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Die Lage in der Türkei nach dem Gülen-Putsch und warum der AKP-Faschismus dem Zentrum eine Entscheidung aufzwingt

Im folgenden Artikel wollen wir uns anhand eines aktuellen Beispiels (den Klassenkämpfen in der Türkei vor und nach dem Putschversuch) mit der Frage beschäftigen, was die Offensive des Faschismus politisch für die revolutionären und fortschrittlichen Kräfte in einem Land bedeutet. Wir wollen dabei insbesondere herausarbeiten, dass der Faschismus in der Offensive auch schwankenden, zentristischen Kräften eine Entscheidung aufzwingt.

Vorbemerkung – Zentrismus in der Sackgasse

Anhand der Entwicklung der „linken“ Syriza-Regierung in Griechenland haben wir uns vor einem Jahr mit dem linken Reformismus der sogenannten „PostmarxistInnen“ auseinandergesetzt.1 Neben die offenen ReformistInnen tritt in verschiedenen Formen das „Zentrum“.

Der Zentrismus ist eine politische Strömung, die zwischen Reform und Revolution schwankt. In entwickelten kapitalistischen Ländern ist er ein politischer Ausdruck des Kleinbürgertums als Klasse. Dieses bildet seine soziale Basis z.B. in Form linksradikaler StudentInnen und kritischer Intellektueller. In der zusammenfassenden Einschätzung der PostmarxistInnen sind wir in einer Randbemerkung auch kurz auf die Rolle des Zentrums eingegangen:

Der andere falsche Weg ist es, aus Scheu vor den Mühen des oben beschriebenen revolutionären Kampfes oder aus Scheu davor, in Irrelevanz zu verfallen, den Weg der Anpassung zu gehen, indem man sich einer nicht-revolutionären Bewegung unterordnet. (…) Diesen Weg sind, soweit wir das aus der Ferne beurteilen können, sicher auch manche ehrlichen griechischen Revolutionäre gegangen, als sie sich Syriza angeschlossen haben.2

Im nachfolgenden Artikel geht es um die Lage in der Türkei nach dem – auch für uns – überraschenden Putschversuch durch Kader der islamischen Gülen-Bewegung im Militär am 15. Juli 2016. Der Putsch scheitert innerhalb weniger Stunden. Die AKP nutzt die Gelegenheit, um mittels Ausnahmezustand ihre faschistische Herrschaft zu stabilisieren, u.a. durch eine riesige Säuberungswelle im Staatsapparat, den Medien und der Wirtschaft. Die terroristischen Herrschaftsmethoden der türkischen Bourgeoisie zielten seitens der AKP in den ersten Wochen zunächst auf die Zurückdrängung der islamischen Konkurrenz, die vom dem in den USA im Exil unter CIA-Aufsicht lebenden „Prediger“ Gülen gesteuert wird. Aufgrund der seit Ende der sechziger Jahre konsequent betriebenen strategischen Unterwanderung des Staatsapparats und der Wirtschaft durch die Gülen-Bewegung stellt dies den notwendigen ersten Schritt zur Stabilisierung der eigenen Macht dar.

Der AKP-Faschismus bleibt selbstverständlich dabei nicht stehen, sondern geht weiter und nimmt alle innenpolitischen GegnerInnen ins Visier, die den imperialistischen Ambitionen eines neo-osmanischen Reichs im Weg stehen. Inzwischen wurde der Ausnahmezustand um drei Monate verlängert und die Marschrichtung wird vom „neuen Sultan“ Erdoğan öffentlich vorgegeben:

– militärische Lösung der nationalen Frage in Kurdistan durch Zerschlagung aller Strukturen der kurdischen Befreiungsbewegung, was faktisch ohne Völkermord und/oder Massenvertreibungen nicht möglich sein wird

– Vernichtung aller revolutionären Kräfte (Unter dem Vorwand:„Ausschaltung des Terrorismus“)

– Unterdrückung aller demokratischen Bestrebungen und explizit der Forderungen der alevitischen-, kurdischen-, armenischen- und christlichen- Minderheiten

-Gleichschaltung der türkischen Gesellschaft als islamisches Sultanat auf Grundlage eines sunnitischen Islams. Dabei werden nicht nur offene Bündnisse mit Jihadisten wie Daesh (IS), Al-Kaida, Al-Nusra usw. eingegangen. Dies bedeutet auch eine massive Unterdrückung für alle sozialen Gruppen, die in dieser Variante einer faschistischen Volksgemeinschaft sei es als emanzipierte Frauen, säkulär eingestellte Jugendliche, sexuelle Minderheiten usw. als Ungläubige angesehen werden.

Durch diese zugespitzte Situation in der Türkei und Kurdistan zwingt der AKP-Faschismus dem Zentrum, d.h. den unterschiedlichsten politischen Gruppen und Strömungen, die zwischen Reform und Revolution schwanken, eine Entscheidung auf. Ein Weg besteht in der Unterwerfung unter den islamischen Faschismus eines AKP-Sultanats. Dies könnte gegebenenfalls durchaus mit einigen oppositionellen Sitzen im entmachteten Parlament belohnt werden. Der andere Weg ist die Beteiligung am revolutionären Klassenkrieg zur Errichtung der antiimperialistischen, volksdemokratischen Diktatur der unterdrückten Klassen. Wobei die Erkämpfung einer antiimperialistschen und antifaschistischen Ordnung durch eine demokratische Revolution nur als notwendiger Zwischenschritt auf dem Weg zum Sozialismus dient.

Die konkrete Lage in der Türkei und Kurdistan im Herbst 2016 ist natürlich etwas Besonderes. Aber wir können anhand dieser Situation viele allgemeine Schlüsse für die Zuspitzung des Kampfes zwischen Revolution und Konterrevolution ziehen.

Die Abgrenzung zwischen Marxismus-Leninismus und Zentrismus nimmt in der Türkei und (Nord)kurdistan bestimmte konkrete Züge an. Sie ist aber eine sehr bedeutsame Frage für die revolutionäre Strategie überhaupt. Man denke hier nur an die jüngst besiegelte Kapitulation der revisionistischen FARC nach fünf Jahrzehnten Guerillakrieg in Kolumbien.3

Uns geht es in dem nachfolgenden Text darum, die Trennlinie zwischen Marxismus-Leninismus und Zentrismus an einem konkreten, für viele KommunistInnen in Deutschland relativ bekannten Beispiel herauszuarbeiten. Der hauptsächliche Grund dafür liegt in der ideologischen Notwendigkeit sich eine Klarheit über grundlegende Fragen der Strategie in der revolutionären Bewegung zu erarbeiten. Daneben fühlen wir uns dazu auch verpflichtet, da wir im Rahmen unserer Kräfte den revolutionären und antifaschistischen Kampf in der Türkei und Kurdistan aktiv unterstützen. Es geht uns also nicht darum als „oberschlaue Kommentatoren“ an bequemen Schreibtischen in Europa irgendjemand Ratschläge zu erteilen. Ganz im Gegenteil wollen wir so einen kleinen Beitrag dazu leisten, als KommunistInnen den proletarischen Internationalismus zu vertiefen und in der gemeinsamen Praxis des politischen Kampfes weiter zu entwickeln.

Die Gülen-Bewegung und der gescheiterte Putsch am 15. Juli 20164

Die Gülen-Bewegung ist eine politische Kaderorganisation, die im Gewand einer religiösen, scheinbar unpolitischen Sekte um ihren ‚Guru‘ Gülen aufgebaut ist. Sie vertritt einen moderaten, mit dem westlichen Imperialismus kooperierenden Islam.

Entstanden ist die Gülen-Bewegung bereits in den 1960er Jahren – also lange vor der AKP – als Teil des „Grünen Gürtels“ der USA. Hinter diesem Begriff verbarg sich der Versuch, mittels der Förderung geeigneter antikommunistischer Kräfte des Islams die revisionistiche Sowjetunion (SU) zunächst mit einem Ring islamischer Mächte einzukreisen. In einem zweiten Schritt sollte die SU dann über ihren „weichen Bauch“ der islamischen Sowjetrepubliken im Kaukasus und Westasien (z.B. Turkmenistan, Usbekistan) zersetzt werden. Dies wurde dann in Folge der Niederlage der Sowjetunion in Afghanistan Ende der 80er Jahre erfolgreich umgesetzt.

Die Strategie der Gülen-Bewegung zielt entsprechend dieser Aufgabenstellung auf die Ausbildung der Ideologie eines moderaten Islams und der Gewinnung gefestigter Kader. Sie werden an den Schaltstellen der Macht platziert, um Staatsapparat und Wirtschaft langfristig zu unterwandern. Schwerpunkt der Praxis der scheinbar religiösen Gülen-Sekte ist folgerichtig die Erziehung. Vom Vorschulalter bis zur Universität hat die Gülen-Bewegung ein ganzes Netz von eigenen Bildungseinrichtungen in mehr als 15 Ländern errichtet, so u.a. auch in Deutschland. In diesen Privatschulen werden die Anhänger ideologisch gewonnen und für die Organisation rekrutiert. Ziel ist es eine sogenannte ‚Goldene Generation‘ zu schaffen. Bis zum Tag der Machtübernahme sollen diese Kader im Staatsapparat und der Wirtschaft verdeckt bleiben.5

Ausdruck dieser Strategie ist die bekannte Aussage von Gülen gegenüber seinen Anhängern, wonach der regelmäßige Besuch und gute Abschluss der Universität wichtiger sei als der Moscheebesuch. Weiterhin folgt daraus, dass sich die Anhänger Gülens als Netzwerk organisieren und grundsätzlich immer bestreiten, Teil einer Organisation zu sein. Sie würden lediglich den Ideen des Prediger Gülen anhängen, da sie diese richtig fänden. So kamen nach dem Putsch auch Gülen-Anhänger im deutschen Fernsehen zu Wort.

Die AKP gewann bei den Wahlen 2002 die Mehrheit im Parlament und bildete erstmals die Regierung. Gleichzeitig war der Staatsapparat weiterhin in der Hand der alten kemalistischen Elite und ihrer Staatsbürokratie. Im Machtkampf mit den Kemalisten hat die AKP ein Bündnis mit Gülen geschlossen. Gülen hatte bereits ab 1974 angefangen Kader seiner Organisation in der Armee zu platzieren und seit 1980 auch im Justizapparat. Die Gülen-Bewegung war daher 2002 die einzige islamische Kraft, die über einen gewissen Einfluss und geschulte und gefestigte Kader in Teilen des Machtapparates verfügt hat.

Es war ein Zweckbündnis zwischen zwei verschiedenen bürgerlichen Räubern. Erdogan bzw. die AKP nutzen die Kader der Gülen-Bewegung, um die Kemalisten Schritt für Schritt zurück zu drängen und die Kontrolle im Staatsapparat in die eigenen Hände zu bekommen. Ein bekanntes Beispiel ist der politisch motivierte Ergenekon-Prozess. Die Justiz in Form von Gülen-Kadern hat in einem politischen Schauprozess Teile der kemalistischen Elite, darunter erstmals einige Generäle der vorher unantastbaren türkischen Armee, wegen einer angeblichen oder auch tatsächlichen Verschwörung verurteilt. Umgekehrt nutzte Gülen das Bündnis mit der AKP, um seinen Einfluss erheblich auszudehnen (u.a. durch den Aufbau eines eigenen Medienimperiums), in alle Teile des Staatsapparats einzudringen und das Netzwerk seiner Bildungseinrichtungen mit Unterstützung des türkischen Staates international auszudehnen.6

Das Bündnis zerbrach im Februar 2012 im Streit um den Umgang mit der kurdischen Freiheitsbewegung. Die AKP verhandelte damals mit der PKK über einen möglichen Friedensprozess. Von Gülen dominierte Teile der Justiz luden daraufhin den Geheimdienstchef, der diese geheimen Verhandlungen führte, zur Vernehmung vor. Der Machtkampf brach offen aus. Er wurde in den folgenden Jahren seitens Gülen u.a. mittels der gezielten Veröffentlichung von internen Informationen, durch Korruptionsermittlungen und entsprechende Strafverfahren und mit Medienkampagnen geführt. Seitens der AKP kamen die staatlichen Machtmittel zum Einsatz; z.B. durch Strafversetzung von über 1000 Staatsanwälten und Polizisten zur Verkehrspolizei, die zuvor die Korruptionsermittlungen gegen den inneren Kreis von Erdogans Machtclique vorangetrieben hatten. In diesem erbitterten Machtkampf gewinnt die AKP im Verlauf der Jahre 2014 und 2015 allmählich die Oberhand. Sie kann die Gülen-Bewegung nicht nur im Staatsapparat zurückdrängen, sondern greift auch deren finanziellen Mittel durch Enteignungen von Konzernen in der Türkei an.

Im Sommer 2016 steht die Gülen-Organisation innerhalb der Türkei faktisch mit dem Rücken zur Wand. Als aktionsfähiger Teil verbleibt ihr nur noch die Struktur, die sie in Teilen der Armee bilden konnte. Genau diese sollte auf der für den 4. August 2016 anberaumten Sitzung des ‚Hohen Militärrats‘ zerschlagen werden. Es wurde bereits im Vorfeld bekannt, dass auf dieser Sitzung 2000 bis 2500 der Gülen-Bewegung zugerechnete Offiziere und Generäle pensioniert bzw. entlassen oder auf unwichtige Posten versetzt werden sollten.

Der Putsch war also de facto der letzte verzweifelte Versuch der Gülen-Kader aus der ihnen noch verbliebenen Machtbastion im Staat heraus das Blatt zu wenden. Die Putschisten haben alles auf eine Karte gesetzt und verloren. Trotz einer spürbaren Unzufriedenheit im Offizierskorps wegen des zunehmend verlustreichen Kriegs im Nordkurdistan, konnten sie nur wenige Kemalisten und andere unzufriedene Militärs auf ihre Seite ziehen. Ihre Fehleinschätzung der Kräfteverhältnisse bezahlen sie mit ihrem Leben bzw. ihrer Gesundheit bei den Folterverhören durch die Spezialpolizei.

Imperialistische Intrigen

Die Türkei hat seit dem tiefen Kriseneinbruch 1997 eine enorme wirtschaftliche Entwicklung hinter sich. Das türkische Wirtschaftswunder hat zu einer realen Verdoppelung bis Verdreifachung des Lebensstandards in der Westtürkei geführt. Dies ist einer der wesentliche Gründe für die weiterhin hohe Zustimmung und feste Massenbasis der AKP in Teilen der sunnitisch-arabischen, türkischen Mehrheitsgesellschaft. Diese rasante Entwicklung des Kapitalismus führt gesetzmäßig dazu, dass die Türkei Kapital exportieren und daher anfangen muss, auch politisch und militärisch die regionalen Interessen ihrer Bourgeoisie zu verteidigen. Dem entspricht der Versuch der AKP, die Türkei als islamische Regionalmacht zu etablieren und eine eigenständige imperialistische Politik im Mittleren Osten zu betreiben.

Das stößt bei den etablierten Räubern, den westlichen Imperialisten – egal ob in Deutschland, der EU oder den USA – auf keinerlei Gegenliebe oder gar Verständnis.

Gülen lebt in den USA im Exil auf einem abgeschirmten Landschloss in Pennsylvenia. Es wäre weltfremd anzunehmen, dass er vor dort aus einen Putsch organisieren konnte, ohne das der CIA es mitbekommen hat. Ebenso ist es ausgeschlossen, dass seine Anhängern in der streng hierarchischen und zentralsierten Gülen-Bewegung ohne Befehl und Freigabe ihres Führers auf eigene Faust handeln würden. Gülen gilt in der revolutionären türkischen Linken sogar gemeinhin als Agent der CIA. Es spricht daher alles dafür, dass Erdogan ausnahmsweise mal richtig liegt, wenn er den USA indirekt vorwirft, dass sie den Putsch unterstützt bzw. zumindest zugelassen hätten. Sie haben ihn nicht gewarnt und wären offensichtlich nicht unglücklich gewesen, wenn der für sie zunehmend unkontrollierbare Erdogan durch den Putsch ausgeschaltet worden wäre. Tatsächlich haben sich alle westlichen Imperialisten reichlich Zeit gelassen – nämlich bis klar war, dass der Putsch scheitern würde – bis sie sich zugunsten der AKP-Regierung gegen den Putsch positionierten.

Der Gegenputsch der AKP

Es gibt eine Reihe von Spekulationen, warum der Putsch gescheitert ist. Auch wenn nicht alle Intrigen und Abläufe innerhalb der Bourgeoisie und im Staats- wie Militärapparat im Detail bekannt sind, so genügen die öffentlich belegten Abläufe dennoch, eine politische Einschätzung des gescheiterten Putsches zu erstellen.

Der Putsch war keine Inszenierung der AKP, sondern ein blutiger Machtkampf. Gegen falsche Spekulationen als AKP-Inszenierung sprechen im Nachhinein die Fakten, vor allem die Tatsache, dass alle Beteiligten viel zu weit gegangen sind. Über 250 Tote, darunter 50 Spezialkräfte der Polizei, die bei Luftangriffen auf ihr Hauptquartier in Ankara sterben, Soldaten denen von einem Lynchmob die Kehle durchgeschnitten wird, Offiziere der „großen türkischen Armee“, die öffentlich gefoltert werden – das war kein Theaterstück! Dies widerspricht unserer Meinung nicht einem offensichtlich vorbereiteten Plan seitens der AKP für die Ausrufung des Notstands (der ja auch mit anderen Ereignissen hätte begründet werden können), inklusive Verhaftungslisten die nur aus der Schublade geholt werden mussten.

Der Putsch war keineswegs dilettantisch geplant. Das scheinbar dilettantische Vorgehen der Putschisten ist in Wirklichkeit Ausdruck der für sie ungünstigen Kräfteverhältnisse gewesen. Mangels Massenbasis mussten sie darauf setzen, dass die Bevölkerung ruhig bleibt, wenn die Panzer rollen. Sie hofften, wie die Wortwahl ihrer verlesenen Erklärung zeigt, die Kemalisten zu gewinnen. Trotzdem konnten sie nur einen stark begrenzten Teil der Armee mitziehen. Andere Teile (so insbesondere der Generalstabschef und andere zur AKP loyale Generäle und mindestens Teile des Nachrichtendienstes) haben von Anfang an aktiv gegen den Putsch gearbeitet. So scheiterte auch ein zentrales Element des Putsches, nämlich die Verhaftung bzw. Tötung von Erdogan in seiner Urlaubsvilla im Marmaris.

Trotz dieser Spaltung im Staats-, Polizei- und Militärapparat in den ersten Stunden des Putsches blieb der Ausgang zunächst offen. Ausschlaggebend war dann, dass es der AKP gelungen ist, ihre Basis gegen den Putsch auf die Straße zu mobilisieren. Angeführt von den paramilitärischen AKP-Milizen der Osmanischen Vereine und anderen, zivilen AKP-Kadern sind im ganzen Land vermutlich einige hunderttausend Menschen überwiegend unbewaffnet den Putschisten entgegengetreten. Auch in zahlreichen Kasernen gab es Diskussionen, so dass vielerorts die Putschisten keine weiteren Truppenteile ins Feld führen konnten.

Kaum hat die AKP im Laufe der Nacht die Oberhand gewonnen, beginnt der Gegenputsch. Es zeigt sich, dass die AKP deutlich größere Teile des Staatsapparats auf ihrer Seite hat (z.B. die ganzen Kommunalverwaltungen) und über ihre Kanäle (z.B. die 900 Moscheen im ganzen Land) die Massen für ihre Ziele mobilisieren konnte. Die Stimmung gegen die „Verräter“ und „Terroristen“ wird zu einem faschistischen Pogromtaumel hochgepuscht. In dem Windschatten dieser Stimmung wird die bürgerliche Opposition, die Kemalisten der CHP ebenso wie die nationalistischen Faschisten der MHP, eingebunden und der Gegenputsch kaltblütig durchgezogen. Der Ausnahmezustand wird verhängt und umfassende „Säuberungen“ mit bislang ca. 32.000 Verhafteten und ca. 100.000 aus dem Staatsdienst Entlassenen beginnen (Stand Anfang Oktober). Gerade letztere Zahl belegt, auch wenn sich darunter etliche demokratische, kritische Oppositionelle befinden, dass der Ausnahmezustand nach drei Monaten sein vorgebliches Ziel der Ausschaltung der Gülen-Bewegung innerhalb der Türkei weitgehend erreicht haben dürfte. Die Anfang Oktober erfolgte Verlängerung um zunächst drei Monate zeigt, dass es dem faschistischen AKP-Regime und der hinter ihr stehenden türkischen Bourgeoisie um weit mehr geht.

Verbliebene demokratische Spielräume werden auf Null reduziert, wofür beispielhaft das Verbot der Zeichentrickserie ‚Die Schlümpfe‘ in kurdischer Sprache steht, die durch das Verbot des einzigen kurdischen Kindersenders Ende September nicht mehr ausgestrahlt werden kann.

Schon in den ersten Tagen des Gegenputsches wird die Folter durch die mediale Vorführung schwer misshandelter „Verräter“ normalisiert. Sie wird seitdem wieder massenhaft und regelmäßig in der Polizeihaft gegen KommunistInnen, Revolutionäre, kurdische AktivistInnen und Oppositionelle angewandt.

Die revolutionäre Linke in der (West)türkei hat sich unserem Eindruck nach auf eine solche Situation deutlich besser als beim Miltärputsch am 12. September 1980 vorbereitet. In Nordkurdistan wird sowieso schon seit einem Jahr offen Krieg geführt. Dagegen werden die nach dem Gezi-Aufstand 2013 entstandenen demokratischen Bewegungen durch die offen terroristische Diktatur der AKP auf dem falschen Fuß erwischt. Viele ihrer AktivistInnen hatten ihre Hoffnungen auf eine Demokratisierung der Türkei unter Beibehaltung der bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse gesetzt. Die Erfolge der HDP 2015, die den traditionellen Stimmenanteil der KurdInnen nahezu verdoppeln ḱonnte, gehen auf das demokratische Bündnis mit diesen Strömungen zurück. Mit dem Schrumpfen aller legalen Spielräume auf Null stellt sich auch für DemokratInnen, LinksreformistInnen und das zwischen Reform und Revolution schwankende Zentrum die alles entscheidende Frage: Wie weiter? Ängstlicher Rückzug und Kapitulation vor der AKP-Diktatur oder Vorwärtsgehen an Seiten der KommunistInnen und des antifaschistischen, politischen und militärischen Kampfs der KurdInnen für eine demokratische Revolution zur Errichtung einer Volksdemokratie?

Kurdistan – verschärfter Krieg an allen Fronten

Das Hauptziel der türkischen Bourgeoisie und der eigentliche Zweck der Errichtung einer offenen, faschistischen AKP-Diktatur besteht in der Zerschlagung der kurdischen Freiheitsbewegung, die durch die PKK unbestritten geführt wird. Dies ist notwendig, weil einerseits Kurdistan objektiv zum Rückzugsraum und Stützpunktgebiet für alle Revolutionäre in der Türkei geworden ist (und zwar unabhängig von ihrer politischen Haltung zur PKK). Andererseits hat sich im Gegenzug gezeigt, dass die KurdInnen trotz ihrer Stärke auf sich allein gestellt ohne eine zweite Front im Westen nicht gewinnen können. Die beginnende Schlacht um Kurdistan wird also den weiteren Verlauf der Entwicklung in der Region und eventuell darüber hinaus maßgeblich beeinflussen.

Folgerichtig setzt die AKP auf eine Verschärfung des Kriegs in Nordkurdistan, z.B. in dem sie durch die Zwangsverwaltung kurdischer Kommunen und die im November erfolgte Inhaftierung der HDP-Parteiführung die eroberten legalen Spielräume abräumt. Auch außenpolitisch geht sie im Windschatten des Ausnahmezustands in die Offensive. Im September 2016 dringen die türkische Armee und von ihr unterstütze islamistische und teilweise offen jihadistische Söldner in Nordsyrien ein. Ziel ist zu verhindern, dass die Kantone Afrin im Westen und Kobane im Osten durch die YPG/YPJ verbunden werden. Letzteres hatte nach der Eroberung der strategisch wichtigen Stadt Manbji mit dem Vorrücken der syrischen KurdInnen und ihrer Partner in der Syrian Democratic Front (SDF) auf Al-Bab gedroht.

Die Türkei erklärt offen ihr Ziel eine 5000 km² große Schutzzone, sprich ein türkisches Protektorat, in Nordsyrien zu errichten. Ein Wunsch, der ihr noch 2015 von den westlichen Imperialisten abgeschlagen worden war und den sie nun auf eigene Faust durchzusetzen versucht.

US-SoldatInnen der special forces geraten im Herbst 2016 gleich mehrfach zwischen die immer unübersichtlich werdenden syrischen Fronten. Während die USA mit Mühe verhindern, dass ihre in den SDF-Einheiten eingebettenen Spezialkräfte von türkischer Armee und islamistischen Milizen nördlich von Manbji angegriffen werden, vertreiben Islamisten US-Soldaten vor laufender Kamera aus der von ihnen und der Türkei „befreiten“ Grenzstadt al-Rai.

Krieg dem Krieg oder Stopp aller Kampfhandlungen – Versuch einer politischen Einordnung

Für KommunistInnen, Revolutionäre, AntiimperialistInnen, aber auch alle AntifaschistInnen und fortschrittlich-demokratisch gesinnten Menschen ist die Ablehnung imperialistischer Kriege Ausgangspunkt jeglicher Politik. Insofern lässt sich schnell ein Konsens herstellen, dass z.B. die Bundeswehr nichts in Incirlik zu suchen hat und daher umgehend zurückgezogen werden muss. Ebenso wird man sich darauf verständigen können, dass der imperialistische Stellvertreterkrieg in Syrien umgehend durch Rückzug aller ausländischen Truppen und ihrer Söldner beendet werden muss.

Aber wie verhält es sich in Nordkurdistan, also den Kriegsgebieten im Südosten der Türkei, wo die staatliche Terrordiktatur wütet? Welche Haltung müssen KommunistInnen und alle ehrlichen Menschen einnehmen angesichts der getroffenen Wahl der türkischen Bourgeoisie für eine Lösung der Kurdenfrage mittels militärischer Vernichtung der PKK und aller ihr zugerechneten Strukturen?

Es gibt eine Position unter den fortschrittlichen Kräften bis hinein in die revolutionäre Linke, die – von beiden (!) Kampfparteien – die sofortige Beendigung aller Kampfhandlungen und die Wiederaufnahme der Friedensgespräche fordert, also die Rückkehr zum Status vor dem Massaker von Suruc. Bekanntlich war das Suruc-Massaker aber nur der Endpunkt eines Prozesses, der zum offenen Kriegsausbruch geführt hat. Am Beginn stand die Tagung des Hohen Militärrats vom 30. Oktober 2014, der in der längsten Sitzung seiner Geschichte das grüne Licht für eine militärische Eskalation im Kampf gegen die kurdische Befreiungsbewegung gegeben hatte.

Diese Entscheidung wiederum war eine Folge des teilweise spontanen und ungeheuer dynamischen Serhildan (Volksaufstand) vom 6. bis 8. Oktober 2014, bei dem die Massen die Polizei und Gendamerie überrannten, sich spontan bewaffneten und hunderte von Regierungsgebäuden übernommen hatten – kurz gesagt die Revolution vor der Tür stand. Selbst die Parteiführung der PKK hatte große Mühe, die Situation wieder in den Griff zu bekommen. Sie hatte die Proteste nur als politische Machtdemonstration und Druckmittel gewollt, um die vollkommene Blockade Kobanes auf türkischer Seite zu durchbrechen.

Diese revolutionäre Energie, die in einer weniger zugespitzten Situation und in abgeschwächter Form auch beim spontanen Gezi-Aufstand 2013 in Istanbul und der Westtürkei in Erscheinung getreten ist, ist die wahre Ursache für die Errichtung des Faschismus in der Türkei. Mit der kurdischen Bourgeoisie wäre – derzeit eher theoretisch, da viel Porzellan zerschlagen ist – für die Türkei eine Verständigung möglich.

Mit der revolutionären Seite geht dies nicht. Die türkischen revolutionären Parteien – egal ob sie sich als Marxisten-Leninisten, Maoisten oder Stadtguerilla verorten – haben viel Erfahrung angehäuft seitdem Mahir Cayan, Deniz Gezmis und Ibrahim Kaypakkaya Anfang der 70er Jahre den Kampf aufgenommen haben. Auch wenn sie aktuell quantitativ relativ schwach erscheinen mögen, sind sie qualitativ stark. Dies mag alleine die Tatsache belegen, dass es weltweit nicht allzu viele kommunistische und revolutionäre Parteien gibt, die seit 50 Jahren unter dem Faschismus kämpfen und dabei weder zerschlagen noch integriert werden konnten.

Die türkische Bourgeoisie hat den einzig logischen Schluss aus der Analyse der Lage gezogen: Sie muss mittels des Faschismus die revolutionäre Avantgarde auslöschen, bevor sich diese mit der revolutionären Energie der Massen verbindet. In Tunesien konnte die Bourgeoisie zusammen mit dem Imperialismus 2011 einen arabischen Frühling überstehen, weil der subjektive Faktor in Form der KommunistInnen noch nicht weit genug entwickelt gewesen ist. In der Türkei kann und will es die Konterrevolution nicht auf eine praktische Probe ankommen lassen – deswegen setzt sie ähnlich wie die deutsche Monopolbourgeoisie 1933 auf den präventiven Terror, um dem revolutionären Aufstand zuvor zu kommen.

Wer heute in einer akut revolutionären Situation in der Türkei und Kurdistan von beiden Seiten – und das heißt vor allem von den kämpfenden AntifaschistInnen, da die Konterrevolution ihre Wahl getroffen hat und auf solche Ratschläge nichts geben wird – den Stopp aller bewaffneten Kampfhandlungen fordert, der arbeitet faktisch den FaschistInnen zu.

Gegen unsere Position ein scheinbar gewichtiges Gegenargument vorgebracht, nämlich dass ja auch die HDP genau dies fordere: Sofortigen Frieden, Schluss aller Kampfhandlungen und Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen. Warum dieser Einwand politisch falsch ist, wollen wir mit einer Gegenfrage aufzeigen: Was soll eine Wahlplattform, die unter den Bedingungen des entfalteten Faschismus mit dem Leben ihrer AktivistInnen die letzten Quadratzentimeter demokratischer Spielräume zäh verteidigt, denn bitte sehr anderes fordern? Sollte sie vielleicht andeuten, dass der bewaffnete antifaschistische Freiheitskampf irgendwie verständlich oder gar gerecht wäre? Es wäre ihr Todesurteil – nicht im übertragenen Sinn, sondern ganz praktisch und sehr blutig.

Krieg dem imperialistischen Krieg – die alte Losung Lenins und zugleich der Schlachtruf des Spartakusbunds während des ersten imperialistischen Weltkriegs sind auch heute die Richtschnur unseres Handelns.

Als Marxisten-Leninisten, als Revolutionäre egal welcher Strömung und als AntifaschistInnen können wir nicht im Namen eines abstrakten Demokratismus eine Fraktion der faschistischen Bourgeoisie gegen die andere unterstützen (z.B. Erdogan gegen Gülen). Auch die Aussage „Ein Putsch sei immer schlecht“ muss genauer vom ML-Standpunkt aus analysiert werden. Wenn vor einem Putsch eine bürgerliche Demokratie herrschte, trifft das in der Regel zu. Deswegen können und haben KommunistInnen in solchen Situationen die bürgerliche Demokratie gegen den Faschismus verteidigt. Wenn aber vorher, wie in der Türkei am 14. Juli 2016, bereits der Faschismus herrscht und es sich um einen Machtkampf zwischen verschiedenen Fraktionen innerhalb der FaschistInnen handelt, dann kann nur die eigenständige revolutionäre Linie die korrekte Haltung sein. Deshalb war die Losung ‚Weder Putsch noch AKP-Diktatur‘ mit der u.a. im Istanbuler Stadtteil Gazi in der Putschnacht demonstriert wurde, die einzig sinnvolle politische Reaktion. Ein geschichtlicher Vergleich mag das verdeutlichen: Hätte die KPD 1934 bei sogenannten „Röhm-Putsch“ die SA gegen die Liquidierung durch die SS verteidigen sollen? Wer das – zurecht – als absurd empfindet, der/die kann auch nicht fordern, dass die revolutionäre Linke in der Türkei den Gegenputsch der AKP durch Beteiligung an den täglichen Massendemonstrationen der AKP-Anhänger hätte unterstützen sollen.

Auch das Argument, dass die AKP Hunderttausende AnhängerInnen aus den Massen gegen den Putsch mobilisiert hat, trägt nicht. Wir können doch nicht aufhören zu kämpfen, nur weil der Faschismus mehr oder weniger große Teile der Massen für sich gewonnen hat. Gerade dann, wenn der Faschismus die Form einer sozialen Massenbewegung annimmt, wird der antifaschistische Kampf umso notwendiger. Wer meint, die türkische Linke habe versagt, weil sie nicht auf Seiten der AKP gegen den Putsch demonstriert habe, der muss sich auch die Konsequenz seiner Haltung für die Verhältnisse hierzulande vor Augen führen. Die falsche Logik, dass wir den Massen hinterlaufen müssten, auch wenn sie den Faschisten folgen, würde in der Konsequenz z.B. bedeuten, dass wir die Refugees in Bautzen dem braunen Mob überlassen. Denn in Sachsen haben die Faschisten derzeit eine stabile Mehrheit der Bevölkerung hinter sich.

Wir können nicht einen Frieden in der Türkei und Kurdistan fordern, der nur bedeuten würde, vor dem Faschismus zu kapitulieren und die kämpfenden PartisanInnen zu entwaffnen. Wir dürfen nicht mitschuldig an einem neuen Völkermord und einer Massenvertreibung werden, 100 Jahre nach den ArmenierInnen diesmal der KurdInnen. Solange die politische Lage sich nicht wesentlich verändert, ist der bewaffnete Kampf kein Hemmnis für einen Frieden oder eine Demokratisierung, sondern ein Faustpfand für das Leben tausender KurdInnen in Städten und Dörfern und vorallem für das Überleben nicht nur der kurdischen Befreiungsbewegung, sondern aller Revolutionäre. Wenn dieser Widerstandswille zusammenbricht, bedeutet das die größte denkbare Niederlage für die Kräfte, die ehrlich für eine demokratische Türkei kämpfen.

Wir müssen deswegen offensiv propagieren, dass der bewaffnete antifaschistische und revolutionäre Kampf in der Türkei und Kurdistan gerecht und seine Unterstützung in jedweder Form legitim ist. So wie in Rojava beim Kampf gegen Daesh müssen wir auch in Bezug auf den islamischen Faschismus der AKP-Diktatur klarmachen, dass der Faschismus keine Meinung ist, sondern ein Verbrechen – und wir die Revolution als einzige Alternative sehen.

Als proletarische InternationalistInnen und AntifaschistInnen müssen wir alles uns mögliche tun, um den gerechten antifaschistischen Befreiungskampf für eine demokratische, antifaschistische und antiimperialistische Revolution in der Türkei und Kurdistan zu unterstützen.

Krieg dem imperialistischen Krieg!

No Pasarán – die Faschisten werden nicht durchkommen!

Es lebe die demokratische Revolution der Völker der Türkei und Kurdistans!

1 Siehe Kommunismus Heft 1, S. 3- 8; Heft 2, S. 41- 56 und die Extrabroschüre Die Krise des Imperialismus und der ‚Europäische Frühling

2 Der ‚Europäische Frühling‘, die Zweite – Eine Zwischenbilanz vor der Neuwahl, Abschnitt 5. Wie kommt man zur Revolution?, in Kommunismus, Heft 2, S. 47

3Siehe dazu z.B. die Erklärung der maoistischen ‚Kommunistischen Partei Ecuadors – Rote Sonne‘, die in deutscher Übersetzung unter dem Titel ‚Der falsche Frieden Obamas, Castros, Santos und der FARC‘ in der Zeitung Klassenstandpunkt, Nr. 11 veröffentlicht wurde.

4Auch wenn wir zentrale politische Einschätzungen von Trotz Alledem und BP nicht teilen, beinhaltet der Artikel ‚Gescheiterter Militärputsch Türkei/Nordkurdistan‘ in TA Nr. 73, September 2016, S. 51-53 eine gute zusammenfassende Darstellung der Abläufe in deutscher Sprache und mag insofern zum Nachschlagen der Fakten genutzt werden.

5Zur Veranschaulichung dieser Politik mag ein Vergleich mit den Freimaurern, die vordergründig nur sozial-wohltätig auftreten, oder der Geheimloge P2 herangezogen werden, die im Zusammenhang mit dem Auffliegen von Gladio in Italien zu einer gewissen Bekanntheit gelangt ist. Allerdings gibt es hier auch wichtige Unterschiede.

6Siehe dazu den BBC-Hintergrundbericht Turkey’s post-coup crackdown hits ‚Gulen schools‘ worldwide vom 23.09.2015, dem auch die Grafik entnommen ist, unter www.bbc.com/news/world-europe-37422822