich die ethnopluralistische Neuordnung Europas nicht von selbst herstellen wird. Daher müsse der „europäische Nationalismus“ revolutionär werden. Vorbild dafür sind die reaktionär geführten Aufstände in der DDR 1953 und 1989/90 und in anderen osteuropäischen Staaten, die zur Zerschlagung des Ostblocks geführt haben.

Heute kann man hinzufügen, dass neurechte Bewegungen (Front National, UKIP, Teile der AfD) demagogisch den Kampf gegen das „Machtungetüm EU“ aufgenommen haben, um sie durch das nicht weniger imperialistische Konzept eines „Europa der Vaterländer“ im ethnopluralistischen Sinne zu ersetzen. Der Austritt Großbritanniens und die möglicherweise darauf folgende Balkanisierung des Landes durch einen Austritt Schottlands kann als Erfolg dieser politischen Linie verbucht werden.

6. Der „Europäische Sozialismus“

Der Grundgedanke des „Sozialismus“-Begriffs der Neuen Rechten liegt in der Hierarchie. „Der hierarchische Leitgedanke ist eine reflektive Übertragung des Dominanztriebs aus dem Menschenbild in die Wirtschaftsordnung. Als den „sozialistischen Maßstab für den Wert des einzelnen Menschen“ betrachtet die Neue Rechte die „Bereitschaft, nationale Solidarität zu üben.“ Jeder Nationalist sei daher notwendigerweise auch ein Sozialist, denn das „auf Naturanschauung beruhende Ganzheitsdenken sehe „den einzelnen als Glied sozialer Gestalten, vor allem des Volks“ und verstehe unter „Verwirklichung“ des Sozialismus die Durchsetzung des „Begriffs des Ganzen auch in den sozialökonomischen Verhältnissen“. Aber „da sich die Menschen nun einmal auszeichnen wollen“, müsse „diesem Drang entsprochen werden, weshalb jeder sich „im geregelten Wettbewerbsrahmen“ seinen „Rang“ solle „erobern können.“ Das ungeteilte Volk ist für die Neue Rechte also der Träger des Sozialismus. Dem marxistischen Klassensozialismus stellt sie einen nationalistischen Volkssozialismus entgegen.

Die „Nationalrevolutionäre“ Plattform beinhaltet Aspekte der fünffachen Revolution: der sozialistischen, sozialen, ökologischen, kulturellen und demokratischen. Die parlamentarische Demokratie wird abgelehnt. Für den „Befreiungsnationalismus“ zu kämpfen heißt, folgende Einzelforderungen in einen Gesamtzusammenhang zu stellen: Ethnopluralismus, ökologische Lebensgestaltung, humaner Sozialismus (realistisches Menschenbild), dezentrale Wirtschaftsordnung, kulturelle Erneuerung und Basisdemokratie.

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Dass die langjährige ideologisch-politisch-kulturelle Kleinarbeit der Imperialisten in der Arbeiterklasse ihre Wirkung nicht verfehlt hat und es ihr gelungen ist, völkisches, rassistisches und autoritäres Gedankengut in ihr zu verankern – selbst dort, wo man es auf den ersten Blick gar nicht vermutet – zeigte Mitte der 2000er Jahre die von uns bereits in einem früheren Artikel zitierte soziologische Studie gewerkschaftslinker Wissenschaftler im Funktionärsapparat des DGB unter dem Titel „Gewerkschaften und Rechtsextremismus“13, die u.a zu folgendem, verstörenden Schluss kommt: Gewerkschaften in Deutschland sind Vorkämpfer und Stützen der Demokratie. Viele ihrer Aktiven engagieren sich gegen Rechtsextremismus. Dennoch sind die Mitglieder keineswegs immun gegen den Ruf nach dem starken Führer und nach der Verfolgung von Sündenböcken. Die Autoren berichten über Ergebnisse einer Studie zu rechtsextremen Einstellungen von Gewerkschaftsmitgliedern. Danach sind gerade die Kerngruppen der Gewerkschaften anfällig für rechtsextreme Deutungen. Wachsende Existenzangst der Arbeitnehmer-Mittelschicht und das Gefühl, sozial und politisch zu den Verlierern zu gehören, wirken als Einfallstore für rechtsextreme Ideologien.“

AfD, Pegida und die Gärung in den Massen

Aufgrund der wachsenden Widersprüche des Kapitalismus und der für die Bourgeoisie notwendigen Angriffe auf die Arbeiterklasse und weite Teile des Kleinbürgertums gärt es in diesen Sektoren. Es gibt eine wachsende, diffuse Wut auf „die da oben“, die mangels klarer und in den Massen verankerter revolutionärer Führung nicht so recht weiß, wohin. Schlimmer noch: Durch jahrzehntelange kontinuierliche und gut organisierte Arbeit der propagandistischen Abteilungen der Bourgeoisie – von der Bild-Zeitung bis zur Neuen Rechten – ist die Hegemonie über das Bewusstsein der Massen in der BRD heute tendenziell wieder eine rechte, faschistische – und das Ganze ungeachtet dessen bzw. offenbar in keinerlei Widerspruch dazu, dass organisatorisch immer noch der DGB für das Kapital die Betriebe kontrolliert und viele heutige AfD-Wähler bis vor kurzem noch für SPD oder Linkspartei gestimmt haben14.

Während viele von uns Antifaschisten sich mit No-NPD-Kampagnen, Lichterketten und der Blockade von Kameradschaftsaufmärschen abgearbeitet haben und wir ernstlich gedacht haben, wir hätten das Problem im Griff und die Mehrheit in Deutschland wäre immer noch antifaschistisch gesinnt – währenddessen hat sich unter unserem Radar die faschistische Bewegung reorganisiert (präziser gesprochen: ihre Truppen neu formiert, denn zu keinem Zeitpunkt seit 1920 war die faschistische Bewegung in Deutschland nicht organisiert). Und sie hat sich in langjähriger Kleinarbeit eine echte Verankerung in den Massen geschaffen. Das wurde spätestens mit Pegida klar. Die rechten Massenaufmärsche in Ostdeutschland stellten den qualitativen Sprung von der ideologischen Hegemonie und Meinungsführerschaft zur tatsächlich mobilisierungsfähigen Führerschaft in den Massen zumindest in Teilen des Landes dar. Noch deutlicher gesprochen: In Teilen Deutschlands gehen heute die Massen gegen das System, gegen „die da oben“ auf die Straße – und zwar unter der Führung der Faschisten!

Die AfD ist in diesem Gesamtkontext zu betrachten. Sie ist der parlamentarische Arm dieser Bewegung. Dass führende Vertreter von ihr gerade das bestreiten, ist ein politisches Standardmittel, das darauf abzielt, gerade auch die Teile der Massen anzusprechen und für sich zu mobilisieren, denen Pegida noch zu weit geht.

Allem Anschein nach drehte sich die Auseinandersetzung zwischen Lucke, Henkel und dem rechten Flügel um Frauke Petry und Gauland, die 2015 eskalierte, vor allem um die Frage, ob sich die AfD strategisch als intellektuelle Elitenpartei positionieren sollte oder als rechte Massenpartei, die aktiv darauf hinarbeitet, das „Wutbürgertum“ à la Pegida zu organisieren. Das Ergebnis ist bekannt: Die rechten Professoren wurden beim Parteitag vom braunen Mob weggeputscht.

Der Chefideologe der AfD Marc Jongen, ein langjähriger Mitarbeiter des rechten Vordenkers Peter Sloterdijk, formuliert das Verhältnis seiner Partei zur Gärung in den Massen in reaktionär-idealistischer Sprache in einem Gespräch mit der FAZ wie folgt: Jongen hat nichts gegen die Rauheit der AfD-Anhänger gerade im Osten Deutschlands, im Gegenteil. Er würde sich wünschen, dass es ingesamt rauher, aufgepeitschter zuginge. Denn die Bundesrepublik, da ist Jongen sicher, leidet an einer „thymotischen Unterversorgung“, einer Armut an Zorn und Wut. Thymos ist ein altgriechisches Wort, das in seiner Bedeutung zwischen Mut, Zorn und Empörung schwankt. Der Begriff spielt in Jongens Ausführungen über die Philosophie der AfD eine zentrale Rolle. Er nennt den Thymos eine der drei „Seelenfakultäten“ neben Logos und Eros, der Vernunft und der Lust. In Europa, wo vor allem die Vernunft in Politik und Philosophie Ansehen genießt, sei der Thymos zu Unrecht in Verruf geraten, meint Jongen. Weil es Deutschland an Zorn und Wut fehle, mangele es unserer Kultur auch an Wehrhaftigkeit gegenüber anderen Kulturen und Ideologien, etwa dem Islamismus, der eine „hochgepushte thymotische Bewegung“ sei. Die AfD unterscheide sich durch ihren positiven Bezug zum Thymos von allen anderen politischen Parteien. Einzig die AfD lege „Wert darauf, die Thymos-Spannung in unserer Gesellschaft wieder zu heben“, sagt Jongen.“15

Wen bekämpfen? Der Wahn vom Kulturkampf und wo er herkommt

Die ideologische Vorherrschaft und Verankerung in den Massen bedeutet für die Imperialisten, diese von revolutionären Zielen abzubringen und für die eigenen Interessen einzuspannen: Das ist vor allem die Vereinnahmung und Begeisterung für den Kampf des heimischen Kapitals gegen äußere Feinde: Neben den imperialistischen Konkurrenten sind das die tatsächlichen und potentiellen Kolonien und Neokolonien in Europa, dem Mittleren Osten und anderen Teilen der Welt. Nicht zu vergessen die neue „globale Herausforderung“: Die Bewältigung der Flüchtlingsströme aus den Gebieten, die der Imperialismus mit Elend, Krieg und Terror überzogen hat. Diese Flüchtlingsströme stellen aus Sicht der Imperialisten eine schwerwiegende Bedrohung für die Stabilität in den Metropolen dar und sind daher ebenfalls als Feinde einzustufen.

Es ist daher kein Zufall, wenn die Faschisten heute gerade gegen die „Islamisierung“ des Abendlandes und gegen die Flüchtlinge hetzen. In einem früheren Artikel dieser Zeitschrift haben wir bereits darauf hingewiesen, dass die Imperialisten schon direkt nach Beseitigung ihres früheren Hauptfeindes Sowjetunion 1989/90 mit der ideologischen und propagandistischen Vorbereitung auf das neue Zeitalter begonnen haben. Wir haben in diesem Zusammenhang bereits auf die „Kulturkampf“-These des US-Geostrategen Samuel Huntington verwiesen: Die Vorstellung, die Welt des 21. Jahrhunderts sei vom Kampf zwischen verschiedenen Kulturräumen (isbs. christlich-jüdischer Westen – Islamische Länder – China) geprägt, ist eine modernisierte Form der Rassenkampf-Ideologie der Alt-Faschisten, bei der die „Kulturen“ das „Blut“ als klassenübergreifendes einigendes Motiv abgelöst haben – siehe Jongens Geschwafel vom „Thymos“. Sie ist jedoch mit der Rassenkampf-Ideologie durchaus kompatibel (siehe den „führerlosen Widerstand“ terroristischer Nazi-Netzwerke in der gesamten westlichen Welt, der sich erklärtermaßen gegen die drohende „Vernichtung der weißen Rasse“ durch die „braunen und gelben Horden“ richtet). Und sie ist die Grundlage der politischen Positionen von Pegida und AfD. Darüber hinaus wird sie von den Vortrupps der Imperialisten in den jeweiligen, verschiedenen Kulturräumen – von mordenden Ku-Klux-Clan-Cops in den USA zu den terroristischen Nazis à la Breivik und NSU im Westen und dem IS und Al Quaida im Mittleren Osten – und in Europa! – kräftig in die Tat umgesetzt. Man kann vor diesem Hintergrund so weit gehen, von einer qualitativ neuen (da internationalen und permanenten) imperialistischen „Strategie der Spannung“16 zu sprechen, mit der sich die Bourgeoisie in der heutigen komplexen Widerspruchslage in der Welt die Kontrolle über die Massen sichert.

Rechte Alternativen“ international auf dem Vormarsch

Dass AfD und Pegida keine zufälligen politischen Erscheinungen sind, die halt rechte politische Positionen vertreten, sondern das Ergebnis einer strategischen teilweisen Neuausrichtung des Finanzkapitals erklärt sich vor dem Hintergrund veränderter Kräfteverhältnisse zwischen den imperialistischen Ländern – also einer veränderten Weltlage, die insbesondere davon geprägt ist, dass alte Bündnisse (NATO, EU) nach Jahrzehnten offen in Frage gestellt werden und dass die faschistischen Kräfte international an Stärke gewinnen, d.h. von der jeweiligen Bourgeoisie in die entsprechende Position gebracht werden: Man betrachte die Regierungen mit faschistischer Beteiligung in Ungarn und Polen, den Aufstieg des (mittlerweile neurechts modernisierten) Front National in Frankreich, die Tea-Party-Bewegung und den Wahlkampf von Trump in den USA, sowie die (erfolgreiche) Kampagne für den Austritt Großbritanniens aus der EU.

Alle Imperialisten bereiten sich darauf vor, dass – vielleicht mit der nächsten Wirtschaftskrise – der Kampf um die Neuaufteilung der Welt global in eine neue Phase übergeht, in der möglicherweise die bisherige Allianz der westlichen Mächte völlig zerbricht und neue Bündnisse geschmiedet werden. Da darf natürlich auch Deutschland nicht unvorbereitet sein!

Es ist daher kein Zufall, dass von Front National über die ungarische Regierung bis zur AfD die faschistischen Kräfte in Europa gute politische Beziehungen zum russischen Imperialismus unterhalten, der damit anknüpfend an die Tradition des Zarismus offenbar bestrebt ist, erneut zu einem „Hort der internationalen Reaktion“ zu werden17. Den politischen Beziehungen liegen natürlich die entsprechenden Kapitalverflechtungen der jeweiligen Bourgeoisien und damit wirtschaftliche Interessen zugrunde.

Kommt jetzt der Faschismus in Deutschland?

Man muss sich also die Frage stellen: Geht des dem Finanzkapital in Deutschland jetzt darum, eine faschistische Diktatur in Deutschland zu errichten? Intuitiv erscheint das wenig wahrscheinlich.

Angesichts der Komplexität, mit der sich die kapitalistischen Widersprüche in der heutigen Situation entwickeln, in der es keine starke revolutionäre Bewegung in Europa gibt, sollte man jedoch nichts von vornherein ausschließen: Man bedenke allein angesichts der aktuellen Ereignisse die Möglichkeit eines anhand von Rassengrenzen geführten Bürgerkriegs in den USA. Könnte sich so etwas nicht auch in den Vorstädten von Paris, Brüssel oder in Berlin oder Hamburg entwickeln?18

Doch auch ohne den unmittelbaren Plan des Kapitals zur Diktatur sollte man sich klarmachen, welche Funktion eine starke und organisierte faschistische Bewegung als Vortrupp der aggressivsten Teile des Finanzkapitals schon im Rahmen einer bürgerlichen Demokratie hat. Da wir denken, dass hinsichtlich dieser Fragestellung das Rad nicht neu erfunden zu werden braucht, zitieren wir das in den 1980er Jahren erschienene Standardwerk „Faschismus und Neofaschismus“ (Opitz) zu dieser Frage:

Faschistische Bewegungen, Gruppierungen, Vereinigungen etc. sind demnach aber in nicht faschistisch regierten Gesellschaften solche, die in der Bevölkerung Anhängerschaft für den Übergang zur faschistischen Diktatur sammeln – und dies notwendig stets in demagogischer Form. Denn die Sammlung kann nur unter Systemunzufriedenen erfolgen; diese jedoch sind, da das bestehende politische System ein monopolkapitalistisches (…) ist, mit der Herrschaft eben gerade des Monopolkapitals unzufrieden und gegen sie eingenommen. Die Gefolgschaftswerbung für den Übergang gar zu dessen terroristischer Diktatur muss daher notwendigerweise ausschließlich unter einem demagogischen Schwindeletikett – auf dem zumeist das Wort „Volk“ aufgraviert ist – erfolgen.

(…)

Derartigen Bewegungen aber kommt nun in allen monopolkapitalistischen Gesellschaften auch schon zu Zeiten, in denen sich die vom Monopolkapital als sicherste Herrschaftsform bevorzugte „friedliche“ Volksintegration in dessen jeweiligen politischen Herrschaftswillen zufriedenstellend vollzieht und es keiner faschistischen Diktatur bedarf, eine Reihe ihm nützlicher und aus seiner Sicht geradezu system-unentbehrlicher Funktionen zu, woraus sich ihre erstaunlich schonsame Behandlung in allen parlamentarisch regierten monopolkapitalistischen Demokratien erklärt. Diese Funktionen lassen sich, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, auf folgende Punkte bringen:

– Die Auffangfunktion bzw. die Funktion der Ableitung und Umfunktionierung von Protestpotentialen (Sammlung der von den monopolkapitalistischen parlamentarischen Parteien sich abkehrenden und vom systemkonformen politischen Integrationsmechanismus des „Regierungs-Oppositions“-Spiels nicht mehr einzufangenden, daher aber zur politischen Systemgefahr werdenden, ja des Überganges zur politischen Linken nunmehr potentiell fähigen Bevölkerungsschichten. Abfangen dieser Potentiale in einer den Zorn auf die politischen Gegner des Monopolkapitals zurücklenkenden und ihn gegen sie aufreizenden, den Ruf nach ihrer gewaltsamen Unterdrückung und Zerschlagung weckenden aktivistischen Organisation. Besonders gefragt und aktuell in ökonomischen Krisenzeiten).

– Die Barometerfunktion (Ablesbarkeit, inwieweit sich aus innenpolitischen Desintegrationsprozessen eine tragfähige antiparlamentarische Massenbasis entwickelt bzw. entwickeln lässt)

– Die Alibifunktion für reaktionäre Regierungspolitik (Berufungsmöglichkeit der Regierungen auf Forderungen in der „Öffentlichkeit“; Vorbereitung reaktionärer Regierungsschritte, die zunächst nicht ohne Risiko großer Wählerverluste durchführbar wären, durch die Öffentlichkeitsarbeit der neofaschistischen Gruppen – Eingewöhnung der Öffentlichkeit in „unpopuläre“ Forderungen, bis sie auch von der Regierung geäußert und schließlich realisiert werden können …)

– Die aktive Antreiberfunktion in der Rechtsentwicklung (wachsende Erfolge in der Wahrnehmung der Auffangfunktion versetzen den Neofaschismus gegenüber den regierenden parlamentarischen Parteien regelmäßig in die Lage, sie nunmehr unter „Massendruck“ und unter der Drohung, weitere Wählerschichten von ihnen abzuziehen, zu immer schärferem Rechtskurs zu drängen. Das heißt, die reaktionärsten Teile des Monopolkapitals können nunmehr über ein faschistisches Massenpotential Druck auf die gemäßigteren Kapitalfraktionen ausüben. Eskalationseffekt von Rechtsverschiebung der Regierungspolitik und wachsendem faschistischen Druckpotential)

– Die langfristige ideologische Umorientierungsfunktion (kontinuierliche Arbeit für einen ideologisch-kulturellen Klimaumschwung; „Geschichtsbild“-Revision, Irrationalismuspropaganda bzw. antirationale „Kulturrevolution“)

– Die terroristische Einschüchterungs- und Hilfspolizei-Funktion gegenüber demokratischen Bewegungen (…)

– Die Destabilisierungsfunktion (in Phasen, in denen Teile des Monopolkapitals akut auf den Übergang zur faschistischen Diktatur drängen, organisierte Förderung des Eindrucks der „Unregierbarkeit“ der Gesellschaft in den herrschenden Kreisen und in der nach Ruhe sich sehnenden Bevölkerung durch eine Strategie schreckenerregenden, ungezielten Terrors. Beispiele: (…) die Türkei vor der faschistischen Machtübernahme)

– Die Straßenkampf- und Bürgerkriegsfunktion (jeweils in Ländern sich aktualisierend, in denen die innenpolitische Klassenkampfsituation der Entscheidung zudrängt).“19

Die Offensive der Faschisten in den Medien, auf der Straße und über die AfD im Parlament ist davon begleitet, dass Teile ihres terroristischen Flügels schon heute damit beginnen, die Säuberung des Staatsapparats von den „rot-grün versifften“ Elementen in die Praxis umzusetzen und anknüpfend an die faschistische Praxis der 1920er Jahre Vertreter des Staates anzugreifen: siehe den Mordversuch eines Ex-FAPlers an der Kölner Oberbürgermeisterin Reker oder die Morddrohungen gegen Justizminister Maas usw. Es liegt in der Tradition des Finanzkapitals, innere Widersprüche auch – wenn nötig – gewaltsam auszutragen.

Über linke Fehleinschätzungen

Wir haben in diesem Artikel den Versuch unternommen, die AfD als politische Erscheinung in den Gesamtzusammenhang des Klassenkriegs in Deutschland und international einzuordnen. Wenn wir sie als faschistische Partei qualifizieren, dann nicht in erster Linie deshalb, weil wir ihr Programm durchgehen und das, was dort steht, hinsichtlich seines reaktionären Gehalts messen – auch wenn das bereits ein erkenntnisreiches Unterfangen wäre, da das kürzlich beschlossene Grundsatzprogramm der AfD klar gegen den Islam hetzt und eine wirtschaftspolitische Agenda à la „Agenda 2010 – ultra“ für das deutsche Kapital vorschlägt.

Entscheidend ist für uns vielmehr, zu analysieren, im Interesse welcher klassenmäßigen Kräfte die Positionierung der AfD in der BRD-Parteienlandschaft ist, in welcher Tradition sie steht und in welche Richtung ihr Wirken geht.

Eine solche Einordnung vermissen wir bislang bei anderen Kräften der antifaschistischen Linken. Zwar weist die „Rote Fahne“ in ihrer Ausgabe vom 13. Mai nach, dass die AfD fortschrittsfeindlich, unternehmerfreundlich, frauenfeindlich, rassistisch und auf vielerlei Art mit dem militanten Faschismus verbunden ist20. Um die Einschätzung „Die AfD ist eine faschistische Partei“ drückt sie sich jedoch leider herum und spricht stattdessen etwas zurückhaltender von „faschistoid“ und „ultrareaktionär“.

Viel schwerwiegender finden wir es jedoch, wenn in den Reihen der Antifa-Bewegung davon gesprochen wird, die AfD sei eine Partei des Kleinbürgertums, eine „Anti-Eliten-Partei“ o.ä. So vertritt es z.B. der Kölner Antifa-AK in einem Artikel im Neuen Deutschland21. Dass der durchschnittliche Pegida-Demonstrant oder AfD-Anhänger männlich, Mitte 40 und kleinbürgerlich ist (wofür verschiedene Statistiken sprechen), sagt nichts darüber aus, welche Klasse die AfD führt. Die AfD ist ebensowenig eine Partei des Kleinbürgertums, wie die NSDAP eine war. Das Label „Anti-Eliten-Partei“ hat gerade die Elite – das Finanzkapital – ihr verpasst, um die unterdrückten Schichten der Bevölkerung anzusprechen. Wer die AfD als „Anti-Eliten-Partei“ bezeichnet, fällt auf diesen Etikettenschwindel herein und spielt ihr damit gerade in die Hände.

Zuletzt noch einige Bemerkungen zum modernen Wortungetüm des „Populismus“: Der Begriff suggeriert, dass populistische Politiker solche sind, die „dem Volk aufs Maul schauen“ und mit plumpen Parolen, auf die das Volk hereinfällt, auf Stimmenfang gehen.

Dass die unterdrückten Schichten mit den Mitteln der Demagogie für imperialistische Zwecke eingefangen werden sollen, ist zweifellos richtig. Der Begriff des „Populismus“ suggeriert jedoch, die entsprechenden Stimmungen, die AfD und Co. aufgreifen, wären die spontanen Stimmungen der Massen, wozu zweierlei zu sagen ist:

Erstens ist das falsch. Ebenso wie lange vor dem Ersten Weltkrieg die „völkische Ideologie“, die spätere Ideologie des Hitlerfaschismus, vom Finanzkapital direkt organisiert durch Propagandavereine wie den „Alldeutschen Verband“ mit vielfältigen Mitteln in die deutsche Bevölkerung getragen worden ist22 – die Vorbereitungsarbeit für den Faschismus, die Hetze gegen das Judentum also schon Jahrzehnte vor 1933 begonnen hatte – wurde auch die moderne Form desselben Inhalts, die Ideologie der Neuen Rechten und der Wahn vom Kulturkampf seit Jahrzehnten organisiert von oben in die deutsche Bevölkerung getragen23. Hier geschieht nichts spontan.

Zweitens würde daraus folgen, die Bevölkerung wäre für sich genommen unberechenbar und die Eliten des Monopolkapitals und seiner Parteien, die Bürokratie in Berlin und Brüssel, müssten das Heft fest in der Hand behalten, damit sich kein Faschismus in Europa breit macht. Und genau hier spielen sich die etablierten Parteien des Monopolkapitals und die Faschisten den Ball zu, gehen letztere doch gerade mit der Hetze gegen „die da oben“ auf Stimmenfang, fordern mehr direkte Demokratie usw.

Dieses Spiel zu entlarven, nicht darauf reinzufallen und eine wirksame Gegenstrategie zu entwickeln, um nicht nur eine diffus-linke, sondern eine revolutionäre Hegemonie im Bewusstsein der Massen zu etablieren, ist unsere Aufgabe. Wir werden dazu in einer unserer nächsten Ausgaben ein Strategiepapier zur Diskussion stellen.

1 Wesentliche Beiträge zur Analyse der faschistischen Bewegung aus der Zeit ihrer Machtergreifung in Europa stammen von Clara Zetkin („Der Kampf gegen den Faschismus“ ) und Georgi Dimitroff (Bericht an den VII. Weltkongress der Komintern). Unter den späteren Arbeiten zum Thema sind die von Jürgen Kuczynski („Studien zur Geschichte des deutschen Imperialismus“, 1948) und Reinhard Opitz („Faschismus und Neofaschismus“, 1984 ) hervorzuheben.

2Siehe dazu den Abschnitt „Ethnopluralismus“ im Einschub über die Ideologie der Neuen Rechten

3Man nehme nur allein die Annäherungspolitik an Russland unter der Schröder-Regierung.

4Lucke wandte sich im Zuge des eskalierenden Richtungsstreits in einer E-Mail an die AfD-Mitglieder und warnte vor „beunruhigenden Entwicklungen“ in der Partei: „Er bezog sich ausdrücklich auf die „so genannte Neue Rechte“, die verstärkt Einfluss auf die AfD zu nehmen suche.“ (ntv.de, 23.04.15)

5 Verband der Industriekapitalisten

6Dokumentiert in verschiedenen Artikeln auf german-foreign-policy.com, z.B. „Brüche im Establishment“ (12.04.13)

7Der norwegische Terrorist Anders Breivik, bekannt geworden durch sein Massaker an dutzenden sozialdemokratischen Jugendlichen auf der Insel Utoya im Jahr 2011 und in den Medien als „verwirrter Einzeltäter“ hingestellt, formulierte den Ausgangspunkt des Kulturkampfs der modernen Faschisten in seiner „Europäischen Unabhängigkeitserklärung“ wie folgt: „Die meisten Europäer schauen auf die 1950er Jahre als die gute alte Zeit zurück. Die Familienheime waren so sicher, dass die Leute in vielen Gegenden nicht einmal im Traum daran dachten, ihre Haustüren abzusperren. Die Qualität der öffentlichen Schulen war ganz allgemein sehr gut (…). Die meisten Männer behandelten Frauen wie Ladies und die meisten Ladies widmeten ihre Zeit mit Hingabe dem Zuhause für ihre Familien, der guten Erziehung ihrer Kinder und halfen der Gesellschaft durch freiwillige Arbeit. Die Kinder wuchsen in gemeinsamen Haushalten mit beiden Elternteilen auf und die Mutter war für sie da, wenn sie von der Schule nach hause kamen. (…) Wenn ein Mann aus den 1950ern plötzlich ins Westeuropa des Jahres 2000 versetzt würde, er könnte sein eigenes Land kaum wiedererkennen. Er wäre sofort in Gefahr übers Ohr gehauen, ausgeraubt und ausgenommen zu werden, weil er nie gelernt hat, mit konstantem Misstrauen durch die Welt zu gehen. (…) Wenn er seine Familie mitgebracht hätte, in die „Neue Zeit“, dann würden er und seine Ehefrau möglicherweise frohgemut ihre Kinder zur nächstgelegenen Schule schicken. Wenn die Kinder dann am Nachmittag nach Hause kämen und ihnen erzählten, dass sie durch einen Metalldetektor gehen mussten, um Zutritt zum Gebäude zu erhalten, ein komisch riechendes Kraut von anderen Kinder angeboten bekamen und gelernt hätten, dass Homosexualität normal und gut sei, wären die Eltern wohl völlig baff. (…) Wenn irgend möglich, würde unsere 1950er Familie Hals über Kopf zurück in ihre Zeit flüchten. Dort angekommen hätten sie dann eine spannende Horrorstory zu erzählen, und die ginge ungefähr so: in zukünftigen Zeiten ist das ganze Land kulturell degeneriert und moralisch verfallen; (…) Warum ist das geschehen? In den letzten 50 Jahren ist ganz Westeuropa überschwemmt worden, von demselben intellektuellen Ausfluss, der zuvor Russland, China, Deutschland und Italien übernommen hatte. Der Name dieses Ausflusses ist Ideologie. Hier, wie auch sonstwo, hat diese Ideologie (Marxismus) der traditionellen Kultur großen Schaden zugefügt. (…) Die Ideologie, die Westeuropa eingenommen hat, wird konventionell „political correctness“ (kultureller Marxismus) genannt. (…) Political correctness versucht praktisch alle Regeln umzumodeln – formale und inhaltliche – praktisch alles was die Beziehungen zwischen den Menschen, und Mensch und Institution betrifft. Diese Ideologie will unser Verhalten ändern, unsere Gedanken bestimmen, sogar vorschreiben welche Wörter wir beim sprechen benutzen (dürfen). (…) Political correctness ist faktisch Kulturmarxismus. Marxismus wird hier von seiner wirtschaftlichen Terminologie ausgehend in kulturelle Begriffe übersetzt.“

8Parteiübergreifende faschistische Bewegung mit dem Ziel der Schaffung einer nationalen einheitlichen Bewegung. Zu ihr gehörten u.a. die Reichskanzler Brüning, Papen und Schleicher, die den Hitlerfaschismus politisch vorbereiteten (vgl. Opitz, „Faschismus und Neofaschismus“, Verlag Marxistische Blätter 1984, S. 95 ff.

9Nicht zu vergessen das „Compact“-Magazin des Verschwörungstheoretikers Jürgen Elsässer, das vor einiger Zeit mit Frauke Petry als „besserer Kanzlerin“ titelte.

10Sarrazin: Für mich ist es wichtig, dass Europa seine kulturelle Identität als europäisches Abendland und Deutschland seine als Land mit deutscher Sprache wahrt, als Land in Europa, vereint mit den umgebenden Franzosen, Niederländern, Dänen, Polen und anderen, aber doch mit deutscher Tradition. Dieses Europa der Vaterländer ist säkular, demokratisch und achtet die Menschenrechte. Soweit Immigration stattfindet, sollten die Migranten zu diesem Profil passen beziehungsweise sich im Zuge der Integration anpassen. (…) Ich möchte nicht, dass das Land meiner Enkel und Urenkel zu großen Teilen muslimisch ist …“ („Deutschland schafft sich ab“, S. 308)

11Breivik: „Viele haben behauptet, dass Ultra-Nationalisten wie ich ein Terrorregime einführen und errichten wollen. Das ist falsch. Ich befürworte das japanische und südkoreanische kulturelle Modell, nicht mehr und nicht weniger. Sind Japan und Südkorea wirklich so furchtbare Regime? Nein, das sind sie nicht! Es sind hochtechnologische, erfolgreiche und monokulturalistische Nationen. Gleichzeitig sagten sie in den 70er Jahren nein zum Multikulturalismus und zur Masseneinwanderung. Sie sind der lebende Beweis dafür, dass Nationen erfolgreich sein können, wenn nicht gar erfolgreicher, wenn man nein zur Masseneinwanderung sagt. Disziplin, Ehrencodex und Stolz auf seine eigene Herkunft, auf seine Kultur sind essentiell in Japan und Südkorea. Frauen spielen im Berufsleben eine zweitrangige Rolle. Dies ist heutzutage die perfekteste Gesellschaft der Welt.“ (Stellungnahme vor Gericht, 17.04.2012)

12„Von Krieg zu Krieg, Die deutsche Außenpolitik und die ethnische Parzellierung Europas“, Goldendach, Minow, Rudig, Verlag 8. Mai, 1996. S. 16

13Zeuner u.a., „Gewerkschaften und Rechtsextremismus“, Verlag Westfälisches Dampfboot, 2007; Eine ähnliche, aktuelle Studie unter dem Titel „Die enthemmte Mitte“ der Universität Leipzig kommt zu demselben Ergebnis: „Deutschland im Jahr 2016: Jeder Zehnte wünscht sich einen Führer, der das Land zum Wohl aller mit starker Hand regiert. Elf Prozent der Bürger glauben, dass Juden zu viel Einfluss haben. Zwölf Prozent sind der Ansicht, Deutsche seien anderen Völkern von Natur aus überlegen. Ein Viertel der U30-Generation in Ostdeutschland ist ausländerfeindlich. Und ein Drittel der Deutschen hält das Land für gefährlich überfremdet.“ („Deutschlands hässliche Fratze“, Spiegel-Online, 15.06.16)

14Aus deren Reihen wiederum teilweise durch Anpassung an den Faschismus auf diese Entwicklung reagiert wird – siehe z.B. die Positionen Sahra Wagenknechts in der Flüchtlingsfrage.

15„Der Parteiphilosoph der AfD“, veröffentlich auf faz.net am 15.01.16; Im selben Artikel liefert Jongen seine eigene Formulierung des neurechten „realistischen Menschenbildes“: Ziel sei eine „neodarwinistische Kulturtheorie“, die nicht auf eine Abschaffung von Traditionen, sondern auf deren Beibehaltung hinwirkt. Sie bediene sich dabei allerdings der „avanciertesten Denktechniken“, um dann mit ihnen „gegen die Moderne“ zu denken. Die traditionellen Geschlechterrollen zum Beispiel will Jongen so gegen die Anfechtungen des Konstruktivismus abschirmen. Er erkennt zwar an, dass die Geschlechterrollen bis zu einem gewissen Grad tatsächlich kulturell konstruiert sind, wie von der Gender-Theorie behauptet wird. Für Jongen folgt daraus im Praktischen aber nicht, für Transgender eigene Toiletten einzurichten oder in der Schule über sexuelle Identitäten zu sprechen. Im Gegenteil. Jongen will (…) die Geschlechterrollen stärker festschreiben, um sie vor der Bedrohung durch die Gender-Theorie zu schützen. Statt „Gender-Mainstreaming fordert Jongen deshalb „Erziehung zur Männlichkeit“. Der gesamte „kulturell-religiöse Überbau“ der Gesellschaft soll auf diese Weise geschützt werden. Die AfD soll die weitere Dekonstruktion von Familie, Volk und Kirche verhindern.“

16„Strategie der Spannung“ bezeichnete historisch das Vorgehen der NATO-Stay-Behind-Armeen und des tiefen Staates in Italien in den 60er bis 80er Jahren, durch Bombenanschläge auf Zivilisten das politische Klima im Land nach rechts, in Richtung des Rufs nach einem „starken Staat“ zu ziehen. Das Vorgehen wurde auch in Belgien („Brabant-Morde“) angewandt. Vgl. Ganser, „NATO-Geheimarmeen in Europa“, 2006.

17Zu den Details siehe z.B.: Rote Fahne 10 / 2016

18Mindestens für Frankreich wird nach der Serie von terroristischen Anschlägen des IS davon ausgegangen, dass dieser Fall früher oder später eintreten wird: „Einer These lohnt es nachzugehen: Frankreich ist ein gesuchtes Ziel, weil die Gesellschaft fragiler ist als andere in Europa. Der Chef des Inlandsgeheimdienstes DGSI, Patrick Calvar, warnte bei einer Senatsanhörung: „Wir stehen am Rande eines Bürgerkriegs.“ Bewaffnete Rechtsradikale könnten bald aus Rache gegen alle Muslime losschlagen. Das ist genau das Szenario der Dschihadisten. Bereits vor Jahren haben die Chefideologen von al-Qaida es beschrieben: Eine Kette von Anschlägen soll die Nicht-Muslime in Europa provozieren. Reagieren die mit blinder Gewalt gegen alles, was nach Islam, Araber, Maghrebiner aussieht, ist das Ziel erreicht: ein Bürgerkrieg.“ (Handelsblatt v. 29.07.16)

19Opitz, S. 240 ff.

20Ebd.

21„Die Auseinandersetzung suchen“, Neues Deutschland vom 26.07.16

22Siehe „Pegida, Hogesa und die Perspektiven des prol. Antifaschismus“, www.komaufbau.org, oder: Kuczynski, „Studien, Band 2: Propagandaorganisationen des Monopolkapitals“

23Und zwar gerade, um die Bevölkerung auch auf solche Entwicklungen wie die Flüchtlingsbewegung der letzten Jahre vorzubereiten!

Erschienen in Kommunismus #6 08/2016bjoern-hoecke-afd

1. Mai in Köln – wie die Konterrevolution Massenarbeit treibt

Die folgenden Seiten wollen wir nutzen, um euch anhand der revolutionären Vorabenddemonstration zum 1. Mai in Köln, an der sich unsere Organisation beteiligt hat, Einblicke in unsere Praxis zu geben und einige allgemeine Schlussfolgerungen vorzustellen, die wir aus dieser Erfahrung gezogen haben. Auch wenn wir bei der Darstellung des Ablaufs teilweise aus Bündnisperspketive berichten, stellt die nachfolgende Einschätzung ausschließlich unsere Position als ‚Kommunistischer Aufbau‘ dar.

Wie bereits kurz nach dem 1. Mai in einer kleineren Erklärung unserer Organisation im Internet zu lesen war: Am 30. April haben in Köln Revolutionäre und Konterrevolution nicht um die Straße gekämpft, sondern vielmehr um die Massen und die Stimmung in den Massen. Das ist umso bemerkenswerter, als wir am gleichen Tag und am 1. Mai durchaus auch sehr konkrete „militärische“ Auseinandersetzungen in Deutschland beobachten konnten: bspw. Proteste gegen den AfD-Parteitag in Stuttgart oder 1. Mai in Hamburg (sowohl mit einem Überfall auf DHKP-C SympathisantInnen auf der DGB-Demo als auch am Abend bei der revolutionären 1. Mai Demonstration).

Wir sehen diesen Artikel deshalb auch als Weiterführung der Diskussion um hybride Kriegsführung, zu der in Kommunismus Ausgabe 3 ein Artikel1 erschienen ist. Der revolutionäre Kampf ist sehr vielseitig und hat keinesfalls nur eine militärische Ebene. Die deutsche Konterrevolution hat das seit langem erkannt, was auch im diesjährigen Vorgehen am 1. Mai zum Ausdruck gekommen ist, das bei vergleichbarer Ausgangslage taktisch wie operativ-strategisch extrem unterschiedlich ausgesehen hat und offensichtlich einer übergeordneten politischen Gesamtstrategie folgte. In Städten wie Nürnberg oder Berlin wurde oberflächlich betrachtet auf Deeskalation gesetzt und den Revolutionären Raum gegeben. In Hamburg wurde am Vorabend einer revolutionären Demo aus dem autonomen Spektrum trotz massiver Angriffe auf kapitalistisches Eigentum völlig freie Hand gelassen, während am 1. Mai selbst die revolutionäre „rote“ 1. Mai Demonstration abends nach vergleichsweise deutlich „geringeren Straftaten“ entschieden aufgelöst wurde.

In Köln am Vorabend stand wiederum ein ganz anderes Vorgehen im Zentrum, nämlich politisch zersetzend zu wirken und einen Keil zwischen Massen und Revolutionäre zu treiben.

Die Vorbereitung des revolutionären Vorabends

Zu Beginn einige einleitende Worte zur Keupstraße, der Umgebung, in der unsere Aktion am Vorabend stattfand. Die Keupstraße ist zentral im Kölner Stadtteil Mülheim gelegen und dafür bekannt, dass viele migrantische – vor allem türkische und kurdische – Kleinunternehmer dort ihre Geschäfte haben. Im Jahr 2004 wurde die Straße zum Ziel eines faschistischen Nagelbombenanschlags, der heute dem NSU zugerechnet wird. So wie bei praktisch allen Opfern des NSU prägte jahrelang nicht nur die Erinnerung an den nicht aufgeklärten Anschlag, sondern auch die Beschuldigung der AnwohnerInnen als Terroristen und Kriminelle die Stimmung auf der Straße. Die Kleinunternehmer der Keupstraße haben sich in einem Verein organisiert – der Interessensgemeinschaft Keupstraße (IG Keupstraße). Gemeinsam mit Teilen der Kölner politischen Widerstandsbewegung bis hin zu den Parteien der Sozialdemokratie bilden sie im Bündnis „Keupstraße ist Überall!“ einen wichtigen Teil der NSU-Opfer, die weiterhin politisch öffentlich in Erscheinung treten. Wir werden später auf diese Strukturen und ihre Rolle zurückkommen.

Das regionale Bündnis für die Organisierung der revolutionären Vorabenddemonstration in Köln hatte sich etwa zwei Monate vor dem 1. Mai für eine Demonstration in Mülheim entschieden; unter anderem wegen der Möglichkeit, die Keupstraße in die Route einzubauen und dort den Opfern des Faschismus zu gedenken.

Ansonsten müssen wir uns zu dieser Phase der Vorbereitung vor allem selbstkritisch äußern, denn wie es leider oft der Fall ist, entsprachen die Taten der Revolutionäre nicht ihren Ansprüchen. Unsere Massenarbeit im Vorfeld in Mülheim war sehr schwach ausgeprägt. Das gilt insbesondere für die Keupstraße. Unser Bündnis ist nicht nur – wie es später eingefordert wurde – nicht auf die fortschrittliche, anti-rassistische Bündnisstruktur „Keupstraße ist überall!“ zugegangen. Wir haben es vor allem unterlassen, im ausreichenden Maße zu den Menschen, die in der Keupstraße leben und arbeiten, direkt Kontakt aufzunehmen.

Der Staat dagegen ist ganz anders vorgegangen. Basierend auf einer korrekten Einschätzung der politischen Verhältnisse in der Keupstraße hat er eine Gegenstrategie entwickelt und diese Schritt für Schritt umgesetzt. Das Hauptziel war dabei, die AnwohnerInnen der Keupstraße gegen uns Revolutionäre aufzubringen.

Zunutze gemacht hat sich der Staat – vertreten durch die Polizei – hierbei zwei Faktoren: Das Netzwerk von Kleinladenbesitzern prägt politisch die Stimmung auf der Keupstraße und konnte von ihnen als Multiplikatorennetzwerk genutzt werden. Zweitens war 20 Tage zuvor – bei einer Demonstration türkischer Faschisten – einer von ihnen mitten in der Keupstraße verprügelt worden. Die Faschisten riefen daraufhin zu einem Boykott gegen die Geschäfte in der Keupstraße auf, angeblich aus Empörung darüber, dass niemand eingeschritten sei. Dieser Boykott zeigte nach Angaben der Kleinunternehmer tatsächlich Wirkung und drückte den Umsatz.

Diese ohnehin angespannte Stimmung heizte die Polizei zusätzlich an, in dem sie in den zwei Wochen vor der Demonstration im stetig steigenden Maße eine Angstkampagne gegen die Demonstration auf der Keupstraße führte. Im Nachhinein haben wir gehört, dass im Vorfeld der Demonstration unter anderem das Gerücht gestreut wurde, eine Demonstration mit mehreren tausend kurdischen AktivistInnen wolle durch die Keupstraße ziehen und den Geschäftsinhabern nahe gelegt wurde, diese für die Zeit der Demonstration zu schließen.

Die Sorge vor weiteren Umsatzeinbußen aufgrund eines eskalierenden politischen Konflikts ließ insgesamt eine Anti-Stimmung vor der Demonstration entstehen. Das oben erwähnte Bündnis „Keupstraße ist überall!“, in dem eben auch Vertreter der Keupstraßen-Kleinunternehmer mitarbeiten, trat daraufhin auf den Plan und versuchte durch öffentliche Erklärungen2 und Kontakte innerhalb der linken Szene Kölns Druck auf unser Bündnis auszuüben, die Demonstration abzusagen bzw. nicht durch die Keupstraße zu gehen.

Nach Veröffentlichung dieser Erklärung einen Tag vor der Demonstration berieten sich einige GenossInnen aus dem Bündnis kurz und kamen zur Einschätzung, die wir auch heute noch teilen, dass die wesentliche Seite dieser Entwicklungen das gezielte Schüren von Stimmungen und Ausnutzen der ökonomischen Interessen der Kleineigentümer durch den Staat ist. Die Demo jetzt kurzfristig abzusagen oder nicht wie geplant durchzuführen, würde – auch bei Berücksichtigung der zuvor gemachten Fehler – einen Rückzug ohne Gegenstrategie bedeuten .

 

Der Tag der Demonstration

Mittlerweile unter großem Zeitdruck haben wir uns also entschieden, die Aktion wie geplant durchzuführen, aber die zersetzende Arbeit des Staats nicht unerwidert zu lassen. Somit wurden noch am Tag der Demonstration einige Stunden vor Beginn Flugblätter auf der Keusptraße verteilt, in denen wir unter anderem aufgriffen, dass die Polizei mittags begonnen hatte sämtliche Autos auf der Keupstraße abzuschleppen, was wiederum von uns nur auf einem letzten Spaziergang auf der Route entdeckt wurde. Unter anderem haben wir darin folgendes geschrieben:

[…]Die Bewohnerinnen und Bewohner der Keupstraße wurden nach dem Bombenanschlag im Juni 2004 jahrelang kriminalisiert, sie wurden vom Staat beschuldigt hinter der Bombe zu stecken. Während der gleiche Staat die Nazi-Terroristen mit Geld, Waffen und gefälschten Papieren versorgt hat. Der NSU war keine verrückt gewordene Truppe von Nazi-Jugendlichen, hinter dem NSU stand und steht der tiefe Staat in Deutschland. Der Staat, der versprochen hat, die Hintermänner ans Licht zu bringen, aber nichts getan hat. Der Staat, der noch heute Zeugen aus dem Weg räumt und sie mit inszenierten Unfällen zum Schweigen bringt.

Der gleiche Staat behandelt nun uns und unsere Demonstration wie Verbrecher. Die Polizei hat entschieden, zwei Wasserwerfer einzusetzen, gegen eine Demonstration von etwa 100 Personen. Die Polizei hat entschieden, Autos auf der Keupstraße abzuschleppen, weil das angeblich für die Demonstration notwendig wäre.

Niemand hat sie darum gebeten. Wir wissen, ebenso gut wie die Polizei: Wir sind Revolutionäre, wir sind Kommunisten, wir kommen um gemeinsam zu kämpfen, nicht um eure Autos zu zerstören. Ihr Ziel ist es die Opfer des Faschismus und ihre Unterstützer gegeneinander aufzubringen.“

 

Die Demonstration selbst stellte erstmal einen Erfolg dar, mit 200 kamen etwa doppelt so viele GenossInnen wie im Vorjahr zusammen. Die Demo war lautstark, entschlossen und kämpferisch und auf großen Teil der Route gab es viel Zuspruch von den umstehenden Menschen. Anders aber in der Keupstraße: Hier wirkte sich die gezielte „Vorarbeit“ des Staats auch stimmungsmäßig sehr stark aus und ehrlicherweise müssen wir sagen, dass uns von der Mehrheit der Zuschauer Misstrauen entgegenschlug. Wir wollen aber erwähnen, dass wir selbst unter diesen Bedingungen auch in der Keupstraße noch einiges an Zustimmung bekamen.

Die Polizei hatte nicht nur Autos abgeschleppt, sondern auch den Tag damit verbracht Straßensperren rings um die Keupstraße aufzubauen. Kurz vor der Demonstration wurde nochmal allen Ladenbesitzern ausdrücklich nahe gelegt, ihre Läden jetzt zu schließen. Wir konnten beobachten, dass eine migrantische Kontaktpolizistin, die vor der Demonstration lief, offenbar einen guten Teil der AnwohnerInnen persönlich kannte und begrüßte. Auch das offenbar ein Element der staatlichen „Massenarbeit“.

Die Demonstration konnte von uns dennoch ohne größere Zwischenfälle zu Ende geführt werden. Die für 100 angemeldete TeilnehmerInnen aufgefahrenen zwei Wasserwerfer und Pferdestaffeln der Polizei wurden nicht eingesetzt und blieben Requisiten, um das Bürgerkriegsszenario komplett zu machen.

 

Unsere Nachbereitung und warum Politik auf der Keupstraße doch akzeptiert wird

Die Schlagzeile der Lokalzeitung „Express“ am nächsten Tag „ Kurdendemo entpuppt sich als Protest gegen Kapitalismus“3 fasst sehr schön zusammen wie effektiv die Polizei, um ihre Ziele zu erreichen, nicht nur die Menschen in Köln-Mülheim, sondern auch die Journalisten an der Nase herum geführt hatte. Ganz abgesehen davon, dass es darum ging möglichst große Angst zu schüren, enthält das Vorgehen der Polizei auch die Seite, eine revolutionär kommunistische Demo zu entpolitisieren, in dem sie auf einen Teilaspekt reduziert wird.

Das Bündnis hat auch nach der Demonstration noch den Kontakt zu den Menschen auf der Keupstraße gesucht. Dabei konnten wir noch einiges in Erfahrung bringen, was vorherige Annahmen bestätigte.

So formulierten hier einige KleinunternehmerInnen klipp und klar, dass sie mit den Zielen unserer Demonstration zwar persönlich sympathisieren würden, aber für sie eben Umsatzeinbußen eine existenzielle Frage seien und sie sich deswegen gegen die Demonstration ausgesprochen hätten.

Viele andere freuten sich darüber, dass wir uns im Nachhinein blicken ließen und erkannten allein schon diesen Schritt mutig und aufrichtig, vor allem aber machte sich bei ihnen im Nachhinein das Gefühl breit vom Staat (mal wieder) hintergangen worden zu sein, wo sich doch die ganze Aufregung aus ihrer Sicht als reichlich aufgebauscht rausstellte.

Diejenigen VertreterInnen der IG Keupstraße, die zuvor in Versammlungen unkritisch die Behauptungen der Polizei weitergegeben hatten, mussten sich wohl einige Kritik anhören.

Auch hier müssen wir wieder sagen, dass diese politische Angriffsfläche, die sich aus dem staatlichen Vorgehen im Nachhinein ergeben hat, von uns zwar erkannt wurde, aber ebenfalls nicht ausreichend ausgenutzt wurde.

Jedoch, trotz unterschiedlicher Nuancen müssen wir schon feststellen, dass der großen Mehrheit der UnternehmerInnen der Keupstraße ein ruhiger Verkaufstag ohne Politik lieber gewesen wäre als unsere Demonstration.

Einen politischen Ausdruck findet das in der Argumentation des „Keupstraße ist überall!“ Bündnisses im Nachhinein. Unter anderem wurde GenossInnen aus unserem Bündnis vorgehalten, die jahrelange Arbeit des Bündnisses zunichte zu machen, weil wir den türkisch-kurdischen Konflikt nach Deutschland tragen würden, wo er nichts zu suchen habe.

Es ist aber so, dass nur einen Monat später mit großem Getöse sehr deutlich gemacht wurde, dass Politik durchaus auf der Keupstraße willkommen ist, nur eben keine revolutionäre Politik.

Das Birlikte Festival wurde zum wiederholten Male am 5. Juni mitten in Mülheim veranstaltet. Dabei handelt es sich um ein von diversen sozialdemokratischen Institutionen, der Stadt Köln und eben einigen Aktivisten aus den Reihen der AnwohnerInnen auf der Keusptraße getragenes Event, das sich offiziell gegen den wachsenden Rassismus wenden soll. Initiiert wurde es zum ersten Mal nach dem Auffliegen des NSU. Als Repräsentanten der KeupstraßenbewohnerInnen trat dabei die IG Keupstraße auf.

Unter anderem versuchte ihre Vorsitzende Meral Şahin mit der denkwürdigen Behauptung, die Menschen wollten wissen, was die AfD gegen sie habe, gegen den Protest von AntifaschistInnen durchzusetzen, dass die AfD im Rahmen dieses Events auf einem Podium sprechen könnte – erfreulicherweise erfolglos.

Diesmal nun fühlte sich auch der gewissermaßen linke Flügel der IG Keupstraße als Teil des Bündnisses „Keupstraße ist überall!“ übergangen und erhob öffentlich Protest.4

Fast noch interessanter als diese Episode ist aber, dass die IG Keupstraße gemeinsam mit anderen türkischen Verbänden eine Protestnote gegen die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern beschloss unter anderem gemeinsam mit „Dein Köln e.V.“, die kurzerhand gleich Outings von Mitgliedern der Armenischen Gemeinde nachschoben.5

Wir denken, es ist notwendig, diese Beispiele als Anstoß zu nehmen, um endlich anzuerkennen, dass „Migrant“ nicht gleichbedeutend mit „antifaschistisch“ oder gar „fortschrittlich“ ist. Ganz im Gegenteil müssen wir wohl der bitteren Tatsache ins Auge sehen, dass wir auch in diesem Teil der Massen mit der Konterrevolution konfrontiert sind, die hier neben den herkömmlichen „deutschen“ Mitteln eben auch noch zusätzlich auf AKP-Massenorganisationen und ähnliches zählen kann.

Schlussfolgerungen

Die Erfahrung in diesen Tagen hat uns nochmal deutlich vor Augen geführt, dass kommunistische Politik sehr schnell viel komplexer werden kann, als man annehmen mag und sich der Staat selbst bei vermeintlich relativ kleinen Aktionen nicht zu schade ist, auch kreative Strategien zu entwickeln, um die Vereinigung der Revolutionären mit den Massen zu verhindern.

In einem recht schnellen Zeitraum waren wir ständig gefordert, die Situation zu erfassen und schnell zu reagieren. Wir würden nicht behaupten, dass wir dabei alles richtig gemacht haben, ganz im Gegenteil, wir sehen viele Punkte in unserem Vorgehen sehr selbstkritisch. Trotzdem ist es unserer Meinung nach richtig, dass wir reagiert haben und nicht einfach aufgegeben haben, in einem ungleichen Kampf mit Polizei, türkischen Faschisten und angeblich „politisch neutralen“ Interessensgemeinschaften.

Unsere Auswertung sollte nicht so missverstanden werden, dass wir uns moralisch empören wollen darüber, dass KleinbürgerInnen ihrem Privatinteresse den Vorrang vor der Politik geben oder dass wir gegenüber der übermächtigen Propagandamaschinerie des Feindes resigniert aufgeben müssten.

Im Gegenteil: Wir haben nur ein weiteres mal erlebt, dass uns als KommunistInnen heute eben in allen Teilen der Massen viel Widerstand entgegenschlägt.

Wir waren in diesen Tagen praktisch mit der Frage konfrontiert, wie wir mit diesem Widerstand umgehen können? Demonstrieren wir nur dort, wo wir sicher sind, dass die Massen sich darüber freuen und uns begrüßen? Überspitzt gesagt, könnten wir dann wohl nirgendwo mehr demonstrieren.

Haben die direkt Betroffenen von faschistischem Terror das Definitionsrecht darüber, wann, wie und von wem an die Opfer gedacht wird? Oder wäre es nicht richtiger sie davon zu überzeugen, dass letztlich wir alle kämpferische ArbeiterInnen, KommunistInnen, MigrantInnen, Frauen, Homosexuelle usw. vom Faschismus „betroffen“ sind und somit ein gemeinsamer Kampf gegen eben diesen Faschismus in allen Formen, Farben und Nationalitäten der einzige Ausweg ist?

1Sun Tsu besucht Garmisch – Hybride Kriegsführung im 21. Jahrhundert, Kommunismus Ausgabe 3, zu finden auf komaufbau.org

2http://keupstrasse-ist-ueberall.de/30-04-2016-erklaerung-keine-demo-durch-die-keupstrasse/

3http://www.express.de/koeln/fast-nur-deutsche-dabei-kurden-demo-entpuppt-sich-als-protest-gegen-kapitalismus-23984788

4http://keupstrasse-ist-ueberall.de/stellungnahme-afd-vertreter-als-podiumsgast-auf-dem-birlikte-fest/

5http://www.ksta.de/koeln/armenien-resolution-politische-gruppe–dein-koeln–wegen-hetze-angezeigt-24193896

Erschienen in Kommunismus #6 08/2016Bundespräsident Joachim Gauck, Meral Sahin von der IG Keupstraße

Mitten in Deutschland: NSU – (K)eine Filmkritik

Anfang April lief zur besten Sendezeit der mit großem Aufwand produzierte ARD-Dreiteiler „Mitten in Deutschland: NSU“ im Fernsehen. Auch wenn der Vergleich zum „Tatort“ öfters gezogen wurde und Krimi-Elemente verwendet werden, handelt es sich dabei weder um einen Krimi noch im klassischen Sinne um eine Trilogie, d.h. eine Fortsetzung der erzählten Geschichte in drei abendfüllenden Spielfilmen.

Ähnlich wie bei Wolfgang Schorlau’s literarischem Gegenstück „Die Schützende Hand – Denglers achter Fall“, welches mit der selten gelungen Mischung zwischen dokumentarischem Sachbuch und Krimi beinahe ein neues Genre schafft, wird in dem Film neben der Berücksichtigung von einigen politischen Vorgaben gerade so viel verfremdet, dass die Persönlichkeitsrechte von Beteiligten durch einige fiktionale Elemente gewahrt bleiben. Mitten in Deutschland erzählt also die Realität; natürlich die politisch gewollte des deutschen Imperialismus, und die weist bekanntlich im Fall des NSU von einigen unbedeutenden Details abgesehen keinerlei Übereinstimmung mit der Wahrheit auf.

Die drei Teile wollen den ZuschauerInnen unterschiedliche Sichtweisen nahe bringen. Der Stoff des NSU wird daher aus drei Perspektiven erzählt. Es beginnt mit „Die Täter – Heute ist nicht alle Tage“ vom Regisseur Christian Schwochow, dem – sprechen wir es doch einfach mal auf den Punkt gebracht aus – vermutlich besten jugendfreien Rekrutierungsfilm für faschistische Paramilitärs, der jemals gedreht wurde. Der zweite Teil „Die Opfer – Vergesst mich nicht“ von Regisseur Züli Aladag bildet den Gegenpol zur offenen faschistischen Propaganda der netten ‚Taten statt Worte‘-Kameraden von nebenan im 1. Teil. In Anlehnung an Buch „Schmerzliche Heimat“ von Semiya Şimsek, der Tochter des ersten Opfers der NSU-Mordserie Enver Şimsek in Nürnberg, wird mit viel Empathie die Geschichte der vom deutschen Imperialismus elf Jahre lang terrorisierten Familie Şimsek erzählt. Bewusst soll so der Stimme der Opfer, die in der Realität nicht gehört wurden und im Imperialismus niemals gehört werden, Platz gegeben und ein Publikum verschafft werden. Der dritte Teil „Die Ermittler – Nur für den Dienstgebrauch“ von Regisseur Florian Cossen liefert dann sozusagen die politische Einordnung mit einem grandiosen Finale. Der endlich zum Reden bereite, im Zeugenschutz auf einem abgelegenen Bauernhof lebende V-Mann Corelli, wird vor den Augen des hilflos über den Acker rennenden ehrlichen Ermittlers liquidiert. Der tiefe Staat hat gesiegt – ganz wie im echten Leben.

Wir sind keine Feuilletonisten und wollen keine Filmkritik schreiben. In der ‚Trotz Alledem‘ Nummer 72 vom Mai 2016 haben die GenossInnen der ‚Bolschewistischen Initiative‘ (BI) eine solche Filmkritik geschrieben, in der sie auch auf den inhaltlich deutlich empfehlenswerteren Kinofilm „Der Kuaför aus der Keupstrasse“1 eingehen. Die drei Teile von „Mitten in Deutschland: NSU“ sind professionell gemachte und im Hinblick auf die Zielgruppe – das Massenpublikum – sehr gute Filme. Ob die SchauspielerInnen nun nur gut waren oder dafür einen Oscar verdient hätten; ob die Zeitsprünge im dritten Teil nun gelungen sind oder eher die Story „verwirrt verwoben“ haben (wie die GenossInnen von BI meinen): Solche Fragen können angesichts der beabsichtigten Wirkung imperialistischer Propaganda letztlich offen bleiben. Auch die politische Frage, ob der Zugang von Regisseur Schwochow „Man macht es sich zu einfach, wenn man die mutmaßlichen Täter als drei empathielose Monster ansieht (…) Man muss sich mit diesen Leuten beschäftigen (…) mit ihren Sehnsüchten und Ängsten.“2 als Rechtfertigung für faschistische Propaganda trägt, führt letztlich in die Irre. Ebenso wie ein kleinliches Rummäkeln, dass z.B. im ersten Teil die inzwischen tausendfach widerlegte Lüge eines Trios aufrecht erhalten wird oder im dritten Teil der ganze Kontext des tiefen Staats ausgeblendet und auf Widersprüche zwischen VS und LKA in Thüringen umgebogen wird, nicht wirklich zielführend ist.

Imperialistische Propaganda at it’s best

Die NSU-Triologie ist imperialistische Propaganda in Höchstform. Sie spricht auf unterschiedliche Weise verschiedene Teile der Massen direkt an. Die Mehrheit der Bevölkerung wendet sich scheinbar apolitisch von dem ganzen Geschehen ab und interessiert sich nur noch begrenzt für immer neue Enthüllungen. So waren die Zuschauerzahlen mit 2,6 bis 2,8 Millionen im Vergleich zu 9 Millionen bei einem neuen ‚Tatort‘ eine Enttäuschung für die Herrschenden. Dennoch machen sie sich natürlich Gedanken, wie sie das Thema im Hinblick auf die Massen und die Stimmungen in den Massen behandeln sollen.

Der Imperialismus geht dabei so an die Massen heran, dass er ihre verschiedenen Teile mit unterschiedlichem Bewusstsein und unterschiedlichen Ideologien im Kopf auch mit unterschiedlichen Mitteln beeinflussen und kontrollieren muss, das spiegelt sich auch in den drei Teilen (Täter-Opfer-Ermittler) wieder:

Ein Teil der Massen, die FaschistInnen nämlich, wird durch den ersten Teil, in dem die Politisierung des „NSU-Trios“ nachgestellt wird, bestärkt, und der Rassenkrieg wird als erstrebenswert dargestellt bis hin zur Erwähnung des „Field Manuals“ und der „Turner Tagebücher“ (zwei Bücher, in denen das Konzept des führerlosen Widerstands erläutert wird). Ein anderer Teil der Massen wird durch den gleichen Film in der Sorge vor der Radikalisierung ihrer Jugendlichen (nicht nur nach rechts, auch nach links) bestärkt. Als Gegenmittel für die Radikalisierung wird die Integration ins Berufsleben und den Kapitalismus samt bürgerlicher Kleinfamilie propagiert.

Den Opfern gegenüber wird zum Teil ihre Machtlosigkeit und dass sie dem Staat ausgeliefert sind nochmal vor Augen geführt. Ein Teil der MigrantInnen weiß aus ihren Herkunftsländern was ein tiefer Staat ist und soll sich mit den bestehenden Machtverhältnissen und dem Platz ganz unten in der rassistischen und kapitalistischen Mehrheitsgesellschaft abfinden. Ein anderer Teil wird durch den scheinbaren Aufklärungswillen des Staates eingebunden, insbesondere jene Intellektuellen und natürlichen Führerinnen wie Semiya Şimsek, die ihrer Community eine Stimme verschaffen könnten. Sie bekommen zwar keine politische Macht, aber dafür wird ihrer Geschichte in der Öffentlichkeit Raum gegeben und ihnen wird – ausnahmsweise einmal – zugehört.

Die Ermordung von ZeugInnen in aller Öffentlichkeit ist eine ganz klare Machtdemonstration gegenüber allen Beteiligten im Staatsapparat, die vermittelt, dass ihnen das gleiche Schicksal blüht, wenn sie nicht bei der offiziellen Story bleiben. Je nach Bewusstsein kann man z.B. als liberaler Bildungsbürger den dritten Teil durchaus aber auch so verstehen, dass am Ende in einer Demokratie immer alles rauskommt.3

Imperialistische Propaganda greift am vorhandenen Bewusstsein der jeweiligen Zielgruppe an, um es in die gewünschte Richtung zu beeinflussen. Angesichts der vielfältigen und krassen Widersprüche, die der Kapitalismus in seiner letzten und höchsten Phase – dem Imperialismus – hervorbringt und die sich für alle spürbar auch in Deutschland in den letzten Jahren zunehmend verschärfen, ist das Bewusstsein in den Massen im Allgemeinen auch sehr widersprüchlich. Es gleicht häufig einem Flickenteppich von richtigen und falschen Gedanken, in dem sich alle möglichen, darunter auch direkt gegenseitig ausschließenden, ideologischen und politischen Haltungen bzw. Versatzstücke davon wiederfinden. So ein Denken kann man nicht mit plumpen Gut-Böse- bzw. Richtig-Falsch-Schemata und vorgegebenen Antworten lenken. Der Imperialismus ist vielmehr gezwungen, in seiner strategischen Kommunikation sogenannte „Narrative“ einzusetzen, d.h. Erzählungen, die auf die Brüche im Denken und die offenen Fragen der Massen eine in sich schlüssige Erklärung liefern, die in der Regel nicht ausgesprochen wird. Propaganda wirkt stärker, wenn der letzte Schritt der Schlussfolgerung scheinbar von den Betroffenen selbst vollzogen wird, nachdem man sie vorher subtil dahin geführt hat.

In diesem Sinn ist der NSU-Dreiteiler ganz großes Kino, schafft er es doch in weniger als 6 Stunden massentauglich alle Erzählungen des Imperialismus über die bürgerliche Gesellschaft und den Kapitalismus zu verbreiten, die heute in die Massen getragen werden müssen, um die gesellschaftliche Gärung in für die Herrschenden unkritische Bahnen zu lenken.

1Dokumentarfilm Deutschland 2015, Regie Andreas Maus, 92 Min., deutsch/türkisch mit Untertiteln, www.realfictionfilme.de und www.facebook.com/keuptstrasse.film

2Drei Regisseure, drei Filme, ein Fernsehereignis, DIE ZEIT, _Nr. 13, 17.03.2016, S. 52

3Diese Propagandaebene wird allerdings in dem Film „Der blinde Fleck“ von Daniel Harrich und Ulrich Chaussy über das staatsterroristische Oktoberfestattentat viel stärker betont; siehe dazu auch Kommunismus Nr. 2 ‚Tiefer Staat?! Oktoberfestbombe, NSU und der tiefe Staat‘, S. 5

Erschienen in Kommunismus #6 08/2016

Aus der weißen Fabrik – Interview mit zwei KrankenpflegerInnen

Als Kommunistischer Aufbau sind wir auf die kürzlich gegründete ‚Initiative Kämpferische Pflege‘ (IKP) aufmerksam geworden. Dabei handelt es sich um einen klassenkämpferischen Organisierungsansatz von Pflegerinnen und Pflegern aus verschiedenen Arbeitsbereichen und Krankenhäusern. Wir drucken in dieser Ausgabe ein Interview der IKP mit zwei KollegInnen aus dem Krankenhaus ab, sowie einen kapitalismuskritischen Artikel dieser Initiative. Bitte sendet Rückmeldungen direkt an die Initiative unter organisierte.pflege@gmx.de

 

IKP: Hallo ihr beiden, stellt euch doch doch mal bitte kurz vor.

Onur: Hallo, ich heiße Onur und bin 21 Jahre alt. Ich mache derzeit meine Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger in einer Uniklinik.

Inga: Hallo, ich heiße Inga, ich bin 39 Jahre alt und arbeite in einem städtischen Klinikum.

IKP: Warum habt ihr euch für die Krankenpflege entschieden? Was habt ihr von dem Beruf erwartet?

Onur: Ich habe vorher viele verschiedene Praktika und Minijobs gemacht, die mir alle mehr oder weniger sinnlos erschienen. Die Pflege schien mir die sinnvollste Alternative zu sein. Der Job ist zwar anstrengend, aber immerhin hat er eine positive menschliche Komponente. Doch nach einem halben Jahr begann mein Bild des Pflegeberufs zu bröckeln und jetzt, nach ca. einem Jahr bin ich schon ziemlich desillusioniert.

Inga: Ich hatte schon immer das Bedürfnis, Menschen zu helfen. Ein Bürojob oder eine Ausbildung in der Industrie kam für mich nie in Frage. Deshalb habe ich mich dann auch für eine Ausbildung in der Krankenpflege entschieden. Heute sehe ich viele Ding anders als zu Beginn meiner Ausbildung, aber im großen und ganzen ist meine Motivation geblieben.

IKP: Vielleicht könnt ihr für unsere Leser mal kurz beschrieben, wie so ein typischer Arbeitstag für euch aussieht.

Inga: Der Frühdienst beginnt um 06:15 Uhr mit der Übergabe, das heißt, der Nachtdienst erzählt was zu den einzelnen Patienten und was in der Nacht so passiert ist. Hier gibt es dann meistens schon die erste böse Überraschung, weil sich KollegInnen über Nacht krankgemeldet haben und kurzfristig kein Ersatz besorgt werden konnte. Das ist ja auch kein Wunder, denn die Stellen sind so knapp kalkuliert, dass es einfach so gut wie keine Kapazitäten gibt um zusätzliche Ausfälle aufzufangen. Es sind ja auch immer Stellen nicht besetzt, weil beispielsweise keine Schwangerschaftsvertretungen da sind. Und das die Kollegen, die gerade vielleicht zwölf Tage Dienst am Stück hinter sich und dazu noch einen Berg voll Überstunden angesammelt haben, dann nicht noch an einem ihrer wenigen freien Tage arbeiten kommen, kann ich auch verstehen. Dann teilen wir die Patienten untereinander auf, trinken, wenn es die Zeit zulässt, noch schnell einen Kaffee und dann geht es los. Als erstes kontrollieren wir die Medikamente für die Patienten, machen die Infusionen und Spritzen bereit und starten dann unseren ersten Rundgang, in dem wir die Patienten begrüßen, Medikamente verabreichen und die Vitalzeichen, also Blutdruck, Puls und Temperatur kontrollieren. Das nimmt schon einiges an Zeit in Anspruch, denn in den seltensten Fällen läuft alles nach Plan und ich muss auf Unregelmäßigkeiten wie einen stark erhöhten Blutdruck bei einer Patientin oder ähnliches reagieren. Wenn ich mit dem Rundgang fertig bin, meistens so gegen 9 Uhr, fange ich mit der Körperpflege meiner Patienten an. Oft schaffe ich dann erst mal nur einen Patienten, bevor die Ärzte mit ihrer Visite beginnen, bei der ich anwesend sein soll, obwohl ich eigentlich keine Zeit dafür habe. Zwischendrin werden dann auch immer wieder Patienten zu Untersuchungen oder Therapien abgerufen, was meine Planung dann natürlich gehörig durcheinander bringt. Und die Patienten haben natürlich auch zwischendrin Bedürfnisse, auf die ich reagieren muss, wie Toilettengänge oder ähnliches. Wenn dann noch irgendetwas größeres passiert, ein Notfall oder so etwas, dann kann ich manche Patienten nicht versorgen. Wenn ich dann doch alle Patienten versorgt habe, ist es meist schon 12 Uhr, also Zeit für meine Mittagsrunde, wo ich dann wieder Medikamente verteile und die Patienten bei der Nahrungsaufnahme unterstütze. Viele meiner Patienten können nicht alleine Essen, also muss ich ihnen oft das Essen anreichen, was ebenfalls wahnsinnig viel Zeit in Anspruch nimmt. Dann ist es oft schon bald Zeit für die Übergabe an den Spätdienst und danach muss ich noch dokumentieren, was in meinem Dienst so passiert ist und welche Pflegemaßnahmen ich durchgeführt habe. So schaffe ich es selten pünktlich um 14:30 Uhr Feierabend zu machen.

Onur: Für mich beginnt der Tag auch mit der Übergabe, an der ich eigentlich auch teilnehmen sollte, immerhin sind für mich viele Krankheitsbilder und Fachbegriffe noch neu. Aber im Normalfall muss ich nach fünf Minuten schon das erste Mal loslaufen, weil sich die ersten Patienten melden und Hilfe brauchen.

Da bekomme ich natürlich nicht besonders viel von der Übergabe mit, aber das wird von den examinierten Pflegekräften von mir erwartet. Während die examinierten PflegerInnen ihre Rundgänge vorbereiten, werde ich dann meistens schon zu den ersten Patienten geschickt um diese zu versorgen. Natürlich weiß ich generell wie das geht, aber trotzdem bin ich oft unsicher, was bestimmte Tätigkeiten angeht. Aber dass ich mal mit einer examinierten Kollegin zusammen Patienten versorge und dabei angeleitet werde kommt eher selten vor. Ich bin mir sicher, dass ich schon öfter gravierende Fehler gemacht habe und auch einige Male Glück gehabt habe, dass nichts passiert ist. Zum Beispiel habe ich mal einen Patienten zur Toilette mobilisiert, der nicht richtig laufen konnte und der dabei beinahe gestürzt wäre.

Generell werden wir auf den Stationen eher als Hilfskräfte bzw. zusätzliche Kräfte gesehen und weniger als Lernende. Die Zeit mal Fragen zu stellen oder sich bestimmte Dinge genauer erklären zu lassen, gibt es fast nie bzw. wird mir das Gefühl vermittelt, dass Fragen stellen jetzt nicht angebracht wäre.

IKP: Das klingt ja nicht sehr gut. Könnt ihr denn euren Aufgaben da gewissenhaft nachkommen?

Inga: Naja, laut den Richtlinien sind alleine für die Grundwaschung eines Patienten 45 Minuten veranschlagt. Bei acht Patienten wären das alleine 6 Stunden. In der Realität habe ich selten mehr als 15 Minuten Zeit für die Versorgung eines Patienten. Oft bleibt auch nur die Zeit für eine kurze Katzenwäsche, also Gesicht, unter den Armen und Intimbereich. Das bedeutet aber auch, wenn ich innerhalb dieses Zeitrahmens bleiben will, muss ich die komplette Pflege übernehmen, egal ob der Patient einige Dinge selbst übernehmen könnte. Das bedeutet natürlich eine krasse Entmündigung des Patienten und eine absolut würdelose Situation und dazu noch eine absolut kontraproduktive Behandlung, da der Patient so natürlich nicht in seinen Ressourcen gefördert wird. Aber anders schaffe ich es nicht, alle zumindest ansatzweise zu versorgen.

Nehmen wir zu den 6 Stunden Körperpflege noch 1 Stunde alleine für die korrekte Händedesinfektion, 1 Stunde für die Dokumentation und 2-3 weitere Stunden für Tätigkeiten wie Essen anreichen, Tabletten stellen und verteilen und Untersuchungen vorbereiten wird klar, dass das innerhalb eines 8-Stunden Tages unmöglich zu erreichen ist. Dass da zwangsweise einiges auf der Strecke bleibt, ist klar. Zeit mit dem Patienten zu sprechen, der in einer emotional extrem belastenden Situation ist und dringend Gesprächsbedarf hätte, bleibt natürlich auch so gut wie gar nicht.

Onur: Für mich heißt das vor Allem, dass ich kaum Zeit habe, während der Arbeit angeleitet zu werden und zu lernen. Damit reproduziere ich natürlich meine Fehler, weil keine Kontrolle stattfindet. Ich wurde auch schon öfter angemault, weil ich länger als 15 Minuten für die Pflege gebraucht habe, die Zeit wäre nicht da. So bekomme ich von Anfang an schon den Zeitdruck eingebläut.

IKP: Im Jahr 2015hat Verdi ja eine Kampagne mit dem Titel „Wir sind mehr Wert“ gestartet und wir konnten lesen, dass vielerorts PflegerInnen für mehr gesellschaftliche Anerkennung gekämpft haben. Trifft das eurer Meinung nach das Problem?

Inga: Naja, Anerkennung bekomme ich eine ganze Menge. Mir wird dauernd mitleidig auf die Schulter geklopft und gesagt, wie toll das doch sein, das ich gerade diesen Job mache, obwohl er so schwer und schlecht bezahlt sei. Aber dafür kann ich mir auch nichts kaufen, das repariert nicht meinen kaputten Rücken und sorgt auch nicht dafür, dass am Monatsende mehr Geld auf meinem Konto ist. Ebenso wenig verhindert es, dass ich meine Freunde und Familie kaum noch sehe, weil ich dauernd Wochenend- und Feiertagsschichten habe oder sorgt dafür, dass ich trotz meines durch die dauernden Schichtwechsel völlig zerstörten Biorhythmus vernünftig schlafen kann.

IKP: Wie begegnen euch denn die Patienten?

Inga: Die meisten sind natürlich sehr dankbar, sie befinden sich ja auch in einem krassen Abhängigkeitsverhältnis uns gegenüber. Den meisten fehlt ja das Wissen um die Dinge zu beurteilen, die wir mit ihnen veranstalten und sie müssen uns blind vertrauen. Auch sind sie meistens sehr verständnisvoll, wenn wir mal wieder wenig Zeit haben. Das gilt vor Allem für schwer pflegebedürftige Patienten, die aber auch am Meisten unter dem derzeitigen System zu leiden haben. Wenn sie keine Angehörige haben, die sich um sie sorgen, sind sie diesem unmenschlichen System völlig ausgeliefert und bleiben auf der Strecke. Wer fit ist und sich wehren kann hat Glück. Klar trifft das dann auch oft uns, aber da habe ich Verständnis für, auch wenn ich da meistens nicht die Schuld habe, sondern das System wie es ist, aber ich bin immerhin die direkte Ansprechpartnerin für die Patienten.

IKP: Wie ist das mit Privatpatienten? Gibt es da einen Unterschied in eurer Herangehensweise?

Onur: Viele Privatpatienten sehen uns immer mehr als Dienstleister. Nach dem Motto: „Ich zahle dafür, also mach was ich sage.“ Da herrscht wenig Verständnis für die Lage der Pflege. Man sieht auch deutlich, wie diese Patienten innerhalb des Systems bevorzugt werden. Wenn da irgendwas nicht klappt, gibt’s direkt Ärger vom Chef persönlich. Sie bekommen innerhalb von ein paar Tagen Untersuchungen, die ein Kassenpatient erst nach Wochen bekommen würde und dann auch nur ein Bruchteil davon.

Ich habe natürlich den Anspruch an mich, alle Patienten gleich zu behandeln, aber wenn ein Privatpatient was will, dann geht das natürlich vor, da kann ich nicht viel gegen tun. Da gibt’s halt direkt Druck von ganz oben.

IKP: Wie geht ihr denn mit dieser Situation um, wie ist die Stimmung unter den KollegInnen?

Inga: So traurig es ist, ich habe mich sehr schnell dran gewöhnen müssen, dass ich unmöglich meine Arbeit so erledigen kann, wie es sein sollte und so geht es auch den meisten KollegInnen. Man muss leider feststellen, die meisten haben resigniert und machen ihre Arbeit eben so gut es geht. Viele kündigen auch sehr schnell wieder, wir haben eine unheimliche Fluktuation was unser Team angeht, weil viele es einfach nicht lange aushalten. Es gibt natürlich eine Menge Unmut, alle regen sich andauernd über die Situation auf der Arbeit auf, aber den meisten fehlt dann schlussendlich die Energie, was zu ändern. Mehr als mal eine Überlastungsanzeige beim Personalrat, wenn es mal besonders schlimm ist, gibt es eigentlich nie. Oft richtet sich die Wut dann auch gegen Leute, die da eigentlich gar nichts für können, zum Beispiel andere KollegInnen, Servicekräfte oder auch PatientInnen. Da kommen dann so Aussagen wie „Na toll, Frau Maier klingelt ja schon wieder, die ist ja richtig nervig“ obwohl die Frau extrem eingeschränkt und auf Hilfe angewiesen ist, oder „War ja klar das XY mal wieder krank ist, das geht ja gar nicht.“ obwohl die Kollegin oder der Kollege vielleicht einfach nur der dauernden Belastung auf der Arbeit nicht mehr gewachsen ist. Wenn man teilweise zehn oder zwölf Dienste am Stück arbeiten muss und das dann auch noch mit wechselnden Schichten und dann an seinen paar freien Tagen auch noch angerufen wird, ob man arbeiten kommen kann, ist es halt kein Wunder, dass man sich nicht richtig regenerieren kann und krank wird.

Interessanterweise ist den Leuten schon sehr klar, dass die Ursache für die Probleme im Kapitalismus und in der daraus folgenden Ökonomisierung des medizinischen Sektors liegt. Aber aus irgendeinem Grund kommen sie dann doch nicht auf die richtigen Schlussfolgerungen und ziehen sich schnell wieder auf die Positionen der Führungsebene zurück. So regen sie sich dann beispielsweise über den immer größer werdenden Dokumentationsaufwand auf, aber verteidigen dies am Ende dann doch, weil von den zusätzlichen Geldern, die dadurch erwirtschaftet werden, ja Aushilfen bezahlt würden. Aber sie übersehen dabei völlig, dass es mit einem vernünftigen Stellenschlüssel gar nicht nötig wäre, diese Aushilfen zu beschäftigen. Oder es wird sich über schlechtes Arbeitsmaterial aufgeregt, aber am Ende dann doch gesagt, dass die teuren Sachen ja nur unnötig Geld kosten würden und wir es ja selber Schuld seien, wenn wir nicht achtsam mit den Dingen umgingen.

Also schlussendlich wird uns ins Gesicht gesagt, dass wir mehr leisten müssen, es unsere Aufgabe sei dafür zu sorgen, dass der Stationsbetrieb aufrechtgehalten werden kann.

IKP: Welche Rolle spielen denn die Gewerkschaften im Krankenhaus, bzw. in der Pflege?

Inga: So gut wie keine. Die wenigsten meiner KollegInnen sind gewerkschaftlich organisiert und haben auch kein Interesse daran, weil von den Gewerkschaften ja eh nicht viel kommt. Alle paar Jahre gibt es mal eine plakative Aktion, wo um ein paar Prozent mehr Lohn verhandelt wird, aber das Kernproblem wird völlig ignoriert.

Und wirksam sind die Aktionen der Gewerkschaften durch die engen Absprachen mit der Klinikleitung sowieso nicht. Ein Streik, bei dem eine Notbesetzung gewährleistet werden muss, übt halt keinen Druck auf die Führung aus, da der Betrieb ja weiterläuft. Diejenigen, die davon betroffen sind, sind halt nur die PatientInnen und die KollegInnen, die gezwungen sind währenddessen zu arbeiten. Das wird natürlich ausgenutzt und an das moralische Empfinden der KollegInnen appelliert, weshalb sich auch die wenigsten an den seltenen Streiks beteiligen. Man will ja die Kollegen nicht hängen lassen usw. Das ist im Übrigen auch der Grund, warum sich viele meiner KollegInnen krank zur Arbeit schleppen.

Den meisten ist zwar bewusst, wenn man sie drauf anspricht, dass dieses Verhalten auf einem falschen Verständnis von Solidarität beruht, aber am Ende erscheinen sie dann doch zum Dienst.

Onur: Ich bin zu Anfang meiner Ausbildung in die Jugend- und Auszubildendenvertretung (JAV) eingetreten, weil ich es wichtig finde, zumindest im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten ein Mitspracherecht zu haben. Als ich mit meiner Ausbildung angefangen habe, gab es gerade einige für mich damals recht eindrucksvolle Streikaktionen von Verdi, an denen sich auch viele meiner Mitazubis beteiligt haben, auch weil es um Verbesserungen für uns Azubis ging. Verdi hat uns damals gelockt bei ihnen einzutreten und es so dargestellt, als wäre das eine notwendige Voraussetzung um Jugendvertretungsarbeit zu machen. Einige Zeit später ist mir dann erst klar geworden, dass das schlicht gelogen war. Am Anfang war ich auch sehr begeistert vom Engagement meiner Mitazubis, aber das hat dann auch schnell nachgelassen, nach dem die gemerkt haben, dass hinter den Aktionen von Verdi nicht viel steht. Am Ende waren es dann neben mir noch ein oder zwei Leute, die wirklich aktiv sind.
Im Rahmen der JAV-Tätigkeit versuchen wir schon regelmäßig die Interessen der Auzbis auch mal mit radikaleren Forderungen zu vertreten, allerdings stoßen wir dabei meistens auf ziemlichen Widerstand. Die Grundhaltung der Gewerkschaften scheint eher zu sein, sich mit der Klinikleitung zu verständigen, anstatt legitime Forderungen an sie heran zu tragen. Auch wird unsere JAV-Arbeit nur bedingt unterstützt. Wir haben zum Beispiel mal gefordert, unseren Urlaub, der uns bisher fest vorgegeben ist, zumindest teilweise selber planen zu können. Das stieß von Seiten des Personalrats und Verdi erstmal auf totale Ablehnung, bzw. es wurde gesagt, dass das auf keinen Fall ginge. Als wir dann deutlich gemacht haben, dass wir im Falle einer Ablehnung Aktionen starten werden und ein Nein von Seiten der Klinikleitung nicht hinnehmen, wurde uns mehr oder weniger ein Maulkorb verpasst, mit der Begründung „Wir wollen uns ja nicht mit dem Arbeitgeber zerstreiten.“ Das ist schon frustrierend, aber spiegelt leider auch deutlich die Herangehensweise von Verdi und co. wieder. Auch wird immer wieder klar, dass unsere Arbeit nicht als notwendig, sondern eher als „goodie“ verstanden wird, welches nur unnötig Geld kostet. So weigert sich der Personalrat zum Beispiel, die Kosten für unsere Seminare vollständig zu übernehmen, mit der Begründung, das sei unwirtschaftlich. So können wir nicht alle an Seminaren teilnehmen, die nötige Grundlagen für unsere Arbeit schaffen würden, weil es im Endeffekt der Klinik zu teuer ist.

IKP: Was wären denn eurer Meinung nach die korrekten Forderungen und wie können die KollegInnen organisiert werden, um diese auch zu erreichen?

Inga: Die Hauptforderung muss die Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen sein. Das bedeutet konkret ein aufgestockter Personalschlüssel in Verhältnis zur Anzahl der zu betreuenden PatientInnen und ein verbesserter Freizeitausgleich, das heißt die Senkung der Gesamtarbeitstunden bei gleichem Lohn. Es heißt immer, es seinen nicht genug Fachkräfte vorhanden. Die konkrete Lösung dafür wäre dann aber doch, das Berufsfeld attraktiver zu gestalten, beispielsweise durch Erhöhung der Löhne mindestens auf Industrieniveau.

Außerdem gilt es, die fortschreitende Privatisierung der Krankenhäuser zu bekämpfen. Eine medizinische Einrichtung kann und darf nicht wie ein Wirtschaftsunternehmen geführt werden, denn dies geht immer auf Kosten des Personals und der PatientInnen. Es wird an den falschen Stellen eingespart und Klassenmedizin gefördert. Niemandem darf auf Grund von finanziellen Interessen der Zugang zu notwendiger medizinischer Behandlung eingeschränkt werden.

Onur: Mit einer verbesserten Personalsituation wäre auch gewährleistet, dass wir uns als Auszubildende ausschließlich darauf konzentrieren können, den Beruf zu erlernen, anstatt wie zusätzliche Hilfskräfte behandelt zu werden.

Inga: Wie man die KollegInnen organisieren kann? Nun, wie ich ja schon gesagt habe, die üblichen Kampfform des Streiks funktioniert im Krankenhaus nur sehr bedingt. Wir können die PatientInnen ja nicht hilflos liegenlassen. Also müssen wir neue Kampfformen abseits des klassischen Streiks entwickeln. In der Berliner Charité wurden zum Beispiel auf einigen Stationen einzelne Zimmer bestreikt, was einen gewaltigen Druck auf die Klinikleitung ausgeübt hat. Immerhin bedeutet ein nicht belegtes Zimmer einen riesigen Verdienstausfall für das Klinikum.

Ich denke aber auch, dass es wichtig ist, dass die Auseinandersetzung um die Pflege nicht nur von den Beschäftigten, sondern von der gesamten ArbeiterInnenklasse geführt wird. Schlechte Bedingungen in der Pflege betreffen alle, die nicht das Geld haben sich private medizinische Versorgung leisten zu können. Deshalb müssen wir alle zusammen für bessere Bedingungen in der Pflege und gegen die Ökonomisierung der medizinischen Versorgung kämpfen.

Zuletzt müssen wir uns auch gegen die immer weiter vorangetriebene Spaltung zwischen Pflegenden und Hilfskräften, seinen es Pflegehelfer, Service- oder Reinigungskräfte stellen. Diese Spaltung wird gezielt von den Kapitalisten vorangetrieben, um einerseits ihre Schuld an den schlechten Bedingungen zu verschleiern bzw. die Schuld auf andere Teile unserer Klasse abzuwälzen und andererseits um eine breite Organisation der ArbeiterInnen zu verhindern.
Interview2