Auf den folgenden Seiten wollen wir einige konkreten Fragen und Probleme bei der revolutionären Persönlichkeitsentwicklung, der konkreten Entwicklung von uns Kommunist:innen zu Kader:innen der Revolution aufwerfen und die grundlegenden Aspekte der Dialektik als Lehre von der Entwicklung auf die Frage der Kader:innenentwicklung anwenden.

Die Frage der erfolgreichen Kader:innenentwicklung ist für jede kommunistische Organisation von überragender Bedeutung, die ernsthaft das Ziel verfolgt, den Sozialismus im revolutionären Klassenkrieg zu erkämpfen. Schafft sie es nicht, revolutionäre Kader:innen in ausreichender Qualität und Quantität unter den jeweils bestehenden Bedingungen des Klassenkampfes zu entwickeln, dann wird das Ziel einer erfolgreichen sozialistischen Revolution in unerreichbarer Ferne bleiben.

Für uns hier und heute in Deutschland stellt sich diese Frage nochmal in besonderem Maße. In Deutschland gab es bis heute noch nie eine Kommunistische Partei, die vollkommen mit den Strukturen und Arbeitsweisen der alten Sozialdemokratie gebrochen hat und grundlegend nach den Prinzipien der bolschewistischen Partei neuen Typs aufgebaut war. Mehr zu unserem Verständnis der Kommunistischen Partei findet ihr in dem grundlegenden Text „Kommunistische Partei im 21. Jahrhundert – ein Gespenst kehrt zurück“.1

Auch heute lassen sich bei vielen Kommunist:innen in Deutschland große Lücken beim bewussten Herangehen an diese Frage beobachten. Dabei bleibt der Aufbau einer revolutionären Kommunistischen Partei ohne Fortschritte in dieser Hinsicht schlicht eine Utopie.

Warum ist die Frage der Kader:-innen für den Aufbau der Kommunistischen Partei so wichtig? Hierbei geht es um nicht mehr und nicht weniger als das Rückgrat für den Aufbau der revolutionären Organisation. Also um eine Gruppe von Menschen, die auf ein einheitliches Ziel gerichtet in Aktion tritt und für dieses Ziel sowohl die verschiedensten Fähigkeiten in unterschiedlichen Personen herausbilden als auch durch gemeinsame Werte, Erfahrungen, Arbeitsweisen und Grundsätze auf engste verbunden sein muss, so dass keine Repression, kein Rückschlag oder Verlust sie auseinander oder von ihrem Ziel abbringen kann.

Menschen, die eine solche Organisation ausmachen, können nur kommunistische Kader:innen sein. Kader:innen, die ein enges Verbundenheitsgefühl mit dem organisierten Kollektiv verspüren und die politische Arbeit als weit mehr als ein bloßes Hobby, sondern als ihre Berufung, als ihr dringendstes Verlangen betrachten, dem sie alles andere in ihrem Leben unterordnen.

Diese Kader:innen fallen jedoch nicht vom Himmel und entstehen auch nicht einfach durch die gemachten Kampferfahrungen im Klassenkampf. Vielmehr müssen sie durch gezielte und bewusste Anstrengungen allseitig entwickelt und durch das kollektive Wissen und die Erfahrungen der Organisation geschult werden.

Die Kader:innen-entwicklung als Kampf und Einheit der Gegensätze

Wie bei jedem Prozess ist es auch bei der Persönlichkeitsentwicklung kommunistischer Kader:innen möglich, diese dialektisch zu analysieren und entsprechend in ihren Entwicklungsprozess bewusst einzugreifen und diesen in die notwendige Richtung zu lenken. Das bedeutet für uns konkret, wir müssen die diese Entwicklung bestimmenden Widersprüche erkennen und analysieren, um davon ausgehend diesen Prozess bewusst zu steuern. Dabei wird es immer wieder darum gehen, den erreichten Status Quo aufzubrechen und auf eine neue, höhere Ebene zu heben.

Was sind also die grundlegenden Widersprüche der revolutionären Kader:innenentwicklung, die wir analysieren, verstehen und zur Revolutionierung unserer Persönlichkeit organisiert angehen müssen?

Wir wollen uns zunächst grundlegend den Widerspruch zwischen der revolutionären Persönlichkeit und den objektiven Anforderungen der Revolution ansehen. Im Anschluss gehen wir darauf ein, wie eine vorwärstreibende Handhabung des Widerspruchs zwischen eigenen Ansprüchen und der Wirklichkeit aussehen kann. Aufbauend darauf werden wir uns das Umschlagen von Quantität in Qualität und die Rolle von qualitativen Sprüngen in der Kader:innenentwicklung anschauen. Zum Schluß dieses Kapitels werden wir uns mit „natürlichen“ und „künstlichen“ Brüchen in der Biografie von Kommunist:innen und dem Verhältnis von Individuum und Kollektiv bei der Frage der Anleitung und Organisierung von qualitativen Sprüngen beschäftigen.

Der Widerspruch zwischen revolutionärer Persönlichkeit und den Anforderungen der Revolution

Als Kommunist:innen untersuchen wir die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im revolutionären Kampf hauptsächlich als Bedingungen für den Klassenkampf und die Revolution. Diese Bedingungen lassen sich selbst wieder in objektive und subjektive Faktoren einteilen.

Zu den objektiven Faktoren für die Durchführbarkeit der Revolution zählen dabei die inneren Widersprüche der kapitalistischen Ökonomie, die Widersprüche zwischen den imperialistischen Mächten und ihre gesetzmäßigen Explosionen in Kriegen, die Widersprüche zwischen den imperialistischen Mächten und den Neokolonien, ebenso wie die ökonomischen, politischen, ideologischen und militärischen Angriffe des Klassenfeindes auf die Arbeiter:innenklasse und ihre organisierte Vorhut. Zu den subjektiven Faktoren zählen wir den Entwicklungsstand der kommunistischen Partei und der Arbeiter:innenbewegung, einschließlich der „natürlichen“ Schwankungen in der Ausdehnung dieser Bewegung.

Wenn wir feststellen, dass die Imperialisten unmittelbar zur Vorbereitung eines neuen Weltkriegs übergehen, dass eine scharfe kapitalistische Wirtschaftskrise Millionen Arbeiter:innen die Existenzgrundlage raubt, eine massenhafte Protestbewegung gegen die scheinbar unkontrollierbaren Teuerungen ausbricht oder die leitende Genoss:in eines Arbeitsbereichs erkrankt, massiv zurück fällt, festgenommen wird oder aus anderen Gründen ersetzt werden muss: All diese Beispiele haben gemeinsam, dass sie die Revolutionär:innen vor große Herausforderungen stellen, aber auch revolutionäre Chancen enthalten, auf die sie auf die eine oder andere Weise reagieren müssen.

Gelingt es den Kommunist-:innen, sich der Entwicklung in den sie umgebenden gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen, sich selbst zu revolutionieren und die in diesen Entwicklungen verborgenen Möglichkeiten und Chancen zu nutzen und damit zur Wirklichkeit werden zu lassen, dann entwickeln sie sich auf revolutionäre Art und Weise weiter. Schaffen sie das nicht, so bleiben sie stehen, stagnieren und fallen dadurch letztendlich zurück. Das Gesagte bezieht sich an dieser Stelle sowohl auf die Entwicklung einzelner Genoss:innen als auch auf die Entwicklung einer ganzen Organisation, also eines revolutionären Kollektivs. Die Entwicklung des einen bedingt dabei die des anderen, so dass die Eigenständigkeit beider Seiten nur relativ ist. 

Daher müssen sich einzelne Kommunist:innen im Zweifelsfall zwar nicht von der Begrenztheit des sie umgebenden Kollektivs ausbremsen lassen, doch wird es eine starke Anstrengung brauchen, um hier gegen den Strom zu schwimmen. Ebenso wenig sollte der (aktive oder passive) Widerstand einer Gruppe von Genoss:innen die revolutionäre Organisation in ihrer Gesamtheit daran hindern, die eigene Entwicklung voranzutreiben. Aber die Entwicklung beider Seiten kann nur bis zu einem gewissen Grad auseinander fallen. Irgendwann wird notwendigerweise der Entwicklung der revolutionären Individuen eine Grenze gesetzt, wenn es ihnen nicht gelingt, das ganze Kollektiv mit zu entwickeln und andersherum. Hier muss der entstehende Widerspruch zwischen der Entwicklung der einzelnen revolutionären Persönlichkeit, der Entwicklung des revolutionären Kollektivs und den sich entwickelnden Möglichkeiten auf revolutionäre Weise gelöst werden, bevor sie vergehen oder, weil sie nicht genutzt werden, zu einem Hemmschuh in der Entwicklung von Individuum und Kollektiv werden. Wir werden später erneut auf diesen Aspekt zurückkommen. Der Fokus dieses Artikels soll jedoch auf der Dialektik der Entwicklung revolutionärer Individuen und nicht der Entwicklung revolutionärer Organisationen liegen. 

Der Widerspruch zwischen revolutionärer Persönlichkeit und den in jeder Situation konkret bestehenden Anforderungen der Revolution bildet gewissermaßen den Rahmen, in dem sich die Entwicklung aller Kommunist:innen vollzieht. 

Schauen wir uns dazu ein konkretes Beispiel an: Geht die Bourgeoisie etwa zur Sicherung ihrer Herrschaft von bürgerlich-demokratischen Herrschaftsformen zu faschistischen Herrschaftsmethoden über, ändern sich die Kampfbedingungen sehr rapide. Die historische Erfahrung aus verschiedenen Ländern zeigt, dass in einer solchen Situation viele Genoss:innen zunächst zurückfallen und zum Teil ganz aus dem revolutionären Kampf ausscheiden, weil es ihnen nicht gelingt, sich den neuen Kampfbedingungen anzupassen. Diejenigen jedoch, die den Kampf weiterführen, können dies nur tun, weil sie auf die sprunghaft veränderten Kampfbedingungen mit einem Sprung in ihrer Persönlichkeitsentwicklung antworten.

Dies bedeutet jedoch weder, dass in Zeiten, in denen sich die Anforderungen der Revolution nicht sprunghaft verschieben, auch die Entwicklung der Kommunist:innen nur allmählich vor sich gehen kann, noch andersherum, dass eine Verschärfung dieses Widerspruchs automatisch zu einer schnelleren Entwicklung der Kader:innen führt. Daher müssen wir konkret die Vorteile und Fallen für die Kader:innenentwicklung in der jeweiligen Klassenkampfsituation verstehen und mit ihnen umgehen lernen. 

So ist in Zeiten niedriger Klassenkämpfe mehr Zeit und Ruhe für eine gründliche und systematische Kader:innenausbildung. Gleichzeitig ist es oftmals noch vermeintlich bequem, Revolutionär:in zu sein, ohne sich endgültig von einem bürgerlichen Leben verabschieden zu müssen. Zeiten, in denen die Wellen des Klassenkampfes höher schlagen, sind Zeiten, die der Kader:innentwicklung auf der einen Seite zusätzliche Möglichkeiten bieten und auf der anderen Seite höhere Anforderungen an jedes revolutionäre Individuum stellen. 

Doch zahlreiche Beispiele aus der kommunistischen Geschichte zeigen, wie die Kader:innen kommunistischer Parteien sehr unterschiedlich reagiert haben. Nicht immer gibt es genug revolutionäre Erfahrung und entwickeltes Klassenbewusstsein in den Organisationen, um in den sich sprunghaft entwickelnden Situationen ein Anziehungspunkt für die Arbeiter:innenklasse zu sein und einen Boden zur revolutionären Kader:innenentwicklung zu bieten. Ein positives Beispiel hierfür sind die zehntausenden Arbeiter:innen, die in die Partei der Bolschewiki strömten, als die Revolution durch die Konterrevolution erstickt zu werden drohte. Ein anderes ist jeder Moment, in dem führende Genoss:innen aus dem Kampf ausgeschieden sind, aber die von ihnen hinterlassene Lücke schnell durch andere gefüllt wurde, die sie sogar überflügelten.

Die Frage der Kader:innen-entwicklung bzw. die Aufgabe der eigenen Entwicklung aufzuschieben und dies mit dem Pseudoargument zu begründen, dass echte Kader:innen erst unter weiter zugespitzten Bedingungen entstehen könnten, ist ebenso absurd, wie zu behaupten, die revolutionäre Arbeit „lohne“ sich erst, wenn die Arbeiter:innenklasse größere Not leide. In der Frage der Kader:innenentwicklung gibt es keinen richtigen Moment, auf den man warten muss. Der richtige Moment ist immer die aktuelle Situation. Für die revolutionäre Persönlichkeitsentwicklung gilt es, keine Zeit zu verlieren und keinen Zustand des Stillstands und damit der Rückentwicklung zu rechtfertigen. Sie muss von jedem revolutionären Individuum und jeder kommunistischen Organisation jetzt organisiert angegangen werden, um damit den Anforderungen der Revolution näher zu kommen!

Die vorwärtstreibende Handhabung des Widerspruchs zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Es gibt einen großen Widerspruch zwischen deinem Anspruch und der Wirklichkeit!“ Aus der revolutionären Arbeit kennen wir solche Aussagen gut und fast nie sind sie positiv gemeint. Beschrieben wird damit meistens, dass Genosse A seine revolutionäre Arbeit schleifen lässt oder Genossin B sich nicht entsprechend ihrer organisatorischen Rolle verhält.

Auch die entsprechenden Genoss:innen selbst empfinden diesen Zustand oft als quälend. „Ich fühle mich so zerrissen!“, „Nie schaffe ich, was ich mir vornehme.“ oder „Es gelingt mir einfach nicht, meine Schwächen zu überwinden.“ Solche und ähnliche Formulierungen können alle als Ausdruck des Widerspruchs zwischen Anspruch und Wirklichkeit betrachtet werden.

Aber warum empfinden wir diesen Widerspruch als so unangenehm? Ist nicht ganz genau dieser Widerspruch eine der wichtigsten Triebfedern unserer Entwicklung? Lehrt nicht gerade die marxistische Dialektik, dass sich nur im Kampf von Gegensätzen Entwicklung vollzieht?

Wie kann denn der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit überwunden werden? Indem wir unsere Ansprüche auf das Niveau unserer unbefriedigenden Realität senken? Das kann sicher keine Lösung sein, denn es wäre die Kapitulation vor den notwendigen eigenen Entwicklungsschritten. Oder indem wir uns mit aller Gewalt dazu zwingen, täglich eine Stunde früher aufzustehen, um zu lesen, uns zu bilden und unsere Aufgaben zu erfüllen? Und dann? Bleiben wir dann auf diesem Stand stehen? Oder erhöhen sich dann nicht unsere Ansprüche und es kommt erneut zu dem oben genannten Widerspruch?

Schon diese Fragen zu stellen, macht klar: Wir wollen und können den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit gar nicht dauerhaft überwinden, wenn wir uns immer weiter entwickeln wollen. Wir müssen ihn vielmehr konkret dazu nutzen, um unsere Entwicklung aktiv voranzutreiben. Nachdem wir gesetzte Ziele in unserer Entwicklung erreicht haben, müssen wir uns immer höhere Ansprüche setzen, als das, was schon erreicht ist. Anders kann es keine Entwicklung unserer revolutionären Persönlichkeit geben.

Nicht nur das. Wir müssen es noch schärfer formulieren. Da sich die materiellen Bedingungen um uns herum, die revolutionären Anforderungen, die die Revolution an uns stellt, stetig verändern, müssen wir uns auch stetig verändern, um ihnen gerecht zu werden. Es ist daher nicht nur „wünschenswert“ für die Persönlichkeitsentwicklung von Revolutionär:innen, dass sie sich immer höhere Ansprüche stellen, sondern eine unverzichtbare Notwendigkeit. In der Persönlichkeitsentwicklung gibt es nämlich dialektisch betrachtet keine Möglichkeit des Stillstands, sich nicht mehr zu entwickeln ist gleichbedeutend damit, zurückzufallen.

Sollten einzelne Genoss:innen ihre Ansprüche nicht immer wieder selbst von neuem erhöhen, so ist es die Aufgabe des sie umgebenden revolutionären Kollektivs, ihre Ansprüche über das Niveau der schon erreichten Wirklichkeit zu heben.

Ob dieser dauerhafte Widerspruch dann als quälend beziehungsweise als ständige Quelle von Unzufriedenheit empfunden wird oder als natürliche und produktive Art, in der sich die eigene Entwicklung vollzieht, hängt sicherlich von verschiedenen Faktoren ab. Einer der wichtigsten ist dabei, ob sich Anspruch und Wirklichkeit insgesamt auf ein höheres Niveau entwickeln, auch wenn sie permanent auseinander fallen. Es ist nicht etwa die Illusion in eine vollkommene und dauerhafte Übereinstimmung von Anspruch und Wirklichkeit, die uns zufrieden und ausgeglichen machen kann, sondern die permanente Bewegung hin zu immer noch höheren Ansprüchen an uns selber.

Da wir aus dem dialektischen Materialismus wissen, dass die Bewegung die natürliche Daseinsform aller Materie ist, empfinden auch wir Kommunist:innen die – zumindest gefühlte – Nicht-Entwicklung als beunruhigend und unbefriedigend. Dies gilt sowohl auf uns als Individuum bezogen, als auch auf die organisatorischen Entwicklungen und Prozesse.

Heißt das also, solange wir uns stets möglichst hohe Ansprüche stellen, geht unsere Entwicklung auch besonders schnell voran? Leider ist es nicht so einfach. Denn sich in der eigenen Entwicklung utopische Ansprüche zu stellen, sich in das eigene Idealbild verwandeln zu wollen, zu sagen, „Ich will sein wie Clara Zetkin, wie Karl Marx, wie Lenin“, bringt uns zunächst auch nicht weiter als uns überhaupt keine Ansprüche zu stellen.

Man kann sogar sagen, dass eigentlich beides ganz unterschiedliche Formen sind, sich letztlich der Entwicklung zu verweigern. Und zwar weil der Schlüssel zur eigenen Entwicklung darin besteht, in den Spiegel zu blicken und sich selbst trotz aller Mängel anzunehmen, aber trotz dieser Mängel mit voller Motivation daran zu arbeiten, alles was man zu bieten hat, in den revolutionären Kampf zu werfen und mit diesem Ziel die eigenen Schwächen zu überwinden und sich so stets neu zu übertreffen. 

Dabei können wir uns natürlich ein Beispiel an den Kommunist:innen, die vor uns diesen Weg gegangen sind, und ihrer Entwicklung nehmen, aber eben nur insofern wir damit konsequent unsere eigenen Grenzen einreißen.

Das Umschlagen von Quantität in Qualität und der qualitative Sprung

Wir wissen, dass ein weiterer Grundsatz der dialektischen Entwicklungsgesetze darin besteht, dass sich Entwicklungen im Umschlagen von Quantität in Qualität vollziehen. Daraus folgt zugleich, dass sich Entwicklungen grundsätzlich nicht gleichmäßig vollziehen, sondern unregelmäßig, in einem stetigen Wechsel von langsameren oder kleinschrittigeren Entwicklungsphasen und schnellen und großen Sprüngen.

Im Bereich der Kader:innen-entwicklung können die ruhigeren Entwicklungsphasen dabei als Phasen quantitativer Anhäufung verstanden werden, die schließlich zu qualitativen Entwicklungen, zu Sprüngen führen, bevor erneut eine Phase quantitativer Anhäufung beginnt. Wesentlich ist hierbei, dass beide Formen der Entwicklung, die sprunghafte und allmähliche – man kann auch sagen die evolutionäre und die revolutionäre – einander gegenseitig voraussetzen. Kein:e Kader:in kann sich jemals nur in Sprüngen entwickeln, jede sprunghafte Entwicklung wird durch allmähliche Entwicklungen, durch das Erlernen und Festigen neuer Fähigkeiten vorbereitet. Andersherum gibt es keine dauerhafte allmähliche Entwicklung ohne Sprünge. Die quantitative Ansammlung von Potentialen in einer revolutionären Persönlichkeit drängt danach, in einem Sprung realisiert zu werden. Geschieht das nicht, drohen Stagnation und letztlich Rückentwicklungen bis hin zu tiefgreifenden Krisen. 

Das sind wesentliche Gründe, warum Sprünge in der Kader:innenentwicklung von den entsprechenden Kader:innen selbst, aber vor allem auch von der Organisation bewusst organisiert werden müssen.

Was droht, wenn das nicht richtig geschieht, können wir anhand der Lebensgeschichte vieler junger Revolutionär:innen aus dem deutschen Zirkelwesen beobachten. Sie beginnen voller Euphorie und machen sich an die Arbeit, glauben einige Jahre, die Welt aus den Angeln heben zu können, stoßen schließlich aber an die natürlichen Grenzen ihrer Organisationsform. Aus der permanenten Beschäftigung mit der eigenen Stadt und Kleingruppe wird eine echte Froschperspektive; aus dem jahrelangen Arbeiten in ein und demselben Arbeitsbereich entsteht eine ausgeprägte Einseitigkeit im politischen Analysieren, Denken und Bewerten; die Routine in gemeisterten Aufgaben schlägt darin um, die Arbeit nur noch rein gewohnheitsmäßig und ohne echte Begeisterung zu machen, es schleichen sich immer mehr Fehler und eine bürokratische Arbeitsweise ein.

Ist eine Revolutionär:in in ihrer Entwicklung zulange auf ein bestimmtes Niveau beschränkt, schlagen die angesammelten Potentiale irgendwann in ihr Gegenteil um.  Die Frucht muss geerntet werden, solange sie reif ist, wenn sie nicht faulen soll. Genau das gilt im übertragenen Sinn auch für den erreichten Entwicklungsstand von Kommunist:innen. Werden die angesammelten Potentiale nicht zusammengefasst und mit ihnen ein qualitativer Sprung in der Kader:innenentwicklung organisiert, dann vergehen sie. Sie lassen sich dann nicht auf Dauer halten oder gar konservieren. 

Wie aber können solche Sprünge konkret organisiert werden?

Wir haben schon darüber geschrieben, dass ruckartige Veränderungen der uns umgebenden gesellschaftlichen Bedingungen auch uns eine Chance geben können, uns „gründlich durchzurütteln“, uns quasi zu einem qualitativen Sprung zwingen können. 

Aber auch die kommunistische Organisation selbst kann den Ausgangspunkt für solche Sprünge darstellen. Das wichtigste Mittel hierfür besteht darin, Genoss:innen, die eine bestimmte Entwicklung durchgemacht haben, mit neuen Aufgaben in neuen Regionen oder anderen Arbeitsfeldern vor neue Herausforderungen zu stellen, sie aus ihren gewohnten Aufgaben herauszureißen und in das nächste, größere Becken mit kaltem Wasser zu werfen.

Natürliche“ und „künstliche“ Brüche in der Biografie

Es ist ein Ausdruck des begrenzten Entwicklungsstandes der kommunistischen Bewegung, dass derartige Veränderungen, insbesondere wenn sie mit einer Veränderung des Wohnorts verbunden sind, häufig nur mit bestimmten Brüchen, die im Sinne einer bürgerlichen Biografie „natürlich“ sind, einhergehen: Genossin X zieht zur Ausbildung nach München, Genosse Y stellt sich einer größeren Herausforderung, nachdem seine Liebesbeziehung zu Ende gegangen ist und zieht daher um und so weiter und so fort.

An dieser Stelle sollte deswegen deutlich betont werden: Das Absolvieren einer regulären Berufsausbildung oder eines Studiums kann für uns Kommunist:innen beim Aufstellen von Entwicklungsplänen für einzelne Genoss:innen keine grundsätzliche Bedeutung haben. Eine abgeschlossene Berufsausbildung stellt keine notwendige Voraussetzung dafür dar, sich voll und ganz dem revolutionären Kampf zu widmen, ganz im Gegenteil! Ausbildung und Studium dienen gerade dazu, Jugendliche und junge Erwachsene über zahlreiche Mechanismen mit dem bürgerlichen System zu verbinden, sie gedanklich zu begrenzen und sie in eine bürgerliche Biografie zu pressen. 

Geht es Genoss:innen in Diskussionen über ihren Lebensweg sogar darum, wie sie ihre Berufskarriere in einem bürgerlichen Sinne vorantreiben, sollte spätestens dies als deutliches Warnsignal gesehen werden, dass Genoss:innen im Begriff sind, sich in ihrer Entwicklung selbst stark einzugrenzen. Ähnliches kann für Liebesbeziehungen oder die Bindung an einen bestimmten Wohnort, bestimmte vorherrschende Lebensumstände, das Festhalten an einem Arbeitsbereich etc. gelten.

Gerade bei Genoss:innen, die einen großen revolutionären Willen und ein großes revolutionäres Potential besitzen, vielleicht sogar das Leben als Berufsrevolutionär:in zu ihrem Ziel erklären, muss bei der Kader:innenentwicklung besonders auf diese Punkte geachtet werden. Es gilt, diese Bindungen an das System immer wieder gedanklich und materiell aufzubrechen.

Geschieht das nicht, so werden eine „klassische“ Berufslaufbahn, Liebesbeziehung, Wohnort und vieles mehr gedanklich schnell zu festen Grenzen des eigenen Lebensweges, die nicht mehr in Frage gestellt werden, bis sie schließlich fast karikaturhaft in Form von Familie, Kindern, Krediten und Eigenheim materielle Realität werden.

Derartige Grenzen bewusst aufzubrechen, ganz unabhängig davon, ob das in einer gegebenen Situation gerade „natürlich“ ist, kann für die Entwicklung der Genoss:innen eine große Unterstützung sein, ihre Prioritäten im Leben neu zu ordnen und eben die Grenzen dessen, was sie sich selbst zutrauen und was sie erreichen wollen, weiter zu verschieben. Dabei gilt es, diese Genoss:innen zunächst wachzurütteln und ihnen ihre vielleicht selbst kaum oder nur schemenhaft erkennbaren Begrenzungen aufzuzeigen, um sie dann in einem kürzeren oder längeren Prozess gemeinsam einzureißen. 

Denken wir an eine Frauenkaderin wie Olga Benario-Prestes, die bereits mit 18 Jahren gegen den Willen ihres sozialdemokratischen Vaters aus München nach Berlin zog und nur zwei Jahre später nach einer bewaffneten Befreiungsaktion für einen Genossen in die Sowjetunion ging, um sich als Kaderin der Kommunistischen Internationale auszubilden, dann wird deutlich, wie relativ die Bedeutung von Alter und Erfahrung ist, solange Genoss:innen sich ehrlich, und ohne immer ein Hintertürchen offen halten zu wollen, für ein revolutionäres Leben entscheiden.

Ein weiteres sehr beeindruckendes Beispiel für den Wert solcher Entscheidungen, mit dem alten Leben zu brechen, bietet das Leben der Genossin Yasemin Çiftçi. Als sie in ihrer Entwicklung als Revolutionärin in eine Krise geriet und sich nach ihrer eigenen Einschätzung ihre Verbindung mit dem revolutionären Kampf abschwächte, zog sie sich in eine Liebesbeziehung zurück. Die MLKP, ihre Partei, unterbreitete ihr jedoch in dieser Situation den Vorschlag, ihr Leben im legalen Arbeitsbereich gegen ein Leben im Untergrund zu tauschen. Sie nahm diesen Vorschlag an und beschreibt selbst, wie schnell sich viele Probleme, die sie zuvor stark belastet hatten, förmlich in Luft auflösten.2

Diese Beispiele verdeutlichen sehr gut, wie viel Entwicklungspotential durch „künstliche“, bewusst organisierte Brüche in der eigenen Biografie herbeigeführt werden können. Dabei kann es uns nicht darum gehen, zu versuchen, die Lebenswege solcher Vorbilder zu kopieren oder ihnen eins zu eins nachzueifern, sondern darum, von ihnen zu lernen und alleine dadurch unsere gedanklichen Grenzen ein Stück weit einzureißen. Auch gelingt dies natürlich nur, wenn diese Brüche mit unserer Weiterentwicklung auf einem neuen, höheren Niveau einhergehen.

Das Verhältnis von Kollektiv zu Individuum bei der Frage der Anleitung von Sprüngen

So wichtig es ist – gerade in Deutschland – die Notwendigkeit einer kollektiven Herangehensweise zu betonen, führt eine einseitige Anwendung dieses Aspekts durch einzelne Genoss:innen oft genug zu einem enormen Hindernis für die Kader:innenentwicklung: Dem Phänomen, dass Lösungen für die eigene Entwicklung von anderen erwartet werden und man sich selbst nur als passive Person am Rande wahrnimmt.

In welchem Verhältnis steht also die Verantwortung des Kollektivs zur Verantwortung des Individuums für die eigene Kader:innenentwicklung? Wir haben bereits gesagt, dass alle Bemühungen zur Kader:innenentwicklung notwendigerweise an Grenzen stoßen werden und nicht den Erfordernissen der Revolution in Deutschland gerecht werden können, wenn sie als eine rein individuelle Angelegenheit betrachtet werden.

Andersherum jedoch ist überhaupt keine Kader:innen-entwicklung möglich, wenn die dafür notwendige Bereitschaft, Initiative und Begeisterung bei den entsprechenden Genoss:innen fehlt. Deswegen ist es unbedingt notwendig zu betonen, dass die Entwicklungsbereitschaft, der Antrieb, der Mut und die Energie einer jeden Kader:in eine unverzichtbare Voraussetzung für ihre eigene Entwicklung darstellen.

Mag sein, dass die kommunistische Organisation es nicht versteht, kollektiv-individuelle Entwicklungspläne für uns zu erstellen, die unseren Entwicklungsbedürfnissen entsprechen. Aber was hindert uns daran, sie selbst zu erstellen und der Organisation vorzuschlagen? Mag sein, dass unsere Organisation es nicht versteht, unsere Talente und Potentiale richtig zu erkennen und zu entfalten. Können wir denn gar nichts tun, um sie selbst für die revolutionäre Arbeit nutzbar zu machen? Mag sein, dass das immer gleiche Niveau der Arbeit in unserem lokalen Zirkel zu einer Fessel für unsere Entwicklung geworden ist. Aber warum gelingt es uns nicht, Verantwortung zu übernehmen und unsere Organisation aus dem beschränkten Horizont des Zirkelwesens hinauszuführen?

Hieraus folgt, dass unser eigener Wille, ein Ausgangspunkt für jede Veränderung – ob sprunghaft oder allmählich – ist, er ist sogar ihre entscheidende Voraussetzung, ohne den es nicht nur keinen Sprung, sondern gar keine revolutionäre Persönlichkeitsentwicklung geben kann.

Häufig erlebt man, dass gerade junge Genoss:innen einen enormen revolutionären Willen zum Ausdruck bringen, in dem sie die weitere Lebensplanung scheinbar ganz in die Hände des Kollektivs legen und erklären „Ich habe keine eigenen Wünsche, ich tue, was die Organisation von mir verlangt.“ Ist das nicht das Ideal einer Berufsrevolutionär:in? Ja und nein. Es ist bewundernswert und erstrebenswert, wenn Genoss:innen das Gesagte ernst meinen und so ihren kommenden Lebensweg ganz nach den Bedürfnissen der Revolution gestalten wollen. 

Oft genug treten solche revolutionären Willensbekundungen aber gepaart mit einem großen Mangel auf: Es fehlt jegliche realistische Selbsteinschätzung der eigenen Fähigkeiten, des eigenen Entwicklungsstands und es fehlen eigene Schlussfolgerungen daraus. 

Das zum Ausdruck Gebrachte ist dann oftmals nicht viel mehr als ein romantisierter Traum, voll von Voluntarismus und ohne eine klare Vorstellung, wie das präzise benannte Ziel zu erreichen ist. Es ist eine sehr simple Wahrheit, dass jede Genoss:in sich selbst am besten kennt und somit potentiell auch die treffendste Analyse der eigenen Entwicklung sowie darauf folgende Vorschläge machen kann. 

Daraus folgt, dass die konkrete, zielgerichtete und geplante Entwicklungsperspektive nur gemeinsam aus Individuum und Kollektiv entstehen kann. Nur so kann eine möglichst objektive, der Realität entsprechende Bestandsaufnahme der Fähigkeiten, Stärken und Potentiale, aber auch der noch bestehenden Grenzen, Fehler und Schwächen zustande kommen. Nur so können der eigene Liberalismus und organisatorische Fehler angegangen und eine konkrete, auf den realen Bedingungen fußende Entwicklungsperspektive geschaffen werden. 

Sprünge konkret anleiten

Für die kommunistische Bewegung heute in Deutschland ist es ein wichtiger Vorteil, dass wir in der Erarbeitung theoretischer und praktischen Grundlagen der Kader:innenentwicklung nicht bei null beginnen müssen. Dies gilt auch, wenn weiterhin die Aufgabe vor uns steht, den Erfahrungsschatz der internationalen kommunistischen Bewegung in dieser Frage richtig auf die heute in diesem Land bestehenden Bedingungen anzuwenden.

Wir können uns auf die Erfahrungen der historischen KPD, der KPdSU und selbst auf einzelne Ansätze aus der Frühphase der DDR stützen. Auch die Erfahrungen und Konzepte aus kommunistischen Parteien anderer Länder können heute sehr wichtige Grundlagen für uns sein. Hier sollen besonders die Arbeiten der MLKP aus der Türkei und Kurdistan hervorgehoben werden, die uns auch bei verschiedenen Aspekten dieses Artikels inspiriert haben.

Bei der Analyse des Sprungs in der Entwicklung einer Revolutionär:in betont die MLKP hierbei, dass jeder Sprung mit einem Bruch einhergehen muss:

Bruch und Sprung zusammengenommen bedeuten in ihrer Gesamtheit die Vertiefung des Revolutionärseins über den Aufbau einer höheren Militanz, die Zerstörung der Grenzen, die Senkung von Begrenztheit und die Erweiterung des Horizonts. Im Leben eines:r revolutionären Militanten sollten so viele Sprünge wie auch Brüche organisiert werden.“ 3

Der Bruch bezeichnet dabei das bewusste Ablegen aller Denkstrukturen, Gewohnheiten und Gefühle, die sich aus der bisherigen Situation der Revolutionär:in ergeben haben:

Brüche müssen ihre Entsprechung in der Zerstörung von Gewohnheiten finden, welche in der gegebenen Situation wurzeln. Ebenso in der kritischen, revolutionären Überwindung der Denkweise und Herangehensweisen, sowie in der Hinterfragung der Struktur der Emotionen und der Arbeitsweise, welche mit dem gegebenen Zustand verbunden sind.“ 4

Wichtig ist hier unseres Erachtens nach vor allem, dass der organisierte Sprung in der Kader:innenentwicklung nicht einfach durch einen veränderten Arbeitsbereich, veränderte Lebensbedingungen oder Ähnliches hervorgerufen wird, sondern die notwendige Ergänzung des Springens in eine neue Situation, der Bruch bzw. das Ablegen alter Gewohnheiten, Denkweisen, Gefühle usw. usf. ist.

Aus Sicht der Kader:innenent-wicklung geht ein solcher kollektiv organisierter Sprung also nicht mit einer Erfolgsgarantie einher. Gerade der notwendige Bruch mit alten Gewohnheiten, Gefühlen und sozialen Zusammenhängen, kann auch zu krisenhaften negativen Entwicklungen führen. Die Erfahrung zeigt, dass dies insbesondere eintreten kann, wenn wir unsere Gefühle, unser Denken und unser Handeln nicht richtig auf die von uns selbst und der Organisation gesetzten Ziele richten.

Die Ursachen hierfür können vielfältig sein und reichen von zuvor verdeckten Schwächen und Problemen einer Genoss:in, die sich erst unter neuen Bedingungen voll offenbaren, bis hin zum Verhaftetsein in Erinnerungen an frühere, dann oft idealisierte Zeiten und Arbeitsweisen. 

Wichtig ist hier, dass das Kollektiv und natürlich die entsprechende Genoss:in selbst ein besonderes Augenmerk auf die Übergangsphase zwischen „Altem“ und „Neuem“ legen und den Veränderungsprozess besonders eng verfolgen und bewusst organisieren. 

Gerade die Genoss:in, die sich im Entwicklungssprung befindet, ist hier gefordert, zuallererst zu sich selbst und auf dieser Grundlage zum Kollektiv ehrlich zu sein, statt stur und verbissen daran festzuhalten, die neue, ungewohnte Situation ohne Unterstützung und ohne genaue Kontrolle ihrer Arbeit bewältigen zu können.

Organisatorische Maßahmen zur Entwicklung der Kader:innen

Um die kollektive Aufgabe der Kader:innenentwicklung anzugehen, muss jede Organisation ihren Bedingungen entsprechende Mechanismen entwickeln. Aus den bisherigen Ausführungen und unseren konkreten Erfahrungen im Kampf um die Entwicklung kommunistischer Kader:innen in Deutschland wollen wir an dieser Stelle einige Erfahrungen und Gedanken teilen, die sich auf die notwendigen organisatorischen Maßnahmen der Kader:innenentwicklung beziehen.

1. Regelmäßige Kritik und Selbstkritikrunden

Eine der grundlegendsten Methoden der Kader:innenentwicklung sind regelmäßige intensive Kritik- und Selbstkritikrunden in allen dauerhaft kollektiv arbeitenden Organen. Diese Treffen sollen in einem regelmäßigen, verbindlichen Rhythmus stattfinden. 

Ihr Ziel ist es, eine kollektive Analyse der Entwicklung aller Genoss:innen vorzunehmen. Die Hauptarbeit ist hierbei von den Genoss:innen zu leisten, die analysiert werden. Ihre ausführliche, ehrliche Selbsteinschätzung bildet die Grundlage für die Ergänzungen, Kritiken und Beobachtungen des Kollektivs und der sich daraus ergebenen Entwicklungsziele für die kommende Periode. 

Wichtig ist, diese Treffen von alltäglicher Kritik- und Selbstkritik in der Arbeit abzugrenzen, denn diese sollte nicht in einem gesonderten Rahmen bzw. in einem zeitlich weit entfernten Moment stattfinden, sondern zu einem natürlichen Teil unserer Arbeit und der genossenschaftlichen Beziehungen werden. 

Bei den regelmäßigen, organisierten Kritik- und Selbstkritikrunden stehen jedoch andere Ziele als nur die Verbesserung der gemeinsamen politischen Arbeit im Vordergrund. Hier geht es darum, für sich selbst und die Organisation ein Bild von der Entwicklung all ihrer Genoss:innen zu erarbeiten, von ihren Stärken, Schwächen und ungenutzten Potentialen. Es geht auch darum, nach Möglichkeit gleich Entwicklungspläne aufzustellen, die diese Stärken und Schwächen gezielt fördern bzw. bekämpfen und sie dann – durch das Kollektiv kontrolliert – in die Tat umzusetzen.

Hierbei ist es wichtig, dass konkrete, kontrollierbare und umsetzbare Ziele festgelegt werden. „Ich will mich mehr bilden.“, „Ich will Sport machen.“, „Ich will lernen, Reden zu halten.“ sind hierbei typische Formulierungen, die optimal geeignet sind, dem Wesentlichen bei der Kader:innenentwicklung aus dem Weg zu gehen: Konkrete Schritte zu gehen..

2. Ein verbindliches Ausbildungsprogramm

Von der Entwicklung einer politischen Kampagne, über das richtige Verhalten auf Bündnistreffen, das theoretische Arbeiten bis hin zum Organisieren und Anleiten der eigenen politischen Arbeit und Entwicklung gibt es eine Vielzahl von Fähigkeiten, die die Kader:innen einer Organisation erlernen müssen.

Nicht alle notwendigen Fähigkeiten und nicht alles notwendige Wissen kann dabei spontan – sozusagen im Selbstlauf – erlangt werden, wenn Genoss:innen nur lang genug Teil der politischen Arbeit einer Organisation sind. Manches muss gezielt entwickelt, viele Erfahrungen ausgewertet, verfeinert und systematisiert werden, um das allgemeine Niveau der Arbeit insgesamt zu heben.

Sobald eine Organisation eine erste „Generation“ von neuen Genoss:innen in ihre Reihen aufnimmt, werden sich das Bedürfnis und die Notwendigkeit zeigen, diese auf das Niveau der Organisation zu heben und sie an den gemachten kollektiven Erfahrungen teilhaben zu lassen.

Charakteristisch ist, dass in lokalen Zirkeln dieser Prozess fast nur spontan verläuft. Es ist offensichtlich, dass einer bundesweit aktiven Struktur hier ganz andere Möglichkeiten und Ressourcen zur Verfügung stehen, um das eigene Ausbildungsprogramm zu systematisieren. Auch hier braucht es jedoch eine bewusste Anstrengung und Konzentration, um solch ein Ausbildungsprogramm, welches das notwendige Wissen und die notwendigen Fähigkeiten auf den Gebieten der Ideologie, der Politik und der organisatorischen Arbeit umfasst, zu schaffen. 

Doch auch in einer solchen Organisation schleicht sich nur allzu schnell ein gewisses „bequemes“, pragmatisches Denken ein, das den Blick auf Entwicklungsmöglichkeiten der einzelnen Genoss:innen verstellen kann. So gilt es, die eigenen Ausbildungsprogramme nicht nur dauerhaft zu aktualisieren und den Bedingungen und neu gemachten kollektiven Erfahrungen anzupassen, sondern auch sie dauerhaft anzubieten, um die neuen Genoss:innen, die immer wieder in die Organisation strömen, schnellstmöglich in ihrer Entwicklung zu fördern.

3. Bewusste Bemühungen um die Entwicklung anderer

Die zentrale Bedeutung der Kader:innenentwicklung für die Vorbereitung der Revolution in diesem Land wurde bereits zur Genüge betont. Hieraus ergibt sich ganz logisch, dass auch bei jeder anleitenden Genoss:in hierauf ein besonderes Augenmerk liegen muss.

Dabei tut es nichts zur Sache, ob eine Genoss:in für einen bestimmten begrenzten Arbeitsbereich in der Massenarbeit zuständig ist oder für eine ganze Organisation. Die dauerhafte Schaffung und Entwicklung von Kader:innen ist eines der wichtigsten Erfolgskriterien kommunistischer Arbeit.

Natürlich ist hierfür das Zusammenkommen verschiedenster Elemente notwendig, von denen viele in diesem Artikel nur angerissen werden konnten. Besonders gefördert werden kann die Kader:innenentwicklung aber, wenn die in einem bestimmten Bereich anleitenden Genoss:innen bewusst Mühe darauf verwenden, zum Beispiel in dem sie sich vor jedem kollektiven Treffen und vor jeder Aktion Gedanken darüber machen, wie die einzelnen Genoss:innen vor eine Herausforderung gestellt werden können, die sie fördert und fordert, aber nicht überfordert.

Hierzu gehört ebenso die Anforderung, die Genoss:innen im eigenen Arbeitsbereich gut zu kennen, über ihre Fähigkeiten, Stärken und Schwächen, ihre Probleme und ihren Entwicklungsstand Bescheid zu wissen. Hilfreich ist es hierbei häufig, mit einer bestimmten Systematik auch Einzelgespräche mit den Genoss:innen über ihre Entwicklung zu führen. Diese Herangehensweise ist unter anderem ein gutes Mittel, um sich gegen einseitige Einschätzungen der Genoss:innen zu schützen, alle Potentiale sichtbar zu machen und das Selbstbild der Genoss:innen mit den Eindrücken der Organisation abzugleichen.

Zur kommunistischen Anleitungsarbeit gehört der hohe Anspruch, für jeden Menschen den passenden Platz in unserer Bewegung zu finden und die Talente und Potentiale jedes Menschen maximal für die Revolution zu nutzen.

4. Globale Entwicklungspläne durch die Organisation

Der Rahmen, den eine Organisation für die Kader:innenentwicklung einzelner steckt, kann schnell sehr eng werden, insbesondere dann, wenn die Organisation noch wenig entwickelt und ausdifferenziert ist. Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass Organisationen, die quantitativ und qualitativ weiter entwickelt sind, die in verschiedenen Regionen, Städten und Arbeitsbereichen tätig sind, erhebliche Potentiale für die gezielte Kader:innenentwicklung und das Organisieren von Entwicklungssprüngen haben, die ein regional und/oder politisch begrenzter Zirkel gar nicht entfalten kann. Es gilt, diese Potentiale ganz bewusst auszunutzen und immer wieder neu zu durchdenken.

Damit die Kader:innenent-wicklung sich jedoch im Einklang mit den Entwicklungsbedürfnissen der Organisation vollzieht und nicht etwa zu einem Selbstzweck verkommt, ist hierfür die bewusste Anleitung durch die Organisationsführung notwendig. Nur mit dem Organisationsmodell des Demokratischen Zentralismus lassen sich die notwendigen Informationen über die vorhandenen Potentiale, aber auch über den in verschiedenen Bereichen der Arbeit bestehenden Bedarf zentralisieren und somit – natürlich im Austausch mit den betroffenen Genoss:innen selbst – eine kurz- und langfristige Entwicklungsperspektive dazu entwickeln: Welche Fähigkeiten welche Genoss:in entwickeln soll, um perspektivisch in welchem Arbeitsbereich die Arbeit der Organisation voranzutreiben.

Die Entwicklungsperspektiven der einzelnen Genoss:innen müssen sich so in die mittelfristigen Entwicklungspläne der gesamten Organisation einfügen. Nur so kann die Kader:innenentwicklung ihr volles Potential entfalten und die Genoss:innen die Bedürfnisse der Revolution bestmöglich erfüllen.

 Die Kader:innenentwicklung als kollektive Aufgabe

Wir haben nun einige allgemein formulierte Gedanken über organisatorische Maßnahmen dargelegt, die zum Vorantreiben der Kader:innenentwicklung dienen können. Mit organisatorischen Maßnahmen jedoch allein wird es nicht getan sein.

Notwendig ist auch, gedankliche und emotionale Hindernisse einzureißen, die uns bei der Anleitung unserer eigenen Entwicklung oder der unserer Genoss:innen im Weg stehen. Das Ideal stellt hierbei ein möglichst weit entwickeltes kollektivistisches Verständnis der Kader:innenentwicklung dar, bei dem wir nicht von den Sorgen, den Zweifeln, der Euphorie über unserer eigenen persönlichen Entwicklung dominiert werden, sondern ebenso große Freude aus den Erfolgen unserer Genoss:innen ziehen wie aus unseren eigenen.

Im Artikel „Marxismus und Psychologie“5 haben wir herausgearbeitet:

Seien es ,Stars und Sternchen‘ oder Freund:innen und Genoss:innen, die meisten Menschen definieren sich in erster Linie über andere Menschen. Mit dem Ergebnis, dass man sich entweder über diese stellt oder sich als minderwertig fühlt.“

Diese Tatsache begegnet uns auch in der Kader:innenentwicklung immer wieder. Der bürgerliche Individualismus bricht sich hierbei nicht immer und vielleicht auch nicht hauptsächlich in Form von unverhüllter Selbstdarstellung und Konkurrenzdenken Bahn – zumindest wenn die genossenschaftlichen Beziehungen ein gewisses Niveau erreicht haben. Nicht selten tritt er aber in umgestülpter Form als Selbstabwertung wieder zu Tage. Auch hier definieren sich Genoss:innen vor allem über den Vergleich zu anderen. Dieses Aufkommen von neidvollen und eifersüchtigen Gefühlen über das Entwicklungsniveau anderer, steht dabei der größtmöglichen Weiterentwicklung aller Genoss:innen im Weg.

Entwickeln sich unsere Genoss:innen in bestimmten Bereichen besonders schnell, so darf das bei uns nicht etwa Selbstzweifel auslösen, weil wir uns mit ihnen vergleichen und in diesem Vergleich nicht gut wegkommen. Vielmehr müssen wir ein solches Verhältnis zum Kollektiv und unseren Genoss:innen entwickeln, dass wir ihre Entwicklung auch als unsere eigene Entwicklung und unseren eigenen Erfolg betrachten. Dies schließt natürlich nicht aus, dass wir die Schritte anderer als Vorbild für unsere eigene Entwicklung nehmen.

Erst in dem Maße, in dem ein solches Verhältnis zur Kader:innenentwicklung in unseren Gedanken und Gefühlen etabliert ist, werden wir vorbehaltlos alle Möglichkeiten, die wir haben – seien es genossenschaftliche Kritiken, Vorschläge für neue Verantwortungen oder Zeit, die wir gemeinsam mit unseren Genoss:innen verbringen – aufwenden, um unsere Genoss:innen auf schnellstmöglichem Wege zu entwickeln. Erst dann werden auch wir ein Stück mehr die Anforderungen der Revolution an uns selbst erfüllen. 

Die hier gemachten Ausführungen sollen auf der einen Seite klarstellen, dass die Kader:innenentwicklung ein dialektischer Prozess ist, den wir nicht von den allgemeinen Entwicklungsgesetzen und den Bedingungen des Klassenkampfes losgelöst betrachten dürfen. Auf der anderen Seite soll er die Verantwortlichkeit aller Genoss:innen für ihre eigene Persönlichkeitsentwicklung und die ihrer Genoss:innen, mit denen sie zusammenarbeiten, klarstellen. Nur wenn wir diese Zusammenhänge verstehen und verinnerlicht haben, können wir mit voller Energie die gezielte Kader:innenentwicklung in Angriff nehmen.

1https://komaufbau.org/organisation/kommunistische-partei-im-21-jahrhundert-ein-gespenst-kehrt-zuruck/ 

2Elf Leben für die Revolution, Broschüre der KGÖ, S. 8 ff.

3Roter Morgen, Internationales Theoretisches Organ der MLKP, Ausgabe 18, S. 41

4Ebenda

5https://komaufbau.org/marxismus-und-psychologie/