Start Blog Seite 3

Trotzkismus – eine marxistisch-leninistische Analyse

Der Trotzkismus als politische Strömung ist ein besonderes Phänomen, das einer Einordnung aus marxistisch-leninistischer Sicht bedarf. Auch wenn Größe und Ausdehnung der kommunistischen Bewegung und der Arbeiter:innenbewegung im letzten Jahrhundert in praktisch allen Ländern stark geschwankt haben, gewann der Trotzkismus im Verhältnis zur gesamten kommunistischen Weltbewegung nur begrenzt Einfluss. Durchaus eine Rolle spielt er in sehr vielen Ländern Europas, in den USA und in Lateinamerika.

Wie ist diese relative Stabilität des Trotzkismus zu erklären, zumal es nie zu einer trotzkistischen Revolution und noch viel weniger zu einem „trotzkistischen“ sozialistischen Aufbau gekommen ist? Warum ist der Trotzkismus allem Anschein nach noch immer attraktiv genug, um nicht ganz von der politischen Bühne zu verschwinden?

Die auf den ersten Blick paradoxe Antwort könnte lauten: Gerade deshalb. Der Trotzkismus musste seine Positionen zum Sozialismus nie in der Praxis unter Beweis stellen. Daher können sie in den Köpfen vieler Trotzkist:innen schön sauber und unbefleckt bleiben; unbefleckt von allen Widrigkeiten, Misserfolgen, Fehlern und vom Antikommunismus als undemokratisch verhetzten Maßnahmen im Klassenkampf, die ein Teil der kommunistischen Geschichte des letzten Jahrhunderts sind.

Dieser Gedanken ist ein wesentlicher Schlüssel sowohl zum Verständnis der Figur Trotzkis als auch der Bewegung, die bis heute seinen Namen trägt. Jedoch kann es hier nicht alleine um eine geschichtliche Analyse gehen. Vielmehr muss die politische Rolle des Trotzkismus heute eingeschätzt und bewertet werden.

Um dies zu tun, beginnt der Artikel mit einem biographischen Überblick über Trotzkis Leben. Betont werden sollen dabei die Aspekte, die nach unserer Einschätzung besonders prägend auf die heutige trotzkistische Bewegung wirken. Unser Anspruch ist dabei, Trotzkis Entwicklung ins Lager der Konterrevolution nachvollziehbar zu machen. Wichtig ist hierbei, die Faszination für die Figur Trotzki nicht noch zu erhöhen, indem man diesen entweder einfach dämonisiert oder als bewussten faschistischen Agenten darstellt, wie es in einem Teil der „anti-trotzkistischen“ Literatur geschieht.

Im mittleren Teil des Textes werden die charakteristischsten Merkmale des Trotzkismus kritisiert und ihre Wurzeln bei Trotzki aufgezeigt. Zwar kann viel, mehr oder weniger Interessantes über Trotzkis Leben, bis er die Sowjetunion verlassen hat, gesagt werden, die für seine Nachfolger:innen prägendsten Einfälle kamen Trotzki aber fast alle im Exil.

Der letzte Teil bemüht sich dann noch um eine Darstellung der wichtigsten Wendepunkte und Diskussionen in der trotzkistischen Bewegung nach Trotzkis Tod. Da der politische Stammbaum des Trotzkismus aber – zum Teil aufgrund der ausgeprägten Neigung zu Spaltungen – ein sehr breit gefächertes Blattwerk hat, müssen wir hier gleich ankündigen, dass keine umfassende Analyse aller trotzkistischen Strömungen und ihrer Kämpfe untereinander geleistet werden konnte. Dies ist auch nicht der Anspruch des Textes. Vielmehr legen wir im Abschlussteil des Artikels einen besonderen Schwerpunkt auf die konkrete Rolle des Trotzkismus in Deutschland.

Biographischer Überblick

In der Tat hat Trotzki erhebliche Anstrengungen unternommen, um sein Bild in der Geschichtsschreibung zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Trotzkis wichtigster Biograf Isaac Deutscher (1907 – 1967), der selbst zeitweise organisierter Trotzkist war, greift diesen Aspekt gleich zu Beginn seiner dreibändigen Biografie auf: „Trotzki war so auskunftsfreudig über sein Leben wie Stalin geheimniskrämerisch mit dem seinen umging.“ 1

Die vorhandene Literatur zu Trotzki oder dem Trotzkismus lässt sich nur allzu oft auf diese Leidenschaft Trotzkis für sich selbst ein: Entweder mit voller Begeisterung für den schillernden Revolutionär oder in Form von Bemühungen, Trotzkis Selbstbild in jedem einzelnen Aspekt zu widerlegen und ihn als schon immer kleinbürgerlichen, unzuverlässigen Konterrevolutionär zu kennzeichnen.

Wir wollen Trotzkis Biografie in zwei Teilen behandeln:

  • Seine Entwicklung zum Revolutionär und seine Rolle vor und in der Oktoberrevolution.
  • Seine Rolle in den Fraktionskämpfen nach der Oktoberrevolution und beim Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion bis zu seiner Verbannung.

Trotzki vor der Oktoberrevolution

Lew Dawidowitsch Bronstein, der spätere Leo Trotzki, wurde am 26. Oktober 1879 als Kind jüdischer Bauern in der Ukraine geboren. Seine Eltern brachten es nach und nach zu immer mehr Wohlstand und konnten schließlich der Klasse der Großbauern zugerechnet werden. Schulische Bildung genoss Trotzki ab seinem 9. Lebensjahr in der Großstadt Odessa, wo er schnell zum besten Schüler seiner Klasse wurde. Trotzki lebte zu diesem Zeitpunkt im Haushalt eines Verwandten und lernte über diesen zunächst bürgerlich-demokratische Ideen kennen. Mit 17 Jahren kam er nach eigenen Angaben zum ersten Mal mit revolutionären Ideen in Berührung und begann sie nach anfänglichem Widerstand schnell selbst energisch zu vertreten.2 Trotzki machte daraufhin eine politische Entwicklung durch, die für heutige Maßstäbe kaum vorstellbar ist, aber auch unter den Bedingungen der sich herausbildenden russischen Arbeiter:innenbewegung um die Jahrhundertwende außergewöhnlich war.

Er stieg schnell zur treibenden Kraft hinter einem lokalen ökonomistischen Zirkel auf: Dem Südrussischen Arbeiterbund. Deutscher führt verschiedene Aussagen von Trotzkis damaligen Weggefährten an, die ihn übereinstimmend als enorm charismatischen und energischen Anführer schildern. Mit Trotzki habe besagter Zirkel seine Hochzeit erlebt und ohne ihn seine alte Stärke nie wieder erreicht.3

Anfang 1898 wurde ein Großteil der führenden Genoss:innen dieses Zirkels verhaftet, auch der damals 18-jährige Trotzki. Er verbrachte zunächst einige Monate in Isolationshaft, wurde dann aber in ein anderes Gefängnis verlegt, in dem ein größerer Austausch mit anderen Gefangenen möglich wurde und sich seine marxistischen Überzeugungen festigen konnten. An die Zeit im Gefängnis schloss sich für Trotzki das Leben in der sibirischen Verbannung an. Deutscher zufolge entwickelte Trotzki hier zunächst von Lenin unabhängig die Idee, dass eine zentralisierte und disziplinierte Organisation der Revolutionäre notwendig sei.4

Trotzki in der Iskra und auf dem 2. Parteitag

Dass Trotzki ohne Zweifel ein außergewöhnlich talentierter Revolutionär war, wird schon daran deutlich, dass sich Lenin 1902 darum bemühte, Trotzki nach London zu holen, wo damals ein Großteil der Iskra-Redaktion lebte. Schnell traf Trotzki somit neben Lenin in Gestalt von Georgi Plechanow (1956 – 1918), Julius Martow (1873 – 1923), Pawel Axelrod (1850 – 1928) und Vera Sassulitsch (1849 – 1919) die intellektuelle Elite der damaligen revolutionären Arbeiter:innenbewegung von Russland.

Lenin setzte gegen erhebliche Widerstände u.a. von Plechanow, dem Mitglied der Redaktion mit dem zum damaligen Zeitpunkt zweifellos größten Prestige, Trotzkis Aufnahme in die Redaktion der Iskra, das Zentralorgan der Partei, durch. Er lobte dabei Trotzkis herausragende Fähigkeiten.5 Trotzki erlebte also einen raschen Aufstieg in seinem Ansehen. Folgerichtig nahm er auch als 23-Jähriger am zweiten Parteitag der SDAPR (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands6) im Jahr 1902 teil, bei dem sich die historische Spaltung in Menschewiki und Bolschewiki vollziehen sollte.

In den ersten Tagen des Kongresses wurde diese Spaltung zunächst nicht so sichtbar. Zu Beginn stand die Auseinandersetzung mit den Bundisten im Mittelpunkt der Debatte. Sie forderten eine organisatorische Selbstständigkeit für jüdische Arbeiter:innen in der SDAPR. Trotzki, der ja selbst aus einer jüdischen Familie stammte, vertrat hier besonders energisch die Kritiken der Iskra an dieser Forderung. Erst bei der Diskussion über den ersten Paragraphen des Parteistatuts traten die Widersprüche zwischen Bolschewiki und Menschewiki voll zutage. Trotzki schloss sich der menschewistischen Position an, die eine formlosere Partei vorschlug.7

In der Folge spielte sich die Spaltung zwischen Menschewiki und Bolschewiki ab. Die Bolschewiki um Lenin verloren, obwohl sie bei der Wahl der zentralen Parteiinstitutionen auf dem Kongress in der Mehrheit waren, bald den Einfluss über die Iskra. Entscheidend war hierbei, dass Plechanow die Seiten wechselte und sich den Menschewiki anschloss. Trotzki wurde von den Menschewiki dann schnell in ein Schatten-Zentralkomitee einbezogen, um die Bolschewiki zu bekämpfen. Wie Trotzkis Biograf Isaac Deutscher selbst schreibt, tat sich Trotzki in dieser Phase durch besonders heftige und persönliche Polemiken gegen Lenin hervor, dem er vorwarf, aus persönlicher Machtgier zu handeln.8

Deutscher gibt an der entsprechenden Stelle auch eine bemerkenswerte Einschätzung zu Trotzkis Persönlichkeit ab: „Hinter seinen polemischen Anschuldigungen und von Einbildungskraft geprägten Prognosen verbargen sich die aufgestauten Gefühle eines romantischen Revolutionärs, der – so sehr er auch selbst für die Notwendigkeit einer fest zusammengefügten und disziplinierten Partei eingetreten war – in individualistischen Protest gegen die Wirklichkeit dieser Partei ausbrach, als er mit ihr konfrontiert wurde.9

Trotzki wurde für seine besonders heftigen Attacken gegen Lenin von den Menschewiki nicht belohnt. Bald zerstritt er sich auch mit ihnen. Nach Angaben seines Biografen war er im Jahr 1904 schwer enttäuscht, dass die von ihm betriebenen Versuche zu einer Wiedervereinigung mit den Bolschewiki auch von Seiten der Menschewiki nicht ernst genommen wurden. Die Spaltung konnte nicht rückgängig gemacht werden und Trotzki blieb letztlich alleine mit einer kleinen Anzahl von Freunden zurück. Ab diesem Zeitpunkt stand er nicht mehr im Zentrum einer der beiden großen Fraktionen. Engere Verbindungen behielt er aber über Jahre zu den Menschewiki und schrieb lange für auch für ihre Zeitungen, weswegen er gemeinhin auch als Menschewik betrachtet wurde.10 Trotzki begab sich daraufhin nach München, wo er einige Zeit mit dem russischen Exilanten Alexander Parvus (1867 – 1924) erbrachte. Dieser soll Trotzki stark beeinflusst haben und einen beachtlichen Anteil an den Inhalten von Trotzkis „Theorie der permanenten Revolution“ haben.11

Trotzki in der Revolution 1905

Von Europa aus begab sich Trotzki im Jahr 1905 recht früh zurück nach Russland. Sein Biograf Deutscher stellt hier die These auf, dass Trotzki gerade deshalb in der Revolution von 1905 eine bedeutende Rolle spielen konnte, weil er sich unbedingt außerhalb der bolschewistischen und menschewistischen Fraktionen positionieren wollte, während sich diese Fraktionen noch nicht voll zu eigenständigen Parteien entwickelt hatten.12

Genau wie die Bolschewiki vertrat Trotzki in der Revolution von 1905 die Notwendigkeit eines bewaffneten Aufstands, während die Menschewiki schon damals deutlich zurückhaltender handelten. Die Rolle der Sowjets wurde jedoch früh von Trotzki erfasst, während sich die Bolschewiki anfangs skeptisch zeigten, ob sie sich an Organen mit unklarer politischer Ausrichtung beteiligen sollten.13 Im Petersburger Sowjet spielte Trotzki, sobald er in der Stadt eingetroffen war, eine führende Rolle. Er leitete die Sitzungen und hat viele der Erklärungen und Beschlüsse des Sowjets selbst verfasst. Diese Rolle trug ohne Zweifel zu seinem Prestige in der Arbeiter:innenklasse bei.

Nach dem Abflachen der revolutionären Welle wurde Trotzki gemeinsam mit anderen führenden Mitgliedern des Sowjets festgenommen und in der berüchtigten Peter-Paul-Festung eingesperrt. Unmittelbar im Nachgang der 1905er-Revolution soll die Atmosphäre dort noch relativ liberal gewesen sein. Die Gefangenen erhielten Literatur und konnten intensiv diskutieren. Hier arbeitete Trotzki auch theoretisch an seinem Text „Ergebnisse und Perspektiven“.14

Dieser Text gilt als erste Formulierung der Theorie der permanenten Revolution, die in den parteiinternen Auseinandersetzungen in den 20er-Jahren eine große Rolle spielen sollte. Trotzki formulierte in diesem Text einerseits, dass das Proletariat anstelle der Bourgeoisie die Macht ergreifen könne, um die Aufgaben der demokratischen Revolution zu erledigen. Andererseits prognostizierte Trotzki schon hier, dass sich die Bauernschaft nach anfänglicher Unterstützung früher oder später von der Revolution werde abwenden müssen und die russische Revolution dann allein von der Unterstützung aus dem europäischen Westen abhänge.15

Politischer Rückzug in Europa

Trotzki wurde im Anschluss zu lebenslanger Verbannung in Sibirien verurteilt, floh aber von dort im Jahr 1907 schon sehr bald nach seiner Ankunft nach Europa. Obwohl es in den Revolutionsjahren eine gewisse praktische Annäherung an die Bolschewiki gegeben hatte, blieb Trotzki Teil seiner eigenen, recht unbedeutenden Fraktion. Auch seine politische Feindschaft zu Lenin blieb bestehen. In Wien verbrachte Trotzki mit seiner Familie einige Jahre, die wohl als Zeitraum des politischen Rückzugs eingeschätzt werden müssen. Diese Entwicklungstendenz in Trotzkis politischer Aktivität deckt sich mit der krisenhaften Entwicklung, die die ganze russische revolutionäre Bewegung in diesem Zeitraum erlebte.

Isaac Deutscher zieht für diesen Zeitraum ein wenig vorteilhaftes Resümee: „Auf neue ‚theoretische Forschung‘ finden sich jedoch wenig Hinweise in seinen Schriften, die nach wie vor aus brillantem Journalismus und Literaturkritiken bestanden. Es lässt sich aber kein einziges bedeutendes Werk der politischen Theorie darunter finden. Selbst in seinem etwas apologetischen Rückblick macht Trotzki keinerlei praktische revolutionäre Errungenschaften für sich geltend. Lenin dagegen nutzte diese Jahre, unterstützt von seinen Anhängern, um seine Partei zu schmieden und Männer wie Sinowjew, Kamenew, Bucharin und später auch Stalin erarbeiten sich jeweils Stellungen, die später notwendig werden würden, um eine führende Rolle im Jahr 1917 zu spielen. Zu dem Ansehen, das Trotzki sich in den Jahren 1904 bis 1906 erarbeitet hatte, trug diese Phase also wenig oder nichts bei.16

Kontakt pflegte Trotzki in diesem Zeitraum insbesondere mit der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie, vor allem jedoch mit ihrem politischen Zentrum um Karl Kautsky (1854 – 1938). In dieser Zeit des Abflachens der revolutionären Welle mussten sowohl Bolschewiki wie auch Menschewiki viele Rückschläge hinnehmen. Das zaristische Regime antwortete mit brutaler Repression auf die nicht zu Ende geführte Revolution von 1905. In der politischen Bewegung entwickelten sich entsprechende Verfallserscheinungen. Am wichtigsten waren einerseits die sogenannten Liquidatoren als Teil der Menschewiki, die unter dem Druck der Repression jede illegale Arbeit einstellen wollten, andererseits die sogenannten Otsowisten im Lager der Bolschewiki, die die illegale Arbeit verabsolutierten und die Notwendigkeit der Ausnutzung aller legalen Spielräume nicht anerkannten.

Erwähnenswert erscheint aus dem Zeitraum bis zu Beginn des ersten Weltkriegs einzig eine weitere erfolglose Initiative zur Vereinigung von Bolschewiki und Menschewiki.17 Bei den entsprechenden Verhandlungen der russischen Sozialdemokratie kam es zum sogenannten Augustblock. Trotzki fand sich dabei in einem politischen Block mit ultralinken Bolschewiki und den rechtesten Menschewiki wieder, dessen Grundlage die gemeinsame Feindschaft zu Lenins Linie gewesen sein dürfte. Der Trotzkist Tony Cliff18 (1917 – 2000) selbst urteilt über diese Zeit folgendermaßen: „Aber als Versöhnler führte Trotzki keinen konsequenten Kampf gegen beide Abweichungen, und arbeitete tatsächlich mit den Vertretern beider Seiten zusammen.19

Trotzki im 1. Weltkrieg

Kurz nach Ausbruch des 1. Weltkriegs zog Trotzki von Wien nach Zürich in die neutrale Schweiz um, da er befürchtete, in Österreich festgenommen zu werden. Zwar nahm Trotzki anders als große Teile der internationalen Sozialdemokratie eine klare Position gegen den Krieg ein, er war darin aber weniger konsequent als Lenin.20 Insbesondere kritisierte er Lenin bis ins Jahr 1916 für die Losung, der Krieg müsse in einen revolutionären Bürgerkrieg umgewandelt werden und sprach von einer Weigerung der Leninisten, für „den Frieden“ einzutreten. Auch die Position des „revolutionären Defätismus“21 wollte Trotzki nicht annehmen, sondern stellte sich – wie zahlreiche andere – auf den Standpunkt, die Arbeiter:innenklasse soll für ein Kriegsende „ohne Sieg oder Niederlage“ eintreten.22

Weiterhin scheute er sowohl einen klaren Bruch mit den Menschewiki, also den russischen Sozialdemokraten, als auch mit den rechten Teilen der internationalen Sozialdemokratie. Hier lebten die engen Beziehungen zu Karl Kautsky aus Deutschland, Victor Adler (1852 – 1918) aus Österreich und nicht zuletzt zu den Menschewiki um Julius Martow fort. Mit der Losung, dass der Aufbau der Dritten Internationalen notwendig sei, blieb Lenin daher bei der Zimmerwalder Konferenz, dem ersten internationalen Treffen der sozialdemokratischen Kriegsgegner:innen, noch weitgehend isoliert. Trotzkis schwankende Position hingegen prägte die Abschlusserklärung deutlich mit. Gemeinsam mit diversen ehemaligen Menschewiki und Bolschewiki gab Trotzki aus Frankreich eine russische Emigrantenzeitung heraus. Diese wurde Ende 1916 schließlich ebenfalls verboten und Trotzki des Landes verwiesen, woraufhin er sich nach New York begab.

Trotzki im Jahr 1917

Im Jahr 1905 war Trotzki, wenn man seinem Biograf Deutscher folgen will, paradoxerweise gerade deshalb fähig, eine Rolle im revolutionären Petersburg zu spielen, weil er sich scheute, sich einer großen Organisation unterzuordnen. Dagegen war seine Ausgangssituation 1917 aus dem gleichen Grund eine deutlich schlechtere. Nicht nur, dass er einzig mit einem für damalige Verhältnisse kleinen Zirkel, der nur in der Hauptstadt des Zarenreiches aktiv war, verbunden war. Er befand sich zudem in New York, also im wahrsten Sinne des Wortes am anderen Ende der Welt. Nach einer Festnahme durch die britische Marine erreichte Trotzki Petersburg Anfang Mai und nahm offenbar kurz darauf Gespräche mit der Führung der Bolschewiki auf. Tony Cliffs biographischen Ausführungen zufolge soll Trotzkis Gruppe damals lediglich etwa 300 Personen gezählt haben, während die Zahl der Bolschewiki allein in Petersburg mit 16.000 angegeben wird.

Es ist bemerkenswert, dass die Führung der Bolschewiki einschließlich Lenin sich überhaupt um die Vereinigung mit Trotzki bemühte. Man muss dies wohl als Ausdruck der noch immer großen Popularität der Person Trotzkis werten. Dies wird auch darin deutlich, dass Trotzki seit seiner Ankunft regelmäßig als Redner im Petersburger Sowjet auftrat. Die bolschewistische Führung machte ihm den Vorschlag, dass er und seine Gruppe sich den Bolschewiki anschließen könnten und er unmittelbar ins Zentralkomitee sowie die Redaktion der Prawda kooptiert werden würde.23 Lenins Notizen zufolge lehnte Trotzki zu diesem Zeitpunkt das Angebot mit der Begründung ab, man könne unmöglich von ihm verlangen, sich Bolschewik zu nennen. Es bleibt aber festzustellen, dass Lenin Trotzki offenbar zu diesem Zeitpunkt für so einflussreich hielt bzw. seine Fähigkeiten so schätzte, dass eine Vereinigung sinnvoll wäre, um der kommunistischen Führung der Revolution zusätzliche Festigkeit zu verleihen. Einige Monate später nahm Trotzki das Angebot dann doch an und wurde ins ZK der Bolschewiki aufgenommen. In der Oktoberrevolution selbst spielte Trotzki dann eine bedeutende Rolle als bekannter Führer der Revolution: Er war unter anderem neben Stalin und anderen an der konkreten Ausarbeitung des Plans für den Aufstand beteiligt.

Zusammenfassung

Betrachtet man Trotzkis Entwicklung bis zu seinem letztlichen Eintritt bei den Bolschewiki im Sommer 1917, so ergibt sich das Bild eines Revolutionärs mit hervorragenden Fähigkeiten, die nicht zuletzt von Lenin selbst bezeugt wurden. Sie kommen auch in der zentralen Rolle zum Ausdruck, die Trotzki beispielsweise in der Revolution von 1905 spielen konnte. Anders wäre es ja auch gar nicht zu erklären, dass sich die Bolschewiki trotz zeitweise erbitterter Konflikte mit Trotzki immer wieder bemühten, eine organisatorische Einheit mit ihm zu erreichen; zuletzt dann durch die Aufnahme in die Partei der Bolschewiki, bei der Trotzki sofort ins Zentralkomitee aufgenommen wurde.

Ebenso zeigt sich jedoch ein ausgeprägter Widerwillen von Trotzki, sich anderen und einer Organisationsdisziplin zu unterwerfen. Er scheint sehr stark von seinen eigenen Gedanken und Fähigkeiten eingenommen gewesen zu sein. Er wählte im Zweifelsfall den Weg, alleine eine eigene Fraktion zu bilden, selbst wenn das bedeutet, dass sein praktischer politischer Einfluss Stück für Stück zurückging.24 Man kommt nicht umhin festzustellen, dass viele der heutigen Trotzkist:innen diese Neigung von Trotzki geerbt haben und bisweilen auf die Spitze treiben.

Lenins wütende Einschätzung von Trotzkis Schwankungen und seiner Selbstbezogenheit aus dem Jahr 1910 können wohl als kennzeichnend für die ganze Phase bis zur Oktoberrevolution gesehen werden:

Trotzki dagegen repräsentiert lediglich seine persönlichen Schwankungen und sonst nichts. […] Trotzki begeht heute ein Plagiat an dem geistigen Rüstzeug der einen, morgen an dem der anderen Fraktion, und darum gibt er sich als über beiden Fraktionen stehend aus. Trotzki ist in der Theorie in nichts mit den Liquidatoren und den Otsowisten einverstanden, in der Praxis dagegen ist er in allem mit den „Golos“- und den „Wperjod“-Leuten einverstanden.“ 25

Trotzki nach der Oktoberrevolution

Der Friedensschluss von Brest-Litowsk

Nach der erfolgreichen Revolution übernahm Trotzki zunächst das Amt des Volkskommissars für auswärtige Angelegenheiten, d.h. des „Außenministers“ der Revolutionsregierung. In dieser Funktion wird er unter anderem mit den Friedensverhandlungen mit dem deutschen Kaiserreich beauftragt.

Die Bolschewiki – gerade erst an die Macht gelangt – waren zutiefst uneins darüber, wie diese Verhandlungen zu führen seien. Die linksradikale Position wurde unter anderem vom späteren Rechtsabweichler Nikolai Bucharin (1888 – 1938) vertreten, der forderte, den Krieg weiterzuführen, um die deutsche Armee im Osten zu binden und somit die militärischen Bedingungen für eine Revolution in Deutschland zu verbessern.

Lenin hingegen trat für einen sofortigen Friedensschluss ein, da er davon überzeugt war, dass ein Hinauszögern die Bedingungen nur verschlechtern würde, zu denen am Ende doch ein Frieden geschlossen werden müsse:

Gewiß, der Frieden, den wir schließen werden, wird ein Schandfrieden sein, aber wir brauchen eine Pause, um soziale Reformen durchzuführen (man denke nur an das Verkehrswesen); wir müssen erstarken, dazu aber brauchen wir Zeit. Wir müssen die Bourgeoisie vollständig vernichten, dazu aber müssen wir beide Hände frei haben. Wenn wir das getan haben, so werden wir beide Hände freibekommen und können dann einen revolutionären Krieg gegen den internationalen Imperialismus führen. Die jetzt geschaffenen Marschabteilungen der revolutionären Freiwilligenarmee sind die Offiziere unserer künftigen Armee.“ 26

Wir haben an dieser Stelle absichtlich ein etwas längeres Zitat gewählt, um zu unterstreichen, dass Lenin zwar für einen Friedensschluss war, aber zugleich deutlich machte, dass dies nur die Funktion einer Atempause für die sozialistische Revolution in Russland darstellen würde. Auch Lenin, der 1918 die einzig realistische, aber auch „rechteste“ Position im ZK der Bolschewiki vertrat, lehnte keineswegs die Idee einer bewaffneten Ausweitung der Revolution in Richtung Westen grundsätzlich ab.27

Trotzki hingegen vertrat eine mittlere Position. Ihm schwebte vor, die Friedensverhandlungen so lange wie möglich hinauszuzögern. Zugleich sollte aber die Armee demobilisiert und der Krieg eingestellt werden. In der Sitzung des Zentralkomitees der Bolschewiki stimmten 32 Anwesende für die Fortführung des Krieges, 15 mit Lenin und 16 mit Trotzki.28 Da sich Lenins Position zunächst nicht durchsetzen konnte, einigte man sich im Zentralkomitee formell auf Trotzkis schwankende Position. In der Praxis jedoch erwies sich diese als falsch und nicht praktikabel. Die deutsche Delegation ließ sich trotz Trotzkis größten Bemühungen nicht ewig hinhalten. Schließlich ging die deutsche Armee wieder zur Offensive über, drängte die völlig zerrütteten Überreste der russischen Armee weiter zurück und zwang somit – ganz wie Lenin es vorhergesagt hatte – die junge Sowjetmacht dazu, einem noch schlechteren Friedensabkommen zuzustimmen.

Der ehemalige westdeutsche Revolutionär und heutige bürgerliche Historiker Alexander von Plato bewertet dieses Vorgehen als symptomatisch für Trotzkis Festhalten an höheren Zielen, die dann an der Realität krachend zerschellen:

(…) das revolutionäre Ziel – internationale Revolution – schien ihm gefährdet durch einen sofortigen Friedensschluß, obwohl eine größere Gefährdung eher darin bestand, dass die Revolution durch die Reichswehr liquidiert, zumindest aber geschwächt wurde.“29

Trotzkis hoher Stellung im jungen sowjetischen Staat tat diese Episode aber keinen Abbruch. Als die bitter erkaufte Atempause für die sozialistischen Revolution nach nur wenigen Monaten von den Interventionskriegen und dem russischen Bürgerkrieg beendet wurde, wechselte er an die Spitze des Kriegskommissariats. Dort erwarb er sich unzweifelhaft als wichtigster Organisator der Roten Armee große Verdienste um die Verteidigung der proletarischen Diktatur gegen die Konterrevolution.

Auch wenn eine ausführliche Analyse des Bürgerkriegs und Trotzkis Rolle darin hier nicht geleistet werden kann, soll ausdrücklich betont werden, dass wir die häufigsten Vorwürfe nicht teilen, die von bürgerlicher oder anarchistischer Seite gegen Trotzki erhoben werden: Er habe Terrormaßnahmen zur Unterdrückung der Konterrevolution durchgeführt. Vielmehr erscheinen diese im geschichtlichen Rückblick als angemessen und notwendig.

Es ist vielmehr eine Schwäche der Bewegung, die heute stolz Trotzkis Namen trägt, dass sie an nahezu jeder Irrung und Wirrung, die er in seinem Leben vollführt hat, einen Narren gefressen hat, eine seiner positivsten Eigenschaften aber links liegen lässt: Die Bereitschaft, revolutionäre Gewalt anzuwenden, strengste militärische Disziplin im Bürgerkrieg zu fordern und diese als Oberbefehlshaber auch durchzusetzen.

Von der NÖP zur „linken Opposition“

Nach den schweren Jahren des Bürgerkriegs war Russland wirtschaftlich noch zerrütteter als am Ende des ersten Weltkriegs. Auch große Teile der Bauernschaft und der Arbeiter:innenklasse, die die Revolution unterstützt hatten, waren moralisch am Boden und begannen, sich von der Sowjetmacht abzuwenden. Nachdem zuvor ein Großteil der Bolschewiki mehr oder weniger klar die Vorstellung hatte, man könne von der zentralisierten Kriegswirtschaft („Kriegskommunismus“) unmittelbar zum Sozialismus übergehen, setzte Lenin schließlich im Jahr 1921 einen Schwenk zur Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) durch, um dem Land eine erneute Atempause zu gewähren. Konkret wurden dabei kapitalistische Wirtschaftsformen mit gewissen Einschränkungen zugelassen, um eine Erholung der Wirtschaft zu ermöglichen.

Trotzki widersetzte sich dieser Politik nicht. Es bestand offenbar eine Einheit zwischen ihm und dem Rest der Parteiführung in der Analyse, dass ein zeitweiliger Rückzug auf wirtschaftlichem Gebiet notwendig sei. Nur die Erwartung, ob eine erneute Offensive hauptsächlich durch die Revolution im Westen eingeleitet werden würde oder auch aus den inneren Kräften des Landes hervorgehen könnte, war vermutlich schon damals zwischen Trotzki und beispielsweise Stalin unterschiedlich gelagert.

Nach Lenins Tod entwickelte sich in der Partei ein Streit darüber, wie die Wirtschaftspolitik des Landes fortzuführen sei.30 Die Mehrheit der Parteiführung, die sich durchsetzte, vertrat, dass eine bestimmte Fortführung der Maßnahmen der NÖP insbesondere auf dem Land notwendig sei. Als Voraussetzung für eine Kollektivierung der Landwirtschaft sah sie eine Teilindustrialisierung des Landes, sodass die Perspektive auf Kollektivwirtschaften mit konkreten materiellen Anreizen durch eine Mechanisierung der Arbeit mit Hilfe moderner Traktoren und landwirtschaftlicher Maschinen verbunden werden konnte. Außerdem war die wirtschaftliche Lage des Landes noch immer sehr schlecht. Die Menschen hatten jahrelang Hunger gelitten und waren im Falle vieler Bauern in Widerspruch zur Staatsmacht geraten. Diese hatte ja die Bauern während des Kriegskommunismus um einen bedeutenden Teil der Ernte enteignen müssen, um die Front und die Städte versorgen zu können. Die sowjetische Wirtschaft insgesamt erreichte erst in den Jahren 1925/26 wieder das Vorkriegsniveau von 1914.

Die so genannte „Linke Opposition“ hingegen verfolgte ein Programm der beschleunigten Industrialisierung, bei dem die Bauern stärker besteuert, die Industrie schneller aufgebaut und die Kollektivierung auf dem Land vorangetrieben werden sollte. Während die Parteiführung um Stalin davon ausging, dass eine Kollektivierung und stärkere Besteuerung der Bäuer:innen31 zu diesem Zeitpunkt eher dazu geführt hätte, die kleinen und mittleren Bauern in die Arme der Großbauern (Kulaken) zu treiben, beschuldigte Trotzki schon damals als Teil der Opposition die Parteiführung, sich von den sozialistischen Prinzipien abgewendet zu haben.

Block mit Sinowjew und Kamenew und Niederlage der Opposition

Im Jahr 1925 vergrößerten sich die Widersprüche zwischen den beiden alten Bolschewiken Grigori Sinowjew (1883 – 1936) und Lew Kamenew (1883 – 1936) auf der einen Seite und Stalin auf der anderen Seite, die alle drei zentrale Figuren der Parteiführung waren. Obwohl Sinowjew und Kamenew das Programm der „Linken Opposition“ ebenfalls bekämpft hatten, kam es zu schärferen Widersprüchen zwischen ihnen, als Stalin begann, die Theorie des „Sozialismus in einem Land“ zu entwickeln.

Hintergrund davon dürfte unter anderem gewesen sein, dass Sinowjew als wohl wichtigste Führungsfigur der Komintern nicht bereit war, zu akzeptieren, dass der Weltkapitalismus in eine Phase der relativen Stabilisierung eingetreten war. Damit war die Perspektive einer baldigen Revolution im Westen in noch weitere Ferne gerückt. Sogar Trotzki erkannte diese Tatsache an. Dennoch bildete sich kurz darauf, spätestens im Jahr 1926, ein fester Block zwischen Sinowjew, Kamenew und Trotzki. Die innerparteiliche Auseinandersetzung nahm in dieser Phase mehr und mehr den Charakter eines offenen Machtkampfes an. Trotzki schreibt selbst, dass die Opposition im Herbst 1926 in den Parteizellen in die Offensive ging und die Parteiführung mit administrativen Methoden darauf reagiert habe.32

Trotzki schildert diesen Moment so: „Je mehr die Partei sich dem Fünfzehnten Parteitag näherte, der für Ende 1927 angesetzt war, um so mehr fühlte sie sich an einem historischen Kreuzweg. Eine tiefe Unruhe durchzitterte ihre Reihen. Trotz dem ungeheuren Terror erwachte in der Partei der Wunsch, die Stimme der Opposition zu vernehmen. Das war nur auf illegalem Wege zu erreichen. An mehreren Stellen in Moskau und in Leningrad fanden geheime Versammlungen von Arbeitern, Arbeiterinnen und Studenten statt, wo zwanzig bis hundert und zweihundert Menschen zusammenkamen, um einen Vertreter der Opposition anzuhören. Im Laufe eines Tages besuchte ich zwei, drei mitunter auch vier solcher Versammlungen.33

Auf diese Weise bereitete sich die Opposition um Trotzki und Sinowjew auf einen Kampf um die Macht vor. Den Höhepunkt sollte dieser Kampf wohl am 7. November erreichen, dem 10. Jahrestag der Oktoberrevolution. Hierzu nahm die Opposition mit eigenen Blöcken an den Demonstrationen teil. Sie blieb jedoch relativ isoliert und wurde nach Trotzkis Angaben angegriffen. Der fünfzehnte Parteitag markierte die endgültige Niederlage im Meinungskampf. Das Programm für eine beschleunigte Industrialisierung wurde abgelehnt und Trotzki, Sinowjew und Kamenew aus der Partei ausgeschlossen. Die verzweifelten Versuche von Sinowjew, diese Konsequenz durch seine öffentlich bekundete Reue und einen offiziellen Verzicht auf Fraktionstreffen abzuwenden, konnten seinen Ausschluss nicht mehr aufhalten. Wenig später folgte Trotzkis Verbannung, während Sinowjew und Kamenew in die Partei zurückkehren durften.

Als die Parteiführung um Stalin im Jahre 1929 entgegen aller vorherigen Prognosen der trotzkistischen Opposition ihre Versprechen wahr machte und schließlich zur sozialistischen Offensive auf dem Land überging, war dies zugleich der politische Todesstoß für die Überreste dieser Opposition. „Damit brach die theoretische Grundlage der Politik der Opposition zusammen – 400 (führende) ‚Trotzkisten‘ kehrten in die Reihen der Partei zurück.“ 34

Permanente Revoltion“ oder Sozialismus in einem Land?

Die Frage, ob die Hoffnung auf eine Förderung der Revolution in Westeuropa wichtiger sei als das Überleben des Sozialismus in Russland blitzte schon bei der Diskussion um den Friedensschluss mit Deutschland in großer Deutlichkeit auf. Was Trotzki angeht, liegen ihre theoretischen Wurzeln aber deutlich tiefer. Schon 1906 schrieb Trotzki in „Ergebnisse und Perspektiven“, der ersten Darlegung seiner Theorie der permanenten Revolution: „Ihren eigenen Kräften überlassen, wird die Arbeiterklasse Rußlands unvermeidlich in dem Augenblick von der Konterrevolution zerschlagen werden, in dem sich die Bauernschaft von ihr abwendet. Ihr wird nichts anderes übrigbleiben, als das Schicksal ihrer politischen Herrschaft und folglich das Schicksal der gesamten russischen Revolution mit dem Schicksal der sozialistischen Revolution in Europa zu verknüpfen.“ 35

Stand Trotzki mit derartigen Gedanken alleine da? Keinesfalls, das haben die Ereignisse um den Friedensschluss mit Deutschland gezeigt. Auch die später von der bolschewistischen Partei im innerparteilichen Kampf vertretene Erzählung, Trotzkis Defätismus im Angesicht der ausbleibenden Revolution im Westeuropa hätte von Anfang an Lenins Theorie vom Sozialismus im eigenen Lande gegenübergestanden, ist eine sehr starke, tendenziöse „Interpretation“ der geschichtlichen Tatsachen.36

Wahr ist wohl vielmehr, dass Trotzki nie seine schon 1906 formulierte Fixierung auf eine internationale Revolution hinter sich lassen konnte. Als er im Jahr 1919 mitten in den schwersten Momenten des Bürgerkriegs anfing, die Aussichten auf die Revolution in Westeuropa pessimistischer einzuschätzen, machte er einen Schwenk und forderte, die junge Sowjetrepublik solle sich auf das Vorantreiben und die militärische Unterstützung von revolutionären Erhebungen im Rest Asiens zu konzentrieren, wie sein Biograf Deutscher schreibt. Dieser bescheinigt ihm allerdings auch: „Diese Vorschläge hatten wenig mit dem zu tun, was getan werden konnte und getan werden musste, um ein militärisches Debakel abzuwenden.“ 37

Lenin hingegen vertrat mehrmals im Jahr 1918 ebenfalls prinzipielle Positionen wie die folgende: „Wenn man den welthistorischen Maßstab anlegt, so kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Endsieg unserer Revolution eine hoffnungslose Sache wäre, wenn sie allein bliebe, wenn es in den anderen Ländern keine revolutionäre Bewegung gäbe.“ 38 Im Gesamtkontext des hier zitierten Referats wirkt es aber so, als sei diese Formulierung ein Zugeständnis an das dogmatische Festhalten großer Teile der Parteiführung an dem, was sie für Internationalismus hielten. Die ganze Schlagrichtung des Referats betonte, dass die deutsche Revolution nicht so schnell heranreift, wie es sich die Bolschewiki gewünscht hätten, und dass man diesen Tatsachen ins Auge schauen müsse. Insgesamt ist Lenins Methode also ein konkretes und realistisches Herangehen. Er versucht, seine Genoss:innen davon abzubringen, ihre ganze Politik von der Hoffnung auf die Revolution in Deutschland oder einem anderen Land abhängig zu machen, gesteht aber ebenso offen zu, dass eine isolierte Revolution in Russland vor den allergrößten Schwierigkeiten stehen wird.

Was Lenin nicht tat und was man auch nicht von Lenin verlangen kann, ist 1918 vorherzusagen, dass die Sowjetunion gezwungen sein würde, allein den Sozialismus aufzubauen und über mehr als 25 Jahre diese Rolle alleine zu spielen hätte. Das Verdienst, trotz aller enttäuschten Hoffnungen auf Revolutionen im Westen unbeirrt am sozialistischen Aufbau in einem Land festzuhalten und unter den widrigsten Bedingungen, die sich sicher kein Bolschewiki herbeigesehnt hat, die proletarische Diktatur zu behaupten und konkret den Sozialismus aufzubauen, gebührt im Wesentlichen der bolschewistischen Parteiführung nach Lenins Tod – allen voran Stalin.

Das ist der Kern des Konflikts zwischen der Mehrheit der Parteiführung und verschiedener oppositioneller Gruppierungen, die Trotzki in wechselnder Zusammensetzung um sich scharte. Zu seiner vollen Entfaltung kam er wohl erstmals im Jahr 1926, als unter anderem Stalin in seinem Text „Fragen des Leninismus“ ziemlich offen Selbstkritik dafür übte, dass seine Formulierungen zur Möglichkeit der Festigung der proletarischen Diktatur bisher ungenügend gewesen seien. Er hatte selbst im Jahr 1924 in „Grundlagen des Leninismus“ vertreten, dass zwar die Errichtung der proletarischen Diktatur zunächst in einem einzelnen Land möglich sei, der Aufbau des Sozialismus jedoch die Anstrengungen der Proletarier verschiedener fortgeschrittener kapitalistischer Länder erforderlich machte. Nun schlug er vor, diese Formulierung zu ändern, da der Aufbau des Sozialismus aus Sicht der Parteiführung auch den praktischen Aufgaben entsprach, vor denen die Sowjetunion stand. Stalin schreibt: „Was bedeutet die Möglichkeit des Sieges des Sozialismus in einem Lande? Das bedeutet die Möglichkeit, die Gegensätze zwischen Proletariat und Bauernschaft mit den inneren Kräften unseres Landes zu überwinden, die Möglichkeit, dass das Proletariat die Macht ergreifen und diese Macht zur Errichtung der vollendeten sozialistischen Gesellschaft in unserem Lande ausnutzen kann, gestützt auf die Sympathien und die Unterstützung der Proletarier der anderen Länder, aber ohne vorhergehenden Sieg der proletarischen Revolution in anderen Ländern. Ohne diese Möglichkeit ist das Bauen des Sozialismus ein Bauen ohne Perspektive, ein Bauen ohne die Überzeugung, dass man den Sozialismus aufbauen wird. Man kann den Sozialismus nicht bauen, wenn man nicht überzeugt ist, dass es möglich ist, ihn aufzubauen, wenn man nicht überzeugt ist, dass die technische Rückständigkeit unseres Landes kein unüberwindliches Hindernis für die Errichtung der vollendeten sozialistischen Gesellschaft ist. Die Verneinung dieser Möglichkeit bedeutet Unglauben an die Sache des Aufbaus des Sozialismus, Abkehr vom Leninismus.39

In der gleichen Schrift betonte er aber auch, dass es ohne Weltrevolution keine endgültige Festigung des Sozialismus geben könne, da der Gegensatz zwischen Sozialismus und Imperialismus auf Weltebene bestehen bleibe.

Diese Selbstkorrektur durch Stalin ist in der Tat objektiv auf theoretischem Gebiet ein Bruch mit der traditionellen und bis zu einem bestimmten Zeitpunkt auch überwiegend bei den Bolschewiki vertretenen Ansicht. Auch wenn Stalin sich bemüht – und es ihm auch gelingt – aufzuzeigen, wo die Perspektive des sozialistischen Aufbaus in einem Land schon in den letzten Schriften Lenins angelegt ist, handelt es sich um eine neue Position. Wobei es wohl nicht länger erläutert werden muss, dass die Frage, ob Lenin etwas vertreten oder abgelehnt hat, für sich genommen ohnehin nur eine begrenzte Beweiskraft hat.

Trotzki hingegen beharrte auf dem alten Standpunkt, der in seinen eigenen theoretischen Schriften immer mit einem grundlegenden Misstrauen gegenüber der Bauernschaft gepaart war, und blieb somit auch bei seiner Schlussfolgerung, dass das Schicksal der russischen Revolution vom Erfolg der Revolution in Westeuropa abhängen müsse: „Die weltumfassende Arbeitsteilung, die Abhängigkeit der Sowjetindustrie von der ausländischen Technik, die Abhängigkeit der Produktivkräfte der fortgeschrittenen Länder Europas von den asiatischen Rohstoffen usw. usw. machen in keinem Lande der Welt den Aufbau einer selbständigen nationalen sozialistischen Gesellschaft möglich.“40

Alle Schwächen des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion, alle Erscheinungen des Bürokratismus, kurz gesagt alles was Trotzki als Widerspruch zu seinen hohen Idealen einer sozialistischen Gesellschaft empfand, wurden von ihm auf das Ausbleiben der sozialistischen Revolution im Rest der Welt und bald auch auf die angeblich falsche Anleitung durch die Komintern zurückgeführt. Die Sowjetunion, die in den 20er-Jahren ihrem industriellen Entwicklungsniveau nach in praktisch allen Bereichen den führenden kapitalistischen Ländern weit unterlegen war, in der große Teile der Bevölkerung nach westeuropäischen Standards Armut zu erdulden hatten, diese Sowjetunion konnte und wollte Trotzki nicht mit dem Sozialismus in Verbindung bringen. Um seine eigene Utopie vom Sozialismus unangetastet zu lassen wurde der Sozialismus in einem Land‘ zu einer Utopie erklärt. Doch blieb auch Trotzkis Weg zum Ziel des Sozialismus – die Weltrevolution – zu seinen Lebzeiten eine nie realisierte Hoffnung.

Das also ist der zentrale Streit, der besonders in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre an Fahrt aufnahm, zwischen Trotzki und einigen Verbündeten auf der einen Seite und der Mehrheit der KPdSU auf der anderen Seite. Um zu verstehen, warum letztlich Trotzkis Position in diesen Fragen unterlag, wollen wir aus der Autobiographie von Harry Haywood (1898 – 1985) zitieren, einem afroamerikanischen Kommunisten, der in den 20er-Jahren in der Sowjetunion lebte und die damaligen Diskussionen schilderte. Er beschreibt, dass noch im Jahre 1924 ein Großteil der Student:innen an seiner Moskauer Universität für Trotzkis Opposition war, sich dies aber im Laufe der nächsten Jahre ändern sollte. Er betont, dass die Frage des sozialistischen Aufbaus aus seiner Sicht keine theoretische, sondern eine ganz praktische Frage war: „Im Angesicht der damaligen Lage der revolutionären Kräfte war diese Position [Trotzkis Position] gefährlich defätistisch. Das Jahr 1923 zeichnete sich zum Beispiel durch ein Abflauen der revolutionären Welle in Europa aus. Es war ein Jahr der Niederlagen für die kommunistischen Bewegungen in Deutschland, Italien, Polen und Bulgarien. Stalin fragte: Was soll unsere Revolution jetzt tun? Bleibt ihr nur, in ihren eigenen Widersprüchen fortzuvegetieren und in Erwartung der Weltrevolution auf dem Halm zu verfaulen‘? Auf diese Frage hatte Trotzki keine Antwort. Stalins Antwort bestand darin, den Sozialismus in der Sowjetunion aufzubauen.“ 41

Zusammenfassung

Unmittelbar nach der Oktoberrevolution steuerte Trotzki auf den Höhepunkt seines Einflusses zu. Er wurde zunächst Volkskommissar für Äußeres und bald darauf für Kriegswesen. In dieser Funktion war er während des Bürgerkriegs die wohl mächtigste Einzelperson im jungen Sowjetstaat und hat sich bleibende Verdienste als Revolutionär und militärischer Führer erworben.

Dass oftmals sehr platte Bild, dass Trotzki allein auf abenteuerliche Weise vertrat, man müsse die Revolution mit Waffengewalt exportieren und wenn das nicht gelänge, so könne man die Rote Fahne in Moskau auch gleich wieder abhängen, während Lenin und Stalin zu jedem Zeitpunkt eine kluge, realistische Politik vertreten hätten, die die Revolution in anderen Ländern nur als Ergebnis der dortigen Klassenkämpfe verstand, ist falsch.

Vielmehr vertrat die gesamte Führungsspitze der Bolschewiki, dass die junge Sowjetrepublik bei der Unterstützung der sozialistischen Revolution in anderen Ländern keinesfalls nur politische, sondern auch militärische Aufgaben habe. So erging auch 1923, als die Komintern auf die Vorbereitung der Revolution in Deutschland orientierte, was schließlich in den Hamburger Aufstand mündete, der Befehl, die Rote Armee verdeckt zu mobilisieren, um der Revolution in Deutschland zur Hilfe zu eilen.42

Nach dem Tod Lenins, der zeitlich eng mit der Niederlage der damaligen revolutionären Welle in Europa zusammenfiel, geriet Trotzki jedoch zunehmend in Konflikt mit bedeutenden Teilen der Parteiführung. Vermutlich wurde diese Tendenz einerseits verstärkt, weil Lenin einer der wenigen – wenn nicht der einzige – Bolschewik war, den Trotzki als sich selbst gegenüber ebenbürtig empfand. Andererseits, weil nach Trotzkis orthodoxem Verständnis der Theorie vom Sozialismus unvorstellbar war, dass ein relativ zurückgebliebenes Land wie Russland diesen aus eigenen Kräften aufbauen könnte. Als keine unmittelbare Hoffnung auf eine erfolgreiche Revolution im Westen mehr bestand, ging er daher zunehmend dazu über, die Wirtschaftspolitik der Partei von links zu kritisieren und eine schnellere Industrialisierung auf Kosten der Bauernschaft zu fordern.

Trotzki schloss hierzu verschiedene Bündnisse mit anderen Bolschewiki. Er begann eine illegal organisierte Arbeit gegen die Linie der ZK-Mehrheit. In diesen fraktionellen Kämpfen unterlag Trotzki aber letztlich – teilweise nach intensiven und breiten Debatten in der ganzen Partei.

Wie schon in einer früheren Phase in seinem Leben erscheint Trotzki eher orientierungslos bis gelähmt, sobald er sich von seinen vorherigen massiven Einflussmöglichkeiten abgeschnitten fühlt. Der Kampf darum, diese zurückzugewinnen, nahm dann zunehmend verzweifelten Charakter an. So ging er beispielsweise ein Bündnis mit Sinowjew und Kamenew ein, obwohl sich diese zuvor bei zahlreichen Gelegenheiten wie z.B. im Moment der sozialistischen Machtergreifung als vollkommen unzuverlässig erwiesen hatten und Trotzki selbst nach eigenen Angaben auch keine sehr hohe Meinung von ihnen hatte.

War Trotzki ein Konterrevolutionär?

Bevor wir die mehr oder weniger chronologische Darstellung von Trotzkis Leben beenden, drängt sich natürlich noch ein großer Bereich von Fragen auf, der in der vorherrschenden Diskussion über Trotzki als geschichtliche Figur eine zentrale Rolle einnimmt: Seine subjektive und objektive Rolle im Bezug auf die sozialistische Sowjetunion.

Zwei Anmerkungen hierzu vorweg. Erstens muss, wie auch immer man Trotzki als Person einschätzt, die Bewertung der politischen Strömung, die sich heute auf sein Erbe stützt, weitgehend getrennt von der Einschätzung seiner Person vorgenommen werden. Zweitens ist es politisch nicht möglich, die Frage der „großen Säuberung“ und der „Moskauer Prozesse“ im Zusammenhang mit der Bewertung der historischen Person Trotzki zu ignorieren. Diese stehen mit dem Trotzkismus offensichtlich in Zusammenhang: Schließlich wurden die meisten Angeklagten mit dem Vorwurf „trotzkistischer Tätigkeit“ verurteilt. Was genau sich in diesen Jahren zugetragen hat, muss noch viel tiefgehender analysiert und eingeschätzt werden, als es in diesem Artikel am Rande möglich wäre. Klar ist aber: Schon alleine die Ablösung, Verurteilung und Erschießung von zwei der drei NKWD-Leiter43 in diesem Zeitraum macht deutlich, dass es hier massive innere Widersprüche im Staatsapparat gab und es nicht plausibel ist, dass es sich hierbei lediglich um eine zugespitzte Auseinandersetzung mit dem Trotzkismus gehandelt habe.

Trotzkis oppositionelle Tätigkeit

Als erwiesen darf anhand von Trotzkis eigenen Äußerungen sowie aus denen von mit ihm stark sympathisierenden Biografen gelten, dass Trotzki ab 1921 nie völlig auf eine fraktionelle Tätigkeit in der KPdSU verzichtete. Ab 1923 nahm diese zunehmend festeren Charakter an. So schildert Trotzkis Biograf Deutscher selbst, dass sich aus Trotzkis Fraktionen in der innerparteilichen Diskussion wieder eine Art eigene Partei oder Partei in der Partei entwickelt hätte. In einem Nachruf für seinen Sohn Leo Sedow schreibt Trotzki, dass sein Sohn schon seit den frühen 20er Jahren die Methoden der illegalen Arbeit erlernt habe, was die Interpretation Deutschers stark unterstreicht.

Offenkundig ist auch, dass die Vereinigte Opposition im Jahr 1927 eine Ablösung der Parteiführung erzwingen wollte. So war eine ihrer Hauptparolen „Lasst uns das Testament von Lenin Wirklichkeit werden lassen“. Nach seinem zweiten Schlaganfall hatte Lenin seinem Privatsekretär einen Text diktiert, in dem er u.a. die Ablösung Stalins als Generalsekretär empfahl.44 Wie soll diese Parole also anders verstanden werden, als dass Stalin als Generalsekretär abgesetzt wird? Auch aus diesem Jahr stammen Zeugnisse von Trotzki selbst, dass man gezwungen gewesen sei, illegal zu arbeiten.

Nach Trotzkis Ausweisung wurde er zwar innerhalb der Sowjetunion zunehmend einflusslos, unter anderem deswegen spitzte sich aber auch seine Kritik an den sowjetischen Verhältnissen zu. Bis er schließlich selbst auch öffentlich den Schluss zog, dass nur noch eine neue Revolution der Arbeiter:innenklasse, dass nur noch Gewalt ein erfolgversprechendes Mittel sei: „Nur die revolutionäre Avantgarde des Proletariats kann das Sowjetsystem erneuern, wenn es ihr gelingt, die werktätigen Massen in Stadt und Land wieder um sich zu scharen.“ 45

Trotzki war aber kein simpler bürgerlicher Moralist, der bestimmte gewaltsame Mittel des politischen Kampfes prinzipiell ablehnte. Dieses Problem hat Trotzki wohl nie in seiner politischen Laufbahn gehabt. Vielmehr schreckte Trotzki vor Entwicklungen und Maßnahmen zurück, die aus seiner Sicht zu sehr mit dem versprochenen Ideal des Sozialismus brechen. Um dieses Ideal aber zur Wirklichkeit werden zu lassen, scheint Trotzki, wenn man sich beispielsweise konkret von ihm im Bürgerkrieg getroffene Maßnahmen ansieht (Erschießung von desertierten Kommunist:innen, obwohl die Schlacht gewonnen wurde), ganz im Gegenteil „jedes Mittel Recht“.46

So ist es auch nicht überraschend, dass Trotzki den Mord an Kirow, der den konkreten Auftakt für die sogenannte Große Säuberung darstellte, mehr oder weniger offen begrüßte: „Der ermordete Kirow, ein roher Satrap, erweckt keinerlei Sympathie. Unsere Beziehung zum Mörder bleibt nur deshalb neutral, weil wir die Motive, die ihn leiteten, nicht kennen. Wenn bekannt werden würde, daß Nikolajew bewußt für die von Kirow begangene Schändung der Arbeiterrechte Vergeltung übte, wären unsere Sympathien völlig auf Seiten des Mörders.47

Auch entsprechende Zitate im Angesicht der faschistischen Invasion machen leicht verständlich, dass Trotzki nicht einfach nur das „moralische Gewissen“ der russischen Revolution war, sondern schlicht um jeden Preis zurück an die Macht wollte. So schreibt er 1939 ziemlich unverhohlen über die „revolutionären Potenziale“, die angeblich in einem solchen Krieg liegen würden: „Moskau ist sich darüber im klaren, dass ein größerer Krieg eine Ära politischer und sozialer Erschütterungen einleitet. Wenn Stalin ernsthaft hoffen könnte, die revolutionäre Bewegung zu beherrschen und sich dienstbar zu machen, würde er sie natürlich begrüßen. Doch versteht er, dass die Revolution Antithese der Bürokratie ist und und mit dem privilegierten konservativen Apparat unbarmherzig aufräumen würde.“ 48

Krieg führt zu zugespitztem Klassenkampf und Revolution und das führt zum Ende der „stalinistischen“ Bürokratie: So einfach sah damals die Welt für Trotzki aus. Vor dem Hintergrund dieser kaum verhohlenen Spekulationen auf den Ausbruch eines Krieges gegen die Sowjetunion wird auch sehr schnell deutlich, warum in der Sowjetunion zu diesem Zeitpunkt ein so zugespitzter Kampf gegen den Trotzkismus geführt wurde. Von der sowjetischen Führung musste diese Positionierung so aufgefasst werden, dass Trotzki auf eine Schwächung der Sowjetunion durch die faschistische Invasion spekulierte und Teil des konterrevolutionären Lagers geworden war.

Man muss hier nicht groß über Trotzkis subjektive Motivation spekulieren. Es besteht wenig konkreter Anlass, daran zu zweifeln, dass er bis zu seinem Lebensende subjektiv davon überzeugt war, im Interesse des Sozialismus und der Weltrevolution nach seiner Lesart zu handeln.

Zugegebenermaßen zeugen öffentlich geäußerte Einschätzungen wie zum Beispiel, dass der Vormarsch der Nazis auf Moskau der Auftakt zu einer Entmachtung der Bürokratie durch die Arbeiter:innenklasse sein könnte, von einem gewissen Realitätsverlust und grenzenloser Selbstüberschätzung. Derartige Fehler tauchen allerdings nicht zum ersten Mal in Trotzkis Biografie auf.49

Trotzkis Weg ins Lager der Konterrevolution

Die bisherige Darstellung von Trotzkis Biografie hat gezeigt, dass Trotzki nicht etwa als Konterrevolutionär und Schädling geboren wurde. Vielmehr ist er Stück für Stück objektiv ins Lager der Konterrevolution gelangt.

Diese Entwicklung stellt ein gutes Beispiel dafür dar, was passiert, wenn Marxist:innen sich an allgemeinen Prinzipien festklammern, zugleich aber der Dialektik den Rücken kehren und so die Fähigkeit einbüßen, sich in einer konkreten Situation zu orientieren, die sich anders darstellt als von ihnen (und vielleicht auch vom ganzen Rest der Partei) erwartet.

Zentraler Punkt scheint dabei die politische Einschätzung der Sowjetunion zu sein. Trotzki beharrte in quasi-orthodoxer Weise darauf, dass das technologische Niveau des Sozialismus über dem der fortgeschrittensten kapitalistischen Länder liegen müsse. Als die erhoffte Revolution im Westen ausblieb, folgte daraus logisch, dass in Russland alleine auch der Aufbau des Sozialismus unmöglich war. Da Trotzki zunehmend die sowjetische Führung für das Ausbleiben der Weltrevolution verantwortlich machte – eine vom dialektisch-materialistischen Standpunkt aus betrachtet abwegige Position – wurde auch die Beseitigung dieser Führung, des „bonapartistischen Regimes“, zum einzig verbleibenden Weg zum Sozialismus.

Dass Trotzki mit den Positionen, die er in den 1930er-Jahren vertrat, objektiv zu einer Reserve der Konterrevolution und ihrer Speerspitze in Gestalt des Faschismus wurde, ist recht offensichtlich. So phantasierte er die Möglichkeit herbei, Hitler könne Stalin so sehr schwächen, dass sein Regime beseitigt werden könne. Daher ist es sicher kein Zufall, dass nach Angaben von Joseph Goebbels mindestens seit April 1938 ein Geheimsender der Nazis trotzkistische Propaganda verbreitete, um die Sowjetunion zu destabilisieren.50 Die Frage, inwieweit Trotzki oder Trotzkist:innen (wissentlich oder unwissentlich) direkt mit Faschist:innen kooperierten, kann an dieser Stelle nicht tiefgehend behandelt werden.

Trotzki war jedenfalls ein machtbewusster Politiker und militärischer Führer, der schon eine erfolgreiche Revolution mit angeführt hatte. Als solcher musste ihm bewusst sein, dass es für eine erfolgreiche Revolution notwendig ist, jede Schwäche im Lager des eigenen Feindes auszunutzen. Dieser Hauptfeind für die Trotzkist:innen war aber faktisch nicht etwa der deutsche Faschismus, sondern die sowjetische Führung, die den schon lang ersehnten weltrevolutionären Prozess nach trotzkistischer Lesart blockierte.

Trotzki im Exil – Der heutige Trotzkismus wird geformt

An dieser Stelle unserer Darstellung wollen wir aus einer gerafften biographischen Darstellungsweise ausbrechen. Zentral für den heutigen Trotzkismus sind nämlich überwiegend Trotzkis Schriften und seine Politik aus der Zeit ab seiner Verbannung im Jahr 1927.

Der Grund für diese Schwerpunktsetzung liegt darin, dass Trotzki selbst bei verschiedenen Gelegenheiten seine teils scharfen Angriffe auf die Position der Bolschewiki vor 1917 widerrief und deutlich aussprach, dass nicht er, sondern Lenin richtig gelegen habe – auch wenn er dies teilweise mit gewissen Rechtfertigungsversuchen verknüpfte. In der Konsequenz knüpft auch der internationale Trotzkismus in der Regel nicht ausdrücklich an die menschewistische Kritik am Kader:innenparteikonzept an.

Was die Auseinandersetzungen in den 20er-Jahren angeht, so kann gesagt werden, dass die Auseinandersetzung um den richtigen Weg zum Aufbau des Sozialismus unter heutigen Bedingungen neu gestellt und analysiert werden muss, insbesondere wenn diese Aufgabe konkret vor uns steht.

1928 war Trotzki gegenüber der ungeheuren Machtfülle aus der Zeit des Bürgerkriegs auf eine recht isolierte Position zurückgeworfen. Im Vergleich zu in vielen Ländern erst vor wenigen Jahren gegründeten Kommunistischen Parteien, die aber vielerorts bereits zu Massenparteien herangewachsen waren, war er ziemlich einflusslos und so wie in den gut zehn Jahren vor der Oktoberrevolution auf sich selbst und einige wenige besonders treue Anhänger:innen angewiesen. Natürlich ist das Prestige eines der bedeutendsten Führer der Oktoberrevolution hinzugekommen. Dieses grundsätzliche Problem prägte überhaupt viel von Trotzkis Politik und Ideen in den 30er Jahren bis zu seinen Tod: Er ist fest davon überzeugt gewesen, Recht zu haben und sowohl sein Andenken als auch die aus seiner Sicht richtige Auslegung des Marxismus gegen den „Stalinismus“ verteidigen zu müssen. Er hat aber kaum politischen Einfluss und sucht verzweifelt nach Methoden, diese Situation schnell aufzuheben und wieder in die Lage zu kommen, Weltpolitik zu machen.

Fraktionismus

Eine gewisse Ausnahme zu dem gerade Ausgeführten bildet die Frage des Fraktionismus, denn die Auseinandersetzung hierüber mit Trotzki begann deutlich vor seiner Zeit im Exil. Tatsächlich hat sich Trotzki seine ganze politische Karriere hindurch immer wieder fraktionell verhalten. Ehrlicherweise muss man allerdings sagen, dass er damit zumindest in der Zeit vor der Oktoberrevolution keinesfalls eine Ausnahme bildete. Vielmehr war das Fraktionieren innerhalb der russischen Arbeiter:innenbewegung weit verbreitet.

Das historische Fraktionsverbot

Historisch erstmals ausformuliert wurde der Widerspruch zwischen Marxismus-Leninismus und Trotzkismus in dieser Frage in den 1920er-Jahren. In der Vorbereitungsphase des 10. Parteitages der Kommunistischen Partei Russlands war die innerparteiliche Diskussion von mehreren Fraktionen oder Ansätzen zu Fraktionen geprägt. Die Hauptgefahr für die Einheit der Partei ging damals wohl von der sogenannten „Arbeiteropposition“ aus, der Trotzki nicht angehörte. Aber auch Trotzki verhielt sich unmittelbar vor dem Parteitag fraktionell, was von Lenin scharf kritisiert wurde, insbesondere da Trotzki ein wichtiges und hoch angesehenes Mitglied des Zentralkomitees der Partei war.51

Auf diesem Parteitag wurde ein ausdrückliches Fraktionsverbot zu den Regeln der Partei hinzugefügt. Trotzki ordnete sich dem zunächst unter, begann aber schon 1923 sich dagegen zu wenden. Vor allem in der späteren trotzkistischen Geschichtsschreibung setzte sich dann die Tendenz durch, dieses Verbot zu einer Ausnahmeregelung zu erklären, die nur wegen einer außergewöhnlich angespannten innenpolitischen Lage getroffen worden wäre. In Trotzkis Autobiographie „Mein Leben“ aus dem Jahr 1929 wird das Fraktionsverbot einfach ganz verschwiegen.

Was lässt sich dieser Darstellung entgegenhalten? Einerseits begründete Lenin als starker Verfechter des Fraktionsverbots tatsächlich die besondere Dringlichkeit von Maßnahmen, um die Einheit der Partei zu sichern, mit der enorm zugespitzten Lage im Land.52 Er zeigte sich aber auch ganz unabhängig davon, dass dieser formell das Recht zum fraktionellen Handeln gehabt habe, empört darüber, dass Trotzki davon Gebrauch gemacht hat.53 Vor allem die Resolution „Über die Einheit der Partei“, die auf dem X. Parteitag verabschiedet wurde, ist sehr grundsätzlich und prinzipiell formuliert und enthält keinerlei Andeutungen, dass es sich dabei um eine rein vorübergehende Maßnahme handeln sollte:

Es ist notwendig, dass alle klassenbewußten Arbeiter die Schädlichkeit und Unzulässigkeit jeder wie immer gearteten Fraktionsbildung klar erkennen, die selbst dann, wenn die Vertreter der einzelnen Gruppen den besten Willen haben, die Parteieinheit zu wahren, in der Praxis unweigerlich dazu führt, dass die einmütige Arbeit geschwächt wird und dass die Feinde, die sich an die Regierungspartei heranmachen, erneut verstärkte Versuche unternehmen, die Zerklüftung zu vertiefen und sie für die Zwecke der Konterrevolution auszunutzen.“ 54

Natürlich könnte man – wenn man der Argumentation der Bolschewiki für das Fraktionsverbot folgen will – fragen, welche Situationen es vor dem Übergang zum Kommunismus geben könnte, in denen „die Feinde“ nicht jede „Zerklüftung“ unter den Kommunist:innen „vertiefen“ und für „die Zwecke der Konterrevolution ausnutzen“. Man beantwortet diese Frage eigentlich schon, wenn man sie stellt: Eine Phase friedlicher Entwicklung, in der sich die Kommunist:innen leisten können, sich dauerhaft in fraktionellen Kämpfen zu verlieren, gibt es überhaupt nicht, weder vor noch nach der Revolution.

Die Rolle der Fraktionen im modernen Trotzkismus

Der moderne Trotzkismus stellt quasi als eines seiner Markenzeichen heraus, dass er eine dem entgegensetzte Haltung zu Fraktionen hat. Fraktionen sind für die Trotzkist:innen in der Regel ein vollkommen natürlicher Bestandteil des „Demokratischen Zentralismus“ (trotzkistischer Auslegung). So sei hier beispielhaft aus dem Statut der deutschen trotzkistischen Organisation Sozialistische Alternative (SAV) zitiert:

2. Minderheitenschutz und Fraktionsrechte

a. Grundsätzlich haben alle Mitglieder und Minderheiten das Recht, innerhalb der Organisation eine abweichende Meinung in Wort und Schrift zu verbreiten.

b. Darüber hinaus haben Unterstützer*innen einer bestimmten Position das Recht, sich zu einer Fraktion zusammenzuschließen, um die Diskussion und Weiterentwicklung ihrer Position zu ermöglichen und sie in die Diskussion zu tragen.

c. Fraktionsrechte umfassen:

1. das Recht, sich innerhalb der Organisation eigenständig zu organisieren,

2. das Recht, einen eigenen Finanzbeitrag zu erheben, das Recht, eigene Publikationen in der Organisation zu verbreiten,

4. das Recht auf Zugang zur Mitgliederzeitschrift,

5. das Recht, eine Debatte über ihre Positionen in einer Organisationsgliederung oder bundesweit zu beantragen, insbesondere die Berücksichtigung auf Tagesordnungen von Versammlungen und Konferenzen sowie die Verwendung von Einrichtungen und Arbeitsmitteln der Organisation für die Debatte (…)55

Kurz gesagt: Die Fraktion nach trotzkistischer Lesart ist eine Organisation in der Organisation, die sogar eigene Mitgliedsbeiträge und eigene Publikationen herausgeben darf. Es ist klar, dass solche Praktiken die Gefahr von Spaltungen in einer Organisation und damit auch der Zerstörung des erreichten Einflusses in der Arbeiter:innenklasse massiv erhöhen.

In der Praxis zeigt sich immer wieder das Problem, dass sich Lager herausbilden, die in verschiedenen Fragen unterschiedlicher Meinung sind. Die innere Disziplin der Fraktionen ebenso wie mögliche taktische Erwägungen führen dann zu einer natürlichen Tendenz, sich innerhalb der Organisationsdiskussionen immer an den gleichen Punkten zu widersprechen. Die Linie, entlang der es zu einer Spaltung kommen kann, wird somit vorgezeichnet. Der Fraktionismus ist also kein notwendiges Element der innerorganisatorischen Demokratie. Vielmehr untergräbt er die Einheit und Vereinheitlichung jeder Organisation. Statt das gesamte organisatorische Kollektiv weiterzuentwickeln, verteilt sich die Diskussion auf Fraktionen, die sich nur schwerlich gegenseitig beeinflussen und überzeugen können.

In der marxistisch-leninistischen Tradition wurde demgegenüber das Fraktionsverbot aufgenommen und ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Verständnisses des Demokratischen Zentralismus. Das widerspricht aber keinesfalls einer freien innerorganisatorischen Diskussion. Diese wird aber kollektiv zu bestimmten Gelegenheiten geführt und auf Beschluss der leitenden Organe eröffnet. Wesentlich ist auch, dass hierbei jede:r Genoss:in das Recht und die Pflicht hat, sich als Einzelperson in der Diskussion zu beteiligen. So kann die Tendenz zur Fraktionierung und Lagerbildung am effektivsten bekämpft werden. Da niemand durch eine Fraktionsdisziplin gebunden ist, sondern alle nur die Aufgabe haben, zu den für die sozialistische Revolution bestmöglichsten Schlussfolgerungen zu kommen, ist auch eine tatsächliche gegenseitige Beeinflussung möglich. Dass die trotzkistische Leidenschaft für das Fraktionieren durchaus sehr negative Effekte für diese Strömung selbst mit sich gebracht hat – insbesondere in Phasen, in denen sie besonders wenig politische „Erfolge“ erzielen konnte – wird von einzelnen Trotzkisten auch selbst eingestanden: „Da es darum zu gehen scheint, sich in sehr viel größeren Zusammenhängen zu verankern, um Tuchfühlung mit den Kämpfen und der Bewusstseinsentwicklung breiter Teile der Arbeiterklasse und der Jugend zu bekommen, erscheinen den Mitgliedern solcher vergleichsweise kleinen Gruppen ihre eigenen Organisationen oft nicht gerade als bedeutende Errungenschaft. Wenn jemand der Meinung ist, mit einer bestimmten Linie und mit einem bestimmten Aufbaukonzept bald qualitative Sprünge in Bezug auf den Einfluss und die zahlenmäßige Stärke seiner politischen Strömung erreichen zu können, trennt sich dieser vielleicht relativ leichten Herzens von ein paar Dutzend oder auch von ein paar Hundert GesinnungsgenossInnen, die auf dem viel versprechenden Weg nicht folgen wollen.56

Es ist klar, dass dieses von einem Trotzkisten selbst diagnostizierte Spaltungsproblem durch die Bildung von Fraktionen nur verstärkt werden kann. Schließlich dürfte es als deutlich geringeres Risiko für die eigene politische Existenz, im Falle von Funktionär:innen auch die wirtschaftliche Existenz sein, sich nicht alleine von einer Organisation zu trennen, weil man ihren Weg für unumkehrbar falsch hält, sondern gemeinsam mit einer Fraktion, die über Monate oder Jahre miteinander arbeitet.

Trotz dieser notwendigen und prinzipiellen Kritik am Fraktionswesen muss betont werden, dass das Fraktionsverbot natürlich kein Allheilmittel gegen Spaltungen darstellt. Am Ende bleibt die organisatorische Einheit etwas, das immer wieder bewusst auf politischer und ideologischer Ebene erkämpft werden muss. Weder das Fraktionsverbot noch der maoistische „Kampf zweier Linien“57 stellen sichere Konzepte dar, um Spaltungen zu verhindern. Der Trotzkismus hat ihnen jedoch den zweifelhaften Verdienst voraus, die organisatorische Spaltung bereits im eigenen Verständnis innerorganisatorischer Demokratie anzulegen.

Trotzkistische Analyse des Sozialismus

Die zentrale Quelle von Trotzkis Analyse der Verhältnisse in der Sowjetunion ist zweifelsohne das Buch „Verratene Revolution“ aus dem Jahre 1936. Hierin erkennt Trotzki zwar die enormen Erfolge der Sowjetunion an: Er spricht davon, dass die Sowjetunion alle Diskussionen bürgerlicher Ökonomen darüber, dass der Sozialismus ökonomisch nicht haltbar wäre, widerlegt hätte. Darauf folgt dann aber seine vernichtende Kritik der Verhältnisse in der Sowjetunion. Dreh- und Angelpunkt seiner Analyse ist dabei der niedrige Entwicklungsstand der Produktivkräfte und daraus folgende Mängel im Lebensstandard der Bevölkerung. Hieraus folgert Trotzki, dass in der Sowjetunion nicht vom Sozialismus, sondern lediglich von einem Übergangsregime zum Sozialismus die Rede sein könne:

Die heutige UdSSR überragt nicht das Weltwirtschaftsniveau, sondern holt erst die kapitalistischen Länder ein. Wenn Marx als unteres Stadium des Kommunismus die Gesellschaft bezeichnete, die auf Grund der Vergesellschaftung der Produktivkräfte des für seine Epoche am meisten fortgeschrittenen Kapitalismus entstehen sollte, so ist diese Bezeichnung augenscheinlich nicht auf die Sowjetunion zugeschnitten, die heute noch, was Technik, Lebensgüter und Kultur anbelangt, viel ärmer ist als die kapitalistischen Länder. Richtiger wäre darum, das heutige Sowjetregime in all seiner Widersprüchlichkeit nicht als sozialistisches, sondern als vorbereitendes oder Übergangsregime zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu bezeichnen.“ 58

Nach einem ähnlichen Muster untersucht er in seinem Werk verschiedene Aspekte der sowjetischen Gesellschaft und kommt jeweils zum Schluss, dass die Sowjetunion in dieser Hinsicht noch stark hinter den kapitalistischen Ländern zurückbleibe und daher vom Sozialismus nicht die Rede sein könne. So schreibt er zu den Methoden zur Steigerung der Arbeitsproduktivität:

Der Sozialismus bzw. das untere Stadium des Kommunismus erfordert zwar noch eine strenge Kontrolle über das Maß der Arbeit und das Maß des Verbrauchs, setzt aber jedenfalls menschlichere Kontrollformen voraus, als die vom Ausbeutergenius des Kapitals ersonnenen.“ 59

Trotzkis Analyse aus dem Jahr 1936 läuft darauf hinaus, dass es sich bei der Sowjetunion um einen degenerierten Arbeiterstaat handele, der entweder durch eine erneute Erhebung der Arbeiter:innenklasse von seinen bürokratischen Entstellungen befreit werden oder unvermeidlich früher oder später in den Kapitalismus zurückfallen müsse.

Kritik der trotzkistischen Auffassungen zur Sowjetunion

Die marxistische Haltung, die diesem Standpunkt entgegen gehalten werden muss, besteht darin, dass der Sozialismus als erste Stufe des Kommunismus grundsätzlich noch von Muttermalen des Kapitalismus geprägt ist. Somit muss auch der Klassenkampf in dieser Gesellschaft kontinuierlich weiter geführt werden. Gelingt es nicht, diesen Kampf konsequent fortzuführen und damit die Entwicklung der Gesellschaft in Richtung des Kommunismus voran zu treiben, dann droht tatsächlich die Herausbildung neuer Ausbeuterklassen, die Wiederherstellung neuer Ausbeutungsverhältnisse, wie es auch die spätere Entwicklung der Sowjetunion gezeigt hat.

Dass also die von Trotzki in „Verratene Revolution“ heraufbeschworene Gefahr einer „Degeneration“ der Arbeiter:innenstaaten besteht, ist keine Eigenheit der Sowjetunion, sondern eine Eigenschaft des Sozialismus als der noch unmittelbar vom Kapitalismus geprägten Form des Kommunismus.

Auch besteht diese Gefahr nicht etwa nur, wie Trotzki behauptet, weil die Sowjetunion in der Entwicklung ihrer Produktivkräfte hinter den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern zurückgeblieben ist. Dass sich nämlich eine Bürokratie im Sowjetstaat herausgebildet hat, ist aus Trotzkis Sicht dem niedrigen kulturellen Niveau der sowjetischen Arbeiter:innenklasse und Bauernschaft, sowie dem niedrigen technologischen Niveau anzulasten.

Die Schlussfolgerung, dass nur die Revolution in fortgeschritteneren Ländern die Sowjetunion dauerhaft retten könne, schließt hier unmittelbar an: Trotzkis Kampf gegen die Auffassung der Mehrheit der Bolschewiki an, dass es möglich sei, den Sozialismus zunächst nur in einem Land und auch in der Sowjetunion aufzubauen.

Zurecht wurde in der marxistisch-leninistischen Bewegung Jahre nach Trotzkis Tod der sowjetische Revisionismus in den 50er und 60er Jahren für die sogenannte Theorie der Produktivkräfte kritisiert, die den Weg zum Kommunismus einseitig zu einer Frage der Produktivkraftentwicklung erklärte. Sie ließ damit natürlich der neuen herrschenden Klasse und ihren politischen Vertreter:innen um Chruschtschow auf politischer Ebene freie Hand. Bei Trotzki finden wir gewissermaßen eine negative Theorie der Produktivkräfte. Er erklärt alle aus seiner Sicht in der Sowjetunion bestehenden Übel eben aus ihrer Unterentwicklung. Auch wenn Trotzki in seiner Arbeit „Verratene Revolution“ diverse Missstände und Fehlentwicklungen zurecht anprangert, wie zum Beispiel das allmähliche Absterben der Sowjetdemokratie oder enorme Einkommensunterschiede, sind seine Schlussfolgerungen, wie diesen Entwicklungen beizukommen wäre, für die kommunistische Bewegung unbrauchbar.

Denn auch ohne Weltrevolution hat die Sowjetunion den Zweifler:innen wie Trotzki zum Trotz die Riesenaufgabe bewältigt, ihre Produktivkräfte zu entwickeln und eine eigene Intelligenz, eigene Rote Spezialist:innen hervorzubringen. Nur: Dies hat das Problem der Bürokratisierung, der mangelnden politischen Aktivität der Massen und des dauerhaften Kampfes gegen die Muttermale der alten kapitalistischen Gesellschaft im gesellschaftlichen Bewusstsein nicht gelöst. Somit kann auch die Antwort auf dieses Problem nicht schlicht in einer möglichst schnell siegreichen Weltrevolution und dementsprechend entwickelteren Produktivkräften gesucht werden.

Im Ergebnis bleibt die Kritik vieler Trotzkist:innen an den Entwicklungen im Revisionismus recht halbherzig. Trotzki verurteilte zwar schon erste negative Erscheinungen der Bürokratisierung als Beweis seiner These, dass es in der Sowjetunion gar keinen Sozialismus geben könne. Seine Theorie der degenerierten Arbeiterstaaten wurde aber von seinen geistigen Erb:innen oftmals in überaus dogmatischer Weise angewandt. Für sie gibt es keine wesentlichen Veränderungen nach dem Ende der 20er Jahre mehr. Die revisionistischen Entstellungen der sozialistischen Länder, insbesondere nach Stalins Tod, sind für sie nur logische Fortführungen des „Stalinismus“. Paradoxerweise gerät ein Teil des Trotzkismus auf diesem Weg in eine seltsame Lage und sieht sich gezwungen, Länder wie das imperialistische China als „Arbeiterstaaten“ zu bezeichnen, die gegenüber den Machenschaften des westlichen Imperialismus zu verteidigen seien.

Gerade die zuletzt genannte Theorie von den degenerierten Arbeiterstaaten basiert auf einem starren Auseinanderreißen von Basis und Überbau. Während Trotzki die sowjetische Führung in den schwärzesten Farben malt und ganz offensichtlich für Verräter:innen an der Sache des Proletariats hält, klebt er an der Ansicht, dass die ökonomische Basis der sowjetischen Wirtschaft im Kern noch sozialistisch ist, da sie verstaatlicht sei. Und als einige Jahre nach Trotzkis Tod tatsächlich der sozialistische Staat mehr und mehr zu einem Staat einer neuen Ausbeuter:innenklasse wurde, führte dies im Lager der Trotzkist:innen zu keiner grundlegenden theoretischen Neubewertung mehr.

Dass diese gesellschaftliche Basis ihren Charakter ändern muss, wenn es der sozialistische Staat tut, kommt den meisten Trotzkist:innen nicht in den Sinn. Unter anderem hier zeigt sich eine erstaunliche Nähe zu den Standpunkten klassischer Verteidiger:innen der Existenz des Sozialismus in der Sowjetunion bis 1989, die ebenfalls darauf verweisen, dass die Produktionsmittel formell in Staatshand geblieben sind.

Die Staatsführung der Sowjetunion ging in den 1930er Jahren fälschlicherweise davon aus, dass alle sozialen Gegensätze und Klassenwidersprüche von nun an tendenziell evolutionär gelöst werden könnten und dem Sozialismus von innen keine Gefahr mehr drohe. Die Trotzkist:innen nehmen gewissermaßen die spiegelbildliche Position hierzu ein: Für sie kann es weder Sozialismus noch einen erfolgreichen Aufbau des Sozialismus geben, solange diese Gegensätze weiterbestehen. Daher die Notwendigkeit der mehr oder weniger gleichzeitigen Weltrevolution, die in der Vorstellung der Trotzkist:innen erlaubt, schnell zum notwendigen technologischen Niveau überzugehen.

Die Schlussfolgerung, dass der Klassenkampf im Sozialismus weitergeführt werden muss, da es sich eben um den mit kapitalistischen Muttermalen behafteten Anfang des Kommunismus handelt, nimmt in der trotzkistischen Theorie keine oder keine ausreichende Rolle ein.

Hingegen die Weltrevolution und somit eine schnellere Entwicklung der Produktivkräfte als „Lösung“ für das Problem der Bürokratisierung und letztlich der Entartung des sozialistischen Staatsapparats zu sehen, ist bis heute recht typisch für den Trotzkismus. So wie Trotzki selbst wünschen sich die Trotzkist:innen einen idealtypischen Sozialismus, der keine Kompromisse mit der harten Realität eingehen muss. Was dem nicht entspricht, wird auch nicht als sozialistisch eingestuft.60

Statt die bisherigen sozialistischen Erfahrungen auszuwerten und hieraus Schlussfolgerungen zu ziehen, wie negative Entwicklungen wie in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Aufbauversuchen verhindert werden könnten, jagen die Trotzkist:innen bis heute einer Utopie hinterher. Ob eine „feste Orientierung“ auf die Weltrevolution in absehbarer Zeit nach der proletarischen Machtergreifung zum Durchbruch führt, ist mit Blick auf die Geschichte fragwürdig. Vor allem aber spricht nichts dafür, dass die beispielsweise in der Sowjetunion aufgetretenen Phänomene nicht auftreten, wenn sich die Arbeiter:innen mehrerer führender imperialistischer Staaten gleichzeitig vom Kapitalismus befreien.

Üergangsforderungen

Im Laufe der 1930er-Jahre verschärfte sich wie oben dargestellt die Konfrontation zwischen Trotzki und seinen Anhänger:innen auf der einen Seite und den Bolschewiki und der Kommunistischen Internationalen auf der anderen Seite außerordentlich.

Trotzki war es zwar gelungen, sich in einer ganzen Reihe von Länder einen bestimmten Kreis von Anhänger:innen zu erhalten. Verglichen mit den Kommunistischen Parteien, die in vielen Ländern zu diesem Zeitpunkt hunderttausende Mitglieder zählten, war sein Einfluss aber eng begrenzt und die Trotzkist:innen befanden sich objektiv in einer einflusslosen und isolierten Situation.

Aus ihrer Überzeugung, dass die Bolschewistische Partei mitsamt des Sowjetstaats und mit der Komintern im Schlepptau degeneriert sei, folgte für Trotzki – analog zum Kampf der Bolschewiki für einen Bruch mit der 2. Internationale in den 1910er Jahren – die Notwendigkeit, eine neue Internationale zu gründen.

Im Jahr 1938 wurde die sogenannteVierte Internationale“, eine rein trotzkistische Internationale ins Leben gerufen. Ihr Gründungsdokument ist gewissermaßen das sogenannte „Übergangsprogramm“, das von Trotzki selbst verfasst wurde. Es stellt bis heute das wohl wichtigste und einflussreichste Dokument des Trotzkismus dar und beeinflusst die Politik aller trotzkistischen Organisationen sehr stark.

Auf der Erscheinungsebene in der politischen Arbeit in Deutschland lässt sich diese Tatsache anhand eines gewissen Fetischs feststellen, den einige trotzkistische Gruppen um das „Aufstellen der richtigen Losungen“ entwickelt haben. Nicht selten unterscheiden sich dabei die aufgestellten Forderungen höchstens unwesentlich von denen, die Trotzki selbst achtzig Jahre zuvor formuliert hat.

Es ist aufschlussreich, das Übergangsprogramm mit dem kurz zuvor beim VI. Weltkongress der Komintern beschlossenen Programm der Kommunistischen Internationale zu vergleichen. Beim Lesen des Übergangsprogramms wird nämlich deutlich, dass Trotzki es ganz bewusst in Abgrenzung zum zentralen Dokument der Komintern verfasst hat. Andersherum lesen sich einige Passagen des früher verfassten Kominternprogramms fast so, als wären sie vorweggenommene Kritiken an Trotzkis Übergangsprogramm. Einige Aspekte der besonderen trotzkistischen Strategie und Taktik werden daher auf diese Art sehr deutlich.

Wie sah Trotzki die Weltlage bei der Gründung der Vierten Internationale?

Das ganze Gerede, wonach die geschichtlichen Bedingungen noch nicht „reif“ genug seien für den Sozialismus, ist nur das Produkt der Unwissenheit oder eines bewußten Betrugs. Die objektiven Voraussetzungen der proletarischen Revolution sind nicht nur schon „reif“, sie haben sogar bereits begonnen zu verfaulen. Ohne sozialistische Revolution, und zwar in der nächsten geschichtlichen Periode, droht die ganze menschliche Kultur in einer Katastrophe unterzugehen. Alles hängt ab vom Proletariat, d. h. in erster Linie von seiner revolutionären Vorhut. Die historische Krise der Menschheit ist zurückzuführen auf die Krise der revolutionären Führung.“ 61 Trotzkis Schrift macht deutlich, dass er davon überzeugt war, der ganze Weltimperialismus befände sich in einer schwerwiegenden Krise und in den nächsten Jahren entscheide sich unmittelbar, ob die Menschheit in einer Katastrophe untergehe oder nicht. Im Gegensatz zum von ihm gescholtenen Programm der Dritten Internationale stellt das Übergangsprogramm daher diverse Übergangslosungen für alle kapitalistischen Länder auf, und begnügt sich mit einigen Anpassungen für faschistisch regierte Länder und Kolonien. Das Übergangsprogramm unterlässt es hingegen, die konkrete Situation in verschiedenen Ländern anhand ihrer Stellung im imperialistischen Weltsystem gründlich zu bewerten wie es das Komintern-Programm tut.

Was der Sinn dieser Übergangsforderungen ist, erklärt Trotzki selbst: „Man muß der Masse im Verlauf ihres täglichen Kampfes helfen, die Brücke zu finden zwischen ihren aktuellen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution. Diese Brücke muß in einem System von Übergangsforderungen bestehen, die ausgehen von den augenblicklichen Voraussetzungen und dem heutigen Bewußtsein breiter Schichten der Arbeiterklasse und unabänderlich zu ein und demselben Schluß führen: der Eroberung der Macht durch das Proletariat.“ 62

Übergangsforderungen sind dabei durchaus keine ureigene Erfindung von Trotzki. Die Bolschewiki gaben im unmittelbaren Vorfeld der Oktoberrevolution ebenfalls Übergangslosungen aus. Diese sollten den Massen nicht etwa den ganzen Marxismus vermittelten, sondern vielmehr lediglich bestimmte zentrale Ziele verkünden, die den direkten Interessen der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung entsprachen und sie auf die unmittelbare Eroberung der Macht vorbereiten sollten. Hierzu zählen zum Beispiel die Losungen „Alle Macht den Sowjets“ oder „Land, Brot, Frieden“. Die Losung „Land, Brot, Frieden“ hat an sich natürlich nichts Revolutionäres. Im Sommer 1917 hatten alle reformistischen politischen Kräfte aber vor den Massen deutlich gezeigt, dass sie nicht willens oder nicht in der Lage waren, diese Forderung zu verwirklichen. Die Revolution unter Führung der Bolschewiki wurde mehr und mehr zum einzigen realistischen Weg, die Losung „Land, Brot, Frieden“ zu verwirklichen. Dieser Zusammenhang machte sie im Sommer 1917 in Russland zu einer Übergangslosung.

Kritik am trotzkistischen Verständnis von Übergangslosungen

Das trotzkistische Übergangsprogramm stellt aber ganz andere Übergangslosungen auf und fasst sie in einem Programm zusammen, das internationale Gültigkeit beansprucht. So fordert Trotzki unter anderem die Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses der Kapitalist:innen, die Ausübung von „Arbeiterkontrolle“ und die Verstaatlichung zentraler Zweige der Industrie.

Dagegen müssen einige grundlegende Kritiken angeführt werden:

Erstens basiert das Übergangsprogramm implizit auf der Annahme, die Lage auf der ganzen Welt sei revolutionär, lediglich die aus Trotzkis Sicht „degenerierten Kommunistischen Parteien“ würden die Massen noch zurückziehen. Schon allein diese Grundvoraussetzung ist aber unvereinbar mit den grundlegenden Gesetzmäßigkeiten des Imperialismus. Dieser entwickelt sich, wie Lenin nachgewiesen hat, ungleichmäßig,63 und darauf aufbauend entwickelt sich auch der Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie in den verschiedenen Ländern mit unterschiedlicher Intensität.

Auch die Situation und Stabilität der bürgerlichen Regime (ob demokratische Republik oder Faschismus) ist somit zu jedem Zeitpunkt von starken Unterschieden gekennzeichnet. Dies ist auch der materielle Grund dafür, dass die linksradikale Hoffnung Trotzkis (und vieler anderer Revolutionär:innen) auf eine Vollendung der sozialistischen Weltrevolution innerhalb weniger Jahre sich nicht erfüllte.

Zweitens bleibt Trotzki in der Formulierung seiner Übergangsforderungen ganz bewusst nebulös in der Frage, ob diese Losungen jeweils erst nach der Errichtung der revolutionären Diktatur des Proletariats verwirklicht werden können oder nicht. An einigen Stellen wird sogar ganz deutlich gesagt, die Umsetzung dieser Forderungen müsse vor der Revolution beginnen: „Das sozialistische Programm der Enteignung – d.h. des politischen Sturzes der Bourgeoisie und der Beseitigung ihrer wirtschaftlichen Herrschaft – darf uns auf keinen Fall in der gegenwärtigen Übergangsperiode, wenn die Gelegenheit sich bietet, davon abhalten zu fordern, daß bestimmte Industriezweige, die für die nationale Existenz am wichtigsten sind, oder bestimmte Gruppen der Bourgeoisie, die am parasitärsten sind, enteignet werden.“ 64

Drittens muss angemerkt werden, dass viele von Trotzkis Übergangsforderungen nicht gar so revolutionär sind. So wurde eine seiner Forderungen, eine gleitende Skala der Löhne – also deren automatische Anpassung an die Inflation – in Italien und Frankreich nach 1945 jeweils für mehrere Jahre durchgesetzt. Auch das Betriebsrätegesetz in Deutschland zeigt, dass es für die Kapitalist:innen keinesfalls unvorstellbar ist, ein ständiges Gremium, das die Interessen der Arbeiter:innen vertreten soll, zu akzeptieren und dabei obendrein das „Geschäftsgeheimnis“ zumindest für diesen Kreis weitgehend aufzuheben.

Zumindest formell sind einige von Trotzki vorgeschlagenen Übergangsforderungen durchaus erfüllbar für die Bourgeoisie. Das macht sie nicht zu reaktionären Losungen und das heißt auch nicht, dass die Kapitalist:innen sie alle freiwillig und ohne vorherige Kämpfe erfüllen würden, aber sie erfüllen eben nicht zwingend die von Trotzki angedachte Funktion, dass „jede ernsthafte Forderung des Proletariats und sogar jede fortschrittliche Forderung des Kleinbürgertums unausweichlich über die Grenzen des kapitalistischen Eigentums und des bürgerlichen Staates hinausführt.65

Somit kann man also durchaus zum Schluss kommen, dass das Übergangsprogramm schon zu Trotzkis Zeiten von falschen Voraussetzungen ausging. Umso absurder wird aber die dogmatische Übernahme vieler dieser Übergangsforderungen und dieses Konzeptes durch die gesamte trotzkistische Bewegung in den mittlerweile gut 80 Jahren seit dem Tod ihres Vordenkers. In der Praxis vieler Trotzkist:innen heute haben die Übergangslosungen das offensive Eintreten für die sozialistische Revolution vollkommen verdrängt. Die vergebliche Hoffnung, dass die Arbeiter:innen endlich über die „Brücke“ marschieren, die das System von Übergangsforderungen zwischen ihrem Bewusstsein und der sozialistischen Revolution errichtet hat, ist zu einem Fetisch geworden.

Faktisch fallen die Trotzkist:-innen heute damit auf einen reformistischen Standpunkt zurück, in dem sie ganz in der Manier der unerfahrenen russischen Sozialdemokraten zu Beginn des letzten Jahrhunderts, den von Lenin heftig bekämpften Ökonomist:innen, hoffen, dass die Arbeiter:innen im Kampf um ihre unmittelbaren Interessen schon von alleine merken, dass ihnen der kapitalistische Staat und die Herrschaft der Kapitalist:innen dabei als Hindernisse im Wege stehen. Lenin hat diese „Idee“ schon in „Was Tun?“ überzeugend widerlegt:

Der ökonomische Kampf ‚stößt‘ die Arbeiter nur auf Fragen, die das Verhältnis der Regierung zur Arbeiterklasse betreffen, und wie sehr wir uns auch abmühen mögen mit der Aufgabe, ‚dem eigentlichen ökonomischen Kampf politischen Charakter zu verleihen‘, wir würden es nie zustande bringen, im Rahmen dieser Aufgabe das politische Bewußtsein der Arbeiter (bis zur Höhe des sozialdemokratischen politischen Bewußtseins) zu entwickeln, denn dieser Rahmen selbst ist zu eng.66

Einige Trotzkist:innen würden an dieser Stelle vielleicht erwidern, dass diese Entwicklung nicht Trotzki selbst anzulasten ist, sondern dem „trotzkistischen Zentrismus“, einem Etikett, mit dem sich die Trotzkist:innen mit Vorliebe gegenseitig belegen, wenn sie nicht einer Meinung sind. Aber von der Verantwortung, dass Trotzki der Bewegung, die bis heute stolz seinen Namen trägt, mit seiner letzten großen Schrift einen gewaltigen Stoß in Richtung Reformismus mitgegeben hat, darf man ihn nicht freisprechen. Denn die Kommunistische Internationale hatte in ihrem etwa zehn Jahre zuvor veröffentlichten Programm eine lange Passage zum taktischen Umgang mit verschiedenen Arten von Losungen in verschiedenen Situationen verfasst, von der sich Trotzki ja bewusst abgrenzen will:67

Wenn kein revolutionärer Aufschwung vorhanden ist, müssen die Kommunistischen Parteien, ausgehend von den Tagesnöten der Werktätigen, Teillosungen und Teilforderungen aufstellen und sie mit den Hauptzielen der Kommunistischen Internationale verknüpfen. Hierbei dürfen aber die Parteien nicht solche Übergangslosungen aufstellen, die das Vorhandensein einer revolutionären Situation zur Voraussetzung haben und in einer anderen Situation zur Losung des Verwachsens mit dem System kapitalistischer Organisationen werden (z.B. die Losung der Produktionskontrolle und ähnliche). Teilforderungen und Teillosungen sind die absolute Bedingung einer richtigen Taktik während eine Reihe von Übergangslosungen untrennbar an das Vorhandensein einer revolutionären Situation gebunden sind. Prinzipiell die Aufstellung von Teilforderungen und Übergangslosungen abzulehnen, ist jedoch ebenfalls mit den Grundsätzen des Kommunismus unvereinbar, da eine Taktik dieser Art die Partei praktisch zur Passivität verurteilt und von den Massen isoliert.“ 68

Der Unterschied zu Trotzkis Herangehensweise dürfte augenfällig sein. Das Problem an den trotzkistischen Übergangsforderungen ist also nicht, dass sie in nicht-revolutionären Situationen politisch zu weitgehende und nicht durchsetzbare Forderungen aufstellen würden. Das Problem ist vielmehr, dass sie diese Forderungen praktisch immer als Agitations- oder sogar Aktionslosungen aufstellen.69 Sie bleiben schwammig in der Frage, welche der Forderungen im Kapitalismus umsetzbar sind und welche Losungen erst im Sozialismus beziehungsweise im revolutionären Prozess sinnvoll zur Realität werden können.

Während die Trotzkist:innen somit faktisch auf kommunistische Agitation und Propaganda verzichten, erklären wir es zur Hauptaufgabe der Kommunist:innen, der Arbeiter:innenklasse bewusst zu machen, dass ihre grundsätzlichen Interessen (nämlich eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung) nur durch die Revolution und den Sozialismus verwirklicht werden können:

Die Revolution in Deutschland kennt daher kein Minimalprogramm. Ihr unmittelbares Ziel ist die Errichtung des Sozialismus. Die Kommunist:innen nehmen an den Tageskämpfen der Arbeiter:innenklasse teil und bemühen sich nach Kräften zu ihrem Erfolg beizutragen. Entscheidend ist jedoch, dass in diesen Kämpfen die politische Einheit der Arbeiter:innenklasse geschmiedet wird, die Arbeiter:innen von der Notwendigkeit der Revolution überzeugt werden und sie die für die erfolgreiche Revolution notwendigen Kampferfahrungen sammeln.“ 70

Vor diesem Hintergrund ist es auch grundsätzlich abzulehnen, wenn Trotzkist:innen und andere Kräfte, die von sich behaupten marxistisch zu sein, statt diese einfache Wahrheit offen auszusprechen und sich der schwierigen Aufgabe zu stellen, dieses Bewusstsein in die breitesten und am meisten niedergedrücktesten Teile der Massen zu tragen, sich mit einem „ausgefeilten“ System von Übergangsforderungen begnügen.

Etwas anderes ist es, wenn spontan entstehende antikapitalistische Stimmungen sich in der Arbeiter:innenklasse ausbreiten und Forderungen wie nach der Enteignung von Wohnungskonzernen eine gewisse Anhängerschaft finden. Das ist nämlich eine notwendige Erscheinung im Klassenkampf und nicht grundsätzlich negativ zu bewerten. Vielmehr ist es dann die Aufgabe der Kommunist:innen, die Halbheiten solcher Forderungen aufzuzeigen ebenso wie die Tatsache, dass sie in einer solchen Art und Weise, wie sie den Arbeiter:innen wirklich nützen, nur in einem anderen System möglich sind und der Weg zu diesem System über die Revolution und den Bürgerkrieg führt.

Ein aktuelles Beispiel für die Probleme bestimmter Übergangsforderungen in nicht-revolutionären Situation stellen die Diskussionen um das politische Nachspiel der Kampagne „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ aus Berlin dar. Mit dem Preisverfall der Immobilien- und Baugrundstückspreise und der damit einhergehenden ökonomischen Schieflage großer Immobilienkonzerne könnte die Umsetzung der Verstaatlichungsforderung unter diesen Umständen konkret den Effekt haben, dass Verluste kapitalistischer Unternehmen vergesellschaftet werden bzw. sie ihre Spekulationsgewinne trotz negativer Preisentwicklung am Markt realisieren können.

Entrismus

Die Entstehung des Entrismus

Noch stärker als das Übergangsprogramm prägt vermutlich der sogenannte Entrismus das in diesem Land vorherrschende Bild des Trotzkismus. Dieser Umstand wird unter anderem auch von trotzkistischen Autor:innen selbst bezeugt:

Die Politik des „Entrismus“ (von französisch „entrer“, hineingehen) hat nicht unbedingt zum guten Ruf des Trotzkismus beigetragen. Man assoziiert damit mehr oder weniger okkulte Praktiken, mit denen irgendwelche konspirativ organisierten Gruppen größere Organisationen „unterwandern“, von deren Prestige und materiellen Mitteln zehren und sie als Rekrutierungsfeld zur eigenen Stärkung nutzen. Die Mitglieder „entristisch“ operierender Organisationen geben ihre „eigentliche“ Identität als Trotzkisten oft nicht zu erkennen. Die Wirksamkeit ihrer Politik und die Glaubwürdigkeit ihrer Argumente wird dadurch eingeschränkt, dass um sie herum oft eine Atmosphäre von Misstrauen, Undurchsichtigkeit und Klatsch entsteht.“ 71

Im Unterschied zu Trotzkis Übergangsprogramm und der entsprechenden Herangehensweise, ist der Entrismus und seine Anwendung aber in der trotzkistischen Bewegung durchaus umstritten.

Der Entrismus entstand im Jahr 1934 in Frankreich, wo sich Trotzki zu diesem Zeitpunkt im Exil versteckt hielt. Er unterhielt Kontakte zu einigen französischen Intellektuellen, die dem Trotzkismus zugewandt waren. In der Arbeiter:innenklasse war der Trotzkismus aber zu diesem Zeitpunkt nicht von großer Bedeutung. Es ist die Zeit, in der eine antifaschistische Volksfrontregierung gebildet wurde. Die Massen der Arbeiter:innenklasse betrachteten die Sozialistische Partei (S.F.I.O.) und die Kommunistische Partei Frankreichs als ihre Parteien. In dieser Situation empfahl Trotzki den französischen Trotzkist:innen, der Sozialistischen Partei beizutreten und dort Anhänger:innen für den Trotzkismus zu werben. Es ist die Phase, in der Trotzki und seine Anhänger:innen zum Schluss kamen, dass eine Vierte Internationale gegründet werden müsse, doch die realen Möglichkeiten dazu fehlten ihnen. Trotzki spekulierte daher, ob eine Vierte Internationale aus den Reihen der Zweiten Internationale gespalten werden könne, oder ob ihm sowohl aus der Zweiten wie aus der Dritten Internationale Anhänger:innen zuströmen könnten.

Schlussendlich kam er aber zum Schluss, dass die Trotzkist:innen in Frankreich viel zu schwach und einflusslos sind, um einen eigenen Anziehungspunkt zu bilden:

Wer sagt: Zweite wie Dritte Internationale sind erledigt, die Zukunft gehört der Vierten Internationale, der spricht einen Gedanken aus, dessen Richtigkeit die heutige Lage in Frankreich erneut bestätigt. Aber dieser richtige Gedanke an sich sagt uns noch nicht, wie, unter welchen Umständen und in welcher Zeit die Vierte Internationale geschaffen werden wird. Sie kann – theoretisch ist das nicht ausgeschlossen – aus der Vereinigung der Zweiten und der Dritten entstehen, vermittels einer Umgruppierung der Elemente und der fortgesetzten Säuberung und Stählung der Reihen im Feuer des Kampfes. Sie kann entstehen durch die Radikalisierung des proletarischen Kerns der sozialistischen Partei und durch den Verfall der stalinistischen Organisation. Sie kann Zustandekommen im Verlauf des Kampfes gegen den Faschismus und des Sieges über ihn. Aber sie kann auch sehr viel später entstehen, in mehreren Jahren, aus den von Faschismus und Krieg aufgetürmten Trümmern und Ruinen. […]

Selbstverständlich, wäre in Frankreich eine starke Organisation der Bolschewiki-Leninisten72 vorhanden, so könnte und müsste sie in den heutigen Verhältnissen zur selbständigen Kristallisationsachse der proletarischen Vorhut werden. Doch die Liga vermochte zu so einer Organisation nicht zu werden. […] Aber kann damit gerechnet werden, dass die Liga als Organisation imstande sein werde, in der Zeitspanne, die ihr vor den Entscheidungskämpfen noch bleibt, in der Arbeiterbewegung eine einflussreiche, wenn nicht die leitende Stellung einzunehmen? Heute diese Frage bejahend beantworten hieße entweder in den Gedanken diese Auseinandersetzung um einige Jahre verschieben, was der ganzen Lage widerspricht, oder einfach auf Wunder hoffen. Klar wie der Tag ist, dass der Sieg des Faschismus heißt: Zusammenbruch sämtlicher Arbeiterorganisationen. Ein neues Geschichtskapitel würde beginnen, in dem die Ideen der Bolschewiki-Leninisten sich eine neue organisatorische Form zu suchen hätten. Die Aufgabe von heute muss konkret und in ihrem unlösbaren Zusammenhang mit dem Charakter der Periode, in der wir leben, formuliert werden: wie ist mit den größtmöglichen Chancen der Sieg des Faschismus zu verhindern bei den vorhandenen Gruppierungen des Proletariats und bei dem gegebenen Kräfteverhältnis zwischen diesen Gruppierungen? Im Besonderen: welchen Platz soll die Liga, die kleine Organisation, die auf eine selbstständige Rolle in dem sich anbahnenden Kampfe keinen Anspruch erheben kann, aber mit einer richtigen Doktrin und einer kostbaren politischen Erfahrung ausgerüstet ist, – welchen Platz soll sie einnehmen, um die Einheitsfront mit revolutionärem Inhalt zu befruchten? Diese Frage klar stellen heißt sie im Wesen schon beantworten. Die Liga muss unverzüglich ihren Platz innerhalb der Einheitsfront suchen, um aktiv an der revolutionären Umgruppierung und Zusammenfassung von deren Kräften mitzuwirken. Dahin kann sie bei den gegebenen Verhältnissen nicht anders kommen als durch den Eintritt, in die Sozialistische Partei.“ 73

Das lange Trotzki-Zitat drückt die Lage, in der Trotzki zu diesem Schluss kam, hinlänglich aus. Die Taktik des Entrismus war von Anfang an ein verzweifelter Versuch, möglichst schnell Einfluss in der Arbeiter:innenklasse zu gewinnen. Die Idee, in der Kommunistischen Partei Entrismus zu betreiben, verwarf Trotzki im Übrigen ausdrücklich mit Verweis darauf, dass der Zentrismus der Stalinisten“ ein „ungemein stabiles politisches System“74 darstelle.

Diese Entwicklung wurde weltweit in der trotzkistischen Bewegung diskutiert. Isaac Deutscher beschreibt diesen Prozess:

Das war der Entrismus, alle trotzkistischen Gruppen diskutierten in den Jahren 1934/35 darüber und letztlich riet Trotzki in fast allen Ländern zu einem ähnlichen Vorgehen, d.h. als eigene, abgegrenzte Gruppe den Sozialdemokratischen Parteien beizutreten. Implizit erkannte er auf diese Art an, dass sein bisheriger Entwurf für eine neue Internationale unrealistisch war. Der Entrismus war der verzweifelte Versuch, diese Idee zu retten.“ 75

Schon in seiner geschichtlichen Form brachte der Entrismus aber selten die eigentlich beabsichtigten Ergebnisse. In Frankreich – seinem Geburtsland – führte diese Politik gleich zu mehreren Spaltungen in den ohnehin kleinen trotzkistischen Kreisen. Eine Führungsfigur des frühen Trotzkismus weigerte sich, die Politik des Entrismus mitzutragen, eine weitere spaltete sich mitsamt ihrer Anhänger zwei Jahre später, als man beschlossen hatte, nun mit den neu gesammelten Anhänger:innen die S.F.I.O. wieder zu verlassen. Im Ergebnis gelang die Spaltung mit neu gewonnenen Kräften kaum, lediglich etwa 600 Personen verließen die S.F.I.O., um eine eigene trotzkistische Organisation in Frankreich zu bilden. In den USA gelang es den Trotzkist:innen mit diesem Vorgehen einen gewissen Einfluss in der sozialdemokratischen Jugend zu erlangen, deren Masseneinfluss aber bei weitem nicht mit dem der europäischen Sozialdemokratischen Parteien zu vergleichen war.

Entrismus heute

Aus dem verzweifelten Versuch des gefallenen Revolutionärs Trotzki, sich irgendwie wenigstens begrenzten politischen Einfluss zu sichern ist aber der Entrismus, wo er heute noch praktiziert wird, zu einem prägenden Element trotzkistischer Politik geworden.

In Deutschland ist das bedeutendste Betätigungsfeld des trotzkistischen Entrismus die Linkspartei sowie ihre Jugendorganisationen Linksjugend Solid und der SDS. Heute nicht mehr von größerer Bedeutung sind einige trotzkistischen Splittergruppen, die am Entrismus in der SPD festhalten.

Innerhalb der Linkspartei und ihrer Jugendstrukturen ist dabei das Verhältnis zwischen den Trotzkist:innen enorm angespannt. Das trifft nicht nur zu, weil sie trotz eines gemeinsamen Lehrmeisters politische Widersprüche und Streitigkeiten entwickelt haben, sondern auch weil sie objektiv um die gleiche, begrenzte Zielgruppe konkurrieren, nämlich die Teile der Linkspartei-Basis, die offen für das trotzkistische Gedankengebäude sind.

Das Vorgehen der Trotzkist-:innen ist dabei durchaus kein reiner Parasitismus. Wenn man in der Sphäre der Biologie bleiben will, wäre wohl die Bezeichnung Symbiose angebrachter. Während die seit Jahrzehnten von Krisen geschüttelten sozialdemokratischen Strukturen das wichtigste Rekrutierungsfeld für die Trotzkist:innen darstellen, beleben und verjüngen die Trotzkist:innen mit einem für ihre Verhältnisse beträchtlichen Personalaufwand diese Strukturen.

Während die Parteiführung in Siebenmeilenschritten nach rechts wandert und eine Sozialabbau-Regierungskoalition nach der anderen mitmacht, stellen sie durch ihre linke Rhetorik zudem ein linkes Feigenblatt des Reformismus dar. Es kommt heute durchaus vor, dass ganze Ortsgruppen der Linksjugend oder des SDS fest in den Händen dieser oder jenen trotzkistischen Organisation sind. Die beiden größten in Deutschland sind dabei SAV und Marx21. Mit Janine Wissler stellt Marx21 nun sogar eine der beiden Bundesvorsitzenden der Linkspartei.

Der Entrismus führt in der Praxis dazu, dass eine politische Strömung, die die Revolution und die Rätemacht (wenigstens manchmal) auf den Lippen führt, einen beachtlichen Teil ihrer Zeit dafür nutzt, als offen reformistische Organisation Politik zu machen. Mag sein, dass die Linkspartei ohnehin ein buntscheckiger Haufen ist, und man als Mitglied der Linksjugend mehr oder weniger erzählen kann, was man will. Aber alleine, indem sie die Fahnen, Symbole und Materialien dieser reformistischen Organisation auf die Straßen tragen, sind diese Trotzkist:innen mit aller Deutlichkeit auf die Seite des Reformismus übergegangen.

Trotzkistische Kritik am Entrismus

Wie oben erwähnt ist der Entrismus in der trotzkistischen Bewegung nicht unumstritten. Es gibt durchaus Kräfte, die mit der Auslegung von SAV und Marx21 nicht einverstanden sind. Beispielhaft sei hier die Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO) (besser bekannt durch ihre Zeitung „Klasse gegen Klasse“) im deutschsprachigen Raum angeführt. Auf ihrer Website findet sich ein Artikel mit dem Titel „Was ist Entrismus?“. Darin heißt es unter anderem:

Erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Führung der Vierten Internationale unter Michel Pablo, als Produkt ihrer zentristischen Degeneration, einen langfristigen „Entrismus sui generis“ (der besonderen Art) zu befürworten. Die TrotzkistInnen agierten als geheime Gruppe und verschmolzen mit den linken Flügeln der reformistischen Parteien, um längerfristig in diesen arbeiten zu dürfen. Diese Politik wurde von der gesamten Führung der Vierten Internationale getragen. Während die Strömung um Ernest Mandel sich ab 1968 von der Sozialdemokratie ablöste und sich stattdessen den StudentInnen- und Guerilla-Bewegungen anpasste, blieb etwa die Strömung um Ted Grant insgesamt 40 Jahre in den reformistischen Massenparteien, in der Hoffnung, diese irgendwann komplett übernehmen zu können. Zahlreiche andere Strömungen führten ebenfalls einen „tiefen“ Entrismus durch.

Deswegen steht die Entrismus-Politik von der SAV und von Marx21 in Gegensatz zum Entrismus, wie Trotzki ihn vorgeschlagen hat. Ihre Politik ist vielmehr ein Produkt des trotzkistischen Zentrismus nach dem Zweiten Weltkrieg.“ 76

Wie das Zitat zeigt, sind nicht alle Trotzkist:innen mit der extremen Anbiederung an die Sozialdemokratie einverstanden. Was das Zitat und der ganze Text, aus dem es entnommen ist, aber auch zeigt ist, dass ein klares Verständnis fehlt, was das Problem am Entrismus im oben genannten Sinne ist. Der Kern des Problems besteht in der Fixierung auf die sozialdemokratischen oder wahlweise andere Organisationen mit kommunistischem Anspruch als Quelle von neuen Kräften. Ist nicht vollkommen offensichtlich, dass SPD und die Linkspartei, selbst zusammengenommen, nur einen kleinen Teil der Arbeiter:innenklasse in ihren Reihen organisieren?

Trotzdem scheint es den Trotzkist:innen weiterhin wichtig zu sein, genau diese Segmente der Klasse anzusprechen, die ja entsprechend schon in größerem oder geringeren Maße in der sozialdemokratischen Ideologie erzogen wurden. Jüngstes Beispiel hierfür ist wohl die sogenannte „Revolutionäre Bruch“-Konferenz, die Anfang 2023 mit 150 Teilnehmer:innen in Berlin stattgefunden hat.77

Treibende Kraft dahinter waren offenbar die beiden trotzkistischen Organisationen Gruppe ArbeiterInnenmacht/Revolution und RIO/Klasse gegen Klasse. Auch wenn man sich nicht auf eine gemeinsame Abschlusserklärung einigen konnten, scheint der gemeinsame Gedanke der beteiligten Kräfte gewesen zu sein, man müsse aus der Krise der Linkspartei politisches Kapital schlagen und könne sie als Anlass nehmen, den Gründungsprozess einer neuen Partei einzuleiten. Offenbar als Versuch, die Taktik des historischen Entrismus anzuwenden, wurde dieser Schritt damit flankiert, dass eine Reihe von trotzkistischen Linkspartei- und Linksjugendmitgliedern sich solidarisch mit diesem Ziel erklärten und demonstrativ austraten.

Da von der Initiative seither wenig mehr zu hören war, kann wohl getrost in Frage gestellt werden, ob der „Bruch“ mit der Sozialdemokratie gelungen ist. Einen Bruch – oder gar einen revolutionären Bruch – mit dem Kernproblem des Entrismus stellt diese Kampagne aber sicherlich nicht dar. Ganz im Gegenteil, dieses Kernproblem wird auf anderem Niveau reproduziert: Spekulation auf schnelle organisatorische Erfolge bei „geschickter Ausnutzung“ der notwendigen krisenhaften Entwicklung der Sozialdemokratie. Trotzkis historische Orientierung auf die Basis der sozialdemokratischen Parteien in den 30er Jahren ist ein dogmatischer Ballast an den Beinen seiner heutigen Schüler:innen, in welcher Form er auch auftreten mag. Ob sie es sich bewusst machen oder nicht, die Trotzkist:innen scheinen noch immer zu hoffen, dass aus den vollkommen auf die Seite der Konterrevolution übergangenen politischen Kadavern und Zombies der II. Internationalen die Vierte (oder Fünfte) Internationale hervorgehen möge, genau wie es sich ihr Gründungsvater erträumt hatte.

Es ist wahr, dass es immer auch in der Sozialdemokratie Menschen geben wird, die ehrlich für eine Welt ohne Unterdrückung und Ausbeutung kämpfen wollen und über diesen Weg schließlich in das Lager der Revolution gelangen. Wahr ist aber auch, dass die Menschen, aus denen eine revolutionäre Arbeiter:innenbewegung und eine leninistische Kommunistische Partei entstehen muss, heute bedeutend breiter in der Gesellschaft verstreut sind als die Basis der zerfallenden Sozialdemokratie und ihrer Gewerkschaften.

Trotzkismus nach Trotzkis Tod

Die Entwicklung des Trotzkismus nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird durch vier hauptsächliche, miteinander in Verbindung stehende Merkmale gekennzeichnet.

Erstens ist hier die starke Neigung zur Rechtsentwicklung praktisch aller trotzkistischen Strömungen zu nennen. Besondere Höhepunkte stellen hierbei die geläufigen Auslegungen der „Taktik der Übergangsforderungen“ und des „Entrismus“ dar.

Zweitens eine ausgeprägte Tendenz zur Verknöcherung und zum dogmatischen Umgang mit Trotzkis theoretischem Erbe, die, was beim gescheiterten Revolutionär Trotzki „nur“ politisch falsch war, in eine politische Tragikkomödie verwandeln.

Drittens die von vielen Trotzkist:innen selbstironisch kommentierte Vorliebe für Spaltungen unter den Trotzkist:innen.

Viertens das Schielen auf quantitativ und qualitativ weiter entwickelte politische Kräfte, denen man immer wieder das Potenzial zuschreibt, den Zielen des Trotzkismus doch noch zur Verwirklichung zu verhelfen. Eine logische Ergänzung dazu ist oftmals das Aufgeben ernsthafter Versuche, eine eigene Organisation mit Masseneinfluss zu werden.

Nach Trotzkis Tod: Die IV. Internationale ist orientierungslos

Nachdem Trotzki von einem NKWD-Agenten getötet wurde und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs standen die Überreste der IV. Internationale vor einer unangenehmen Situation. Politisch waren sie vermutlich noch einflussloser als zuvor, insbesondere im Verhältnis zur KPdSU, zur KPCh und den führenden kommunistischen Parteien der Volksdemokratien.

Zugleich hatte ihnen ihr Vordenker Trotzki gerade in den letzten Jahren seines Lebens ein gewaltiges Heilsversprechen hinterlassen. Der trotzkistische Theoretiker Tony Cliff stellt rückblickend vier zentrale Entwicklungen dar, auf deren Eintreten die Trotzkist:innen entsprechend der Prognosen im Übergangsprogramm und anderen Texten aus dieser Zeit warteten:78

  • Das „stalinistische Regime“ könne den 2. Weltkrieg nicht überleben.
  • Die wirtschaftlichen Verwerfungen seien das Todesröcheln des Kapitalismus. Es gäbe daher keine Möglichkeit mehr von sozialstaatlichen Reformen und Zugeständnissen an die Arbeiter:innenklasse.
  • Nur noch „proletarische Revolutionen“ (geführt von trotzkistischen Parteien) könnten die Aufgaben der demokratischen Revolution in abhängigen Ländern erfüllen.
  • Aufgrund des Scheiterns von „Stalinismus“ und klassischem Reformismus öffne sich ein großer Platz in der politischen Arena für den Trotzkismus.

Keine dieser Prognosen trat ein. Die KPdSU war mit einem enormen Prestigegewinn aus dem Krieg hervorgegangen. Auf den Krieg folgte in vielen imperialistischen Ländern ein relativ lang anhaltender wirtschaftlicher Aufschwung und es kamen in einigen Ländern sozialdemokratische Regierungen an die Macht. Das sozialistische Lager war nach dem 2. Weltkrieg enorm angewachsen und in einer Vielzahl von Ländern waren Aufgaben der demokratischen Revolution gelöst worden, vor allem verkündeten viele dieser Länder, sich an den Aufbau des Sozialismus wagen zu wollen. Am deutlichsten aber scheiterte die vierte Prognose, der Trotzkismus müsse an Einfluss gewinnen. In einem Text hatte Trotzki sogar vorhergesagt, dass zum hundertsten Jahrestag des Kommunistischen Manifests – also 1948 – die IV. Internationale zur „entscheidenden revolutionären Kraft auf der Welt“ geworden sein werde.

Der deutsche Trotzkist Manuel Kellner, der 2004 in der Reihe theorie.org die Möglichkeit bekam, seine eigene Denkschule vorzustellen, fasst die damalige Stimmung wohl sehr treffend zusammen: „Die Endzeitstimmung, die in den ersten Zeilen des Übergangsprogramms zum Ausdruck kommt, passt gut zum kommenden Zweiten Weltkrieg, in dem die genannten Krisenmomente explodieren. Was aber, wenn dieses „verfaulende“ kapitalistische System mehr oder weniger heil aus diesem Weltkrieg heraus und gar zu einer lang andauernden expansiven Periode kommt? Das überstieg den Horizont der Gründer der IV. Internationale.“ 79

Auch der organisatorische Zustand von Trotzkis „Weltpartei“ war ernüchternd. Im Frühjahr 1946 fand eine erste internationale Konferenz mit Vertreter:innen aus zwölf Ländern statt, die feststellte, dass die IV. Internationale aus einigen Propandazirkeln bestand, die zu „Massenparteien“ ausgebaut werden müssten.80

Hierbei muss betont werden, dass die IV. Internationale in der damaligen Form zwar sicherlich der bedeutendste internationale Zusammenschluss der Trotzkist:innen war, aber schon zu diesem Zeitpunkt bei weitem nicht mehr den Trotzkismus als Ganzes repräsentierte. Die zahllosen Spaltungen des Trotzkismus hatten schließlich schon zu Trotzkis Lebzeiten eingesetzt, unter anderem im Hinblick auf die Auslegung der Taktik des Entrismus (beispielsweise in Frankreich, siehe oben).

Auch die POUM in Spanien ging aus dieser Auseinandersetzung hervor. Weil sie den Entrismus in der sozialdemokratischen PSOE ablehnten, gründete ein Teil der spanischen Trotzkist:innen diese neue Partei als Sammlungsversuch marxistischer Intellektueller gemeinsam mit Anhänger:innen der rechten Opposition in der Sowjetunion um Bucharin.

Auch in den USA kam es bereits 1940 zu einer größeren Spaltung, als etwa 40 Prozent der dortigen Mitglieder der IV. Internationale ihre Sektion verließen, weil sie die Analyse der Sowjetunion als degenerierten Arbeiterstaat ablehnten.

Wesentliche Auseinandersetzungspunkte im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg waren der Entrismus, die Frage, ob die kapitalistische Wirtschaft sich erholen könne sowie die Frage der Einschätzung der Sowjetunion und anderer Länder mit kommunistischen Parteien an der Macht.

Die Mehrheit der Trotzkist:innen übertrug dabei schließlich die Theorie der „bürokratisch degenerierten Arbeiterstaaten“ auf den Rest des sozialistischen Lagers. Eine Minderheit um Tony Cliff81 erklärte all diese Staaten hingegen relativ früh für „staatskapitalistisch“ und widersprach dabei auch ausdrücklich den Ausführungen Trotzkis.

Zwischen 1953 und 1963 schloss sich eine Phase an, in der die IV. Internationale gespalten war und sich zwei internationale Führungsgremien bildeten. Zentral in dieser Auseinandersetzung war die Anwendung der Taktik des Entrismus. Michel Pablo82 (1911 – 1996) kam 1951 zu dem Schluss, dass die kommunistischen und sozialdemokratischen Parteien die einzige Chance darstellen würden, die Arbeiter:innenklasse vor den Angriffen des Imperialismus zu verteidigen. Sein Schluss hieraus wurde als Entrismus sui generis (etwa: Entrismus der besonderen Art) bekannt. Er schlug ein dauerhaftes Eintreten der trotzkistischen Sektionen in die bestehenden Parteien vor, auch wenn dies bedeuten würde, das Ziel einer eigenen trotzkistischen Organisation aufzugeben. Um diese Politik durchzusetzen wurden auch einzelne Sektionen der IV. Internationale wie zum Beispiel in Frankreich mehrheitlich ausgeschlossen und eine Minderheit eingesetzt, die der Politik Pablos zu folgen gewillt war.

Anbiederung an den Titoismus und den Guevarismus

Ebenfalls in diesen Zeitraum fällt eine bemerkenswerte Entwicklung im Anschluss an den Bruch zwischen den Titoist:innen und der kommunistischen Weltbewegung. Die Kommunistische Partei Jugoslawiens wurde damals für chauvinistische Haltungen gegenüber Albanien, das es in das jugoslawische Staatsgebiet integrieren wollte, eine Offenheit für Kapitalinvestitionen aus dem imperialistischen Westen und nicht zuletzt für das revisionistische Konzept der Arbeiterselbstverwaltung kritisiert, das eine Art frühe Vorform der Wiederherstellung neuer Ausbeutungsverhältnisse darstellte, wie es sich später auch in der Sowjetunion vollziehen sollte.

Hier eine Schilderung aus trotzkistischer Sicht, wie die Trotzkist:innen hierauf reagierten: „Die ,Titoisten‘ wurden aus der offiziellen kommunistischen Weltbewegung nach ganz ähnlichem Muster ausgegrenzt wie zuvor die Trotzkisten. Die Trotzkisten selbst reagierten darauf mit einer Kampagne zur Verteidigung der Titoisten gegen diese Angriffe und zur Verteidigung der jugoslawischen Revolution. In einer Reihe von Ländern, in denen sie mehr oder weniger handlungsfähige Gruppen hatten, organisierten die Trotzkisten entsprechende Aufklärungs- und Solidarisierungskampagnen. Sie bemühten sich auch um praktische Solidarität als Antwort darauf, dass Jugoslawien nicht mehr auf die materielle Unterstützung der Sowjetunion rechnen konnte. Sie ergriffen die Initiative zur Schaffung von Jugendbrigaden, die nach Jugoslawien gingen, um sich vor Ort über die Lage zu unterrichten, Unterstützungsarbeit zu leisten und Straßen zu bauen.“ 83

Unter anderem die deutsche Abteilung der IV. Internationale nahm die damalige Situation zum Anlass, um sich das Ziel einer Sammlungsorganisation verschiedener „Linker“ außerhalb der KPD und der SPD zu setzen. Dies geschah im Bewusstsein, dass eine solche Organisation von Anfang an keine klare Orientierung auf den Sozialismus und schon gar nicht auf den „Sozialismus trotzkistischer Lesart“ haben würde. Die Organisation galt den Internationalistischen Kommunisten Deutschlands (IKD) aber als Vorstufe zu einer echten trotzkistischen Massenorganisation. Wir sehen hier ein Politikmuster, das sich noch vielfach in den kommenden Jahrzehnten und bis heute wiederholen wird, aber doch fruchtlos geblieben ist.

Diese Orientierung wurde wohlgemerkt von der Internationalen Führung der IV. Internationale vorgegeben: „Die Situation in der Westlichen Besatzungszone erlaubt lediglich bestimmte Formen halblegaler Aktivitäten, wie die Fraktionsarbeit in Arbeiterparteien und -jugendorganisationen, den Aufbau organisierter linker Flügel in den Gewerkschaften, die Organisation von Diskussionsgruppen auf relativ breiter politischer Basis und das Eindringen in die zentristischen Organisationen. All diese Möglichkeiten müssen gründlich untersucht und vielfältig angewendet werden.“ 84

Wirklichkeit wurden diese Pläne mit der Gründung der Unabhängigen Arbeiterpartei Deutschlands (UAPD) im Juli 1950, die schnell auch finanziell aus dem titoistischen Belgrad unterstützt wurde. Doch die finanzielle Unterstützung aus Jugoslawien versiegte bald. Es gelang von Anfang an nicht, einen nennenswerten Teil der SPD- und KPD-Basis abzuspalten. Die Trotzkist:innen in der UAPD wurden zusätzlich noch vor dem offiziellen Ende der Organisation 1951 ausgeschlossen.85

Die Hoffnung der Trotzkist:-innen, im Windschatten einer „echten Revolution“ wieder zu Einflussmöglichkeiten und Bedeutung zu gelangen, wiederholten sich gute zehn Jahre später erneut im Angesicht der kubanischen Revolution: „Der VII. Weltkongress von 1963 sprach insbesondere die Hoffnung aus, mit der neuen guevaristisch-castristischen Führung könnten sich neue Möglichkeiten des Aufbaus einer breiten revolutionären Strömung ergeben, die auch ein Abgleiten nach „rechts“ wie im Falle des Titoismus unwahrscheinlicher machen würde.“ 86

1963 gelang es auf einem gemeinsamen Kongress, einen gewissen Teil der vorher gespaltenen IV. Internationale wieder zu vereinigen. Es waren aber vergleichsweise große trotzkistische Organisationen und Strömungen, die diese Wiedervereinigung nicht mitvollzogen. So verließ der Vorsitzende des Lateinamerika-Büros, der Argentinier Juan Posadas (1912 – 1981) im Jahr 1962 die IV. Internationale, um sich in seinen späteren Lebensjahren der UFO-Forschung zuzuwenden.

Ähnlich verhielten sich Pierre Lambert (1920 – 2008) (Frankreich) und Gerry Healy (1913 – 1989) (Großbritannien), auch wenn diese wenigstens als Urväter für trotzkistische Splittergruppen gelten können, die bis heute bestehen.

Die 68er als Hoffnungsschimmer des Trotzkismus

Auch der Trotzkismus blieb vom durch das Jahr 1968 eingeläuteten zwischenzeitlichen Aufschwung fortschrittlicher bis revolutionärer Organisationen und politischer Strömungen nicht unberührt. Gerade in den Zentren des europäischen Imperialismus nahmen nun die Studierendenbewegung und ihre Ausläufer für die Trotzkist:innen die Rolle einer neuen politischen Kraft ein, auf die sie ihre Hoffnungen projizieren konnten.

Erneut setzte sich in der IV. Internationale die Orientierung darauf durch, sich mit den „neuen Avantgarden“ der Arbeiter:innenklasse zu verschmelzen. In Kellners Worten: „Die Mehrheit, weniger ,orthodox‘ und lehrbuchtreu als die Minderheit, dämpfte ihre selbstkritische Bilanz des bewaffneten Kampfs in Lateinamerika und vertrat insbesondere für Europa die Perspektive eines Durchbruchs: Aufsteigende Klassenkämpfe, bis sich in wenigen Jahren die Machtfrage stellt, Aufbau schlagkräftiger revolutionärer Vorhutparteien durch Verschmelzung mit den neuen Avantgarden in entsprechend kurzer Frist.“ 87

In dieser Phase entstand folgerichtig ein größeres Selbstvertrauen der Trotzkist:innen und viele Organisationen wagten sich aus dem Schatten des Entrismus sui generis und setzen die Arbeit als eigenständige Organisation auf die Tagesordnung. Kellner gibt an, dass sich infolgedessen innerhalb weniger Jahre die Mitgliederzahl der IV. Internationalen verzehnfacht hätten. Er schätzt allerdings auch ein, dass ein wesentlicher Faktor dabei die Anziehungskraft einer in Aussicht gestellten baldigen Weltrevolution für die radikalisierten Studierenden gewesen sein dürfte.88

Nach dem Höhepunkt der 68er-Bewegung trat auch im Trotzkismus die Frage auf, wie man sich neu orientieren könne. Zwar hatte diese Phase zu einem quantitativen Wachstum vieler trotzkistischer Organisationen geführt, aber sie hatte auch zusätzliche Spaltungen mit sich gebracht und die Zahl politischer Organisationen verschiedenster Strömungen insgesamt erhöht. Längst war die sogenannte „IV. Internationale“ nicht mehr die bedeutendste Kraft des Trotzkismus.

Als Nachtrag zu den enttäuschten Hoffnungen in die von der Kulturrevolution und dem Vietnamkrieg befeuerten Studierendenrevolten beschloss die IV. Internationale – Vereinigtes Sekretariat89 bei ihrem XII. Weltkongress im Januar 1985 die Vereinigung mit anderen „revolutionär-sozialistisch orientierten Kräften“.90

Dieses Ziel wurde wenig später unter anderem in Deutschland in die Tat umgesetzt. Die Gruppe Internationaler Marxisten (GIM, Teil der IV. Internationale) betrieb hier die Vereinigung mit der KPD (ehemals KPD/ML). Betrachtet man heute die Dokumente dieses Vereinigungsprozesses zur Vereinigten Sozialistischen Partei (VSP) erscheint es überaus offensichtlich, dass diese Vereinigung zum Scheitern verurteilt war, beziehungsweise faktisch von Anfang an den Charakter trug, dass die KPD von ihrer damaligen Führung91 mit Vollgas in den Trotzkismus geführt wurde.

So legten die Gründungsdokumente der vereinigten Partei unter anderem fest, dass offene Fragen wie zum Charakter der Sowjetunion und anderer nominell sozialistischer Staaten noch geklärt werden müssten. Dem zuvor von der GIM festgelegten Wunsch, dass Fraktionen explizit gestattet werden müssten, wurde insofern entsprochen, dass hierzu im neuen Statut einfach gar nichts festgelegt wurde und zu guter Letzt wurde für die Trotzkist:innen der GIM das Recht festgehalten, weiterhin „individuell“ Teil der IV. Internationalen zu bleiben, aber sich auch als Mitglieder der IV. Internationalen regelmäßig zu treffen.92

Diese Episode zeigt einerseits eindrücklich, wozu die für trotzkistische Politik scheinbar charakteristische Neigung, immer wieder neue Sammelbewegungen oder Einheitsinitiativen vom Zaun zu brechen, führt. Nicht nur erfüllen sich die Hoffnungen der Trotzkist:innen, es so endlich zu etwas mehr „Masseneinfluss“ zu bringen nicht, sondern die in derartige Projekte investierten Kräfte werden ebenfalls verschwendet und verwüstet. Das gilt aber nicht nur für die trotzkistischen Organisationen und Kräfte, sondern auch für ihre ausgewählten „Projekte“. Diese Zersetzung anderer politischen Parteien und Organisationen durch den trotzkistischen Entrismus ist die materielle Ursache für die Einschätzung des Trotzkismus als zersetzende Kraft, die nicht nur von uns Marxisten-Leninist:innen, sondern auch in anderen politischen Strömungen geteilt wird.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die jüngere Vergangenheit

Kellner schildert zwar in seinem Buch über den Trotzkismus, dass die von Gorbatschow in der Sowjetunion eingeleiteten Reformen und die Solidarnosc-Bewegung in Polen als ihr Vorbote erneut eine gewisse hoffnungsvolle Stimmung unter einem Teil der Trotzkist:innen auslösten. Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das „offizielle Ende“ des Sozialismus in Osteuropa ein Problem für die Trotzkist:innen darstellte, immerhin war dies auch für sie ein zentraler, wenn auch negativer Bezugspunkt.93

Mit der Vollendung der kapitalistischen Restauration war überdies eine zentrale theoretische Annahme Trotzkis durch die Praxis widerlegt worden, nämlich, dass die „Bürokratie“ in diesen Ländern nur entweder durch die Arbeiter:innenklasse oder durch die alte Kapitalist:innenklasse gestürzt werden könne. Andererseits hatte die trotzkistische Bewegung selbst für ihre eigenen bescheidenen Verhältnisse nie eine bedeutende Verankerung in den revisionistischen Staaten gehabt. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass es den Kernen verbliebener trotzkistischer Organisationen recht schnell gelang, sich der neuen Lage „anzupassen“.

Das Aufkommen der Antiglobalisierungsbewegung mit der Gründung von Organisationen wie Attac stellte auch in Deutschland eine Gelegenheit für eine Reihe von Trotzkist:innen dar, wieder eine politische Heimat zu finden. Aus jüngerer Vergangenheit lässt sich bemerken, dass die grundsätzlichen Probleme des Trotzkismus sowohl in Deutschland als auch international anhalten. Für eine gewisse Aufbruchstimmung hatte die offiziell 2009 in Frankreich gegründete Nouveau Parti anticapitaliste (NPA) gesorgt. Führend in dieser Sammelbewegung war die für trotzkistische Verhältnisse recht große Ligue communiste révolutionnaire (LCR), eine der beiden größten französischen trotzkistischen Organisationen. Der weitere Gang der Entwicklung war dann allerdings erneut ein gutes Beispiel für die Unfähigkeit der Trotzkist:innen, die zwischen ihnen bestehenden Unterschiede auch nur so gut zuzukleistern, dass sie es in einer Organisation aushalten. Das Projekt begann nach eigenen Angaben mit über 9.000 Mitgliedern und hatte sich 2015 auf gut 2.000 Mitglieder „heruntergespalten“. Dabei trat fast jedes Jahr eine größere Fraktion oder Gruppierung aus dem Sammlungsprojekt aus.

Die Neue antikapitalistische Organisation (NaO-Prozess) in Deutschland und insbesondere in Berlin orientierte sich ganz offensichtlich an diesem Vorbild. Sie gelangte aber gar nicht erst bis zur Gründung einer gemeinsamen Organisation, bevor das Projekt 2016 für beendet erklärt wurde. Stärker noch als beim französischen Vorbild scheint es sich stark um eine Verzweiflungstat von Kleinstorganisationen und Einzelpersonen gehandelt zu haben, um irgendwie eine überlebensfähige Organisation hinzukriegen.

Jedenfalls ist der offiziell strömungsunabhängige Einigungsprozess schnell zu einer Diskussion zwischen der Gruppe ArbeiterInnenmacht, der isl, dem RSB und einigen noch kleineren trotzkistischen Zirkeln geworden. Er scheiterte nach den im Kern übereinstimmenden Auswertungen verschiedener Teilnehmer:innen letztlich daran, dass die Gruppe ArbeiterInnenmacht samt ihrer Jugendorganisation mit mehr Ernsthaftigkeit und Disziplin an diesem Prozess teilnahm als die anderen, im Zweifelsfall aber auch nicht davor zurückschreckte, mit knappen Mehrheiten ihre Positionen durchzudrücken.94 Bemerkenswert ist, wie nüchtern das Scheitern hier von Seiten der Gruppe ArbeiterInnenmacht ausgewertet wird: „Dass die NaO wieder zerfallen ist, auch wenn wir, was für eine kleine kämpfende Propagandagruppe nicht unwichtig ist, einige Kader näher an uns ziehen konnten, spricht nicht gegen diese Taktik. Erstens ist die Gewinnung oder das Heranziehen von Kadern für eine kleine Gruppierung durchaus ein wichtiger Schritt vorwärts. Zweitens ist die Chance des Scheiterns bei jedem Umgruppierungsprozess größer als die seines Gelingens, wie auch die Erfahrung der trotzkistischen Bewegung in den 30er Jahren zeigt.“ 95

Offenbar ist man zufrieden damit, einige Einzelpersonen für die eigene Organisation zu gewinnen, mit einem Erfolg hatte man sowieso nicht unbedingt gerechnet. Dies unterstreicht unfreiwillig, aber eindrücklich, wie gewöhnt die Trotzkist:innen an erfolglose Einheitsversuche und Spaltungen sind. Das Gespenst einer neuen „antikapitalistischen Partei“ (unter trotzkistischer Vorherrschaft versteht sich) wird aber vermutlich auch in Deutschland präsent bleiben. Zumindest erscheinen in den letzten Jahren wieder vermehrt Aufrufe in der trotzkistischen Szene, die genau das zum Ziel ausgeben. Aber bisher wirken Initiativen wie die „Revolutionärer Bruch“-Konferenz noch viel weiter von diesem Ziel entfernt als seinerzeit der NaO-Prozess.

Eine andere aktuelle Begebenheit mit gewisser Bedeutung ist die Spaltung der SAV im Jahr 2019, bei der die in Deutschland neue trotzkistische „Sozialistische Organisation Solidarität“ (Sol) entstand. Der Ausgangspunkt dieser Spaltung lag in einem Konflikt der leitenden Gremien des ehemaligen internationalen Zusammenschlusses, zu dem die SAV gehörte. Die Diskussion entzündete sich dabei an der Praxis der irischen Sektion und drehte sich um die Frage, wie stark die Verbindung zu feministischen und anderen sozialen Bewegungen gesucht werden oder ob eine Orientierung auf Betriebs- und Gewerkschaftarbeit im Fokus stehen solle.

Wir hatten für diesen Artikel nicht das Ziel, unzählige Seiten Spaltungsdokumentation durchzuarbeiten und wollen gar keine inhaltliche Position zu dieser Spaltung beziehen. Von außen ist es schwierig zu beurteilen, ob es derartige Widersprüche schon vor der internationalen Diskussion in der SAV gab und wie tief sie waren. Aufgrund des Ablaufs liegt es aber nahe zu unterstellen, dass es ohne trotzkistische Fraktionen und ohne den traditionellen Anspruch trotzkistischer „Internationalen“, Widersprüche auch international auszutragen, nicht zu dieser Spaltung der SAV gekommen wäre.

Der Trotzkismus heute

Wie durch den kurzen geschichtlichen Abriss unterstrichen wurde, zeichnet sich der moderne Trotzkismus durch folgende vier miteinander zusammenhängenden Merkmale aus: Spaltertum, Dogmatismus, Reformismus und politischen Parasitismus.

Merkmale des Trotzkismus

Spaltertum

Für die besonders ausgeprägte Tendenz zu Spaltungen unter Trotzkist:innen gibt es zwei wesentliche Gründe. Erstens ist hier die Vorliebe für, ja die Verherrlichung des Fraktionismus durch die Trotzkist:innen zu nennen. In dieser Herangehensweise ist die Tendenz zur Spaltung bereits angelegt, wie oben beschrieben wurde. Dies fällt aber zusammen mit der Fetischisierung einer internationalen Organisation, auch wenn dies ganz und gar nicht dem Entwicklungsstand und den Möglichkeiten der einzelnen Mitgliedsorganisationen entspricht. Im Ergebnis kommt es immer wieder zu Spaltungen ganzer internationaler trotzkistischer Zusammenschlüsse an mehr oder weniger taktischen Fragen, die zunächst nur in einem einzelnen Land diskutiert worden waren.

Dogmatische Verknöcherung

Der Trotzkismus als politische Strömung ist seit seiner Entstehung in einer Dauerkrise gefangen. Seine ganze Geschichte ist vom Kampf gegen das vollkommene Verschwinden in der politischen Bedeutungslosigkeit geprägt. Eine richtige Lösung hierfür konnte nicht entwickelt werden. Aber die trotzkistischen Theoretiker:innen erwiesen sich als verhältnismäßig fleißige Schreiberlinge, die viele Seiten Papier und somit auch viele „gute Gründe“, sich zu zerstreiten, geschaffen haben. Ganz abgesehen davon, dass diese trotzkistischen Überlieferungen direkt in den Reformismus geführt haben, muss man die Frage stellen, ob sich dieses „Erbe“ wirklich positiv auf die Handlungsfähigkeit der Trotzkist:innen auswirkt oder es eher eine Art theoretischen Ballast darstellt.96

Reformismus

Seit einigen schnell gescheiterten Versuchen in den 70er-Jahren gibt es unseres Wissens nach keine ernsthaften Versuche trotzkistischer Organisationen mehr, die Frage des bewaffneten Kampfes anzugehen. Dies allein mag man den wenig entwickelten Klassenkämpfen in vielen Ländern der Welt zuordnen. Aber ihrer ganzen Organisationsstruktur nach sind alle uns bekannten trotzkistischen Organisationen in Europa nicht darauf ausgelegt, ernsthafte Repressionschläge zu überstehen. Die Taktiken des Entrismus und des Übergangsprogramms haben die Trotzkist:innen schnurrstracks in den Reformismus geführt. Sicherlich könnte man entgegnen, dass das „Überwintern“ so mancher Trotzkist:in vermutlich nur auf den relativ bequemen Posten von sozialdemokratischen Parteien oder Gewerkschaften möglich war. Unterm Strich sind diese Menschen aber eben selbst zu Sozialdemokrat:innen beziehungsweise Funktionär:innen der Gewerkschaft geworden. Das ursprüngliche Ziel dieser trotzkistischen Taktiken, einen schnellen Einflusszuwachs bis hin zur Gründung von trotzkistischen Massenparteien zu erreichen, konnte jedenfalls nirgendwo erfüllt werden.

Politischer Parasitismus

Auch wenn wir weiter oben eingeschränkt hatten, dass die Beziehung von Trotzkist:innen zu sozialdemokratischen Organisationen, in denen sie „Entrismus“ praktizieren, nicht als rein parasitär gekennzeichnet werden kann, bleibt auffällig, dass die trotzkistische Weltbewegung sich eigentlich nie – selbst zu Trotzkis Lebzeiten nicht – als eigenständig handlungsfähige politische Kraft betrachtet hat.

Wie wir dargestellt haben, ist die Geschichte des Trotzkismus in den letzten gut 80 Jahren davon geprägt, dass immer wieder neue, bestehende oder entstehende politische Subjekte als Leinwand für trotzkistische Wunschträume herhalten mussten. Im Ergebnis tendieren die Trotzkist:innen dazu, mit scheinbar erheblicher taktischer Flexibilität Einheitsinitiativen, dauerhafte Bündnisse oder „soziale Bewegungen“ loszutreten, um dann in diesen ihre politischen Positionen durchzusetzen und zu resignieren, wenn das nicht gelingt. In der Tradition ihres Vordenkers versuchen sie stets, aber bislang auch stets erfolglos, im Windschatten einer größeren und stärkeren politischen Kraft aus ihrer Krise herauszukommen.

In Deutschland schlägt sich diese Politik heute in der Regel in einer starken Fixierung auf die Linkspartei nieder; entweder in der Form des direkten Entrismus oder im Versuch, mit verschiedenen taktischen Manövern die „Basis“ gegen die Führung dieser Organisation aufzubringen. Gerade der Entrismus, mit dem ja auch Funktionärsfunktionen in Gewerkschaft und Sozialdemokratie einhergehen, dürfte zur relativen organisatorischen Stabilität des Trotzkismus beigetragen haben.

Die Faszination des Trotzkismus

Zwar gelingen dieser Strömung in Europa und insbesondere in Deutschland aus den gerade angeführten Gründen keine „großen Sprünge“, ganz von der Bildfläche verschwunden ist der Trotzkismus deshalb aber nicht. Er konnte immer wieder neue Generationen junger Aktivist:innen gewinnen und sich so trotz zahlloser Spaltungen organisatorisch reproduzieren. Woraus erklärt sich vor dem im vorherigen Abschnitt dargelegten Hintergrund das Überleben des Trotzkismus?

Der Trotzkismus erlaubt es, sich als Sozialist:in zu verstehen und sich zugleich von Stalin, Mao und der DDR abzugrenzen, also den hierzulande wichtigsten Verkörperungen antikommunistischer Vorstellungen vom Sozialismus. Zusätzlich ermöglicht er seinen Anhänger:innen unbeirrt an der Vorstellung von einem „menschlichen Sozialismus“ festzuhalten,97 der nach dem Sieg der Weltrevolution schnell zum Kommunismus übergeht. In der Vorstellung der Trotzkist:innen ist das ein Sozialismus, der sowohl ohne langwierige gewaltsame Auseinandersetzungen auskommt, wie auch ohne Unterdrückungsmaßnahmen und erst recht ohne heftigste Kämpfe innerhalb des sozialistischen Staates und der kommunistischen Partei.

An die Stelle dieser Kämpfe sollen ja in ihrer Vorstellung durch die Bildung von Fraktionen als Vorbedingung der innerparteilichen Demokratie ganz demokratische und friedliche Diskussionen treten. Kurz gesagt: Der trotzkistische Sozialismus ist eine Utopie und eine Utopie wird er bleiben, weil auch die organisatorischen und politischen Mittel des Trotzkismus nicht dazu geeignet sind, ihn zu erkämpfen.

Während den Bolschewiki um Stalin die historische Leistung gebührt, eine über Jahrzehnte isoliert gebliebene Revolution nicht nur zu verteidigen, sondern unter schwierigsten Bedingungen konkrete Schritte des sozialistischen Aufbaus zu gehen, gewinnt der Trotzkismus gerade Attraktivität, weil er die meisten dieser konkreten Schritte, insofern sie als „Umwege“ zum eigentlichen Ziel erscheinen, als „Verrat“ verurteilt: „Von den ‚befleckenden‘ kapitalistischen Umwegen, die Stalin immer wieder als Atempause für die spätere Offensive bezeichnete, konnte Trotzki seine Hände rein halten.“ 98

Nicht zuletzt bietet der Trotzkismus aufgrund seiner besonderen geschichtlichen Ausprägung – zumindest in Deutschland und Europa – die Möglichkeit, das „moralisch Richtige“, nämlich den Sozialismus zu vertreten, sich dabei aber nicht den harten Realitäten und Erfordernissen des revolutionären Klassenkriegs zu stellen.

Die heutige Rolle des Trotzkismus in Deutschland

Was zeichnet nun den Trotzkismus heute in Deutschland aus? Auch wenn insbesondere einige trotzkistische Jugendorganisationen durchaus bemüht sind, aktuelle politische Themen zu behandeln, ist die trotzkistische Ideologie als Ganze vor allem durch Dogmatismus und Verknöcherung gekennzeichnet. Die dogmatische Weiterführung von Trotzkis Lehren bedeutet für einen Teil seiner Bewegung offenen Reformismus.

Andere schwanken zwischen revolutionärer Rhetorik und einer Praxis, die vor den konkreten Bedürfnissen der Revolution zurückschreckt. Ihnen muss dann konsequenterweise die Arbeit von Organisationen, die schon heute – unter bürgerlich-demokratischen Bedingungen – den Aufbau verdeckter Organisationsstrukturen für zwingend erforderlich halten, als linkes Abenteurertum erscheinen.99

Mit dem Marxismus-Leninismus ist der Trotzkismus daher grundsätzlich nicht zu vereinbaren. Dies wird nicht nur durch einen Blick – gerade in die deutsche – Geschichte unterstrichen, sondern springt auch ins Auge, wenn man sich die Unterschiede in Theorie und Praxis beider Strömungen vor Augen führt.

Da sowohl Arbeiter:innenbe-wegung als auch die kommunistische Bewegung in diesem Land extrem schwach entwickelt sind, ist auch der unlösbare Gegensatz zwischen Marxismus-Leninismus und Trotzkismus, der in der jeweiligen Ideologie angelegt ist, auch erst in Keimform erkennbar. Im Ergebnis bieten sich zumindest heute auf taktischer Ebene vergleichsweise viele Gelegenheiten zur konkreten Zusammenarbeit. Strategisch kann der Trotzkismus aber nicht den Weg zur sozialistischen Revolution finden.

Die Marxisten-Leninist:innen können und müssen aus der Geschichte lernen. Eine bestimmte Vorsicht ist gegenüber Trotzkist:innen stets geboten. Da deren eigenständige Lebensfähigkeit schwach ist, hat sich bei ihnen eine ausgeprägte Kultur des Abwerbens aus anderen Organisationen oder des gezielten Spaltens von Bündnissen und Organisationen ausgeprägt, wenn es dem Wachstum der eigenen Organisation zu dienen scheint. Auch ist es keineswegs ausgeschlossen, dass Trotzkist:innen in der Tradition des Entrismus versuchen werden, in kommunistische Organisationen einzudringen, dort ihre Identität zu verbergen und schließlich Kräfte um ihre Positionen zu sammeln.

Unsere Aufgaben im Kampf gegen den Trotzkismus

Die Tatsache, dass der Trotzkismus objektiv den Weg zur Revolution verstellt und daher ideologisch und politisch von Revolutionär:innen bekämpft werden muss, bedeutet nicht, dass einzelne Trotzkist:innen als bewusste Konterrevolutionäre, als moralische Nachfolger des Konterrevolutionärs Trotzki oder ähnliches zu behandeln sind. Viel mehr gehen wir davon aus, dass der Trotzkismus – nicht zuletzt wegen unserer eigenen Schwäche als Kommunist:innen – noch immer einen bestimmten Anziehungspunkt insbesondere für fortschrittliche Jugendliche und Intellektuelle darstellt.

Um einen erfolgreichen Kampf gegen den Trotzkismus führen zu können, stellen sich auch den Kommunist:innen in Deutschland noch zahlreiche Aufgaben. Dazu gehören heute unter anderem:

Es muss eine theoretische Arbeit geleistet werden, um gewisse Lücken in der marxistisch-leninistischen Theorie zu schließen. Hierzu gehört unter anderem eine tiefgreifende Analyse der Klassenkämpfe in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern, um auf dieser Grundlage den trotzkistischen Erklärungen für ihr Scheitern eine wissenschaftliche marxistische Analyse gegenüberstellen zu können.

Es gilt zahlreiche historische Streitfragen, die zwischen den Bolschewiki und den Trotzkist:innen standen, heute erneut zu klären. Dies betrifft insbesondere die revolutionäre Strategie, die Verbindung der Revolution in einem Land mit der Weltrevolution und das Bündnis mit unterdrückten Völkern sowie kleinbürgerlichen Schichten in der Bevölkerung. Ein simple Wiederholung der bolschewistischen Politik aus den 20er-Jahren reicht hier offensichtlich nicht aus.

Vor allem aber muss der Parteiaufbau zielgerichtet und unbeirrt vorangetrieben werden, um ganz praktisch die Korrektheit marxistisch-leninistischer Organisationsprinzipien und unserer Politik gegenüber den verschiedenen Varianten des Trotzkismus zu beweisen.

1Isaac Deutscher, „The Prophet Armed“, S. VI (Eigene Übersetzung)

2Trotzki, „Mein Leben“, Abschnitt: „Das Jahr der Wende“, www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1929/leben/index.htm

3Isaac Deutscher, „The Prophet Armed“, 1954, Oxford University Press, S.32 f.

4Ebd., S. 45 ff.

5Ebd., S. 62 ff.

6Erst nach der Oktoberrevolution nannte sich die Partei um und gab sich den heute bekannteren Namen KPdSU(B).

7Isaac Deutscher, „The Prophet Armed“, S. 80 ff.

8Ebd., S. 92 ff.

9Ebd, S. 93 (Eigene Übersetzung)

10Ebd., S. 107

11Ebd., S. 102 ff.

12Ebd., S. 117 f.

13Ebd., S. 126

14Ebd., S. 145

15Ebd., S. 155 ff.

16Ebd., S. 176 (Eigene Übersetzung)

17Ebd., S. 178 ff.

18Tony Cliff war ein aus Palästina stammender Trotzkist, der nach Trotzkis Tod eine zentrale Rolle bei der Entstehung der „International Marxist Tendency“ spielte.

19Tony Cliff, „Trotzky: Towards October 1879-1917“, Abschnitt: „10. Wasted Years 1906-1914“ (eigene Übersetzung), www.marxists.org/archive/cliff/works/1989/trotsky1/index.html

20Vgl. Tony Cliff, „Trotzky: Towards October 1879-1917“, Abschnitt: „11. The First World War“

21Revolutionärer Defätismus bezeichnet die am klarsten von den Bolschewiki formulierte Position, dass die Kommunist:innen und die Arbeiter:innenklasse der imperialistischen Länder im imperialistischen Krieg für die Niederlage ihrer eigenen Armee beziehungsweise für die Umwandlung des Krieges in einen Bürgerkrieg zur Machtergreifung arbeiten müssen.

22Besonders hervorzuheben ist hier ein Teil der Begründung dieser Positionierung Trotzkis, da diese rückblickend betrachtet wie eine Vorwegnahme seines späteren, erklärten Misstrauens in die Möglichkeiten der russischen Revolution wirkt, sich auch ohne die Hilfe technologisch entwickelterer Länder zu behaupten: „[…] eine Revolution, die aus einer Niederlage entsteht, erbt ein vom Krieg zutiefst zersetztes Wirtschaftsleben, erschöpfte Staatsfinanzen und extrem angespannte internationale Beziehungen. […] die militärische Katastrophe, da sie die ökonomischen und geistigen Ressourcen der Bevölkerung erschöpft, hinterlässt nur begrenzte Möglichkeiten, Empörung, Protest und revolutionäre Aktivität zu entfachen.“, zitiert nach: Tony Cliff, „Trotzky: Towards October 1879-1917“, Abschnitt: „11. The First World War“ (eigene Übersetzung)

23Vgl. Tony Cliff, „Trotzky, Towards October 1879-1917“, Abschnitt: „12. May and June 1917“

24In seinem Tagebuch liefert Georgi Dimitroff (1882 – 1949) mit einer von Stalin überlieferten rückblickenden Betrachtung eine zusätzliche Erklärung für diesen abschmelzenden Einfluss: „Die Hauptsache sind die mittleren Kader. Generäle können ohne ein gutes Offizierskorps nichts ausrichten. Warum haben wir uns gegen Trotzki und die anderen durchgesetzt? Trotzki war, wie wir wissen, nach Lenin der beliebteste Mann in unserem Land. Bucharin, Sinowjew, Rykow, Tomski waren alle beliebt. Wir waren damals wenig bekannt, ich selbst, Molotow, Woroschilow und Kalinin. Wir waren zu Lenins Zeiten Feldarbeiter, seine Kollegen. Aber die mittleren Kader unterstützten uns, erklärten den Massen unsere Positionen, während Trotzki diese Kader völlig ignorierte.“ Stalin, 7.11.1937, Zitiert nach: Banac, „The Diary of Georgi Dimitrov 1933 – 1949“, Yale University Press 2003, S. 66, (eigene Übersetzung)

25Lenin, „Der Historische Sinn des innerparteilichen Kampfes in Rußland“, LW 16, S. 398. Die Zeitung „Golos Sozialdemokrata“ war das damalige ideologische Zentrum der Strömung der Liquidatoren, die Zeitschrift „Wperjod“ vertrat die Position der Otsowisten. Beide Strömungen wurden von den Bolschewiki um Lenin bekämpft, weil sie die legale und illegale Arbeit nicht richtig verbanden.

26Lenin, „Reden über Krieg und Frieden“, LW 36, S. 458 f.

27So schreibt Trotzki in seinen Memoiren über die Auseinandersetzung bezüglich des polnisch-sowjetischen Krieges am Ende der Interventionskriege, als die Rote Armee die polnische Armee in Richtung Warschau zurückgeworfen hatte: „Jedenfalls entstand in Lenin der feste Plan: die Sache bis ans Ende durchzuführen, das heißt in Warschau einzumarschieren, um den polnischen Arbeitermassen zu helfen, die Regierung Pilsudskis zu stürzen und die Macht zu ergreifen. Der eben erst im Stadium der Erwägungen befindliche Entschluß der Regierung übertrug sich mühelos auf die Einbildungskraft des Oberkommandos und des Kommandos der Ostfront. Im Augenblick meines fälligen Eintreffens in Moskau fand ich im Zentrum eine sehr feste Stimmung zugunsten der Kriegführung ‚bis ans Ende‘. Ich widersetzte mich dem entschieden.“ (Trotzki, „Mein Leben“, Abschnitt: „Meinungsverschiedenheiten über Kriegsstrategie“). Auch in Lenins Werken finden sich keine Hinweise, die mit dieser Darstellung im direkten Widerspruch stehen. Lenin hatte aber zuvor versucht, einen Krieg gegen Polen zu verhindern.

28Lenin, „Reden über Krieg und Frieden“, ebd., S. 457

29Alexander v. Plato, „Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik: KPD und Komintern, Sozialdemokratie und Trotzkismus“, Oberbaumverlag Berlin 1973, S. 40

30Ebd., S. 50 ff.

31Kulake ist die allgemein übliche Bezeichnung für die Großbauern im zaristischen Russland.

32Leo Trotzki, „Mein Leben“, Abschnitt: „Die letzte Periode des Kampfes innerhalb der Partei 1929“

33Ebd.

34Alexander v. Plato, „Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik“, ebd., S. 129

35Leo Trotzki, „Ergebnisse und Perspektiven“, Abschnitt: „9. Europa und die Revolution“

36Vgl. beispielsweise Stalin, „Zu den Fragen des Leninismus“, Abschnitt: „VI Die Frage des Sieges des Sozialismus in einem Lande“, www.marxists.org/deutsch/referenz/stalin/1926/fragen/index.htm

37Isaac Deutscher, „The Prophet Armed“, S. 457 (Eigene Übersetzung)

38Lenin, „Siebenter Parteitag der KPR(B), Referat über Krieg und Frieden“, LW 27, S. 81

39Stalin, „Fragen des Leninismus“, SW 8, S. 54 ff.

40Leo Trotzki, „Die Permanente Revolution“, Abschnitt: „Was ist nun die Permanente Revolution?“, www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1929/permrev/index.htm

41Harry H. Haywood, „Black Bolshevik“, Liberator Press Chicago, Illinois 1978, S. 180

42Siehe dazu: „100 Jahre Hamburger Aufstand – Geschichtliche Mythen und revolutionäre Lehren“, Unterkapitel: ‚Was so alles zu einem Aufstand dazu gehört‘ und ’Heranreifen der revolutionären Situation, Vorbereitungen der KI und KPD und der Zeitpunkt des Aufstandes’ in diesem Heft.

43NKWD ist die Abkürzung für das Volkskommissariat für innere Angelegenheiten, das ab den 30er-Jahren zunehmend auch die Funktionen des sowjetischen Geheimdienstes übernahm und eine zentrale Rolle bei den „großen Säuberungen“ in den 30er-Jahren spielte.

44Isaac Deutscher, „Stalin – Eine politische Biografie“, Bechtermünz Verlag, 2. Auflage 1966, S. 324 ff. Auch wenn „Lenins Testament“ nie offiziell veröffentlicht wurde, gibt es wohl so einen Text. Aber er ist – wie auch Isaac Deutscher einräumen muss – so allgemein und vorsichtig formuliert, dass er die Anforderungen an ein politisches Testament als ausrichtendes Dokument nicht erfüllt und Anhaltspunkte für alle möglichen Sichtweisen und Interpretationen gibt.

45Leo Trotzki, „Arbeiterstaat, Thermidor und Bonapartismus, www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1935/02/index.htm

46Vgl. Alexander v. Plato, „Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik: KPD und Komintern, Sozialdemokratie und Trotzkismus“, Oberbaumverlag Berlin. 1973. S. 317 sowie die Ausführungen S. 62f

47Leo Trotzki, „Schriften. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur“, H. Dahmer u.a. (Hrsg.), Rasch und Röhring, Hamburg. Zitiert nach Domenico Losurdo: „Kritik einer Schwarzen Legende“, 2012 Papyrossa Verlag. S. 85

48Leo Trotzki, „Das Zwillingsgestirn Hitler-Stalin“, 1939, www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1939/12/zwilling.htm

49Hier sei nur kurz auf die zahlreichen erfolglosen Versuche, Bolschewiki und Menschewiki als Führungsfigur vergleichsweise kleiner, unabhängiger Zirkel zu vereinigen oder auf den gescheiterten Machtwechsel im Jahr 1927 verwiesen, die jeweils mit bitteren Enttäuschungen endeten.

50Domenico Losurdo, „Kritik einer Schwarzen Legende“, Papyrossa Verlag 2012, S. 106

51Inhaltlich ging es Trotzki damals um die Frage, welche Rolle die Gewerkschaften im Sozialismus zu spielen hätten. Trotzki plädierte damals dafür, die Gewerkschaften zu militarisieren und sie zu einem Teil des Staatsapparats zu machen, der vor allem die Aufgabe hätte, die Arbeiter:innen zu höheren Leistungen zu motivieren und die vorhandene Arbeitskraft zu mobilisieren. Lenin und die Mehrheit des Zentralkomitees vertraten demgegenüber einen anderen Kurs, bei dem sie betonten, dass die Gewerkschaften a) als Transmissionsriemen der kommunistischen Politik in breitere Teile der Arbeiter:innenklasse, aber b) auch zum Schutz der Arbeiter:innen vor gewissen „bürokratischen Auswüchsen“ des jungen Sowjetstaats notwendig wären.

52Vgl. Lenin, „X. Parteitag der KPR(B), Bericht über die politische Tätigkeit des ZK des KPR(B)“, LW 32, S. 176f.

53Lenin, „Noch einmal über die Gewerkschaften, die gegenwärtige Lage und die Fehler Trotzkis und Bucharins“, LW 32, S. 59 f

54Lenin, „X. Parteitag der KPR(B). Ursprünglicher Entwurf der Resolution des X. Parteitags der KPR über die Einheit der Partei“, LW 32, S. 245

55Statut der Sozialistischen Alternative in der Beschlussfassung der 20. Bundeskonferenz im Juni 2021. S. 8f.

56Manuel Kellner, „Trotzkismus“, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2004, S. 137

57Siehe auch: „Der Maoismus – Ein revolutionärer Bündnispartner – Was wir von ihm lernen können und was nicht“, Kommunismus 18, S. 4 ff.

58Leo Trotzki, „Verratene Revolution“, Abschnitt: „III. Sozialismus und Staat“, www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1936/verrev/index.htm

59Ebd., Abschnitt: „IV. Kampf um die Arbeitsproduktivität“

60Ziemlich gut wird diese Haltung zum Beispiel in einem Artikel der SAV mit dem Titel „Stalinismus: Ein Irrweg der Geschichte“ deutlich, darin heißt es unter anderem bezüglich der negativen Entwicklungen in der Sowjetunion: „Diese Entwicklung war nicht vorgezeichnet. Angenommen, in Deutschland hätte die Revolution 1918 gesiegt, der Kapitalismus wäre auch in Deutschland abgeschafft worden. Dann wäre keine deutsche Militärhilfe gegen die junge Sowjetunion eingesetzt worden. Ein revolutionäres Deutschland hätte sofort mit Aufbauhilfe für die revolutionäre Sowjetunion begonnen. Es hätte Wissenschaftler geschickt, beim Aufbau von Universitäten geholfen, die neuesten Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung kostenlos zur Verfügung gestellt. Die Front der imperialistischen Länder gegen die Sowjetunion wäre auseinander gebrochen. Statt in einem vom Ausland unterstützten Bürgerkrieg auszubluten, hätte die Sowjetunion mit dem Ausbau von Industrie und Landwirtschaft beginnen können.“, www.sozialismus.info/2007/06/12172

61Leo Trotzki, „Das Übergangsprogramm“, www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1938/uebergang/index.htm

62Leo Trotzki, „Das Übergangsprogramm“

63Lenin, „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, LW 22, S. 300: „Die Stärke der Beteiligten aber ändert sich ungleichmäßig, denn eine gleichmäßige Entwicklung der einzelnen Unternehmungen, Trusts, Industriezweige und Länder unter einzelner Industriezweige und einzelner Länder kann es unter dem Kapitalismus nicht geben.“

64Leo Trotzki, „Das Übergangsprogramm“

65Ebd.

66Lenin, „Was tun?“, LW 5, S. 435 (Hervorhebungen von Lenin)

67Vgl. Leo Trotzki, „Das Übergangsprogramm“: „Die Kommunistische Internationale hat den Weg der Sozialdemokratie in der Epoche des faulenden Kapitalismus beschritten, […]“

68Programm der Kommunistischen Internationale, 1928 (Hervorhebung von uns)

69Vgl. zur Unterscheidung und korrekten Anwendung von verschiedenen Typen von Losungen (Agitationslosung, Aktionslosung, Propagandalosung, Direktiven) sowie verschiedener Rollen von Losungen (Endlosung, Teillosung und Übergangslosung): „Revolution und Tageskampf – wie stellen wir richtige Losungen auf?“, in: Kommunismus 22, Mai 2022, https://komaufbau.org/revolution-und-tageskampf-wie-stellen-wir-richtige-losungen-auf/

70Kommunistischer Aufbau, Kommunistisches Programm (Beschlossen beim 4. Kongress 2023).

71Manuel Kellner, „Trotzkismus“, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2004, S. 98

72Als „Bolschewiki-Leninisten“ bezeichnet Trotzki sich und seine Anhänger:innen in Abgrenzung zu den „Marxisten-Leninisten“

73Leo Trotzki, „Der Ausweg: SFIO und SFIC“, https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1934/leo-trotzki-der-ausweg-sfio-und-sfic

74Ebd.

75Isaac Deutscher, „The Prophet Outcast“, 1963, Oxford University Press, S. 220 (Eigene Übersetzung)

76Klasse gegen Klasse: „Was ist Entrismus?“, www.klassegegenklasse.org/was-ist-entrismus

77https://revolutionaererbruch.wordpress.com

78Tony Cliff, „Trotskyism after Trotzky“ (1999), www.marxists.org/archive/cliff/works/1999/trotism/index.htm

79Manuel Kellner, „Trotzkismus“, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2004, S. 87

80Ebd., S. 88

81Tony Cliff verbrachte den Großteil seines Lebens in Großbritannien und spielte eine zentrale Rolle bei der Entstehung der „International Marxist Tendency“. Ein deutscher Ausläufer dieser trotzkistischen Strömung ist die Organisation „Marx 21“.

82Michel Pablo war das Pseudonym eines griechischen Trotzkisten, der während der griechischen Militärdiktatur in den 30er-Jahren nach Frankreich floh und sich dort an der Gründung der IV. Internationalen beteiligte. Nach dem 2. Weltkrieg wurde er zu einem bedeutenden, wenn auch umstrittenen Führer der IV. Internationalen.

83Ebenda, S.91

84„Resolution of the Second World Congress on the Reorganization of the German Section of the Fourth International“(1948) (Eigene Übersetzung), www.marxists.org/history/etol/document/fi/1938-1949/fi-2ndcongress/1948-congress09.htm

85Manuel Kellner, „Trotzkismus“, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2004, S. 92 f.

86Ebd., S. 96

87Ebd., S. 111

88Ebd., S. 107ff.

89Zum damaligen Zeitpunkt gab es bereits mehrere internationale Zusammenschlüsse, die für sich in Anspruch nahmen die Tradition der IV. Internationalen fortzuführen. Dieser Zusammenschlussging aus der Wiedervereinigung zweier großer trotzkistischer Flügel im Jahr 1963 hervor.

90Kellner, S. 117

91Im ZK der KPD hatte Hans Dieter Koch, der selbst politisch und ideologisch ein Trotzkist war, auf dem IV. Parteitag 1983 durch einen Putsch den langjährigen Vorsitzenden Ernst Aust an den Rand gedrängt, selbst den Vorsitz übernommen und so den Weg für die spätere Vereinigung mit der GIM frei gemacht.

92„Vereinigung statt Spaltung — Dokumente zur Vereinigung von GIM und KPD“ (April 1986), Link: https://www.mao-projekt.de/BRD/ORG/GRM/KPDML_1986_Dokumente_zur_Vereinigung_von_GIM_und_KPD.shtml

93Manuel Kellner, „Trotzkismus“, Schmetterling Verlag, Stuttgart 200, S. 119f.

94Manuel Kellner, „Die Neue antikapitalistische Organisation (NaO) ist aufgelöst – Woran ist sie gescheitert?“, Juni 2016, https://intersoz.org/die-neue-antikapitalistische-organisation-nao-ist-aufgeloest-woran-ist-sie-gescheitert

95Wilhelm Schulz, „5 Jahre NaO – Bilanz und Lehren eines Umgruppierungsprojekts“, https://arbeitermacht.de/rm/rm48/naobilanz.htm

96Manuel Kellner beispielsweise schreibt hierzu selbst: „Aufgrund dieses Urteilens über aktuelle Prozesse nach Analogien, die aus der Vergangenheit geschöpft sind, erscheinen Akteure, die sich auf diese ‚trotzkistische‘ Tradition berufen, oft als kostümierte Nachspieler einer heroischen Vergangenheit gewisser idealisierter Vorbilder.“ Manuel Kellner, „Die Neue antikapitalistische Organisation (NaO) ist aufgelöst – Woran ist sie gescheitert?“, Juni 2016

97Vgl. Alexander v. Plato, „Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik: KPD und Komintern, Sozialdemokratie und Trotzkismus“, Oberbaumverlag Berlin 1973, S. 315

98Alexander v. Plato, „Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik“, S. 61

99Gut illustriert wird dieser Aspekt durch den etwa einstündigen Vortrag, der im Jahr 2022 auf dem Sommercamp von Klasse gegen Klasse gehalten wurde und online verfügbar ist. Neben den Genoss:innen von Perspektive Kommunismus dient dabei insbesondere der Kommunistische Aufbau als Objekt der Kritik.

100 Jahre Hamburger Aufstand – Geschichtliche Mythen und revolutionäre Lehren

Der „Deutsche Oktober“ ist im kollektiven Gedächtnis unter der irreführenden Bezeichnung „Hamburger Aufstand“ haften geblieben. Als geschichtliches Ereignis war er der bislang einzige ernsthafte Versuch der organisierten Machtergreifung der Arbeiter:innenklasse in Deutschland unter Führung ihrer kommunistischen Avantgarde. Das unterscheidet ihn von den anderen politischen und militärischen Kämpfen in der revolutionäre Welle von 1917 bis 1923 in Deutschland. Die dem Aufstand in Teilen Hamburgs vorausgegangenen Kämpfe sind einerseits als spontane, wenn auch teils bewaffnete Massenbewegungen ohne eine einheitliche politische und militärische Führung und andererseits als lokale bzw. regionale Streiks und Aufstände ohne Perspektive der Machteroberung im ganzen Land einzuschätzen.

Durch das Eingreifen der Bolschewiki ab August 1923 hatte der Deutsche Oktober eine andere Qualität. Während die heute übliche Bezeichnung Hamburger Aufstand nach einer Fortsetzung der regionalen Zersplitterung klingt, die in der revolutionären Welle 1917 bis 1923 so kennzeichnend gewesen ist, zeigen die Dokumente aus den in Russland in den 1990er Jahren geöffneten Archiven der Bolschewiki ein anderes Bild. Der Deutsche Oktober war als Teil eines weltrevolutionären Prozesses angelegt. Im vierten Quartal 1923 scheiterte nicht etwa nur ein lokaler Aufstand in Hamburg, sondern vorerst die strategische Offensive des internationalen Proletariats. Es handelt sich damit um einen geschichtlichen Wendepunkt im Klassenkrieg. Aus der Dynamik der revolutionären Krise 1923, den von den Kommunist:innen erzielten Erfolgen wie der nüchternen Analyse der Ursachen des Scheiterns können wir viel für zukünftige revolutionäre Aufstände lernen.

Der Hamburger Aufstand im Oktober 1923 ist in Bezug auf die Quellenlage für eine illegale Aktion erstaunlich gut dokumentiert. Insgesamt ergibt sich aus den von uns gesichteten Berichten und Dokumenten das differenzierte Bild einer komplexen Entscheidungssituation. Der Ablauf der Ereignisse zeigt, dass einige in das kollektive Bewusstsein der Kommunist:innen eingegangene Erzählungen geschichtliche Mythen sind. Dazu gehört auch die Schuldzuweisung, wonach der Verrat durch eine rechts-opportunistische KPD-Führung um Heinrich Brandler (1881 – 1967) und August Thalheimer (1884 bis 1948), die die Vorbereitungen verschleppt und im entscheidenden Moment gezögert hätten, die alleinige Ursache des Scheiterns des Aufstand gewesen sei. Ebenfalls ins Reich der Legenden muss die Einschätzung verbannt werden, wonach die Bolschewiki keine Anstrengungen zur Ausweitung der sozialistischen Revolution nach Westeuropa betrieben hätten – das aktive Eingreifen der Russischen Kommunistischen Partei (bolschewiki) (RKP(b)) und der Kommunistischen Internationalen (KI) entspricht faktisch dem Gegenteil.

Im ersten Teil „Deutscher Oktober“ gehen wir der Frage nach, wie es 1923 zu einer revolutionären Situation gekommen ist. Dazu ist es notwendig, sich die gesamte Entwicklung im Jahr 1923 anzuschauen und diese in die revolutionäre Welle einzubetten, die mit der Oktoberrevolution 1917 begann und im November 1923 endete.

Im zweiten Teil „Revolutionäre Krise und der Aufstand in Hamburg“ zeichnen wir die schnelle Zuspitzung der Lage im Herbst 1923 und den Ablauf der Kämpfe in Hamburg nach.

Mit dem dritten Teil „Verpasste Chance und Sündenböcke“ beenden wir die chronologische Darstellung mit einem Überblick über die wichtigsten Entwicklungen nach dem Abbruch des Hamburger Aufstandes.

Darauf aufbauend skizzieren wir im vierten Teil „Lehren aus dem Hamburger Aufstand“ einige notwendige Schlussfolgerungen, die wir für zukünftige revolutionäre Massenaktionen der Arbeiter:innenklasse benötigen werden.

Deutscher Oktober – wie kam es 1923 zu einer revolutionären Situation?

Revolutionäre Welle: Oktober 1917 bis November 1923

Der Hamburger Aufstand war kein isoliertes Ereignis, sondern Höhepunkt und zugleich Abschluss einer sechs Jahre andauernden revolutionären Welle in Deutschland. Im Verlauf des Jahres 1917 hatten der zweite Massenstreik im April und die zunehmenden Brotunruhen bereits die wachsende Kampfbereitschaft der Arbeiter:innenklasse gezeigt. Die Oktoberrevolution 1917 in Russland fand auch in Deutschland starken Zuspruch, insbesondere der Vorschlag der Bolschewiki zu einem sofortigen Friedensschluss ohne Annexionen (Gebietsabtretungen) und Reparationen (Geldleistungen) wurde begeistert von den Arbeiter:innen aufgegriffen. Als unmittelbarer Widerhall in Deutschland fanden die Januarstreiks 1918 statt, die von den Revolutionären Obleuten in Berlin, einer in den Betrieben stark verankerten syndikalistischen Organisation und der kommunistischen Spartakusgruppe organisiert wurden. Unter dem Druck des militärischen Ausnahmezustands brachen die Obleute den Streik ab. Während die Spartakusgruppe schon den Abbruch des Januarstreiks kritisierte und Anfang 1918 klar dem revolutionären Kurs der Bolschewiki folgend die Losung „Krieg dem Krieg“ propagierte, lernten die Revolutionären Obleute ihre Lektion jetzt im Ausnahmezustand. Die Praxis hatte die falsche Position von Rosa Luxemburg (1871 – 1919) widerlegt, die vor dem Krieg vertreten hatte, dass der Massenstreik die höchste Form des Klassenkampfes sei. Lenin und die Bolschewiki hatten richtig gelegen, der Sozialismus muss im revolutionären Bürgerkrieg erkämpft werden.

Unabhängig von fortbestehenden politischen Differenzen orientierten nach dem Januarstreik beide Organisationen auf den bewaffneten Aufstand als nächste entscheidende Massenaktion. Nach Ausbruch der Revolution am 9. November 1918 entstanden innerhalb einer revolutionäre Welle mit zahlreichen Streiks, Massenkämpfen und bewaffneten Aufständen (u.a. Bremer und Münchener Räterepublik, Kämpfe in Mitteldeutschland, Massenstreiks und Betriebsbesetzungen im Ruhrgebiet) letztlich konkret drei revolutionäre Situationen: Einerseits der Zeitraum vom November 1918 bis März 1919, in dem teilweise eine Doppelmacht bestanden hat und die Konterrevolution sich erst nach blutigen Kämpfen mit Hilfe der Sozialdemokratie durchsetzte. Die zweite Gelegenheit bot sich im März 1920, als der reaktionär-nationalistische Kapp-Putsch innerhalb weniger Tage durch einen Generalstreik der Arbeiter:innenklasse hinweggefegt wurde, der im Ruhrgebiet zur Schaffung der Roten Ruhrarmee mit ca. 100.000 roten Soldat:innen und der teilweisen Eroberung des Territoriums geführt hat.1 Schließlich reifte 1923 eine revolutionäre Situation heran, deren Höhepunkt im Oktober erreichte wurde.

Politische Zuspitzung und Wirtschaftskrise 1923

Im Vertrag von Versailles waren Deutschland als Verlierer des Krieges 1919 neben der Abtretung von Gebieten auch hohe Ausgleichszahlungen (Reparationen) auferlegt worden. Im Streit um diese Reparationen eskalierte das deutsche Finanzkapital Anfang 1923 den Konflikt mit Frankreich. Die Zahlungen wurden eingestellt, um günstigere Bedingungen zu erzwingen. Die französische Regierung unter Ministerpräsident Raymund Poincare (1880 –1934) hielt dagegen. Am 11. Januar 1923 wurden große Teile des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen besetzt. Die deutsche Regierung unter Reichskanzler Wilhelm Cuno (1876 – 1933) rief zum passiven Widerstand auf. Durch die organisierte Arbeitsverweigerung und die nationalistische Mobilisierung der Massen sollte eine Lockerung der Versailler Bedingungen erreicht und zugleich die unruhige Arbeiter:innnenklasse in die Knie gezwungen werden.

Im Sinne einer Anfang Januar 1923 in Essen durchgeführten Konferenz kommunistischer Parteien aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und den Niederlanden gab die KPD die Parole aus: „Schlagt Poincare an der Ruhr und Cuno an der Spree!“

Der Verlust des Ruhrgebiets2 und der Produktionsrückgang führten nicht nur zur Zerrüttung der Wirtschaft und dem Zusammenbruch der Staatsfinanzen,3 sondern auch zu einer Hyperinflation, da die Reichsregierung in zunehmendem Maße wertloses Geld druckte, um u.a. die wichtigsten Staatsausgaben zu finanzieren. Im November 1923 wurden Geldscheine mit dem Aufdruck 500 Milliarden Mark ausgegeben. 1 US-Dollar kostete damals 4,2 Billionen Mark. Laut dem sozialistischen Schriftsteller Willi Bredel (1901 – 1964) war die Inflation „ein raffiniert angelegter, gigantischer Raubzug des deutschen Finanzkapitals auf die Sparguthaben des kleinen Mannes und die Löhne der Arbeiter und Angestellten. Die völlige Entwertung der deutschen Reichsmark machte das Volk bettelarm, die Monopolherren und Rüstungsmagnaten aber, die ihre Kapitalien in Sachwerten und ausländischer Valuta angelegt hatten, wurden nicht nur schuldenfrei, sondern milliardenreich.“ 4

Die schwere Wirtschaftskrise führte für große Teile des Proletariats zum Verlust seiner Existenzgrundlage. Während des Krieges hatte eine Vollbeschäftigung geherrscht. Durch die Entlassung der im Krieg eingestellten Arbeiterinnen konnten die demobilisierten Männer wieder in Lohn und Brot gebracht werden. Die offizielle Erwerbslosenrate lag im Jahresdurchschnitt 1920 bei 3,8% bezogen auf die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen. Sie fiel im Jahr 1922 auf 1,5%. Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise im November 1923 waren 23,4% arbeitslos und weitere 47,3% in Kurzarbeit und damit insgesamt 70,7% der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen „unterbeschäftigt“. „Insgesamt betrug die Zahl der Erwerbslosen und der Kurzarbeiter (…) im letzten Quartal des Jahres 1923 in Deutschland zirka acht Millionen, d.h. mehr als die Hälfte der ganzen Arbeiterklasse Deutschlands.“ 5 Die Verelendung der werktätigen Massen erreichte auf dem Höhepunkt der Krise im Oktober/November ungeheure Ausmaße. „Für den Betrag der wöchentlichen staatlichen Erwerbslosen-Unterstützung konnte sich ein Erwerbsloser einen Liter Milch oder ein Pfund Brot kaufen. Die Monatspension eines Rentners oder Invaliden reichte gerade aus, um ein Exemplar einer Zeitung oder eine Schachtel Streichhölzer zu kaufen.“ 6

Die Arbeiter:innenklasse wehrte sich in dieser Situation mit verschiedensten Mitteln. Neben vielen kleinen und mehreren großen Streiks kam es ab dem Frühjahr immer wieder zu Lebensmittelunruhen, bei denen die hungernden Arbeiter:innen die Lebensmittel aus Vorratslagern und Geschäften beschlagnahmten und kurzerhand selbst verteilten. Demonstrationen und Kämpfe mit der Polizei stiegen im Verlauf des Jahres immer weiter an. Es bildeten sich revolutionäre Räteorgane, vor allem in Form von sogenannten Kontrollausschüssen, „die breite Kreise der Werktätigen darunter besonders viele Frauen zum Kampf gegen Preiswucher und Schwarzhandel mobilisierten. Bis Mitte 1923 entstanden 800 Kontrollausschüsse.“ 7 Neben dem Kampf gegen Spekulanten und Schwarzhändler, die mit der Not der Massen riesige Profite erzielten, versuchten die Kontrollausschüsse insbesondere mit verschiedenen Mitteln die überhöhten Preise der Händler und auf den Märkten zu begrenzen.

Bereits im Mai 1923 kam es im Ruhrgebiet zu einem regionalen Generalstreik, der in Bochum in einen bewaffneten Aufstand umschlug. Erich Wollenberg (1892 – 1973), der militärischer Leiter des spontanen Aufstands in Bochum gewesen ist, spricht 1971 im Rückblick von einer „revolutionären Situation“, welche die KPD- wie KI-Führung nicht rechtzeitig gesehen hätten.8 Am 23. Juli kam es z.B. in Frankfurt am Main zu Unruhen, bei denen „ein Staatsanwalt getötet wird, der für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zuständig war.“9 Gestützt auf die Arbeitermilizen (Proletarische Hundertschaften), die „im Zusammenwirken mit Kontrollausschüssen auf dem Land aufmarschierten, um Lebensmittel für die infolge der Inflation hungernden Werktätigen zu beschaffen und den Lieferstreik der Großbauern und Großgrundbesitzer zu brechen“, kam es ab Sommer 1923 vereinzelt zu einer lokalen Doppelmacht. „In verschiedenen Gebieten Sachsens und Thüringens bewirkte ihr Einsatz, dass die bürgerlichen Repressionsorgane nicht mehr voll wirksam werden konnten.“10

Die Ruinierung des Klein-bürger:innentums sowie die scharfe Zuspitzung der wirtschaftlichen wie politischen Krise führte im Verlauf des Jahres 1923 auch dazu, dass die faschistische Bewegung in Form der NSDAP und der SA massiv Zulauf erhielt und als bedeutender politischer und militärischer Faktor in den Klassenkämpfen in Erscheinung trat. Auch wenn ein Militärputsch, wie er 1920 von Kapp verwirklicht worden war, weiterhin eine Option der Reaktion blieb, so setzten Teile der Monopolbourgeoisie (insbesondere die Kohle- und Stahlmonopole) nunmehr verstärkt auf den Faschismus als „konterrevolutionäre Kampfpartei“.11

Daneben häuften sich bereits im Mai separatistische Bestrebungen und Putschversuche u.a. in Trier, Mainz, Wiesbaden und Speyer. Während das Reichswehrkommando im Oktober damit beschäftigt war für „Ruhe und Ordnung“ zu sorgen, schlugen im Rheinland von den französischen Besatzungsbehörden unterstützte Separatisten zu. Am 20. Oktober gelang es ihnen in Aachen, Trier, Koblenz und einer Reihe anderer Städte des Rheinlandes die Unabhängige Rheinische Republik auszurufen.12 In der Abwehr dieser reaktionären Bestrebungen waren zwischen Ende September und Anfang November 1923 auch die Proletarischen Hundertschaften beteiligt.13

Die Kohle- und Stahlbarone hatten innerhalb der Monopolbourgeoisie durch den verlorenen Krieg am stärksten Federn gelassen und strebten daher am aggressivsten die Errichtung einer offenen Diktatur des Finanzkapitals durch baldige Beseitigung der bürgerlich-parlamentarischen Verhältnisse an. Sie setzten dazu bereits 1923 auf die Faschist:innen, die tatsächlich versuchten, ihre Ziele durch Putschversuche wie am 1. Oktober in Küstrin sowie am 8. und 9. November in München zu erreichen. Auch wenn Hitlers „Marsch auf Berlin“ in München von der Polizei schnell gestoppt wurde, waren die Faschist:innen insbesondere in ihrer damaligen Hochburg Bayern politisch sehr stark geworden und auch ein realer militärischer Faktor.

Infolge des Absturzes der Währung verschärfte sich die Teuerung Anfang August dramatisch. Die KPD forderte den Generalstreik, was die rechte SPD-Mehrheit ablehnte. Am 11. August wurde auf einer Betriebsrätevollversammlung von 20.000 Arbeiter:innen in Berlin ein dreitägiger lokaler Generalstreik ausgerufen, der mit seinen wirtschaftlichen und politischen Forderungen an die Machtfrage heranführte.14 Die KPD rief zur Ausdehnung des Streiks auf das ganze Land auf. Die spontane Streikbewegung setzte dann mit großer Wucht ein und erfasste Millionen Arbeiter:innen. Die Minderheitsregierung des parteilosen Reichskanzlers Wilhelm Cuno war als reaktionäres „Kabinett der Wirtschaft“ im November 1922 von Zentrumspartei, Deutscher Demokratischer Partei, Deutscher Volkspartei und Bayerischer Volkspartei gebildet worden. Sie wurde bis August 1923 von der SPD gestützt. Die SPD entzog unter dem Druck des ausgebrochenen Generalstreiks Cuno die Unterstützung und die Regierung trat bereits am nächsten Tag zurück. Es handelte sich damit nach dem Generalstreik gegen den Kapp-Putsch im März 1920 um den zweiten Generalstreik in Deutschland, mit dem eine reaktionäre Regierung gestürzt wurde. Er wurde jedoch nach drei Tagen ohne Erfüllung der Forderungen nach einem Mindeststundenlohn, der Einstellung aller Arbeitslosen und der Beschlagnahmung und Verteilung aller Lebensmittel und mit der Übergabe der Verantwortung für die Politik an die rechte SPD-Führung beendet. Dies zeigt die tiefe Verankerung der sozialdemokratischen Traditionen bei der überwältigenden Mehrheit der Arbeiter:innenklasse mit dem falschen Verständnis einer Trennung von wirtschaftlichen und politischen Kämpfen.

Der Cuno-Streik wurde zum Wendepunkt bezüglich der Einschätzung der Lage in der Kommunistischen Internationalen. Zwei Monate zuvor, bei dem Dritten erweiterten Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationalen (EKKI) vom 12. bis 23. Juni 1923 hatten sich 50 Vertreter:innen von 26 kommunistischen Parteien in Moskau versammelt. Die „deutsche Frage“ spielte eine zentrale Rolle, aber bezüglich der Chancen einer sozialistischen Revolution überwog in der KPdSU fraktionsübergreifend die Skepsis. Daher endete das Plenum ohne konkrete Beschlüsse zur Vorbereitung des Aufstands. Sowohl Leo Trotzki (1879 – 1940) als auch Josef Stalin (1878 – 1953)15 zögerten noch. Am konsequentesten trieb zu der Zeit wohl Grigori Sinowjew (1883 –1936), der neben seiner Funktion im ZK auch Vorsitzender der KI war, die Aufstandsvorbereitungen voran.16 Nach dem Cuno-Streik wurde dann die Führung der RKP(b) umgehend zusammengerufen.17 Bei einer Tagung des Politbüros der RKP(b) am 21. August wurde die Lage neu bewertet und die Ausrichtung auf den Aufstand in Deutschland beschlossen.18 Diesmal wurden sehr konkrete Maßnahmen zur Vorbereitung eingeleitet, u.a. die Einrichtung einer Aufstandsleitung. In der bürgerlichen, trotzkistischen und revisionistischen Geschichtsschreibung wird viel über Fraktionskämpfe in der KPdSU/KI und ihre Bedeutung für den Ablauf der Ereignisse spekuliert. Daher ist es wichtig, die Schlussfolgerung von Alexander von Plato hervorzuheben, die durch die in den 1990er Jahren veröffentlichten Dokumente aus den Archiven der Bolschewiki bestätigt wird: „Da es aber Sinowjew gelang, am 23. August ein Vorbereitungskomitee mit dem Politbüro der KPDSU einzurichten, liegt der Schluß nahe, dass er zumindest Stalin, wahrscheinlich aber auch Trotzki überzeugte. Das heißt: Die zerstrittenen Fraktionen waren zusammen für den Aufstand in Deutschland spätestens seit dem 23. August.“ 19

Revolutionäre Krise und der Aufstand in Hamburg

Die Ausgangssituation

Die geostrategische, militärische und politische Lage wird in einem Brief des niederländischen Sozialdemokraten und Sekretär der Internationalen Transportarbeiter-Föderation, Eduard Fimmen (1882 – 1942) dargestellt, in dem er Sinowjew am 19. Oktober 1923 vor einem Aufstand in Deutschland warnte:

Seid ihr zum Kampf gezwungen, dann kann und darf diesem nicht ausgewichen werden. Es wäre jedoch verbrecherisch, den Eintritt dieses Augenblicks selbst zu beschleunigen. Davon entraten folgende Überlegungen:

Es bestehen zur Zeit in Deutschland fünf Zentren, wo eine revolutionäre Bewegung möglich ist: Sachsen, Thüringen, Berlin, Hamburg und das Ruhrgebiet. Der Norden Deutschlands (Mecklenburg, Pommern, Ost- und Westpreussen) ist weissgardistisch. Der Süden (Bayern, Württemberg und Baden), von den hauptsächlichen Industriezentren Mannheim und Stuttgart abgesehen, ist gleichfalls weissgardistisch. Der Westen (Rheinland und Ruhrgebiet) steht unter französischen Bajonetten. An die deutsche Ostgrenze schließen Polen und die Tschechoslowakei an. Das bedeutet, dass auch für den Fall, dass diese beiden Länder nicht einschreiten, die revolutionären Zentren, die schon eine Verbindung unter sich nur mit Mühe werden unterhalten können, nach allen Seiten eingeschlossen sind und nach mindestens drei Fronten werden zu kämpfen haben.

Hierbei ist zu berücksichtigen: die deutsche Bourgeoisie (…) verfügt nicht nur über Maschinengewehre und Kanonen, sondern kann ohne weiteres 800.000 Gewehre ins Feld bringen. Die Arbeiterschaft hat heute diese Geschlossenheit noch nicht erreicht. Das gegenseitige Vertrauensverhältnis ist nicht wiederhergestellt. (…)

Mit der Frage der Bewaffnung aufs engste verknüpft ist die Frage der Versorgung mit Lebensmitteln. Der weissgardistische Ring um die revolutionären Teile Deutschlands dürfte stark genug sein, um das deutsche Proletariat einfach auszuhungern. (…) so ist doch mit Sicherheit darauf zu rechnen, dass im Augenblick, da in Deutschland eine wirkliche proletarische Revolution ihren Anfang nimmt, alle deutschen Häfen von den Flotten der Entente blockiert werden.

Schließlich möchte ich noch darauf hinweisen, dass (…) der allernötigste Apparat noch viel zu wünschen übrig lässt. Dasselbe gilt meiner Ansicht nach auch von der Vorbereitung der Führerschaft. (…)

Die deutsche Bourgeoisie wird daher, gefragt oder ungefragt, mehr französische, belgische und tschechische Bajonette zu ihrer Verfügung bekommen als sie nötig hat, um in kurzer Zeit die proletarische Revolution in ihrem Land im Blut zu ersticken. (…) Und sogar angenommen, dass der Roten Armee ein siegreicher Vorstoß durch Polen gelänge, dann käme sie geschwächt und vor allen Dingen zu spät, um der deutschen Revolution zu helfen. (…)20

Man kann diese Haltung als die typische Feigheit der linken Sozialdemokratie abtun oder sie als Opportunismus brandmarken. Tatsächlich handelte es sich jedoch wohl um eine realistische Lageeinschätzung der objektiven Rahmenbedingungen Mitte Oktober 1923. Dieses Lagebild wurde bei allen taktischen und politischen Unterschieden im wesentlichen von allen Beteiligten geteilt. Wir haben es auch deswegen so ausführlich zitiert, weil es den operativen Planungen und taktischen Entscheidungen von KI, KPD, Aufstandsleitung und militärischem Apparat zugrunde gelegen hat und darüber hinaus – um den Schlussfolgerungen für heute schon einmal vorzugreifen – einige strategische, allgemeingültige Probleme der sozialistischen Revolution in Deutschland berücksichtigt.

Internationale
Vorbereitungen

Direkt nachdem am 22. August die Entscheidung zur Ausrichtung auf die deutsche Revolution im Politbüro gefallen war, begannen ausgehend von dem hier skizzierten Lagebild umfangreiche Vorbereitungen. Dem Politbüro war dabei völlig klar, dass die deutsche Revolution nur um den Preis eines Krieges der Sowjetunion gegen Polen und wahrscheinlich die imperialistischen Mächte siegen kann. Dies geht eindeutig aus den Debatten und Beschlüssen hervor. Zunächst hatte Sinowjew einen Entwurf als Diskussionsgrundlage für die Sitzung des Politbüros vorgelegt. Stalin hatte in seinem Beitrag auf einen Schwachpunkt dieses Entwurfs hingewiesen, nämlich die Frage wie die eroberte Macht behauptet werden kann. Stalins Einwand wurde in den Beschluss aufgenommen und vor allem bei den beschlossenen Maßnahmen berücksichtigt.

In den Thesen [von Sinowjew, Anm. Verf.] wird nichts oder sehr wenig darüber gesagt, ob die Kommunisten die Macht in Deutschland behaupten werden (…) die Frage, ob die Macht behauptet werden kann, stellt jetzt die Grundlage aller Fragen der deutschen Revolution dar. (…) Dieses Moment muß jetzt angesichts der größeren Kompliziertheit des Geflechtes in den internationalen Beziehungen stärker betont werden.

Man muß in den Thesen direkt und deutlich sagen, dass die Arbeiterrevolution in Deutschland wahrscheinlich den Krieg Frankreichs und Polens (und vielleicht auch anderer Staaten) mit Deutschland bedeutet, oder – im besten Fall – die Blockade Deutschlands (…)

Man muß in den Thesen klar und deutlich sagen, dass die Revolution in Deutschland und unsere Hilfe für die Deutschen in Form von Lebensmitteln, Waffen, Menschen u.ä. den Krieg Russlands mit Polen und vielleicht auch anderen Pufferstaaten bedeutet, (…) Wenn wir den Deutschen wirklich helfen wollen – und wir wollen das und müssen helfen -, dann müssen wir uns auf den Krieg vorbereiten, ernsthaft und allseitig, denn letztlich wird es um die Existenz der Sowjetföderation und das Schicksal des Weltfriedens für die nächste Zeit gehen.“ 21

Die deutsche Revolution wurde also von vornherein als Teil eines weltrevolutionären Prozesses verstanden.

Entsprechend allseitig und umfassend waren die ergriffenen Maßnahmen. Dazu zählten u.a.:

Die gesamte Tätigkeit von KPD, KI, KPdSU und RKP(b) und die staatlichen Organe der Sowjetunion wurden auf die deutsche Revolution ausgerichtet.

Die organisatorische Entscheidungsstruktur wurde zentralisiert, erheblich gestrafft und die Kommunikationswege verkürzt. Zunächst übernahm ab August das Politbüro der RKP(b) die Funktion der Führung der Aufstandsvorbereitung und im Oktober wurde formell ein Revolutionskomitee als Aufstandsleitung aus Vertreter:innen des ZK der KPD, des Politbüros der RKP(b) und einigen militärischen Leitern gebildet. Die „offiziellen“ Wege z.B. über das EKKI und das ZK der KPD waren offenbar zu schwerfällig und wurden de facto außer Kraft gesetzt. Bei einem Verhandlungsmarathon unter Leitung von Sinowjew vom 2. bis 5. Oktober in Moskau wurde ein fragiler Kompromiss mit den Ultralinken in der KPD um Ruth Fischer (1895 – 1961) und Arkadi Maslow (1891 – 1941) erzielt.22 Hintergrund war die Tatsache, dass die Ultralinken mit Hamburg und Berlin die Parteiorganisationen in zwei der fünf revolutionären Zentren beherrschten, die aktiven Arbeiter:innen ihnen dort folgten und sie folglich in den Aufstand eingebunden werden mussten.

Die Rote Armee der Sowjetunion, deren Mannstärke im Juni 1923 noch verringert werden sollte, wurde jetzt unter der Hand mobilisiert um einem siegreichen Aufstand zur Hilfe zu eilen.23 Unter dem reißerischen Titel „Die Welt erobern“ fasst der SPIEGEL den Inhalt des „Mobilisierungsbefehls“ so zusammen: Es sei die Aufgabe gewesen, „für den Einsatz in Deutschland geeignete Genossen zu erfassen – deutschsprechende Balten, Ungarn, Polen, ehemalige Kriegsgefangene. Der allgemeine Mob-Plan wurde bestätigt: 23 Millionen Rotarmisten sollten Gewehr bei Fuß stehen, zusätzlich wurden 20 Territorialdivisionen aufgestellt.24 Die Militärakademie der Roten Armee wurde mit der Ausarbeitung verschiedener Szenarien und der Entwicklung konkreter Operationspläne beauftragt.25

Eine umfassende AgitProp-Kampagne26 erfasste die gesamte Sowjet-Föderation. Ziel war es, bis zur letzten Bäuer:in im hintersten Winkel der Sowjetunion ein Bewusstsein zu erzeugen, dass drei Jahre nach Ende des blutigen Bürgerkriegs ein neuer großer Krieg bevorstehe, eine Entscheidungsschlacht zwischen Konterrevolution und Revolution, bei der es um die Existenz der Sowjetunion ginge.

Die KI wurde aufgerufen, um u.a. für den 20. September zu einer großen Konferenz der kommunistischen Parteien über die deutsche Revolution zu mobilisieren. Das Ziel bestand darin, politischen Druck aufzubauen um den „weissgardistischen Ring“ (Eduard Fimmen) aufzubrechen und insbesondere eine Intervention der imperialistischen Mächte aus den Nachbarländern zu verhindern bzw. zu erschweren (z.B. durch Fokussierung der KP Frankreichs auf die Agitation innerhalb der französischen Besatzungstruppen an der Ruhr).

Der Arbeiter:innenklasse in Deutschland sollte wirtschaftlich durch Lebensmittel- und Getreidelieferungen geholfen und damit zugleich Sympathien in den breiteren, sozialdemokratischen Massen für die KPD erzeugt werden. Dies stieß in der Sowjetunion selbst auf erhebliche Probleme, da man im Zeichen der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) nicht einfach Unternehmen Befehle erteilen konnte und auch nicht offen über die Hintergründe der humanitären Hilfsaktion sprechen durfte. Am Ende gelang es über die Internationale Arbeiterhilfe „im Herbst/Winter 1923/24 mit Schwerpunkt in Mitteldeutschland im Reich ca. 3.000 Tonnen Mehl und zusätzlich 1 Million Brote sowie 2.000.000 warme Mahlzeiten kostenlos zu verteilen, im Tagesdurchschnitt ca. 50.000 Portionen.“ 27 Wobei der Großteil der Hilfe erst nach dem Höhepunkt der revolutionären Krise und damit zu spät eingetroffen ist.

Die Abordnung eines Teils des russischen ZKs nach Deutschland in das Revolutionskomitee. Zu der Gruppe, die im Oktober teilweise vor Ort in Dresden und in Berlin war, gehörten die Mitglieder des ZK der RKP(b) Karl Radek (1885 – 1939), der als Deutschlandexperte galt, Georgi Pjatakov (1890 – 1937), Nikolay Kuibyshev (1893 – 1938) und der ZK-Sekretär Jānis Rudzutaks (1887 – 1938), der später durch den Volkskommissar für Arbeit Wassili Schmidt (1886 – 1938) ersetzt wurde. Der amtierende Botschafter der Sowjetunion in Deutschland, Nikolai Krestinskij (1883 – 1938) wurde ebenfalls hinzugezogen.28

Weitere Maßnahmen waren die Aktivierung des diplomatischen Apparates der Sowjetunion, um den außenpolitischen Spielraum im Sinne dieser Pläne zu vergrößern; die Einrichtung eines Verteidigungsfonds zur Unterstützung der deutschen Revolution und der Mobilisierung der Roten Armee; die Bereitstellung erheblicher Geldmittel29 und eine ganze Reihe konkreter organisatorischer Maßnahmen in Deutschland selbst.

Heranreifen der revolutionären Situation und der Aufstandsplan

Auf Grundlage der Beschlüsse des II. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale (Juli / August 1920) begann der Aufbau der militärischen Strukturen der KPD ab dem Jahr 1920. Der geheime Militärische Apparat (M-Apparat) unterstand direkt der Parteileitung und war eng mit den militärischen Strukturen der Komintern verbunden. Der M-Apparat verfügte über verschiedene Abteilungen sowie einen eigenen Nachrichtendienst, der ebenfalls eng mit den sowjetischen Geheimdiensten GPU und GRU zusammen arbeitete.30

In diesem Rahmen waren auch Militärexpert:innen der KI seit 1921 in Deutschland tätig, wie z.B. Valdemar Roze (1897 bis 1939), ein lettischer Divisionskommandeur der Roten Armee, der 1923 als militärischer Leiter beim ZK der KPD tätig gewesen ist. Er organisierte den Aufbau der Partisan:innengruppen (sogenannte Fünfergruppen) und Arbeiter:innenmilizen (Proletarische Hundertschaften) und sollte den Aufstand in Deutschland leiten. 1925 wurde er vom Reichsgerichtshof zum Tode verurteilt, jedoch später gegen einen deutschen Agenten ausgetauscht.

Auf Ersuchen von Brandler,31 der als Sekretär des Politbüros die KPD leitete, wurden Ende August weitere Aufstandsexpert:innen nach Deutschland geschickt. Gleichzeitig wurden auch die Strukturen des sowjetischen Geheimdienstes GPU zur Unterstützung des Aufstandes aktiviert, offenbar auch, weil man in entscheidenden Fragen der zerstrittenen KPD nicht trauen konnte und wollte. So trat Josef Unszlicht (1879 bis 1938), Stellvertreter von Trotzki im Revolutionären Militärrat der Sowjetunion, Anfang September eine geheime Mission in Deutschland an, bei der es um die Kontrolle und den Aufbau des M-Apparates ging.

Ein zentrales Problem war die Beschaffung der benötigten Waffen. Im September kümmerten sich die sowjetischen Genoss:innen um den Waffenkauf auf dem Schwarzmarkt. So werden z.B. in einem Bericht von Josef Unszlicht vom 29. September32 „Verhandlungen über den Kauf von 5.000 Gewehren, 1.500 Gewehrpatronen, 400 leichten Maschinengewehren, 200 schweren Maschinengewehren“ erwähnt. Ab Anfang Oktober wurde ein breiterer Kreis vom Kommunist:innen in die Waffenbeschaffung einbezogen. „Alle diese Bemühungen erbrachten jedoch erst ab Ende Oktober größere Resultate, so dass um den 22. Oktober, dem Kulminationspunkt der Krise, erst 11.000 Gewehre und 15.000 Faustfeuerwaffen verfügbar waren. Diese verteilten sich sehr ungleichmäßig, relativ gut war die Lage in Thüringen.“33 Der Aufbau militärischer Einheiten (Proletarische Hundertschaften) lief vergleichsweise besser, was die fehlende Bewaffnung umso mehr zum begrenzenden Faktor werden ließ:

Die KPD entwickelte eine intensive Arbeit zur Formierung, Bewaffnung und Ausbildung revolutionärer Arbeiter. Ab August wurden die proletarischen Hundertschaften erweitert, militärisch profiliert sowie durch Schaffung regionaler und einiger Landesleitungen zentralisiert. (…) In einigen Regionen entstanden ab Mitte Oktober Anfänge von Truppengliederungen. Am 22. Oktober waren ungefähr 133.000 Kämpfer in proletarischen Formationen zusammengefasst, die Hauptkräfte davon in Sachsen, Thüringen und anderen Bezirken Mitteldeutschlands, in Berlin und im Ruhrgebiet. Anfang Oktober gliederte die KPD ihre Führungsorgane für die bewaffneten Kämpfe um. Die bereits Ende August eingesetzten politisch-militärischen und militärisch-organisatorischen Führungskader wurden einem Revolutionskomitee unterstellt.“ 34

Zwischen dem Beschluss, den Aufstand konkret zu organisieren und dem Höhepunkt der revolutionären Krise um den 22. Oktober 1923 lagen gerade einmal zwei Monate – eine Zeitspanne die angesichts der unzureichenden Vorbereitung der KPD auf die revolutionäre Machtergreifung einfach zu kurz gewesen ist, um die notwendigen Maßnahmen abzuschließen. Das galt keineswegs nur für die Frage der Waffenbeschaffung.

Daneben war die ideologische Vorbereitung für eine Entscheidungsschlacht unzureichend. Nicht nur der Mangel an konspirativer Erfahrung machte sich stark bemerkbar. Aus den internen Berichten der nach Deutschland entsandten Kommunist:innen und Militärspezialist:innen ergibt sich das Bild einer KPD, deren Bewusstseinsstand nicht den Anforderungen entsprochen hat. Auch die revolutionäre Moral war zu begrenzt. Schon kurz nach seiner Ankunft in Deutschland meldete Josef Unszlicht am 2. September 1923 nach Moskau: „Muss mich vorläufig auf einen allgemeinen Eindruck beschränken: Das Bewusstsein ist vorhanden, es fehlt jedoch der starke Wille. Die Tendenz geht zum geringsten Widerstand.“35

Aus den verschiedenen Berichten geht übereinstimmend hervor, dass die ideologischen (u.a. Schaffung eines Siegesbewusstsein), politischen (u.a. Bildung einer Einheitsfront von unten), organisatorischen (Umstellung der Parteistruktur auf den Bürgerkrieg) und technischen Vorbereitungen (u.a. Aufbau und Bewaffnung der Proletarischen Hundertschaften) der KI und KPD zu spät starteten bzw. im September und Oktober mit der sich beschleunigenden Dynamik der Entwicklung nicht Schritt halten konnten.

Im Vorfeld der Sitzung des Politbüros, bei der Anfang Oktober der konkrete Aufstandsplan beschlossen wurde, brachte Radek die Lage auf den Punkt, als er als einzige Möglichkeit für den Sieg der deutschen Revolution die Frage des Zeitpunkts des Aufstandes36 aufgeworfen und festgestellt hat: „Unser Sieg kann nur gelingen, wenn die spontane Bewegung des Proletariats mit dem organisierten Vorgehen der Kampfgruppen zusammenfällt. Deswegen halte ich es für notwendig, den deutschen Genossen die Bedeutung des richtigen Zeitpunktes zu suggerieren, weil diese Frage genauso wichtig wie die Organisation ist. Wir werden zerschlagen werden, wenn wir organisiert zum falschen Zeitpunkt vorgehen, genauso, als wenn wir es unorganisiert zum richtigen Zeitpunkt tun.“ 37

Die Vorbereitungen liefen so, dass das Revolutionskomitee hoffen konnte, um den 9. November herum die nötigsten Maßnahmen abgeschlossen zu haben. So wurde dieser Zeitrahmen beschlossen. Gleichzeitig hat die Dynamik der Situation den aktiven Teil der Arbeiter:innenklasse nach vorne gedrängt. Da Streiks in der schweren Wirtschaftskrise keinen ausreichenden Druck auf die Kapitalist:innen aufgebaut hatten und die Arbeiter:innen längere Streiks nicht mehr durchhalten konnten, musste die Klasse zu aktiveren Kampfformen übergehen. So erreichte die revolutionäre Stimmung bereits um den 22. Oktober ihren Höhepunkt, was sich u.a. in spontanen Hungerrevolten und Kämpfen mit der Polizei, dem ebenfalls spontanen Widerstand von Arbeiter:innen gegen den Einmarsch der Reichswehr in Sachsen und den vielerorts auftretenden Schwierigkeiten der KPD und des M-Apparates äußerte, die Arbeiter:innen von entscheidenden Kämpfen abzuhalten.

Zweieinhalb Wochen lagen zwischen diesem Höhepunkt der revolutionären Massenstimmung und dem geplanten Aufstandstermin – das ist in einer revolutionären Situation eine halbe Ewigkeit und an sich schon ein Grund, der den Aufstandsplan in Frage stellte.

Der Aufstandsplan wurde von den Militärexpert:innen auf Grundlage der örtlichen Gegebenheiten entwickelt – und die waren zumindest eine große Herausforderung, wie z.B aus dem Bericht von Josef Unszlicht von Ende September hervorgeht. Er fing mit der nüchternen Feststellung an: „Der Mangel an praktischer Erfahrung in konspirativer Arbeit unter unseren Mitarbeitern erschwert die Durchführung aller vorgesehenen Maßnahmen sehr.“ 38 Dann wurde militärisch knapp der Stand der Vorbereitungen dargestellt. Neben dem Fokus auf die potenziellen Durchmarschgebiete der sowjetischen Armee (Ostpreußen, Oberschlesien, Polen, Karpato-Rußland) springt der unterschiedliche Stand der Vorbereitungen ins Auge. Teilweise scheinen die Lage bzw. die Möglichkeiten im Ausland besser gewesen zu sein als in Deutschland. So gab es positive Nachrichten aus Österreich, wo mit dem Schutzbund eine proletarische, antifaschistische Miliz vorhanden war und über den Balkan wurde von „großen Möglichkeiten für unser aktives Eingreifen“ gesprochen. Umgekehrt wurde festgestellt, dass bei den französischen Truppen im Ruhrgebiet eine kommunistische Agitation bis dato (Ende September!) „völlig fehlt“.

Der Aufstandsplan für die Revolution in Deutschland ist ebenfalls als Dokument39 erhalten geblieben, was uns Einblicke und Analysen erlaubt, wie sie in der Geschichte des Klassenkampfes sonst nur selten möglich sind. Am 28. Oktober, wenige Tage nach dem Abbruch des Hamburger Aufstands, erstattete Valdemar Roze Bericht über den Stand der Vorbereitungen und die Möglichkeiten des landesweiten Losschlagens. In der Vorbemerkung kritisiert Roze als Leiter des M-Apparates den „Hamburger Putsch“, verweist auf Differenzen zwischen ihm und der Zentrale über die Möglichkeit des Losschlagens und bringt seine Hoffnung zum Ausdruck, dass diese Differenzen durch die Erfahrung in Hamburg nunmehr beigelegt seien. Dann skizziert er den operativen militärischen Aufstandsplan unter Berücksichtigung der politischen Rahmenbedingungen.

Es waren fünf Oberbezirke gebildet worden, die mit Ausnahme der „südwestlichen Provinzen“ (Kassel, Frankfurt, Württemberg und Baden) mit den oben bereits erwähnten revolutionären Zentren (Berlin, Hamburg, Ruhrgebiet, Thüringen und Sachsen) zusammenfielen. Daneben gab es drei Sonderabschnitte (Ostpreußen, Bayern, Schlesien), die als feindliche Gebiete außen vor waren. Dort sollten die Kommunist:innen, insbesondere in Bayern eine massive Partisanentätigkeit entfalten. Jedem Oberbezirk wurden konkrete militärische Aufgaben zugewiesen. In der 1. Phase bestand die Aufgabe darin, mit dem inneren Feind fertig zu werden, d.h. das jeweilige Territorium zu erobern und die dort befindlichen feindlichen Kräfte zu vernichten. Der Operationsplan für die 2. Phase des Aufstandes sah die Herstellung der Verbindung zwischen den eroberten revolutionären Zentren vor. Demnach sollte Hamburg entlang der Elbe nach Mecklenburg und Pommern vorrücken und Berlin von Norden zu Hilfe eilen; das Ruhrgebiet über Kassel Kräfte zur Vereinigung mit Thüringen werfen und dadurch das konterrevolutionäre Bayern, wo allein die Faschist:innen mit der SA über 30.000 Mann unter Waffen verfügten, vom Rest des Landes abschneiden; Mitteldeutschland sollte die Reaktion aus Bayern stoppen und Berlin nach Stabilisierung der Macht sich so schnell wie möglich mit Mitteldeutschland verbinden. So wäre je nach Verlauf der Kämpfe eine Sowjetrepublik Deutschland mit der Hauptstadt Berlin entstanden, die ein zusammenhängendes Territorium umfasst hätte. Minimal hätte Sowjetdeutschland damit aus Berlin, Sachsen und Thüringen bestanden, bei Erfolg des Plans aus dem Ruhrgebiet im Westen über die Küste (Hamburg, Kiel) die Elbe entlang bis nach Berlin im Osten und im Süden Sachsen und Thüringen.

Dieser Plan war eine durch den Einmarsch der Reichswehr in Sachsen und Thüringen erzwungene Modifikation des ursprünglichen Planes. Dieser war denselben operativen Prinzipien gefolgt, hatte aber vorgesehen, „Arbeiterregierungen“ in Sachsen und Thüringen zu bilden, um dort rote Stützungsgebiete zu bilden. Dort hätte sich die zu schaffende Rote Armee Deutschlands sammeln sollen. Entsprechend dieses ursprünglichen Plans war die KPD auf Anweisung des EKKI am 10. Oktober in Sachsen und am 16. Oktober in Thüringen in die sozialdemokratisch geführte Landesregierungen eingetreten. Eine Überlegung dabei war, dass man hoffte, so an die Waffen der Landespolizei zu gelangen und 50.000 Arbeiter:innen bewaffnen zu können.40 Die Arbeiter:innenregierungen in Mitteldeutschland waren somit im ursprünglichen Aufstandsplan als ein Gebiet der frühen Doppelmacht angedacht, wo Teile der organisatorischen Vorbereitung noch vor dem reichsweiten Aufstand hätten erfolgen sollen. Da die Konterrevolution mit dem Einmarsch in Sachsen den Vorbereitungen zuvor kam, musste Ende Oktober alles strikt illegal und damit unter schlechteren Vorzeichen verlaufen. Immerhin konnte Roze aber vermelden, dass am 28. Oktober. bereits 150.000 Mann in den Proletarischen Hundertschaften erfasst waren, aus denen 12 Divisionen gebildet werden sollten.

Er selbst unterstrich die entscheidende Frage für den Aufstandsplan: „Grundbedingung für die Durchführung dieses Planes ist: Einheitlichkeit der politischen Ziele des größten Teils der organisierten Arbeiterschaft Deutschlands. Hierzu ist vor allem notwendig Schaffung einer festgefügten Einheitsfront der Werktätigen. Solange diese Vorbedingung für den Kampf um die Macht mit einem standhaften Gegner fehlt, wie […] (es) zur Zeit die bewaffnete Reaktion eben ist, kann der Kampf mit einer Niederlage des Proletariats enden.“ 41

Um den Ablauf der Ereignisse, die zum Hamburger Aufstand geführt haben, nachvollziehbar zu machen, mussten wir hier etwas vorgreifen. Der Bericht Rozes von 28. Oktober (also nach Ende des Hamburger Aufstandes) zeigt zweierlei:

Der Abbruch des Aufstands in Hamburg erfolgte, um zu einem späteren Zeitpunkt unter günstigeren Bedingungen reichsweit loszuschlagen. Je nach Person und Bewertung der Quellen können wir heute feststellen, dass die verantwortlichen Genoss:innen bis November und teilweise noch im Dezember davon ausgingen, dass die Revolution in Deutschland unmittelbar bevorstand. Heute wissen wir, dass nach dem Hamburger Aufstand die revolutionäre Welle abebbte, die politische, wie ökonomische Lage sich stabilisierte und diese Faktoren den Plan für den reichsweiten Aufstand verhinderten.

Doch Ende Oktober 1923 gab es einen operativen Aufstandsplan, der militärische und politische Gegebenheiten berücksichtigte und der salopp formuliert „auf Kante genäht“ war. Aber die als notwendig erachteten politischen Voraussetzungen (u.a. feste Einheitsfront der Werktätigen), um einen standhaften Gegner besiegen zu können, der innerhalb kurzer Zeit eine Armee von 800.000 Mann in die Schlacht werfen konnte (siehe oben Eduard Fimmen), waren aus Sicht der Aufstandsleitung weder am 20., noch am 22. noch Ende Oktober gegeben, so dass sie ein früheres Losschlagen nach diesem Plan nicht für möglich erachteten.

Das klingt plausibel und trotzdem bleibt ein ABER. Wir werden darauf in unserer Einschätzung am Ende zurückkommen. Dieses Aber ist jedoch nicht ausschließlich eine rückblickende Bewertung auf einem ganz anderen Informationsstand, als er damals in der Aufstandsleitung vorhanden war und einer historischen Rückschau. Es besteht aus einem Komplex zusammenhängender Fragen und Einschätzungen: Sollte man es trotzdem wagen, auch wenn die Ereignisse sich überschlugen und es nicht unbedingt nach dem eigenen Planungen lief? Wäre ein Losschlagen zu diesen Bedingungen „putschistisches Abenteurertum“ oder die notwendige „Kühnheit, Kühnheit, Kühnheit“, die nach Engels42 und Danton, dem großem Revolutionär aus der französischen Revolution, die Grundbedingung jedes Aufstandes sein muss? Welche Teile hätten wie durch energisches Handeln mitgerissen werden können und wie viele wären abwartend am Rande stehen geblieben? Wie stabil war das Lager der Konterrevolution und wie stand es real um die Kampfkraft der feindlichen Streitmacht? Diese Fragen bereiteten offensichtlich bereits damals den verantwortlichen Genoss:innen Kopfzerbrechen und dies muss beim nachfolgend geschilderten Hin und Her berücksichtigt werden.

Der Ablauf des Hamburger Aufstandes

Das grundlegende Problem der Aufstandsleitung bestand darin, wann und wie man zuschlagen sollte. Wie geschildert waren die organisatorischen Vorbereitungen um den 20./21. Oktober nicht abgeschlossen, insbesondere fehlte noch das als absolut notwendig betrachtete Minimum an Waffen. Gleichzeitig funktionierte die Struktur aus Aufstandsleitung und ZK der KPD nur mit Reibungen, was neben politischen Unterschieden auch an den verschiedenen Erfahrungen der führenden Genoss:innen gelegen haben dürfte. Es macht einen Unterschied, ob man in seinem revolutionären Leben wie die ZK-Genoss:innen der KPD bis dato vor allem politisch gekämpft hat oder schon einmal an einem militärischen Kampf an führender Stelle beteiligt gewesen ist, wie die nach Deutschland entsandten sowjetischen Genoss:innen. Politisch-militärisch stand u.a. die Frage im Raum, ob man den Kampf um die Macht nur defensiv als Abwehr eines erwarteten faschistischen Putsches in Bayern und anderswo beginnen sollte? Dann hätte man, wie sich bei der Abwehr des Kapp-Putsches 1920 gezeigt hatte, vermutlich auch die linke Sozialdemokratie und breitere sozialdemokratisch beeinflusste Arbeiter:innenmassen mit im Boot gehabt. Oder sollte man, auch um der drohenden Konterrevolution zuvor zu kommen, letztlich nur auf die eigenen Kräfte gestützt den Aufstand beginnen und die Massen dadurch mitreißen?

Ursprünglich sollte der Aufstand mit der für den 9. November geplanten Reichsbetriebsrätekonfenz verknüpft werden, die den Generalstreik als Signal zum Aufstand beschließen sollte. Doch dann schlug die Konterrevolution zuerst zu. Aber statt des erwarteten nationalistisch-faschistischen Putsches erfolgte der Schlag mit „legalen“ Mitteln. Mit der sogenannten Reichsexekutive wurden die Landesregierungen in Sachsen und Thüringen erst entmachtet und nach einigen Tagen abgesetzt. Ab dem 20. Oktober marschierte die Reichswehr in Sachsen ein, wobei sie langsam vorging und zunächst nur einige zentrale Städte besetzte. Trotzdem war damit der ursprüngliche Aufstandsplan hinfällig. Das in Dresden versammelte Revolutionskomitee – Brandler und weitere Genoss:innen des ZK der KPD waren ja erst vor 10 Tagen in die Landesregierung eingetreten und dazu von Berlin nach Dresden umgezogen – musste sich erst einmal vor der Reichswehr in Sicherheit bringen und siedelte wieder nach Berlin um.

Das ZK der KPD beschloss daraufhin am Abend des 20. Oktobers, also ca. 24 Stunden nach Beginn des Einmarsches der Reichswehr, den Aufruf zum Generalstreik, was seit dem Sommer für den M-Apparat als Signal zum Losschlagen galt. Die engere Parteiführung um Brandler entschied nach der Sitzung des ZK vor der Veröffentlichung des Aufrufs zum Generalstreik noch die schon länger für den 21. Oktober geplante Chemnitzer Betriebsrätekonferenz am nächsten Tag abzuwarten und den Generalstreik dort gemeinsam mit der Sozialdemokratie auszurufen. Gleichzeitig wurde intern der Aufstandsbefehl an Teile des M-Apparates rausgegeben und Instrukteure losgeschickt. U.a. machte sich das ZK-Mitglied Hermann Remmele (1880 bis 1939) nach Kiel auf den Weg, um dort den Befehl für einen lokalen Aufstand zu überbringen. Dahinter standen folgende Überlegungen: „In irgend einer Stadt wird ein ‚spontaner Aufstand‘ angekurbelt. Löst dieser Aufstand echte spontane Massenbewegungen in den großen Industriegebieten aus, kommt es zu bewaffneten Aufständen in verschiedenen Teilen des Reichs, dann wäre das ein sicheres Anzeichen für das Vorhandensein einer akuten revolutionären Situation. Dann könnte das ZK der KPD, ohne sich von den Massen zu isolieren, den Generalstreik in ganz Deutschland proklamieren und damit den bewaffneten Aufstand mit dem Ziel der Machtergreifung entfesseln.43

Anwesend bei der Chemnitzer Betriebsrätekonferenz waren 66 Delegierte der KPD, 140 der Betriebsräte, 122 der Gewerkschaften, 79 der Kontrollausschüsse, 20 der sächsischen ADGB-Führung, 15 der Aktionsausschüsse, 16 der Arbeitslosenorganisationen, 26 der Arbeiterkooperativen, 7 der SPD und ein Unabhängiger. Brandlers Vorschlag zum Generalstreik soll mit eisigem Schweigen aufgenommen worden sein und die SPD-Delegation unter der Leitung von Arbeitsminister Georg Graupe (1875 – 1959) drohte, wenn der Generalstreik auf die Tagesordnung gesetzt würde, mit dem Verlassen der Konferenz, was faktisch den Bruch der sächsischen “Arbeiterregierung“ bedeutet hätte. Der formale Kompromiss, eine Kommission zu bilden, die die Perspektive eines Generalstreiks prüfen sollte, bedeutete, dass es keinen Aufruf gab! Der Verlauf der Chemnitzer Konferenz, wo die Mehrheit der (linken) Sozialdemokratie folgte, entsprach dabei durchaus den politischen Kräfteverhältnissen im aktiven Teil der Arbeiter:innenklasse. Zwar gab es eine deutliche Radikalisierung in der Arbeiter:innenklasse, aber der KPD war es nicht gelungen, die für den Aufstand notwendige politische Einheitsfront von unten herzustellen. Das Zentrum wollte mehrheitlich keinen Aufstand, die SPD sowieso nicht und die KPD war sich unschlüssig, ob man allein auf die eigenen Kräfte gestützt losschlagen sollte:

Als auch der ‚linke‘ Flügel der SPD sich weigerte, am Generalstreik teilzunehmen, beschloß Brandler den Rückzug. Seit dieser Zeit (der Betriebsrätekonferenz am 21.10.1923) betonte Brandler bei verschiedenen Gelegenheiten (EKKI, Weltkongreß der KI, Parteitagen) seine Alleinverantwortung für diesen Rückzug.44

Währenddessen musste Remmele in Kiel erfahren, dass dort alle Voraussetzungen für den Aufstand fehlten. Er reiste entsprechend seines Auftrags nach Hamburg weiter. Dort wurde schließlich in jenen Teilen losgeschlagen, wo der neue Befehl vom 21. Oktober für die Verschiebung des Aufstandes, nicht mehr rechtzeitig eintraf.45 Die Kommandoketten und Kommunikationswege funktionierten im entscheidenden Moment nicht mehr richtig. Das führte im Ergebnis dazu, dass wichtige Informationen nicht rechtzeitig bei den Empfänger:innen angekommen sind und verantwortliche Genoss:innen immer wieder von der Entwicklung überrascht wurden. Am 22. Oktober bestätigten die Aufstandsleitung in Deutschland und das Politbüro in Moskau offiziell Brandlers Entscheidung zur Verschiebung des Aufstands.

Nachdem auf verwickelten Wegen die Anweisung zum Aufstand, aber nicht die zur Absage bzw. Verschiebung, am 21. Oktober Hamburg erreichte, wurde noch am selben Abend in einer Sitzung der verantwortlichen Funktionäre der Hamburger Parteiorganisation beschlossen loszuschlagen. Die nächsten 36 Stunden vergingen mit den notwendigen militärischen und politischen Vorbereitungen. Am 22. Oktober abends wurde bei einer weiteren Sitzung der Hamburger Parteileitung der Zeitpunkt für den Aufstand auf 5 Uhr früh am 23. Oktober festgelegt und die konspirative Mobilisierung der Milizen über Nacht durchgeführt. Gleichzeitig wurde erst auf dieser Sitzung Hans Kippenberger (1898 – 1937) zum militärischen Leiter in Barmbek ernannt. Zu Beginn des Aufstandes verfügten die Kampfgruppen in ganz Hamburg gerade einmal über 80 Waffen.46 Der Aufstandsplan in Hamburg sah vor, dass die Kampfgruppen zunächst die Polizeiwachen in einem Überraschungsangriff einnehmen, um die dort befindlichen Waffen in die Hände der Arbeiter:innen zu bekommen und die Polizei und Faschist:innen in den eingenommenen Arbeiter:innenvierteln entwaffnet werden sollten. Später am Tag sollte dann durch das Zusammenziehen der bewaffneten Milizen in Verbindung mit großen Streikdemonstrationen in die Innenstadt gezogen werden und der Feind über die Elbe nach Süden abgedrängt werden. Wichtige Punkte wie Bahnhöfe, der Flugplatz, Post- und Telegrafenamt, zentrale Zufahrtswege usw. sollten schon vorher von Kampfgruppen besetzt werden.

Nachts, um 1 Uhr, trafen die Leiter der Kampfgruppen in Barmbek, Ulenhorst und Winterhude zusammen. Die Mobilisierung hatte reibungslos funktioniert und alle Genoss:innen waren vollständig erschienen. Für die Überrumpelung der 20 Polizeiwachen in diesem Teil Hamburgs verfügten die Kampfgruppen über 19 Gewehre und 27 Revolver.

Jeweils ein bis zwei Kampfgruppen a 5 Personen wurden zu einem Stoßtrupp formiert, der jeweils zwei Waffen erhielt. Als die Stoßtruppler erfuhren, dass sie entgegen früherer Versprechungen fast komplett unbewaffnet in den Kampf geschickt werden sollten, desertierte ca. ein Drittel von ihnen auf dem Weg in die Ausgangsstellungen. Der Rest begann mit großer Kühnheit pünktlich um 5 Uhr den Sturm auf die Wachen. Um 5:30 hatten die Aufständischen 17 Wachen erobert und weitere Waffen erbeutet. Die nicht eingenommenen Wachen sowie die zunächst ausgesparten drei größeren Polizeikasernen bekamen sehr schnell Verstärkung, so dass sie nicht mehr eingenommen werden konnten.

Neben Barmbek, das sich zum Hauptschauplatz der Kämpfe entwickelte, wurde insbesondere in Schiffbek, einem kleinen, vor den Toren der Stadt gelegenen Arbeiter:innenvorort gekämpft. Zu kleineren Kampfhandlungen kam es daneben in Eilbek, Hamm und Eimsbüttel.

In Barmbek informierten unbewaffnete Genoss:innen die Arbeiter:innen parallel zum Losschlagen der Kampfgruppen an den Verkehrsknoten und vor den Fabriktoren vom Beginn des Kampfes. Daraufhin strömten die Arbeiter:innen in die Aufstandsviertel und beteiligten sich am Kampf. Gegen 7 Uhr hatte die Aufstandsleitung in Barmbek den Befehl zum Bau von Barrikaden gegeben. „Parteilose Frauen waren die hauptsächlichen Erbauer der Barrikaden, sie litten auch am meisten. Gerade sie brachen die Pflastersteine aus, fällten hundertjährige Bäume, hoben Schützengräben aus und besorgten Geräte für diese Arbeit.“ 47

Damit hatte die Aufstandsleitung den Übergang zur Defensive eingeleitet, bis aus ihrer Sicht Verstärkung aus anderen Stadtteilen eintreffen würde. Diese kam aber nicht, denn der aus Chemnitz zurückgekehrte Hugo Urbahns48 (1890 – 1946) hatte die neue Direktive zur Einstellung der Kämpfe und der Verschiebung des Aufstands rechtzeitig an alle Parteileitungen außer an die in den Stadtteilen Barmbek und Schiffbek weiterleiten können, so dass es in den anderen Teilen Hamburgs ruhig blieb. Diese Direktive erreichte das schnell von der Polizei umzingelte Barmbek jedoch erst gegen 17 Uhr am Tag des Aufstandes und das isolierte Schiffbek gar nicht.

Die Polizei versuchte tagsüber zweimal energisch von Süden her mit starken Kräften die Barrikaden in Barmbek zu stürmen und wurde unter hohen Verlusten auf ihren Seiten zurückgeschlagen. Militärisch gesehen spielte dabei die neue Barrikadentaktik, die im Laufe des Tages in Barmbek entstanden ist, eine wichtige Rolle. Anders als in früheren städtischen Barrikadenkämpfen (Paris 1871, Moskau 1905), bei denen die Straßen und Viertel auf den Barrikaden verteidigt wurden, überließen die Kampfgruppen insbesondere bei ihren Rückzugsgefechten die Straßen weitgehend dem Feind und feuerten aus Wohnungen und von Dächern auf die vorrückenden Truppen. Letztlich wurde an diesem Tag erstmals die Verbindung von Barrikadenkampf mit städtischen Partisanenaktionen breiter angewendet.

Die entscheidende Rolle im Hamburger Aufstand hat die revolutionäre Moral gespielt: Nicht nur bei den 200 bis 300 Mitgliedern der Kampfgruppen, deren Kühnheit, Kreativität und Disziplin beispielhaft für rote Partisan:innen steht, sondern bei allen kämpfenden Arbeiter:innen. Ihre militärische Kampfkraft hat Stufen erreicht, die in kaum einem Verhältnis mehr zu ihrer geringen Zahl und ihrer noch geringeren Bewaffnung stand. In Schiffbek hielten 35 Kommunist:innen unterstützt von hunderten bis tausenden unbewaffneten Arbeiter:innen zwei Tage stand. Für den finalen Sturmangriff mobilisierte die Konterrevolution 5.000 Mann, griff mit einem Flugzeug, das Maschinengewehrfeuer über den Stadtteil verstreute, Panzerwagen, Kavallerie und Schiffen von allen Seiten gleichzeitig an. Trotzdem dauerte der Kampf drei Stunden und am Ende zogen sich die roten Partisan:innen durch eine von ihnen erzwungene Bresche im Belagerungsring über die Elbe zurück, gedeckt von einer Nachhut von drei Genoss:innen.

Auch in Barmbek stellten die reaktionären Truppen am Ende des 1. Tages gegen 18:30 Uhr ihre Angriffe ein. Auch wenn in allen Berichten die mustergültige Disziplin der jungen Kämpfer:innen betont wird, wurde der kurz zuvor eingetroffene Befehl zur Einstellung des Aufstands zunächst nicht befolgt. Im Gegenteil beschloss die Kampfleitung die Fortsetzung des Kampfes und organisierte in der Nacht, während die Konterrevolution sich auf den Sturmangriff am kommenden Tag vorbereitete, ein Ausweichmanöver in den nördlich gelegenen Außenbezirk Bramfeld. Am 24. Oktober rückte die Polizeitruppen bis 11 Uhr in Barmbek ein, das nur noch von einzelnen Kampfgruppen als Nachhut mit einer Partisanentaktik verteidigt wurde. Erst als die Kampfleitung in Bramfeld weitere Informationen und Instruktionen erreichten, brach sie den Kampf dort im Laufe des Tages ab und organisierte den Rückzug.

Einzelne Kampfgruppen lieferten sich noch am 25. Oktober Nachhutgefechte mit der Polizei und auch am 26. Oktober kam es vereinzelt noch zu organisiertem Widerstand gegen die nach dem Aufstand angeordneten massenhaften Hausdurchsuchungen.

Die Reaktion der direkt mit dem Aufstand in Berührung gekommenen Arbeiter:innen und werktätigen Massen war beeindruckend. Tausende haben sich aktiv am Kampf beteiligt, auch wenn sie keine Waffen hatten und schon bald klar wurde, dass es keinen allgemeinen Aufstand in Deutschland oder auch nur ganz Hamburg gab. Überraschend für die Aufstandsleitung war die nicht erwartete große Unterstützung durch das Kleinbürger:innentum.

Auch wenn neben den organisierten Kommunist:innen nur ein Teil der Arbeiter:innenklasse gekämpft hat, die Mehrheit sich zurückhielt und eine abwartende Haltung der passiven Sympathie einnahm, so war der Beweis erbracht: Die revolutionäre Krise in Deutschland war da, Teile der Arbeiter:innen waren bereit in die Schlacht zu ziehen und die abwartende Mehrheit hätte mitgezogen werden müssen.

Verpasste Chance und Sündenböcke

Eine taktische Niederlage und ein moralischer Sieg

Die revolutionäre Moral der Kommunist:innen und der mit ihnen kämpfenden Arbeiter:innen wird in vielen Berichten hervorgehoben. Auch beim Feind hat man Respekt erreicht. Die feindlichen Fußsoldaten sind am Ende nur sehr langsam und vorsichtig vorgerückt. Offensichtlich haben sie es überhaupt nicht darauf angelegt mit den Partisan:innen zusammen zu stoßen; anders wäre der gelungene Rückzug aus Schiffbek über die Elbe auch nicht möglich gewesen. „35 gegen 5000!“ – dieser Ausruf von Larissa Reissner (1895 – 1926) bringt die erzielte Hochachtung bei Freund wie Feind genauso zum Ausdruck wie der von ihr überlieferte Ausruf jenes Leutnants, der seine Rekruten mit gezogener Waffe zum Angriff gegen einen einzigen Schützen treiben musste:

Ihr feiges Gesindel! … Mit zwanzig solcher Leute wie die da (eine Geste in Richtung Dachfenster) würde ich mit ein paar tausend wie ihr fertig werden.“ 49

Wenn man die unzureichende Vorbereitung, das Hin und Her in der Aufstandsleitung, die politischen Widersprüche in KPD und KPdSU, die nicht hergestellte Einheitsfront von unten mit den breitesten Arbeiter:innenmassen usw. in Rechnung stellt, dann war es gerade diese revolutionäre Kampfmoral, die eine taktische Niederlage, die alle Zutaten für eine verheerende Niederlage der KPD in sich trug, in einen moralischen Sieg verwandelte. Daran erinnerte auch Ernst Thälmann (1866 – 1944) am zweiten Jahrestag des Hamburger Aufstands in einem Zeitungsartikel in der Roten Fahne: „Das große Resultat des Hamburger Aufstandes ist, dass die Arbeiter den scheinbar unbesieglichen Klassenfeind dreimal vierundzwanzig Stunden lang in seiner ganzen Schwäche gesehen haben. Zu den Hamburger Tagen haben die Arbeiter die Bourgeoisie am Rande des Abgrundes gesehen. Und sie werden diesen Augenblick niemals vergessen!“50

Verpasste Chance statt Verschiebung des Aufstands

Der Aufstand in Teilen Hamburgs löste keine spontanen revolutionären Massenaktionen der Arbeiter:innen aus. Logischerweise kann aber unter den oben beschriebenen Bedingungen auch keine „spontane“ Massenbewegung entstehen, wenn die Aufstandsleitung und das ZK der KPD zwischen dem 20. und 24. Oktober alles in ihrer Macht stehende getan haben, um die Bewegung einzudämmen und offensive Kämpfe der Kommunist:innen wie der Massen zu verhindern. Die tatsächliche Massenstimmung wurde im Gegensatz dazu gerade in den Schwierigkeiten der KPD sichtbar, den aktiven Teil der Arbeiter:innen vom Kampf zurück zu halten. Über die Stimmung der abwartenden, „sozialdemokratischen“ Mehrheit der Arbeiter:innenklasse geben die Ereignisse insofern keine Auskunft, als man diese Teile der Massen hätte mitreißen müssen, was wiederum ein aktives, reichsweites und einheitliches offensives Handeln der kämpferischen Teile unter Führung der KPD vorausgesetzt hätte.

Nach der Verschiebung des Aufstands und dem Abbruch der Kämpfe in Hamburg ging die Konterrevolution weiter in die Offensive. Die Arbeiterregierungen in Sachsen und Thüringen wurden abgesetzt und der militärische Ausnahmezustand ausgerufen. Der Reichswehrgeneral Hans von Seeckt (1866 – 1936) bekam vom Reichspräsidenten die vollziehende und alle militärische Gewalt übertragen. Bis zur Aufhebung des Ausnahmezustandes am 1. April 1924 war die KPD verboten und arbeitete aus der Illegalität weiter.

Auch wenn in den Aufstandsgebieten nach dem Einmarsch der Reichswehr der weiße Terror wütete,51 blieb die Repression insgesamt begrenzt. Insbesondere ist sie nicht vergleichbar mit dem gewesen, was die Arbeiter:innenbewegung nach der Übertragung der Macht an die NSDAP ab Januar 1933 erleben sollte. „Vom 1. Januar 1924 bis zum 30. April 1925 fanden 981 politische Prozesse statt. Die Gerichte verurteilten 5.768 Revolutionäre zu insgesamt 4.184 Jahren Freiheitsstrafen und 233.261 Reichsmark Geldstrafe.“52

Sinowjew kritisierte 1924 als Sekretär der KI und maßgeblicher Befürworter des Aufstands einerseits die rechte Politik Brandlers und andererseits betonte er gleichzeitig, er sei „keineswegs der Ansicht, es sei ein Fehler gewesen, dass die Partei im Oktober das Proletariat nicht zum Entscheidungskampf aufgerufen hat.“ 53

Die Genoss:innen von KPdSU, KI und KPD sind also zunächst alle davon ausgegangen, dass der Versuch der sozialistischen Revolution in Deutschland mit dem Abbruch des Aufstandes in Teilen Hamburgs nur verschoben sei.

Als dann am 8. November in München die Faschist:innen ihren Putschversuch starteten, wurden sie am nächsten Tag von der Polizei gestoppt. Der Hintergrund waren auch die taktischen Widersprüche in der Monopolbourgeoisie, wo sich die Fraktion der „jungen“ Elektro- und Chemiemonopole gegen die „alten“ Kohle- und Stahlmonopolisten durchgesetzt hatte. Sie suchten und verwirklichten im folgenden eine Annäherung an den US-Imperialismus, was mittels Kapitalimport aus den USA zur relativen Stabilisierung der Wirtschaft führte. Ein offener Bürgerkrieg mit den Kommunist:innen, der möglicherweise in einen Krieg mit der Sowjetunion eskaliert wäre, passte in diese Strategie ebenso wenig wie die Machtübertragung an die Faschist:innen mit ihrem Programm eines aggressiv nationalistischen Kurses.

Stattdessen setzte die Bourgeoisie mehrheitlich auf den „legalen Ausnahmezustand“ und damit de facto eine Militärdiktatur unter von Seeckt. Ähnlich wie während des Ausnahmezustandes im 1. Weltkrieg verblieben der KPD damit trotz Verbot gewisse politische Spielräume, im Gegensatz zur faschistischen Diktatur. Mit dieser Entscheidung im November 1923 hat sich auch die Monopolbourgeoisie gegen eine Hauptschlacht mit der revolutionären Seite entschieden. Um den 8. und 9. November war die revolutionäre Stimmung der Massen schon deutlich zurückgegangen, auch wenn die Bewaffnung und Stärke der Proletarischen Hundertschaften, wie der Kampfgruppen, jetzt besser war als beim Aufstandsversuch in Teilen Hamburgs. Auch wenn das Revolutionskomitee, die KI- und KPD-Führung den ganzen November und auch noch im Dezember davon ausgingen, dass der Aufstand nur verschoben sei, war die zeitliche Synchronisation des Vorgehens der Kampfgruppen mit dem Höhepunkt der spontanen Massenbewegung nicht gelungen. Mit der zu späten Vorbereitung des Aufstandes, der Abhängigkeit von den Entscheidungen der (linken) Sozialdemokratie und der Entscheidung zur Rücknahme des Aufstandsbefehls am 21. Oktober wurde eine historische Chance verpasst, die damalige revolutionäre Situation mit allen zur Verfügung stehenden Kräften zu nutzen.

Mit der Mitte November begonnenen Währungsreform, dem Teilrückzug der französischen Truppen aus dem Ruhrgebiet ab dem 10. Dezember und dem Einströmen amerikanischen Kapitals („Dawes-Plan“) setzte zum Jahreswechsel 1923/24 eine Phase der relativen Stabilisierung des Kapitalismus ein, die bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 andauerte und die spontane Aktivität der Massen zurückgehen ließ. Damit endete auch die revolutionäre Situation und das Zeitfenster für einen Aufstand war vergangen.

Komplexität der Entscheidungssituation

Auf dem Höhepunkt der revolutionären Krise zwischen dem 20. und 24. Oktober gab es in einer sehr komplexen Situation nacheinander verschiedene oben in ihrer Wechselwirkung bereits beschriebene Entscheidungen, welche die Geschehnisse beeinflussten. Wir wollen hier noch einmal die für die Gesamtentwicklung bedeutsamsten Ereignisse und Entscheidungen zusammenfassen:

Verhängung der Reichsexekutive und Beginn des Einmarschs der Reichswehr in Sachsen am 20. Oktober. Hier wurde zunächst entschieden, weder den M-Apparat noch die Arbeiter:innen unverzüglich zum Kampf gegen die vorrückenden Reichswehr zu mobilisieren, was den zügigen Einmarsch und die Besetzung Dresdens als Regierungssitz der sächsischen Arbeiterregierung ermöglichte.

Am Abend des 20. Oktober erfolgte der Beschluss des ZK der KPD, zum Generalstreik aufzurufen und gleichzeitig den Aufstandsbefehl an Teile des M-Apparats herauszugeben.

Nachdem sich am 21. Oktober der linke Flügel der SPD auf der Chemnitzer Konferenz dem Aufruf zum Generalstreik verweigerte, erfolgte die Rücknahme des Aufstandsbefehls durch Brandler und die in Chemnitz anwesenden Teile des ZK. Der Beschluss wurde am 22. Oktober von der (kompletten) Aufstandsleitung und dem Politbüro der RKP(b) bestätigt.

Der in Teilen Hamburgs am 23. Oktober ausgebrochene Aufstand sollte am späten Nachmittag abgebrochen werden. Da die Kämpfer:innen in Barmbek sich zunächst weigerten, wurde der Aufstand nach weiteren Konsultationen erst am 24. Oktober abgebrochen.

Es gab also ein mehrere Tage andauerndes Zeitfenster und mehrere Situationen, wo es möglich gewesen wäre, im Laufe der Entscheidungen und Abläufe in der akut revolutionären Situation zu einem anderen Vorgehen zu gelangen.

Neben dem bereits dargelegten Stand der Vorbereitungen, die zwischen dem 20. und 24. Oktober noch nicht abgeschlossen waren, galt es vor allem, die Stimmung in den Massen zu berücksichtigen. Die war, auch im Nachhinein gesehen, nicht eindeutig, sondern durchaus widersprüchlich. Zusätzlich zu den ca. 150.000 Mann in den proletarischen Hundertschaften war eine jedenfalls nicht unerhebliche aktive Minderheit der Arbeiter:innen bereit zu kämpfen. Auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die revolutionäre Stimmung damals in Hamburg am weitesten entwickelt war und es in anderen Landesteilen weniger gut aussah, wäre vermutlich eine sechsstellige Zahl an (militärisch) unorganisierten Arbeiter:innen dazu gestoßen. Weiterhin hat der 23. Oktober in Barmbek gezeigt, dass Teile des verelendeten Kleinbürger:innentums in einem zentralen Aufstand direkt die Kämpfe unterstützt hätten.

Andererseits hat sich auch gezeigt, dass die sozialdemokratischen Massen der Arbeiter:innen und damit die Mehrheit der Klasse nicht bereit gewesen ist für den Entscheidungskampf. Auch wenn sie mit dem Aufstand sympathisierten und zumindest diffus für den Sozialismus waren, wie die Popularität der Forderungen nach Sozialisierung der Betriebe zeigte, hatten sie aller Verelendung zum Trotz noch deutlich „mehr zu verlieren als ihre Ketten“. Sie konnten hoffen, dass die Wirtschaftskrise und Hyperinflation nicht ewig andauern werden und danach das gewohnte Leben wieder möglich sein würde, so wie es dann mit der kapitalistischen Stabilisierung 1924 tatsächlich geschehen ist. Dies galt insbesondere für die Arbeiteraristokratie. Nicht umsonst beschreibt Larissa Reissner den Typus des Arbeiteraristokraten in einer fiktiven Biografie54 als notwendige Ergänzung zur Klassenrealität 1923, die man unter dem Eindruck des Heroismus der proletarischen Frauen in Barmbek und Schiffbek, der Begeisterung, die diese proletarischen Held:innen überall im Land hervorriefen und der Hochachtung für ihre Kampfmoral selbst in den Truppen des Feindes55 leicht übersieht.

Sachlich beschreibt der sowjetische Konsul in Hamburg am 27. Oktober die Haltung der dortigen Arbeiter:innen wie folgt: „Was die Arbeiter betrifft, so stand ihre Sympathie natürlich außer Zweifel, aber Posten in den Schützengräben nahmen sie dennoch nicht ein. Womit läßt sich das erklären? Mit zwei Ursachen: Die Ausrüstung war unzureichend, jede Patrone erfaßt und Außenstehende zog man aus reinen Sparsamkeitsgründen nicht heran. Die andere und wichtigere Ursache war die, dass die Arbeiter durch ihren eigenen, nirgendwo existierenden drahtlosen Telegraphen wußten, dass sich das Land insgesamt diesem Aufstand nicht anschloß. Sie zogen zwar ihre Hüte vor der Tapferkeit der Wagemutigen, sie selbst nahmen jedoch durchaus wohlüberlegt die Gewehre nicht in die Hand.“ 56

Da vermutlich „nur“ Hunderttausende und nicht Millionen Arbeiter:innen bereit zum Kampf waren und man nur zehntausende Waffen besaß, schien die Übermacht der Konterrevolution mit ca. 800.000 Mann unter Waffen zu groß. Taktisch schien die Rücknahme des Befehls zum Aufstand am 21./22. Oktober also die einzig richtige Entscheidung zu sein.

Aber stimmt das wirklich? Selbst wenn man dies bejaht, bleibt die Frage, ob es richtig war, den in Teilen Hamburgs stattfindenden Aufstand am 23./24. Oktober abzubrechen. Oder hätte man die kämpfenden Genoss:innen mit aller Kraft unterstützen sollen, um zu versuchen, aus der überaus ungünstigen Situationen durch ihre Signalwirkung an die proletarischen Massen im ganzen Reich doch noch einen Sieg zu erringen?

Mit dem Aufstand spielt man nicht“, zu Recht weist Kippenberger in seinem Bericht auf diesen bekannten Grundsatz der revolutionären Kriegsführung hin. „Man mußte, trotz des Ausgangs der Chemnitzer Konferenz, nachdem der Aufstand begonnen hatte, alle Kräfte des revolutionären Proletariats Hamburgs und der anderen Bezirke zwecks Ausdehnung des Aufstandes in Hamburg selbst und seiner Unterstützung durch die revolutionäre Aktion überall dort, wo das möglich war, mobilisieren.“ 57 Er bringt weitere plausible Argumente für seine Schlussfolgerung vor: „Wir sind der Meinung, dass Hamburg unter den damaligen Verhältnissen in Deutschland zum Signal für den Aufstand in einer Reihe von Zentren und Bezirken Deutschlands werden konnte. Das Hamburger Proletariat war imstande, die Macht zu erobern und in die Hand zu nehmen, trotz des Verrates der Sozialdemokratie.“ 58

Doch so kam es nicht. Der Aufstand in Hamburg ging damit als erneuter lokaler Aufstandsversuch in die revolutionäre Geschichte ein, obwohl er doch erstmals in Deutschland Teil eines das ganze Reich umfassenden Aufstandsplans mit Unterstützung der Kräfte der Kommunistischen Internationale war.

Geschichtserzählung und Entwicklung von Mythen

Unmittelbar nachdem die revolutionäre Krise in Deutschland vergangen und damit die Chance für den Aufstand vertan war, entbrannte in der Führung der KPdSU, KI und KPD die Diskussion über die Verantwortlichen dafür. Aber statt zu fragen, warum die Chance verspielt wurde, wurde vor allem die Frage gestellt – und je nach Fraktion unterschiedlich beantwortet – wer die Schuld am Scheitern des Plans für den Deutschen Oktober trägt? Diese ausgesprochene Kultur der Schuldzuweisung innerhalb der kommunistischen Weltbewegung ist ein Überbleibsel bürgerlicher Haltungen, die statt nach Ursachen in erster Linie nach Personen/Verantwortlichen sucht und fälschlicherweise glaubt, mit der Benennung von Sündenböcken die Probleme gelöst zu haben.

Wir haben im vorherigen Kapital versucht, die Komplexität der damaligen Situation zu skizzieren, weil das unseres Erachtens die Frage ist, anhand der wir aus der Geschichte lernen müssen. Die Problematik einer ähnlich komplexen Situation wird sich nämlich beim kommenden nächsten Anlauf sicher wieder stellen.

Was stattdessen Anfang 1924 tatsächlich geschehen ist, war die Konstruktion einer geschichtlichen Erzählung, die plausibel klang, Verantwortliche definierte und – das darf nicht vergessen werden – im fortdauernden Klassenkampf der Schadensbegrenzung diente. Faktisch haben einzelne Genoss:innen die alleinige Verantwortung für kollektive Entscheidungen übernommen, wie Hugo Urbahns vor Gericht, der sozusagen den Aufstand als seine persönliche Entscheidung darstellte, um die KPD (und die KI) zu „entlasten“.59

Auch Brandler hat immer die Verantwortung für die Entscheidung zur Rücknahme des Aufstands am 21. Oktober übernommen – die Entscheidung mag richtig oder falsch gewesen sein. Aber es ist eindeutig ein Mythos, dass er diese alleine getroffen hätte und der Grund dafür alleine sein notorischer Rechtsopportunismus gewesen wäre. Genau diese Erzählung hat sich aber ausgehend von den Auswertungen der KI, wo er als „Sündenbock“ herhalten musste, im kollektiven Bewusstsein der kommunistischen Bewegung festgesetzt.

Gerade die Kommunist:innen in den 1970er Jahren, die die Geschichte idealistisch-abstrakt betrachtet und alles, was die KI, Lenin oder Stalin gemacht haben, für richtig gehalten haben, haben die Niederlagen immer auf den „Verrat“ der revisionistischen und rechten Führer zurückgeführt. Mit ihrer Glorifizierung der Vergangenheit haben sie sich vielleicht eine Identität geschaffen, aber zugleich selbst den Weg zur Erkenntnis verbaut. Beispielhaft dafür kann die Broschüre der KPD/ML „50 Jahre Hamburger Aufstand“ aus dem Jahr 1973 angeführt werden:

Die Kommunistische Partei Deutschlands erfüllte damals ihre Aufgaben nicht. Warum? In ihrer Führung waren zeitweise Leute wie Brandler und Thalheimer, Agenten des Reformismus und Revisionismus. Sie wiegelten ab, boykottierten und verhinderten den Kampf und gaben die Arbeiterklasse in fast ganz Deutschland den wütenden Mordkommandos der weißen Reaktion preis. Sie bildeten gemeinsam mit „linken“ Sozialdemokraten Arbeiterregierungen. Aber sie nutzen diese Stellung nicht dazu aus, die Massen zu mobilisieren und zu bewaffnen, sondern sie beriefen sich auf den rein parlamentarischen Weg, der nicht überschritten werden durfte. (…) Gerade an diesem Beispiel zeigt sich sehr deutlich das Zusammenspiel von Reformismus, Revisionismus und Faschismus.“ 60

Bei dieser Erklärung handelt sich um einen Mythos, dessen innere Leere offen zu Tage tritt. Wenn die Anbiederung an die linke Sozialdemokratie und der Verrat der Rechtsopportunisten die alleinige Ursache für die Niederlage gewesen ist, wäre zu erklären, warum es überhaupt dazu kommen konnte, wieso der „Verrat“ gelungen ist, warum der Aufstand in Hamburg keine spontane Massenaktionen ausgelöst hat usw. Bei einer analytischen Auswertung muss man sich mit weniger klaren und deutlich unbequemeren Fragen auseinandersetzen wie z.B. jener, warum Teile der Massen wie die proletarischen Frauen in Barmbek, Arbeiter:innen von Sachsen bis zur Küste und auch Teile des Kleinbürger:innentums im Oktober 1923 nur mit Mühe vom Kampf abgehalten werden konnten, als die KPD noch nicht bereit zum Entscheidungskampf war bzw. diesen verschob? Mit der „Verratstheorie“ als Erklärungsmodell werden dagegen letztlich nur die entscheidenden Fragen umgangen, nämlich z.B. welche Lehren für kommende Aufstände aus dieser Erfahrung zu ziehen sind.

Lehren aus dem Hamburger Aufstand

Strategische Lehren

Wie sich im deutschen Oktober 1923 gezeigt hat, ist die Synchronisation verschiedener, komplexer gesellschaftlicher Entwicklungsstränge eine zentrale Frage der Revolutionsstrategie im imperialistischen Zentrum. Den Grund haben Radek und andere Genoss:innen im Oktober 1923 richtig erfasst: Anders als im Jahr 1917 in Russland musste der Kampf 1923 gegen eine organisierte und im Gegensatz zum Russischen Oktober stabile Konterrevolution geführt werden, deren staatliche Organe und insbesondere bewaffnete Strukturen (inklusive der faschistischen Paramilitärs) voll einsatzbereit gewesen sind. Natürlich wäre es einfacher, wenn wir die sozialistische Revolution z.B. nach einem verlorenem Krieg gegen einen „failed state“ (dt. gescheiterten Staat) durchführen könnten. Aber was machen wir, wenn es anders kommt?

Damit rückt die Frage der Zeit in den Blickpunkt. Es geht dabei um weit mehr als die technische Frage des Zeitpunkts des Aufstandes. Eigentlich gilt es als Binsenweisheit unter Kommunist:innen, dass sich in revolutionären Krisen die Abläufe beschleunigen und es zu Sprüngen kommt. Dies gilt insbesondere für die Stimmung und spontane Bewegung der Arbeiter:innen und werktätigen Massen, die im Vergleich zu dem einigermaßen planbaren Einsatz der Partei und ihrer Kräfte das dynamische Element des subjektiven Faktors in einer revolutionären Situation bildet. So wie die gescheiterte Revolution 1918/19 gezeigt hat, dass man die Kommunistische Partei nicht erst mitten im Kampf schaffen kann, wenn sie ihre Funktion erfüllen soll, so hat der Deutsche Oktober 1923 bewiesen, dass sich die ideologischen, politischen und militärischen Voraussetzungen für einen erfolgreichen Aufstand nicht innerhalb weniger Wochen aus dem Boden stampfen lassen, wenn die notwendige jahrelange Vorarbeit nicht ausreichend geleistet wurde. Wir können es uns also nicht leisten, bei einem quantitativen Denken stehen zu bleiben. Natürlich benötigt jede sozialistische Revolution Kampfgruppen, Milizen und auch eine Rote Armee in einer bestimmten Quantität, die sich aus den Kräfteverhältnissen ableitet. Aber ihr Aufbau ist weder eine rein technische Frage noch lässt er sich auf quantitative Aspekte wie Größe der Streitmacht, Zahl der Waffen usw. verengen. Vielmehr zeigt der Deutsche Oktober 1923, dass die Qualität die entscheidende Größe der Gleichung ist und zwar in dem Sinne, dass die Vorbereitungen getroffen sein müssen, wenn sich die objektive Lage ändert.

Wir haben bereits 2017 anhand der Lehren aus dem Roten Oktober in Russland geschrieben:

Der rechte Opportunismus nimmt die scheinbar entgegengesetzte Form eines metaphysischen Objektivismus ein. Damit meinen wir ein Festhalten an isoliert und starr verstandenen gegebenen Kräfteverhältnissen. Diese werden selbst zu Beginn des Aufstands in der Regel für uns ungünstig sein. Schon Clausewitz formuliert den zentralen Grundsatz der Kriegswissenschaft, wonach große (strategische) Erfolge im Krieg nur durch ein großes Risiko zu erringen sind. (…) Die nüchterne Mathematik der Abwägung der Kräfteverhältnisse in der gegebenen Lage wird in der realen Politik (fast) immer gegen uns stehen. Deshalb müssen wir auf die Dynamik der Situation setzen, auf Kräfte, die durch unser entschlossenes Handeln ,geschaffen‘ werden. Diese sind keine Fantasiekräfte, die unseren Träumen entspringen, sondern Kräfte, die potenziell in der gesellschaftlichen Krise als Möglichkeit vorhanden sind. Sie werden durch unsere von den Massen aufgegriffene Initiative zur Wirklichkeit. Anders ausgedrückt: Die revolutionäre Kunst besteht darin, in Unterlegenheit zu siegen!“ 61

Auch 100 Jahre nach dem Hamburger Aufstand prägt der Regionalismus das soziale Terrain in Deutschland und damit das Schlachtfeld zwischen Revolution und Konterrevolution. Es ist nicht absehbar, dass sich dies in den nächsten Jahrzehnten entscheidend ändern wird. Damit bleibt das Problem der Provinz die harte Nuss, die eine Revolutionsstrategie knacken muss. Nicht umsonst sah der operative Aufstandsplan für die 1. Phase die Vernichtung des inneren Feindes und dann sofort die Schaffung der Verbindung zwischen den revolutionären Zentren vor. Wie man die revolutionären Zentren verbinden und die Hauptstadt Berlin halten kann, die von sehr viel Provinz umgeben ist, ist eine Frage, die sich aus heutiger Sicht auch beim nächsten Anlauf zur Eroberung der Macht im revolutionären Bürgerkrieg stellen wird und gelöst werden muss.

Die wichtigste strategische Lehre aus den Geheimdokumenten der Bolschewiki erscheint uns die Fokussierung in der revolutionären Führung 1923 auf die Frage zu sein, wie die eroberte Macht in einem Teil Deutschlands gehalten werden kann. Die oben von Eduard Fimmen zitierten geostrategischen Faktoren (Zentrallage in Mitteleuropa und Einkreisung durch konterrevolutionären Ring, Möglichkeit einer vollständigen Seeblockade durch imperialistische Mächte usw.) sind unverändert gültig. So wie sich 1923 die Frage gestellt hat, wie die imperialistische Einkreisung einer Räterepublik Deutschland durchbrochen werden kann, so wird sie sich wohl auch bei einem zukünftigen Aufstand stellen. Wir können diese Fragen heute noch nicht beantworten, aber die Beschäftigung mit der Realität des Deutschen Oktobers statt mit den geschichtlichen Mythen von großen Held:innen und bösen Verrätern drängt eine:n dazu, sich ernsthaft mit der Frage der Notwendigkeit einer regionalen Revolution auseinander zu setzen, die zumindest Teile von Europa umfassen müsste.

Politische Lehren

Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben – das gilt für die sozialistische Revolution im imperialistischen Zentrum gleich doppelt und dreifach. Ohne eine Partei neuen Typs als revolutionäre Kampforganisation ist jeder Gedanke an einen neuen Aufstand Kinderei. Aber diese Partei kann in Deutschland nur aus den aktuell bestehenden Bedingungen heraus geschaffen werden. Dazu gehört auch die Geschichte der kommunistischen und Arbeiter:innenbewegung in Deutschland samt der Tradition einer unzureichenden Bolschewisierung und tief verwurzelter sozialdemokratischer Traditionen. Die KPD ist nach der Novemberrevolution 1918 unter komplett anderen Bedingungen entstanden als die KPdSU in Russland. Seit der Gründung der KI 1921 wurden, geführt von den russischen Bolschewiki, Anstrengungen unternommen in der KPD als Massenpartei mit sozialdemokratischen Strukturen bolschewistische Prinzipien zu verankern. Zum Zeitpunkt des Aufstandes standen diese Anstrengungen aber noch am Anfang. So fehlte der KPD zum Beispiel eine quantitativ wie qualitativ ausreichende Verankerung in den Betrieben durch entwickelte Betriebszellen, welche auch das Aktivitätsniveau der Klasse entscheidend beeinflussen konnte. Erst ab Mitte der 1920er Jahre gab es bei der Bolschewisierung nennenswerte Fortschritte, aber bis zur Machtübertragung an den Faschismus 1933 ist dies nur bis zu einem gewissen Grad gelungen. Zusätzlich muss das Modell der bolschewistischen Partei dabei auch in der Lage sein, sich mit der Mehrheit der Arbeiter:innenklasse und darüber hinaus zu verbinden, d.h. wir müssen das Problem des Kleinbürger:innentums und der kleinbürgerlichen Lebenswelten in der Arbeiter:innenklasse lösen.

Alle negativen sozialdemokratischen Traditionen sind bei uns in Deutschland besonders stark verinnerlicht. Entsprechend kann die Bolschewisierung nur als umfassender Prozess gelingen, der alle Aspekte der revolutionären Politik beinhalten muss und keinesfalls auf einzelne organisatorische Maßnahmen oder politische Teilaspekte begrenzt werden darf.

Die KPD konnte weder 1923 noch 1933 das Problem lösen, dass ihre soziale Basis zu klein für eine sozialistische Revolution gewesen ist und im wesentlichen nur eine Minderheit der Arbeiter:innenklasse, nämlich den kleineren, kämpferischen Teil der Industriearbeiterschaft in bestimmten städtischen Zentren sowie einen Teil der Landarbeiter:innen (u.a. in Baden-Württemberg) umfasst hat. Es reicht aber nicht nur die aktiven, fortgeschrittenen Teile der Arbeiter:innenklasse zu organisieren, sondern man muss für einen Aufstand die breite Mehrheit zumindest mitreißen oder besser anführen können. So fehlte zum Zeitpunkt des Aufstands 1923 auch eine aktive und starke Rätebewegung, welche die Grundlage für die Sicherung und Festigung der gesellschaftlichen Macht gewesen wäre und die aktive Einbindung der Millionen Proletarier:innen hätte sichern können.

In unserer Klassenanalyse haben wir die Tatsache hervorgehoben, dass in Deutschland jeweils ca. ein Drittel der Menschen (und das gilt ungefähr auch für die Arbeiter:innenklasse) in den Großstädten/Ballungszentren, der Provinz/den Provinzstädten und auf dem Dorf lebt. Aus diesen Überlegungen folgt zwingend, dass wir geografisch gesprochen die Frage der Provinz und sozial gesprochen die Frage des Kleinbürger:innentums beantworten müssen. Diese Frage umfasst dabei aus politischer Sicht mehr Menschen als in der Klassenanalyse, wo es um die zurückgehende, aber nie verschwindende einfache Warenproduktion (Handwerker, Handel, Kneipen usw.) und das moderne lohnabhängige Kleinbürger:innentum (bestimmte Zwischenschichten in den Konzernen, gut-situierte Freiberufler:innen z.B. im IT-Sektor) geht.

Die Arbeiter:innenklasse ist nicht per se revolutionär, größere Teile sind durch eine kleinbürgerliche Lebensweise beeinflusst. Man denke nur an die ca. 16 Millionen in Privatbesitz befindlichen und weit überwiegend selbst genutzten Immobilien: Eigentumswohnungen, Einfamilien- und Reihenhäuser. Diese bürgerliche Lebenswelt prägt die Persönlichkeit von Millionen Arbeiter:innen und ihre politischen Einstellungen. Sie wird damit auch ihr Verhalten und ihre Handlungen in revolutionären Dynamiken beeinflussen oder gar lenken. Diese kleinbürgerliche Lebenswelt und die daraus resultierenden Einstellungen werden materiell durch einen Lebensstandard abgesichert, der auf dem Neokolonialismus basiert. Die imperialistischen Extraprofite werden jedoch im Sozialismus wegfallen. Dies wird sich aller Voraussicht nach anfangs auch nicht ausgleichen lassen, so dass der Lebensstandard für diesen Teil zunächst sicher sinken wird. Sollte sich der Lebensstandard der besser gestellten Teile der Arbeiter:innenklasse bis zur revolutionären Krise nicht deutlich verändern und zu drastischen Brüchen in der Lebensweise führen, gilt es eine Antwort auf diesen Widerspruch zu finden.

Militärische Lehren

Wir haben immer wieder die Bedeutung der revolutionären Moral hervorgehoben.62 Dieser allgemeingültigen Wahrheit fügt die Erfahrung des Hamburger Aufstandes eine weitere Facette hinzu. Die Moral der Kämpfer:innen ist nämlich nicht nur entscheidend für das Gefecht und die operative militärische Strategie. Im Deutschen Oktober hat die revolutionäre Moral von 300 Partisan:innen der Kampfgruppen und einigen Tausend aktiven, unbewaffneten Arbeiter:innen dazu geführt, dass die ganze Situation politisch gekippt wurde und aus einer schweren taktischen Niederlage auf politischer Ebene und einer klaren militärischen Niederlage ein moralischer Sieg hervor ging.

Trotzdem bleibt es wahr, dass auch die größte Kampfmoral im Krieg ihre Grenzen findet. „Denn wisse: Eine kleine Streitmacht mag noch so hartnäckig kämpfen, so wird sie doch am Ende von einer größeren Macht überwältigt.“ 63 Das Gesetz der Zahl im Krieg umfasst aber neben quantitativen (Anzahl der Kämpfer:innen, Bewaffnung) auch qualitative Elemente, worunter insbesondere ihre militärische Erfahrung und die darauf aufbauende Kampfkraft fallen. Larissa Reissner weist auf eine große Besonderheit des Hamburger Aufstandes hin: „Die Reichswehrsoldaten sind meistens unter ungeschickten Bauernburschen angeworben; es sind die jüngeren Söhne von reichen Bauern, – eine Generation, die erst nach dem Krieg und der Revolution großgeworden ist. (…) Diese Burschen lassen sich gerne als Landsknechte anwerben; (…) stießen diese satten Bauernburschen, die mit Blutwürsten und Milchklößen großgezogen sind, auf Arbeiterhundertschaften, auf kaltblütige, unfehlbare Schüsse der alten, aus dem Weltkrieg mit allen Auszeichnungen für Scharfschießen und Sappeurarbeiten unter feindlichem Maschinengewehrfeuer hervorgegangenen Soldaten. Die Rollen sind vertauscht. Die Revolution in Deutschland verfügt über Stammtruppen von alten Soldaten, die ihre Barrikaden nach allen Regeln der Kriegswissenschaft verteidigen, die Regierung aber – über zahlreiche, aber ganz unerfahrene Truppen.64

Diese geschichtliche Tatsache zeigt, dass militärisch erfahrene Kämpfer:innen notwendig sind. Die militärische Erfahrung kann man aber nicht am Schreibtisch lernen, sondern man erwirbt sie im Kampf. Dies gilt schon heute z.B. für die Internationalist:innen in Rojava. Die geschichtlichen Erfahrungen (Hamburger Aufstand, Rote Ruhrarmee) weisen jedoch darauf hin, dass das allein nicht unbedingt ausreichen wird.

Lehren für unsere Politik heute

Mit dem Beginn des imperialistischen Raubkrieges um die Ukraine im Februar 2022 haben sich die zwischenimperialistischen Widersprüche drastisch verschärft. Wir sind mit der von Kanzler Olaf Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“ in eine neue Phase, die der Vorbereitung des 3. Weltkriegs, eingetreten. Trotz dieser Lage erscheinen vielen Kommunist:innen ein revolutionärer Aufstand und die proletarische Machtergreifung in Deutschland heute als reine Utopie und damit der Hamburger Aufstand als ein rein geschichtliches Ereignis vor 100 Jahren.

Die Folgen der Zuspitzung der zwischenimperialistischen Widersprüche und auch eines 3. Weltkriegs werden jedoch zwangsläufig auch neue revolutionäre Situationen in imperialistischen Zentren hervorbringen. Denn der 3. Weltkrieg wird sicher nicht, wie uns die imperialistische Propaganda mit allen möglichen Dystopien in die Köpfe einhämmern will, den Weltuntergang bringen. Die Militärs planen für den Sieg im großen imperialistischen Krieg und nicht den eigenen Untergang. Viel wahrscheinlicher als solche Endzeitszenarien sind revolutionäre Krisen, die auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern als Folge eines großen imperialistischen Krieges entstehen können. Kriege könnten die bisherige globalisierte kapitalistische Produktion umwerfen z.B. durch die dauerhafte Unterbrechung der Lieferketten (wie ansatzweise bei Ausbruch der Coronapandemie geschehen). Die ökonomischen Grundlage der bisherigen Lebensweise der gesamten Arbeiter:innenklasse in Ländern wie Deutschland würde in einem solchen Szenario innerhalb kurzer Zeit verschwinden. Dasselbe gilt für Kriege, Krisen und Revolutionen in anderen Staaten, z.B. in Süd- und Südosteuropa, die den Fluss der neokolonialen Extraprofite für die deutschen Monopole versiegen ließen. Auch die direkten und indirekten Auswirkungen des Krieges (z.B. durch Rationierung und Unterbrechung der Energielieferungen, Stromsperren, wiederholten Ausfall von kritischer Infrastruktur, direkte Kriegsschäden) können der Treiber für dynamische Entwicklungen und das Entstehen von revolutionären Krisen sein.

Die Möglichkeit einer heranreifenden revolutionären Krise in Deutschland und Europa in den nächsten Jahren bzw. Jahrzehnten ist nicht ausschließen. Im Gegenteil steigt die Wahrscheinlichkeit mit jeder neuen Zuspitzung der zwischenimperialistischen Widersprüche, mit jeder neuen Krise weiter an.

Wem das zu allgemein ist, der:die sollte die Augen öffnen und die kleinen Zeichen sehen, die es heute schon gibt. Nicht nur in den abhängigen Ländern und Neokolonien brodelt es gewaltig.

Auch in Deutschland gärt es unter der Oberfläche einer scheinbar saturierten Gesellschaft spürbar. Die absolute Mehrheit der Arbeiter:innen und werktätigen Menschen in diesem Land möchte aktuell zwar sicher vor allem noch eins: So weiterleben können wie bisher. Aber genau dieser Wunsch ist für die Herrschenden auf Dauer objektiv nicht erfüllbar. Es wird und kann nach der ausgerufenen “Zeitenwende“ kein „Weiter so“ geben. Stattdessen werden die Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse und Teile des Kleinbürger:innentum massiv zunehmen und ihren gewohnten Lebensstandard dauerhaft in Frage stellen.

Sich auf den Kampf um die Macht vorzubereiten heißt deshalb zu verstehen, dass der Sozialismus keine wünschenswerte Utopie, sondern die reale Entwicklungsperspektive ist, die wir erkämpfen werden. Die Zeit ist dabei ein wichtiger Faktor, denn manche Entwicklungen wie z.B. der Aufbau einer Kampfpartei neuen Typs, die Frage der Provinz oder einer regionalen Revolution in Teilen Europas benötigen jahrelange gezielte Arbeit und andere Entwicklungen wie z.B. die Bereitschaft von großen Teilen der Arbeiter:innenklasse und Werktätigen zu kämpfen gehen unter Umständen viel schneller als wir uns das heute vorstellen können.

Wenn wir also nicht bei der nächsten revolutionären Krise in Deutschland wieder zu spät dran sein wollen, dann müssen wir anfangen, uns den strategischen Fragen zu stellen, die eine sozialistische Revolution in diesem Land aufwirft und die damit beginnen, die Grundlagen für ihre Beantwortung in der Praxis zu legen.

1Siehe zur Roten Ruhrarmee die umfassende Darstellung der KPD/AO: Erhard Lucas, „Märzrevolution 1920“, Band 1 bis 3, Verlag Roter Stern, 2. Auflage 1974

2„Die Besetzung des Ruhrgebietes und des Rheinlandes hat Deutschland der hauptsächlichsten lebenswichtigsten Grundlage seiner Wirtschaft beraubt: 80 Prozent der Eisen- und Stahlerzeugung und 71 Prozent der Kohlenförderung gingen verloren.“ Zitiert nach: A. Neuberg, „Der bewaffnete Aufstand – Versuch einer theoretischen Darstellung“, Reprint Europäische Verlagsanstalt 1971, S. 67.
Bei dem Text handelt es sich um das erstmals 1928 veröffentlichte illegale KI-Lehrbuch zum Aufstand, dass aus konspirativen Gründen in einer halblegalen Aufmachung erschien, tatsächlich aber die Erfahrungen der Militärexpert:innen der KI aus den militärischen Klassenkämpfen seit 1917 verallgemeinerte.

3„So betrug z.B. der Deckungssatz der Staatsausgaben durch Einnahmen im August 1923 1,8% (…)“, Angaben aus: Neuberg, „Der bewaffnete Aufstand“, ebd., S. 67

4Willy Bredel im Roman über Ernst Thälmann; zitiert nach: KPD/ML, „50 Jahre Hamburger Aufstand“, 1973, S. 20

5Neuberg, „Der bewaffnete Aufstand“, ebd., S. 67

6Neuberg, „Der bewaffnete Aufstand“, ebd., S. 68

7KPD/ML, „50 Jahre Hamburger Aufstand“, ebd., S. 23

8Erich Wollenberg in: „Der bewaffnete Aufstand“, Einleitung, ebd., S. VII

9Bernhard H. Bayerlein, Leonid G. Babicenko, Fridrich I. Firsov und Alexander Ju. Vatlin, „Deutscher Oktober – Ein Revolutionsplan und sein Scheitern“, Aufbau-Verlag 2003, S. 86

10„Geschichte der Militärpolitik der KPD (1918-1945)“, Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik, 1987, S. 121f

11„Will man den Faschismus als politische Erscheinung kurz definieren, so könnte die Formulierung lauten: Der Faschismus ist die radikalste konterrevolutionäre (Kampf)partei in den Händen der Monopolbourgeoisie und damit die antagonistische Widerspiegelung der revolutionären Partei neuen Typs. Er tritt im Imperialismus in allen bürgerlichen Staaten in Erscheinung, von den führenden imperialistischen Ländern bis zu den (Neo)kolonien. Er mobilisiert Teile der unterdrückten Massen als Waffe zur Vernichtung der Kommunist:innen, der Zerschlagung der Arbeiter:innenbewegung sowie zur Errichtung der Weltherrschaft des eigenen Imperialismus in der zwischenimperialistischen Konkurrenz und den imperialistischen Kriegen. Dabei setzt er zugleich Triebkräfte in den unterdrückten Massen frei, die zur maximalen Radikalisierung des bürgerlichen Staates führen.“ Unsere Definition des Faschismus wird ausführlich hergeleitet in: „Faschismus – Terror, Funktion, Ideologie & antifaschistische Strategie“, Verlag Leo Jogiches, 1. Auflage Mai 2023, S. 12

12Neuberg, „Der bewaffnete Aufstand“, ebd., S. 69

13„Geschichte der Militärpolitik der KPD“, ebd., S. 129

14Die Forderungen lauten: „1. Sofortiger Rücktritt Cuno’s 2. Beschlagnahme der Lebensmittel zur Sicherung der Ernährung 3. Sofortige Anerkennung der Kontrollausschüsse 4. Sofortige Aufhebung des Verbots der proletarischen Hundertschaften 5. Sofortige Festsetzung eines Minimalstundenlohnes von 60 Friedenspfennigen für alle Arbeiter und Angestellten 6. Wiedereinstellung aller Arbeitslosen und Beschäftigung der Kriegsrentner zum vollen Lohn 7. Aufhebung des Demonstrationsverbotes und der Ausnahmeverordnung 8. Sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen“, zitiert nach: KPD/ML, „50 Jahre Hamburger Aufstand“, ebd., S. 26

15Zu Stalins skeptischer Haltung siehe: „Deutscher Oktober“, Dokument 5 Josef Stalin: Empfehlung an Grigrij Sinowjew zur Zurückhaltung der KPD, Moskau 7. August 1923, S. 99f

16Siehe dazu: „Deutscher Oktober“, Dokument 3 Sinowjew und Bucharin: Privatbrief an Heinrich Brandler und August Thalheimer mit einem Plädoyer für ein offensives Auftreten der KPD, 27. Juli 1923, S. 95ff

17Das Politbüro der Russischen Kommunistischen Partei (Bolschewiki) war das eigentliche Machtzentren der KPdSU und der Kommunisten Internationalen, auch wenn die dort getroffenen Beschlüsse in der Regel formell noch vom EKKI und dem ZK der KPD nachvollzogen wurden.

18„Deutscher Oktober“, Dokument 12, Politbüro der RKP(b), Beschluss zur Orientierung auf die Revolution in Deutschland und zur Einleitung konkreter Maßnahmen, Moskau 22. August 1923

19Alexander von Plato, „Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik: KPD und KOMINTERN, Sozialdemokratie und Trotzkismus“, Oberbaumverlag, Berlin 1973, S. 108, Hervorhebungen im Original. Plato war damals Mitglied im ZK der KPD bzw. KPD/AO. Der 23. August 1923 war das Datum des Beschlusses des Präsidiums der KI, bereits am 22. August hatte das Politbüro der RKP(b) in einer geheimen Sitzung seinen Beschluss gefasst.
Zur Richtigkeit dieser Einschätzung siehe auch Dokument 10 Konspekt über die Debatte des Politbüros des ZK der RKP(b) über die »deutsche Revolution« vom 21. August sowie Dokument 13 Beschluss des Präsidiums der Komintern für vorbereitende Maßnahmen zur »deutschen Revolution« vom 23. August 1923 und das bereits erwähnte Dokumente 12 in: „Deutscher Oktober“, ebd., S. 116 bis 132

20„Deutscher Oktober“, Dokument 41, Brief mit der Warnung vor einer Umsetzung der revolutionären Pläne in Deutschland, Amsterdam 19.10.1923, Zitate auf S. 230 bis 232

21„Deutscher Oktober“, Dokument 9, Josef Stalin, Anmerkungen zum Charakter und zu den Perspektiven der deutschen Revolution, Moskau 20. August 1923, ebd., S. 111f

22Siehe die stenografischen Protokolle der 3 Sitzungen in: „Deutscher Oktober“, Dokument 30, 32 und 34, ebd., S. 190 bis 210

23Siehe Instruktionen von Trozki an die Militärführung, „Deutscher Oktober“, Dokument 12 und 14, edb. S. 130 bis 134

24Der SPIEGEL, „Die Welt erobern“, 30.10.1995, zitiert nach Deutscher Oktober, ebd. S. 130

25„Deutscher Oktober“, Dokument 17, Leo Trotzki, Fragen an den Oberbefehlshaber der Roten Armee zu einer möglichen militärischen Okkupation Deutschlands, ebd., S. 138ff

26„Deutscher Oktober“, Dokument 35, Rundschreiben des ZK der RKP(b) an alle Gebietskörperschaften der KP und die nationalen kommunistischen Parteien zur Vorbereitung auf die deutsche Revolution, Moskau 9. Oktober 1923, ebd., S. 211 bis 214

27„Deutscher Oktober“, Dokument 43, Willi Münzenberg, Brief an die Zentrale der KPD über die Kampagne zur Brotversorgung in Sachsen, Dresden 20. Oktober 1923, ebd., S. 239 bis 241

28„Deutscher Oktober“, Dokument 31, Beschluss des Politbüros der RKP(b) zur Festsetzung des Revolutionstermins und Instruktionen an die Delegation nach Deutschland, Moskau, 4. Oktober 1923, ebd., S. 195ff. Diskutiert wurde sogar die Entsendung von Sinowjew und Trotzki nach Deutschland, was aber wegen den drohenden internationalen Verwicklungen im Falle ihrer Verhaftung verworfen wurde; siehe Punkt 6 des Dokuments.

29„Deutscher Oktober“, Dokument 31, Beschluss des Politbüros ebd., S, 197. Dort wird auch festgehalten, dass der Sonderfond auf 500.000 Goldrubel erhöht wird. Die Gesamtsumme der für die deutsche Revolution zur Verfügung gestellten Mittel ist unbekannt geblieben.

30T. Derbent, „Clausewitz und der Volkskrieg“, Zambon Verlag 2013, S. 133

31„Deutscher Oktober“, Dokument 15, Heinrich Brandler, Brief an die Exekutive der Komintern, Berlin 28. August 1923, ebd., S. 134 bis 137

32„Deutscher Oktober“, Dokument 27, Bericht an den Leiter der sowjetischen Militäraufklärung über die militärischen Vorbereitungen des bewaffneten Aufstandes, ebd., S. 184ff

33„Geschichte der Militärpolitik der KPD“, ebd., S. 126

34„Geschichte der Militärpolitik der KPD“, ebd., S. 125f

35„Deutscher Oktober“, Dokument 16, Josef Unszlicht: Mitteilung an Ossip Pjatnickij über seine geheime Mission für die GPU in Deutschland, ebd., S. 138

36Siehe dazu: „Lehren aus dem Roten Oktober“ und „1917-2017: Einhundert Jahre Revolutionäre Strategie“, Kommunismus 10, 11/2017, S. 8 bis 31

37„Deutscher Oktober“, Dokument 29, Karl Radek, Stellungnahme über die Festsetzung eines Termins für die Revolution, Moskau 1. Oktober 1923, ebd., S. 188f

38„Deutscher Oktober“, Dokument 27, Josef Unszlicht, Bericht Nr. 2 an den Leiter der sowjetischen Militäraufklärung über die militärischen Vorbereitungen des bewaffneten Aufstandes, Berlin, 29.09.1923, ebd., S. 184ff

39„Deutscher Oktober“, Dokument 51, Valdemar Roze, Bericht über die militärische und organisatorische Vorbereitung des Aufstands in Deutschland, Berlin, 28.10.1923, ebd., S. 274 bis 279

40Siehe dazu: Sinowjew, „Der Oktoberrückzug und die Lage der KPD. Rede in der Sitzung der Exekutive der Komintern“, Januar 1924. Internationale Pressekorrespondenz, Nr. 37 vom 24. März 1924, S. 424; zitiert nach „Deutscher Oktober“, ebd., S. 27

41Roze, ebd., S. 279

42Siehe dazu: Friedrich Engels, „Revolution und Konterrevolution in Deutschland“, MEW 8, S. 95

43(A. Neuberg), Hans Kippenberger, M.N. Tuchatschewski, Ho Chi Minh, „Der bewaffnete Aufstand – Versuch einer theoretischen Darstellung“, Eingeleitet von Erich Wollenberg, Nachdruck Europäische Verlagsanstalt 1971, Einleitung S. IX. Diese Darstellung von Wollenberg wird auch durch den Bericht von Grigorij Sklovskij vom 30. Oktober bestätigt, wo er schreibt: „Zu meinem Erstauen habe ich jetzt erfahren, dass am Sonnabend, als die Zentrale in Sachsen ihren Beschluß über den Aufstand gefaßt hatte, ihre Boten in alle Richtungen in Marsch setzte, nicht nur nach Hamburg. Während die anderen Orte jedoch bald Rückzugsbefehle erhielten, war das für Hamburg aus irgendeinem Grunde nicht der Fall.“ Zitiert nach: „Deutscher Oktober“, Dokument 56, Berlin 30.10.1923, ebd. S. 289

44Alexander von Plato, „Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik: KPD und KOMINTERN Sozialdemokratie und Trotzkismus“, Oberbaumverlag Berlin, 1. Auflage Juli 1973, S. 113

45Die Details werden von Erich Wollenberg in der Einleitung schlüssig dargelegt, „Der bewaffnete Aufstand“, ebd., S. IX bis XI

46 „Geschichte der Militärpolitik der KPD“, ebd., S. 130

47„Deutscher Oktober“, Dokument 50, ebd., S. 270

48Hugo Urbahns war als Politischer Obersekretär Teil der Militär-Politischen Oberleitung (MPO) Nord-West-Deutschland, also eines der fünf gebildeten regionalen Aufstandskommites, wie Erich Wollenberg angibt, „Der bewaffnete Aufstand“, ebd., S. X

49Larissa Reissner, „Hamburg auf den Barrikaden“, ebd., S. 476

50Ernst Thälmann, Ausgewählte Reden und Schriften in zwei Bänden, Band 1, Verlag Marxistische Blätter, 1976, Seite 69 ff.

51Larissa Reissner, „Hamburg auf den Barrikaden“, in: Oktober Ausgewählte Schriften, Republikanische Bibliothek Athenäum Verlag 1979 nach der Erstausgabe von 1925, S. 462 bis 464

52Geschichte Militärpolitik KPD, ebd., S. 135

53Sinowjew in: „Die Kommunistische Internationale“, Nr. 31-32, 1924, S. 218 und 215; zitiert nach: Plato, „KPD und KOMINTERN“, ebd., S. 113

54Larissa Reissner, „Hamburg auf den Barrikaden“, Kapitel Porträts Teil 3. Das 18. Jahrhundert, die Freude des Lebens und der Aufstand, ebd., S. 468 bis 472

55So schreibt Grigorij Sklovskij, der sowjetische Konsul in Hamburg in seinem Bericht vom 27. Oktober 1923: „Die Polizei trug die Hauptlast des Kampfes gegen die Kommunisten. Unter den Polizisten gab es gewaltige Opfer. Die offizielle Liste führt etwa 100 Menschen auf, in Wirklichkeit war die Zahl jedoch viel größer. (…) Dennoch gibt es unter den Polizisten viele, die mit uns sympathisieren. Zum Beispiel nehmen sie trotz vorliegendem Haftbefehl weder Thälmann noch U[rbahns] fest und salutieren auf der Straße, wenn sie ihnen begegnen.“, „Deutscher Oktober“, Dokument 50, ebd., S. 271

56„Deutscher Oktober“, Dokument 50, ebd., S. 270

57Hans Kippenberger, „Der bewaffnete Aufstand“, ebd., S. 92

58Kippenberger, „Der bewaffnete Aufstand“, ebd., S. 93; Hervorhebung von uns

59Erich Wollenberg, „Der bewaffnete Aufstand“, Einleitung Seite XI

60ZK der KPD/ML, „50 Jahre Hamburger Aufstand 1923 – 1973“, Verlag Roter Morgen, 1973, S. 68

61„Lehren aus dem Roten Oktober“, Kommunismus Nr. 10, S. 12

62Siehe dazu z.B. „Revolutionärer Optimismus und Kommunistische Moral“, Kommunismus 24, 01/2023 und „Revolutionäres Denken, Fühlen, Handeln“, Kommunismus 11, 03/2018

63Sun Tsu, Über die Kriegskunst, marix Verlag, 2005, S. 41

64Larissa Reissner, „Hamburg auf den Barrikaden“, ebd. S. 475f

Kommunismus #25 – Okt 2023

Zum DOWNLOAD auf das Cover klicken

Hier gehts zum Download der Ausgabe.

Liebe Leser:innen.

In dieser Ausgabe widmen wir uns zwei besonderen Themen.

Anlässlich des 100. Jahrestages des Hamburger Aufstandes (besser: Deutscher Oktober) stellen wir die damaligen Ereignisse auf der Grundlage der heutigen Quellenlage nach der Öffnung der russischen Komintern-Archive in den 1990er Jahren dar und räumen dabei mit einigen falschen Legenden aus der revisionistischen Geschichtsschreibung auf. Tatsächlich war der Deutsche Oktober im Jahr 1923 der erste (und einzige) Versuch während der revolutionären Kämpfe 1917 bis 1923, die proletarische Revolution in Deutschland landesweit, geplant und unter kommunistischer Führung zu verwirklichen. Entgegen zahlreichen falschen Mythen hatte die KPdSU-Führung sehr wohl die Ausweitung der Revolution nach Deutschland auch unter weitgehender Aufbietung der Ressourcen des sowjetischen Staates – einschließlich der Roten Armee – beschlossen und eigenes Personal für die Leitung des Aufstandes nach Deutschland entsandt. Es war auch nicht einfach der plumpe Verrat der rechten KPD-Führung um Brandler und Thalheimer, der zur Absage des Aufstands geführt hat – während die Arbeiter:innen in Hamburg zu den Waffen griffen, weil die Informationen zu spät bei ihnen ankam. Vielmehr stellt sich die Geschichte des Deutschen Oktober als die einer Abfolge komplexer Entscheidungen der Kommunist:innen in einer dynamischen revolutionären Situation dar – die auch zahlreiche allgemeine Lehren bereithält, die wir für künftige revolutionäre Kämpfe im imperialistischen Zentrum ziehen müssen.

Mit dem zweiten Artikel veröffentlichen wir erstmals eine umfassende Einschätzung des Trotzkismus als politischer Strömung. Beginnend mit einer biographischen Darstellung Trotzkis stellen wir diese Bewegung in der historischen Kontinuität zum Wirken ihres Begründers dar und gehen der Frage auf den Grund, woher ihre Anziehungskraft gerade z.B. auf kleinbürgerliche Intellektuelle herrührt. Wir untersuchen die wichtigsten Elemente der Strategie und Taktik, welchen die trotzkistischen Organisationen notorischerweise anhängen, darunter das Konzept der Übergangsforderungen und die Politik des Entrismus (das heute z.B. einige trotzkistische Organisationen in der Linkspartei praktizieren). Dabei legen wir dar, warum wir die Politik der trotzkistischen Bewegung trotz ihrer Eigendefinition als Revolutionär:innen in der Regel für objektiv zersetzend halten – und warum und wo sich bei aller notwendigen Vorsicht trotzdem Räume für eine Zusammenarbeit öffnen können.

Wir wünschen allen unseren Leser:innen eine spannende Lektüre!

Mit kommunistischen Grüßen,

Redaktion Kommunismus–

8. Aufbau-Camp erfolgreich durchgeführt

binary comment

Im Sommer 2023 konnten wir erfolgreich unser 8. Aufbau-Camp durchführen. Das Camp spiegelte die Erfolge unserer Arbeit wieder, so dass die Teilnehmer:innenzahl aus dem vergangenen Jahr erneut gesteigert werden konnte.

Bei unserem Camp konnten wir eine Woche lang, ein kollektives, solidarisches und genossenschaftliches Leben gemeinsam organisieren. Die Struktur und Organisation des Camps konnte an die erhöhte Teilnehmer:innenzahl angepasst und professionalisiert werden.

Erstmals wurde in diesem Jahr ein gesamter Tag jeweils von den Kommunistischen Frauen und der Kommunistischen Jugend inhaltlich alleine geplant und gestaltet.

Der Tag der Kommunistischen Frauen begann mit einem Seminar zur Organisierung des Kampfes gegen das Patriarchat in allen Lebens- und Arbeitsbereichen. In besonderen Geschlechtsbewusstseins-Seminaren reflektierten wir nach Geschlechtern getrennt unsere jeweilige Rolle und unser Verhalten Aufgrund unserer Sozialisierung im patriarchalen Kapitalismus. Die Kommunistischen Frauen organisierten zudem ein kollektives Abendprogramm.

Der Tag der Kommunistischen Jugend beschäftigte sich inhaltlich mit einer auf die Lage der Jugendlichen zugeschnittenen Klassenanalyse. Der Nachmittag wurde gemeinsam für sportliche Aktivitäten genutzt und das Abendprogramm durch eine Jugend-Kulturveranstaltung gefüllt.

Weitere inhaltliche Schwerpunkte bildeten Diskussionsrunden und praktische Übungen zum Thema sozialistische Agitation und Propaganda und Methoden und Besonderheiten in den verschiedenen Bereichen der Massenarbeit.

In mehreren Seminaren beschäftigten wir uns zudem mit dem Wesen und Ausprägungen des Revisionismus und einer Analyse des Trotzkismus. Außerdem beschäftigten wir uns mit dem Zusammenhang von Parteiaufbau uns Bündnisarbeit und den Methoden der Kader:innenentwicklung.

Die jeweiligen Abendstunden füllten wir mit genossenschaftlichem Austausch, verschiedenen Kultur- und Gedenkveranstaltungen und indem wir Lieder aus der kommunistischen Bewegung am Lagerfeuer sangen. Besonders gelungen war die Vermittlung revolutionärer Erfahrungen an einem Abend, bei dem Genoss:innen aus Frankreich von den Kämpfen und aus Erfahrungen aus ihrem Land berichteten.

Erfolgreiche Veranstaltungsreihe zum neuen Faschismus-Buch

In den vergangenen Wochen haben wir eine erfolgreiche bundesweite Veranstaltungsreihe zu unserem vor kurzen neu erschienenen Buch Faschismus – Terror, Funktion und antifaschistsiche Strategie durchgeführt.

In den Städten Augsburg, Berlin, Duisburg, Essen, Frankfurt, Freiburg, Hamburg, Hildesheim, Kassel, Köln, Leipzig, Magdeburg, Nürnberg und Wuppertal konnten wir im Juni und Juli Veranstaltungen organisieren und durchführen. Mehr als 200 Teilnehmer:innen haben an den Veranstaltungen teilgenommen.

Bei den Veranstaltungen, auf Demonstrationen und in zahlreichen Gesprächen konnten wir allein in den ersten drei Monaten, seit erscheinen unseres neuen Buches, mehr als 500 Ausgaben verkaufen. Das besondere Interesse an ausführlichen Analysen zum Wesen, der Funktion und Ideologie des Faschismus, sowie seiner Kontinuität, heutigen Ausprägung und einer klaren antifaschistischen Strategie

Nachruf auf unseren Freund und Genossen İbrahim Okçuoğlu (1951–2023)

In den frühen Morgenstunden des 24. August 2023 verstarb unser Freund und Genosse İbrahim Okçuoğlu in Berlin in Folge seiner Krebserkrankung. Wir drücken seiner Familie, seinen Freund:innen und seiner Partei, der Marxistisch Leninistischen Kommunistischen Partei Türkei/Kurdistan, deren Gründungsmitglied er war, unser tiefstes Mitgefühl und Beileid aus.

İbrahim Okçuoğlu hat durch seine tiefe internationalistische Ader Genossinnen und Genossen überall auf der Welt für die revolutionäre Theorie begeistert und alle Angriffe auf den Marxismus-Leninismus schonungslos entlarvt und bekämpft.

Sich selbst und seine Gesundheit nie schonend, hat İbrahim Okçuoğlu, der auch in Deutschland vielen Genoss:innen vor allem unter dem Namen „Hoca“ bzw. Doktor oder Professor bekannt war, nicht nur mit seinen Analysen, Artikeln und Büchern einen großen Beitrag für die Kommunistische Bewegung geleistet, sondern insbesondere an der ideologischen Ausbildung unzähliger jüngerer und älterer Kommunist:innen mitgewirkt.

So ernst und prinzipienfest İbrahim Okçuoğlu in ideologischen und politischen Diskussionen war, um so herzlicher war er im Umgang mit seinen Genoss:innen. Besonders konnten dies alle Genoss:innen in den regelmäßigen Raucherpausen bei seinen Seminaren und Bildungen erleben.

Der Revolution in Deutschland war İbrahim Okçuoğlu, der einen Großteil seines Lebens in Deutschland verbrachte, genauso verbunden wie der in der Türkei, in Kurdistan und in Westasien. Jeden Fortschritt der Bewegung hier beobachtete er akribisch und lies kein Zaudern oder Wanken bei kleinen oder großen Aufgaben der Kommunistischen Bewegung in Deutschland zu, der er sich stets ebenfalls zurechnete.

İbrahim Okçuoğlu bleibt Generationen von Genossinnen und Genossen, die sich in Deutschland im Kampf um den Wiederaufbau einer Kommunistischen Partei befinden, als treuer Kampfgefährte und Ratgeber in allen Fragen des Parteiaufbaus und als Quelle revolutionären Optimismus in lebendiger Erinnerung.

An seinem Streben zur Revolution in Theorie und Praxis, an seinem nie zu stillendem Wissensdurst und seiner unermüdlichen disziplinierten und wissenschaftlichen Arbeitsweise werden wir uns im Kampf für den Sozialismus ein Beispiel nehmen. Sein Andenken wird in unserem Kampf weiterleben.

Antikriegstag: Auf die Straßen gegen die imperialistischen Kriegsvorbereitungen!

Der 1. September, der Antikriegstag, muss auch in diesem Jahr mehr sein als nur eine Gelegenheit, um an das unsägliche Leid zu erinnern, dass imperialistische Kriege über die Arbeiter:innen und Unterdrückten überall auf der Welt gebracht haben.

Spätestens mit der Invasion Russlands in der Ukraine sind alle großen Imperialist:innen zu einer neuen Politik der konkreten Kriegsvorbereitungen übergegangen. Auch in Deutschland merken wir das und zwar an der Rhetorik der Politiker:innen, den milliardenschweren Investitionspaketen, den Diskussionen über eine Wiedereinführung der Wehrpflicht und den permanenten Kriegsübungen.

Sicherlich wissen auch die Imperialist:innen nicht, wann konkret die Widersprüche zwischen ihnen auch auf militärischer Ebene vollends eskalieren und es zum dritten Weltkrieg kommt. Auch für uns macht es keinen Sinn, über diese Frage zu spekulieren. Klar ist aber, dass von den USA über Russland bis hin zu Deutschland alle ausschlaggebenden Mächte auf der Welt genau dieses Szenario hinarbeiten, unabhängig davon, ob ihnen diese Entwicklung selbst gefällt oder nicht. Die Imperialist:innen bereiten einen neuen großen Krieg vor. Dieser Tatsache müssen wir ins Auge schauen.

In dieser Situation ist es nicht die richtige Schlussfolgerung, sich einzureden, dass es sich lediglich um eine zwischenzeitliche diplomatische Krise handelt und die Beziehungen zwischen den imperialistischen Ländern sich auch wieder entspannen werden.

In dieser Situation gilt es klar der Tatsache ins Auge zu sehen, dass es keinen dauerhaften Frieden im Imperialismus geben kann, sondern der dauerhafte Kampf um Absatzmärkte, Arbeitskräfte und Rohstoffe gesetzmäßig auch militärisch eskalieren muss.

Dass es momentan überhaupt keine Hinweise auf „Entspannung“ gibt, zeigt sich zum Beispiel am Militärputsch in Niger, der von Russland unterstützt wird, an massiven Waffenlieferungen der USA an Taiwan oder den ständig scheiternden Sondierungsgesprächen für Friedensverhandlungen in der Ukraine.

Es gilt, aus all dem die Schlussfolgerung zu ziehen, dass es keinen Frieden im Imperialismus geben kann und wer tatsächlich eine Welt ohne Kriege will, auch für die Überwindung des kapitalistischen Systems durch die sozialistische Revolution eintreten muss.

In dieser Situation ist es ebenso falsch, sich damit zu beruhigen, dass der deutsche Staat sich keinesfalls bereit fühlt, einen großen imperialistischen Krieg zu führen.

Einerseits stellt das permanente Gejammer um die schlechte Ausrüstung der Bundeswehr ein Mittel dar, um Stimmung für immer größere Aufrüstungspakete zu machen. Vor allem aber werden tatsächliche militärische Defizite vom deutschen Imperialismus momentan so schnell wie möglich aufgeholt und die Kapazitäten der deutschen Rüstungsindustrie massiv ausgebaut.

Mit Militärübungen der NATO unter Leitung der Bundeswehr macht Deutschland zu dem klar, dass es im Kriegsfall keinesfalls damit zufrieden sein wird, sich mit einem Platz in der zweiten oder dritten Reihe zu begnügen, sondern an vorderster Front mit morden will im Kampf um die Neuaufteilung der Welt.

Es gilt daher, die Kriegsvorbereitungen im Eiltempo und die damit einhergehenden Veränderungen in der Gesellschaft zum Anlass zu nehmen, das kapitalistische System ganz grundsätzlich in Frage zu stellen und eine revolutionäre Arbeiter:innenbewegung sowie eine kommunistische Partei aufzubauen, die eine klare, antimilitaristische Politik verfolgt.

In dieser Situation reicht es vor allem auch nicht, sich einfach den Millionen Menschen anzuschließen, die denken oder aussprechen, dass sie keinesfalls bereit sind, in den Krieg zu ziehen.

Egal ob an der Front oder nicht: Den Auswirkungen eines weiteren Weltkriegs können wir nicht aus dem Weg gehen. Nicht durch individuelle Kriegsdienstverweigerung und nicht durch Desertation können wir ihn verhindern oder beenden.

Es gilt viel mehr, den 1. September wie jeden Tag als Gelegenheit zu nutzen, aus der heute noch sehr zersplitterten kommunistischen Bewegung und Arbeiter:innenbewegung eine Kampffront gegen den Krieg zu formen, die nicht nur zum passiven, gewaltlosen Protest in der Lage ist, sondern in letzter Konsequenz bereit ist, die Waffen, die uns von unseren Ausbeutern in die Hand gedrückt werden, umzudrehen, um sie gegen sie zu richten.

Das heißt für uns die Parole „Krieg dem Krieg! Kampf dem deutschen Imperialismus!“ Wirklichkeit werden zu lassen.

Raus auf die Straßen am 1. September!

Antimilitaristische Kampagne abgeschlossen!

Kampagnenauswertung der Kommunistischen Jugend

Nach dem 1. Mai haben wir unsere Kampagne „Nicht unser Krieg, nicht unsere Armee – Widerstand gegen Aufrüstung und imperialistischen Krieg!“ begonnen, die wir Ende Juni abgeschlossen haben. Begleitet wurde die Kampagne von einer zentralen Broschüre und einer inhaltlichen Veranstaltung, Stickern und Plakaten sowie einer zentralen Rede über den Kampf junger Frauen gegen imperialistischen Krieg. Diese Materialien sind in den verschiedenen Städten über den gesamten Kampagnenzeitraum eingesetzt worden.

Kampagnen-Broschüre

Zu Beginn unserer Kampagne haben wir neben einem zentralen Aufruf auch eine Broschüre mit dem Titel „Nicht unser Krieg, nicht unsere Armee – Warum und wie wir gegen Militarismus und Bundeswehr kämpfen müssen“ veröffentlicht.

Darin haben wir die Rolle von Kriegen in der gesellschaftlichen Entwicklung beleuchtet und erklärt, was wir unter gerechten und ungerechten Kriegen verstehen. Außerdem haben wir uns der jüngeren Geschichte der Bundeswehr und Deutschlands Rolle im Ukraine-Krieg gewidmet. Im letzten Kapitel haben wir die Frage aufgeworfen, welche Politik wir als Kommunist:innen gegen imperialistischen Krieg und Aufrüstung entwickeln müssen.

Die Broschüre wurde in einer Auflage von 500 Exemplaren gedruckt und auf zahlreichen Aktionen in den einzelnen Städten zum Spendenpreis von einem Euro verkauft. In Essen, Frankfurt, Freiburg, Köln, Leipzig und Wuppertal wurde die Broschüre außerdem in öffentlichen Veranstaltungen vorgestellt.

Agitation und Propaganda im Stadtbild

Die Kampagne wurde begleitet von zahlreichen AgitProp-Aktionen im Stadtbild. So wurden unter anderem in Berlin, Essen, Leipzig und Köln Banner mit Losungen wie „Kein Mensch, kein Cent der Bundeswehr“ aufgehängt. Auch an Häuserwänden wurden Parolen wie „Krieg dem Krieg“ angebracht.

Daneben wurden Hunderte Plakate und Sticker mit dem zentralen Kampagnendesign in mehreren Städten Deutschlands verklebt.

Aktionen auf der Straße

Außerdem wurden mehrere öffentliche Aktionen durchgeführt oder sich an ihnen beteiligt.

In Berlin haben wir uns am 8. Mai am Befreiungsgedenken in Buch beteiligt, das unter anderem von der VVN-BdA organisiert wurde. Am Tag darauf beteiligten wir uns an einer Demonstration gegen die Aktionärskonferenz des Rüstungskonzerns Rheinmetall. Am 16. Mai organisierten wir ein Gedenken an den KJVD-Vorsitzenden Artur Becker, der gegen den Militarismus gekämpft hat und im spanischen Bürgerkrieg gefallen ist. Außerdem organisierten wir mit anderen Revolutionär:innen einen antimilitaristischen Block bei der Demonstration gegen die Innenministerkonferenz am 15. Juni und eine eigene Kundgebung gegen den NATO-Gipfel am 11. Juli.

In Essen fand am 10. Juni eine eigene Kundgebung unter dem Kampagnenmotto an der Porschekanzel statt.

In Freiburg organisierten wir am 10. Mai eine eigene Kundgebung vor dem Einkaufszentrum Weingarten. Außerdem fand eine „Die In“-Aktion in der Universität statt, in deren Hauptgebäude der preußische Militarist Bismark geehrt wurde. Die Aktion wurde gegen die Schikane der Haussecurity durchgesetzt.

In Köln wurde ebenfalls eine Kundgebung unter dem Kampagnenmotto organisiert. Diese fand am 24. Juni an der U-Bahn-Haltestelle Vingst statt.

In Leipzig organisierten wir zwei eigene Kundgebungen auf der Sachsenbrücke, zum einen am 8. Mai, dem Tag der Befreiung, und am 1. Juli als Abschluss der Kampagne. Unser Kampagnenvortrag wurde hier am 3. Juni vor der großen antifaschistischen Demonstration unter einem Belagerungszustand der Polizei durchgeführt, von dem sich die Teilnehmenden nicht einschüchtern ließen. Außerdem beteiligten wir uns an einer Kundgebung zum Tag der Jugend am 1. Juni mit einem antimilitaristischen Redebeitrag.

Aktionen gegen Partei- und Bundeswehrbüros

Außerdem freuen wir uns, dass die Inhalte unserer Kampagne im Kampagnenzeitraum von Antimilitarist:innen in Form von Aktionen in Berlin und Leipzig aufgegriffen wurden. Bei diesen wurden die Parteien der Kriegsregierung und die Bundeswehr markiert. So wurde ein Parteibüro der SPD in Berlin Lichtenberg mit dem Schriftzug „Kriegstreiber“ und ein Parteibüro der Grünen in Leipzig mit den Schriftzügen „Grüne – Kriegstreiber für das Kapital“ und „Nicht unser Krieg, nicht unsere Armee“ sowie Hammer und Sichel versehen. Auch ein Karriereberatungsbüro der Bundeswehr in Leipzig wurde angegriffen.

Fazit

Unsere Kampagne wurde auf Grundlage einer klaren politischen Ausrichtung und zu einem Zeitpunkt, an dem die Bundeswehr ihre Rekrutierungsbemühungen noch einmal verstärkt hat, durchgeführt. Wir konnten klar zum Ausdruck bringen, dass wir den deutschen Militarismus bekämpfen und das auch weiter tun werden. Darüber konnten wir zahlreiche interessante und fruchtbare Diskussionen in den verschiedenen Städten führen und im Kampagnenzeitraum auch neue Genoss:innen gewinnen.

Gleichzeitig bringt die Kampagne auch zum Ausdruck, dass die organisatorischen Möglichkeiten und Fähigkeiten sowie die Ausstrahlung unserer Organisation gewachsen sind. Daran müssen wir in den kommenden politischen Kämpfen und Kampagnen anknüpfen und die Potentiale noch mehr ausschöpfen.

Veranstaltungen zur Vorstellung der Ergebnisse des 4. Kongresses

Kommt zur Vorstellung unserer Kongressergebnisse und diskutiert mit uns über die vor uns stehenden Aufgaben im Parteiaufbau:
  • Leipzig: Vorstellung des 4. Kongresses / 14.07. / 18.30 Uhr / Josephstraße 12
  • Freiburg: Vorstellung des 4. Kongresses / 21.07. / 18.30 Uhr / Konradstraße 14
  • Berlin: Vorstellung des 4. Kongresses / 22.07. / 16 Uhr / Gneisenaustraße 2a
  • Köln: Vorstellung des 4. Kongresses / 22.07. / 15 Uhr / Homarstraße 64
  • Essen: Vorstellung des 4. Kongresses / 28.07. / 18 Uhr / Holzstraße 12
  • Wuppertal: Vorstellung des 4. Kongresses / 11.08. / 18 Uhr / Marienstraße 52
  • Augsburg: Vorstellung des 4. Kongresses / 02.09. / 18 Uhr / Die ganze Bäckerei (Frauentorstraße 34). Flyer zur Veranstaltung.

Weitere Termine werden folgen.

Heraus zum 28. Juni: Unser Platz ist im Kampf für den Sozialismus

Am 28. Juni ist der Jahrestag der Aufstände rund um das „Stonewall Inn“ in New York. Die vorrangig schwulen, lesbischen und transgeschlechtlichen Gäste setzten sich an diesem Tag gegen die schon zur Gewohnheit gewordene Polizeigewalt zur Wehr und begründeten damit eine Wende innerhalb der LGBTI+ Bewegung. In der Folge der Auseinandersetzungen gab es einen massiven Sprung in der Anzahl von LGBTI+ Organisationen in den imperialistischen Zentren USA, Großbritannien und auch Deutschland, die raus aus der Vereinzelung und dem Versteckspiel hin zu organisierten Kampf gehen wollten.

Als Kommunist:innen rufen wir an diesem Tag dazu auf, für den Kampf der LGBTI+ Arbeiter:innen gegen Imperialismus und Patriarchat auf die Straße zu gehen. Neue große imperialistische Kriege und zuspitzende Krisen verschärfen aktuell die Situation der Arbeiter:innenklasse weltweit. Besonders in diesen Zeiten, in denen die zerstörerische Ordnung des Kapitalismus Millionen von Menschen vor Augen geführt wird, mobilisieren die Herrschenden alles mögliche, um sie trotzdem aufrecht zu erhalten. Die patriarchale Ideologie ist dabei eine wichtige Stütze, die in Krisenzeiten verstärkt genutzt wird. So werden zum Beispiel schon erkämpfte Rechte wieder abgeschafft, wie das Abtreibungsrecht in den USA, oder bestehende Unterdrückung weiter verschärft, wie in Georgien. Wir als Arbeiter:innen sollen dadurch in unserer politischen Handlungsfähigkeit eingeschränkt werden, oder unser berechtigter Hass auf dieses System auf falsche Sündenböcke abgelenkt werden.

Von Seiten der Faschist:innen stehen dabei aktuell trans Personen im Fokus, die durch ihre Existenz angeblich Familie und Nation bedrohen würden. In Deutschland entlud sich die patriarchale Feindschaft gegen alle Menschen, die nicht den „naturgegebenen“ Bildern von Mann und Frau entsprechen, im Zuge der Abschaffung des sogenannten Transsexuellengesetzes. „Gender-Ideologie“ und „Zwangssexualisierung“ von Kindern sind dabei die Schlagwörter, mithilfe derer Faschist:innen versuchen, jeden Fortschritt für LGBTI+ Personen zu verhindern. Sie ziehen damit aus, Grundpfeiler des Patriarchats und des Kapitalismus zu verteidigen: Die bürgerliche Kleinfamilie, die klare Trennung in Mann und Frau und damit einhergehend die Unterdrückung der Frau und anderer Geschlechter durch den Mann.

Für uns Arbeiter:innen aber stehen diese Stützen des Patriarchats und des Kapitalismus unseren Interessen komplett entgegen. Als LGBTI+ Arbeiter:innen sind es besonders die darauf aufbauende Unterdrückung, die Verdrängung an den Rand der Gesellschaft und die direkte Gewalt, die uns vom Kampf abhalten sollen. Gleichzeitig werden wir als Aushängeschilder des deutschen Imperialismus genutzt, damit er sich von seinen angeblich viel reaktionäreren Konkurrenten abgrenzen kann.

Wir lassen uns das nicht gefallen! Als Teil der Arbeiter:innenklasse kämpfen wir Seite an Seite mit unseren Klassengeschwistern gegen den Imperialismus wie das Patriarchat. Wir wissen, dass es unsere Befreiung nicht im Kapitalismus geben kann, sondern erst mit der Eroberung der Macht durch unsere Klasse die Grundlagen dafür gelegt werden können. Erst im Sozialismus wird die Unterdrückung aufgrund der sexuellen Orientierung und des Geschlechts anfangen, der Vergangenheit anzugehören. Um gemeinsam diesen Kampf für den Sozialismus führen zu können, dürfen wir uns nicht an die Seitenlinie drängen lassen – weder durch Homo- und Transfeindlichkeit, noch durch unseren eigenen Rückzug in vermeintlich freie, in der Realität aber bürgerliche Gemeinschaften.

Für LGBTI+ Kommunist:innen heißt das genauso, sich hier und heute dem Parteiaufbau anzuschließen. Wiederholen wir dabei nicht die Fehler der Vergangenheit. LGBTI+ zu sein ist weder eine Krankheit noch bürgerlicher Individualismus. Uns hilft auch kein Biologismus – stattdessen ist es unsere Aufgabe, auf Grundlage des dialektischen Materialismus die Lage von LGBTI+ Arbeiter:innen heute zu analysieren und die richtigen Konsequenzen daraus für die politische Arbeit zu ziehen. Unterschätzen wir nicht die Bedeutung des antipatriarchalen Kampfes auf allen Ebenen, sondern gehen wir gemeinsam den Weg der Frauenrevolution.

LGBTI+ Arbeiter:innen wollen keine Rolle in diesem System – unser Platz ist im Kampf für den Sozialismus!