Start Blog Seite 2

Heraus zum 8. März! Frauen kämpfen international – gegen Rassismus und für den Sozialismus!

Als Frauen der Arbeiter:innenklasse tragen wir die halbe Welt auf unseren Schultern. Wir stehen jeden Tag auf um zur Arbeit zu gehen und wenn wir nach Hause kommen hört die Verantwortung, die auf uns abgeladen wird, noch lange nicht auf. Wir erziehen Kinder, kümmern uns um Familienangehörige und Freund:innen und schmeißen den Haushalt.

Neben der täglichen Ausbeutung im Beruf sollen wir all das ganz selbstlos verrichten. Und als wäre die doppelte Ausbeutung nicht genug, so sind wir auch heute noch der patriarchalen Unterdrückung in der Familie, der Partnerschaft, ja in allen Bereichen der Gesellschaft ausgesetzt. Die sexistischen Kommentare, die Gewalt, die uns angetan wird, das alles sind Instrumente, die uns immer wieder zurück auf unseren Platz verweisen sollen.

Mit dieser Realität sind wir als Frauen auf der ganzen Welt vereint, auch wenn sich diese auf unterschiedliche Weise äußern kann. Der deutsche Staat zum Beispiel gesteht uns durchaus einige bürgerliche (Schein-)freiheiten und Rechte zu. Diese sind auf der einen Seite ein Ergebnis unserer Kämpfe, gleichzeitig liegt das aber auch an der wirtschaftlichen Stellung Deutschlands im weltweiten Maßstab. Denn als reiches, imperialistisches Land, kann sich Deutschland diese Zugeständnisse zum jetzigen Zeitpunkt noch leisten. Die Betonung liegt auf Noch – denn in Zeiten der Wirtschaftskrise und eskalierender Kriege werden diese Freiheiten und Rechte schneller wieder zurückgenommen, als wir uns vorstellen können.

Die Profite Deutschlands mitsamt seiner Konzerne fußen zu einem großen Teil auf der gnadenlosen Ausbeutung von Arbeiter:innen abhängiger Länder. Das führt nicht nur zur systematischen Zerstörung ihrer natürlichen Umgebung und zu existenzieller Not, sondern auch dazu, dass der Kampf um Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, der Kampf der Arbeiter:innen und der Frauen, kaum möglich ist. Der Fingerzeig der Herrschenden auf die scheinbar rückständigen Länder ist also die Spitze ihrer Heuchelei, sind es doch gerade sie, welche durch ihre Kriegspolitik fürs Kapital für genau diese Zustände sorgen! Letztlich sind sie auch Verantwortlich für die Flucht von Millionen Menschen, darunter viele Frauen mit ihren Kindern, für die es keine lebenswerte Perspektive mehr gibt.

Gerade diese tapferen und mutigen Frauen, so wie ihre Familien, Freunde und Klassengeschwister, die hier angekommen sind und Fuß gefasst haben, werden momentan besonders aggressiv angegriffen. Faschist:innen treffen sich nicht nur in Hinterzimmern, um massenhafte Abschiebungen zu planen, sondern propagieren das ganze auch offen auf der Straße.

Auch der Staat schlägt mit seiner repressiven Faust zu und bildet so die perfekte Ergänzung zur rechten Bewegung. Seit Wochen werden legitime Proteste gegen den Krieg in Gaza vom Staat kriminalisiert. Das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit immer weiter zusammen gekürzt bis kaum etwas übrig bleibt. Während zeitgleich mit der GEAS-Reform der stärkste Eingriff in das Recht auf das EU-Asylrecht jemals durchgeführt wurde, und auch Olaf Scholz davon schwärmt „endlich wieder konsequent abzuschieben“.

Das soll die Antwort sein auf die steigende Unzufriedenheit im Land, die mit dieser reaktionären Asylpolitik und der faschistischen Propaganda von den tatsächlichen Ursachen unserer Probleme ablenken will! Das ist der Versuch, die internationale Solidarität durch Lügen und Hetze im Keim zu ersticken! Aber wir müssen und wir werden dagegen ankämpfen und jeden Spaltungsversuch mit unserer internationalen Klassensolidarität beantworten!

Wir werden es genauso wenig zulassen, dass wir als Frauen unterschiedlicher Nationalitäten, Herkünfte und Hautfarben gegeneinander ausgespielt werden! Denn uns eint so viel mehr mit den Frauen unserer Klasse über all auf der Welt, mit der geflüchteten Supermarktkassiererin oder migrierten Lehrerin als uns jemals mit selbsternannten Feministinnen wie Baerbock und Konsorten verbinden wird! Wir teilen eine gemeinsame Klassenherkunft, also trifft uns auch jeder Einschnitt in das Recht einer unserer Schwestern, egal woher sie kommt. Vor allem aber kann jeder Einschnitt in ihre Rechte, als nächstes auch ein Einschnitt in unser aller Rechte sein.

Lasst uns diesen 8. März also nutzen, um unser gemeinsames Interesse als Frauen, als Arbeiterinnen auf der ganzen Welt in den Vordergrund zu stellen und gemeinsam zu kämpfen – egal woher wir kommen. Stehen wir an der Seite unserer migrantischen Klassengeschwister, wenn ihre Rechte eingeschränkt werden! Kämpfen wir für die sozialistische Revolution und für eine Zukunft, in der Krisen und Kriege, Flucht und Vertreibung der Vergangenheit angehören! Wir sind erst frei, wenn alle frei sind!

Lenin lebt in uns und unserem Kampf

Der russische Kommunist Wladimir Iljitsch Lenin ist wohl einer der bedeutendsten Kommunist:innen des 20. Jahrhunderts. Mit seinen theoretischen Ausarbeitungen und der Weiterentwicklung des Marxismus, sowie seiner praktischen Rolle im Parteiaufbau der Kommunistischen Partei in Russland und der kommunistischen Weltbewegung, in der Oktoberrevolution und dem Aufbau der ersten sozialistischen Räterepublik hat er uns ein unvergleichliches revolutionäres Erbe hinterlassen. So leben Lenin und seine theoretischen wie praktischen Errungenschaften auch 100 Jahre nach seinem Tod in unserem Kampf für eine sozialistische Welt weiter.

Was wir heute von Lenin lernen können

Lenin hat uns nicht nur mit seinen zahlreichen Artikeln, Reden und Büchern ein reichhaltiges Erbe hinterlassen, welches wir auch heute noch in unzähligen Situationen des Klassenkampfes und Fragen des Parteiaufbaus zu Rate ziehen und studieren können. Er ist uns ebenso ein Beispiel in Fragen des revolutionären Optimismus und taktischer Flexibilität in der politischen Praxis.

Während Lenin die Erfahrungen der russischen Kommunist:innen und der kommunistischen Weltbewegung analysierte und verallgemeinerte, entwickelte er die Strategie der Kommunist:innen in unterschiedlichen Zeiten des Klassenkampfes, die wir noch heute als strategische Leitlinien unserer Politik nutzen können. Gleichzeitig entwickelte er mit seinen Genoss:innen in Theorie und Praxis das bolschewistische Parteimodell, welches es möglich macht, unsere Klasse für die sozialistische Revolution zu organisieren und gegen den scheinbar übermächtigen Gegner, die Bourgeoisie, siegreich zu sein.

Lenin setzte sich dabei immer wieder auch mit einer taktischen Flexibilität in schwierigen Situationen gegen die Positionen von Zeitgenoss:innen durch, welche die marxistische Theorie einseitig auslegten und in der Praxis zu einem Dogma machten; etwa, indem sie keinerlei vorübergehende Zugeständnisse bei der Festigung der Sowjetmacht in Russland zulassen wollten. Lenins Prinzipienfestigkeit, bei gleichzeitige taktischer Flexibilität muss uns auch heute ein Wegweiser in immer komplizierteren Klassenkampfsituationen sein.

Die richtigen Schlussfolgerungen für die heute vor uns stehenden Klassenkampfsituationen und die nächsten Schritte im Parteiaufbau, können wir jedoch nicht einfach in den Schriften Lenins finden, sondern wir müssen seine Analysen weiterentwickeln und schöpferisch auf unsere Situation anwenden. Dieser Aufgabe müssen und wollen wir uns heute stellen.

Diese Aufgabenstellung meinen wir auch, wenn wir heute von der Notwendigkeit der Bolschewisierung sprechen. Die kommunistische Bewegung in Deutschland ist tief vom Zirkelwesen, Reformismus und legalistischen Traditionen geprägt, ganz unabhängig davon, ob sich einzelne Organisationen bewusst das Ziel setzen, sich aus diesem Zustand zu befreien. Daher ist es vollkommen richtig, dass wir uns ein Beispiel an den Bolschewiki, an ihrer Arbeitsweise, an ihrer Verbindung mit der Arbeiter:innenklasse und ihrer Entschlossenheit nehmen, kurz gesagt, dass wir uns „bolschewisieren“ wollen. Dieses „Sich ein Beispiel nehmen“ setzt jedoch die kreative Anwendung ihrer Erfahrungen auf die heutigen Bedingungen voraus.

Ein Leben des Kampfes

Lenin und seine Genoss:innen standen auf ihrem Weg zur sozialistischen Revolution und auch nach dem erfolgreichen Aufstand stets unter dem Feuer der nationalen und internationalen herrschenden Klasse. Verfolgung, Verhaftung, Verbannung, versuchte Attentate und innerparteiliche Kämpfe begleiteten Lenins Leben und Kampf, konnten ihn jedoch nie von seinem Ziel oder seinen Glauben an den Sieg der Arbeiter:innenklasse unter Führung der Kommunistischen Partei abbringen.

Diesen unzerstörbaren revolutionären Optimismus und dieses Siegesbewusstsein, in jeder noch so aussichtslos wirkenden Situation, in Zeiten der revolutionären Welle wie der tiefsten Reaktion und dem Niedergang der Bewegung müssen wir auch heute von Lenin lernen, um selbst erfolgreich einen Lebensweg des Kampfes beschreiten zu können.

Lenin ist für uns damit keine rein historische Figur und sein theoretisches und praktisches Werk kann nicht unabhängig vom Klassenkampf seiner Zeit verstanden werden. Vielmehr ist Lenin und sein Werk heute ein realer Bezugspunkt für uns, aus dem wir Kraft ziehen und der uns Orientierung geben kann.

Bericht zum LLL-Wochenende 2024: Luxemburg, Liebknecht, Lenin zeigen uns den Weg!

Unter dem Motto „Luxemburg, Liebknecht, Lenin und die Held:innen von Hamburg zeigen uns den Weg!“ haben wir zum diesjährigen LLL-Wochenende als revolutionären Jahresauftakt nach Berlin mobilisiert.

Auch in diesem Jahr nahmen wir nicht nur an der traditionellen Großdemonstration am Sonntag in Berlin teil, sondern organisierten das gesamte Wochenende über ein kommunistisches Programm voll mit Aktionen, Bildung und Kultur. Am gesamten Wochenende nahmen am kollektiven Programm mit den Genoss:innen der MLKP mehrere hundert Menschen teil.

Bereits im Vorhinein wurde mit zahlreichen AgitProp-Aktionen für das Wochenende mobilisiert und die Kommunistische Jugend organisierte in verschiedenen Städten Jugendtage im Gedenken an die ermordeten Gründer der Kommunistischen Partei Deutschlands und Wladimir Iljitsch Lenin, dessen Todestag sich im Januar zum 100. Mal jährt.

Die Aufgaben der Kommunist:innen in Deutschland und der Welt

Am Samstag haben wir uns in einem gemeinsamen Seminar mit den Genoss:innen der MLKP mit verschiedenen inhaltlichen Fragen beschäftigt. Im Mittelpunkt stand dabei auf der einen Seite die Entwicklung des Imperialismus, die Zuspitzung der zwischenimperialistischen Widersprüche, die Gefahr eines dritten Weltkriegs und die internationalen Aufgaben der Kommunist:innen in dieser Situation. Auf der anderen Seite haben wir uns mit der notwendigen Antwort der Kommunist:innen auf die ausgerufene „Zeitenwende“ der Herrschenden in Deutschland beschäftigt. Was müssen wir als Kommunist:innen der Aufrüstung, Militarisierung und Stärkung des Faschismus in Deutschland entgegensetzen? Welche Schritte im Parteiaufbau müssen wir heute gehen?

Im Anschluss an die Seminare organisierten wir bereits am Samstag eine Gedenkdemonstration unter dem Motto „Über 100 Jahre Krisen, Kriege, Repression: Kämpfen wir für den Sozialismus!“ die vom Schlesischen Tor bis zum sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park führte. Dort legten wir in Gedenken an alle Gefallen im Kampf gegen Krieg und Faschismus Blumen nieder.

Den Abend schloss eine Gedenk- und Kulturveranstaltung mit zahlreichen Liedern, Gedichten und Reden rund um das Gedenken an die Gefallenen der Revolution und der Frage was wir für den Kampf heute und die vor uns stehenden Schritte im Parteiaufbau von ihnen lernen können.

2024: 10 Jahre Schritte im Parteiaufbau

Das LLL-Wochenende 2024 leitete für uns auch das Jubiläumsjahr zum 10. Jahrestag der Gründung unserer Organisation ein. „Dieses Jahr wird für uns alle ein besonderes Jahr. 100 Jahre nach dem Tod des Genossen Lenin wird unsere Organisation auf 10 Jahre Organisationsgeschichte im Parteiaufbau hier in Deutschland zurückblicken“, so die Vertreterin unserer Organisation auf der Gedenkveranstaltung am Samstag Abend.

In einer Auswertung der bisherigen Schritte im Parteiaufbau und den Stärken und Schwächen unserer Organisation und der kommunistischen Bewegung in Deutschland stellte die Rednerin fest: „Die aktuellen Streiks und Kämpfe unserer Klasse müssen uns dazu bringen, zu hinterfragen wo sind die Kommunist:innen in diesen Kämpfen? Und sie müssen uns dazu bringen unseren Platz in diesen Kämpfen einzunehmen!“

„Die unsterblichen Genoss:innen, denen wir an diesem Wochenende gedenken haben uns gezeigt, dass uns nichts aufhalten kann, wenn unser Wille, unser Bewusstsein und unsere Organisation im Einklang mit einander stehen. (…) Lasst uns die Fahnen der gefallenen Genoss:innen aufheben! Das bedeutet für uns: Lasst uns uns selber hinterfragen, unser Leben hinterfragen und Schritte voran gehen, voran in der Kader:innenentwicklung, voran im Aufbau der Kommunistischen Partei. Denn Karl und Rosa wussten schon ohne Partei keine Revolution!“ schloss die Genossin die Rede auf der Gedenkveranstaltung.

Großdemonstration und Polizeiangriffe

Auch bei der Großdemonstration am Sonntag beteiligten wir uns mit einem gemeinsamen Block mit der MLKP. Auf dem Weg der Demonstration wurde diese an verschiedenen Stellen von Bannern und Graffiti unserer Organisation begrüßt. Auf einem großen Banner, an einer Brücke über der Demonstrationsroute war zu lesen „Kämpfen wir für den Sozialismus, auf zur Revolution!“

Wie in den vergangenen Monaten immer wieder, nahm der deutsche Staatsapparat die Solidarität mit dem Freiheitskampf in Palästina zum Anlass, um die Demonstration anzugreifen und versuchte sie zu spalten. Der Angriff führte zu zahlreichen zum teil Schwerverletzen und Festgenommen. Über quasi alle Spektren und ideologische und praktische Grenzen hinweg zeigte sich die Demonstration solidarisch und geschlossen, so dass die Demonstration nach dem Rückzug der Polizei kämpferisch zu Ende geführt werden konnte.

Auf dem Vorplatz des Friedhofs organisierten wir einen gemeinsamen inhaltlichen Abschluss unseres Blockes, bevor wir auf den Friedhof zogen und an der Gedenkstätte der Sozialisten die Internationale sangen.

Eine gemeinsame geschlossene Abreise verschiedener Blöcke nach der Demonstration verhinderte zunächst weitere Angriffe der Polizei. Erst nachdem ein Großteil der Demonstrant:innen abgereist war, griff die Polizei erneut an. Dieses Mal standen die sich seit Monaten im Hungerstreik befindenden Mitglieder von Dev-Genc und Grup Yorum im Mittelpunkt des Angriffs. Wir senden unsere solidarischen Grüße an alle Verletzten und Festgenommenen.

Die LLL Demonstration war ein starker und kämpferischer Start in das Kampfjahr 2024. Die Gewalt der Polizei auf der Demonstration zeigt uns was wir von diesem Staat im Jahr 2024 zu erwarten haben!

Jugend im Kapitalismus – Jugendklassenanalyse

Zum DOWNLOAD auf das Cover klicken

In unserer bisherigen Klassenanalyse sind wir unter anderem auf junge Arbeiter:innen eingegangen, welche wir als einen besonders unterdrückten und ausgebeuteten Teil der Arbeiter:innenklasse charakterisiert haben. Dennoch ist klar, dass unsere bisherige Analyse der Lebens- und Kampfbedingungen der Jugend in Deutschland sehr begrenzt war.

Das führt uns dazu, an die bisherige Ausarbeitung anzuknüpfen und die Situation der Jugend in der BRD einer gesonderten Analyse zu unterziehen.

Des Weiteren ist die Kommunistische Weltbewegung seit jeher davon ausgegangen, dass die Jugend eine besonders revolutionäre Rolle im Kampf für die Überwindung des Kapitalismus spielt. Der Ausspruch Karl Liebknechts „Die Jugend ist die reinste Flamme der Revolution“ ist den meisten jungen Kommunist:innen geläufig. Ob und in welcher Form diese besondere revolutionäre Rolle der Jugend heute in Deutschland fortbesteht, wollen wir ebenso in dieser Analyse klären.

Wir hoffen auf eine angeregte Diskussion und freuen uns über Kritiken, die zur weiteren Vervollständigung unserer Klassenanalyse beitragen.

Zur Klassenanalyse

Die Analyse der Lebensbedingungen der Jugend im imperialistischen Deutschland ist Bestandteil unserer Klassenanalyse. Wie wir bereits in Ausgabe 13 der Kommunismus dargelegt haben, ist diese nötig, um klassenmäßige Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft bestimmen zu können. Dies wiederum ist sowohl heute beim Aufbau einer Kampfpartei neuen Typs sowie einer kommunistischen Massenarbeit auf der Höhe der Zeit von entscheidender Bedeutung, als auch zukünftig bei der konkreten Organisierung der sozialistischen Revolution.

Eine Klassenanalyse ist dabei nicht ein einfaches Abschreiben statistischer Daten von bürgerlichen Gesellschaftswissenschaftler:innen. Vielmehr gilt es, durch die Analyse verschiedener Teile der Gesellschaft und ihrer Rolle im Produktionsprozess, ihre Stellung zur sozialistischen Revolution herauszuarbeiten. Sind sie Hauptkräfte, unterstützende Kräfte oder Feinde des Sozialismus? Welche Hindernisse finden wir bei dem Ziel vor, die Arbeiter:innenklasse und die Jugend zum revolutionären Kampf zu mobilisieren? In diesem Beitrag wollen wir erste Schritte dahin gehen, diese Fragen bezogen auf die Jugend zu beantworten.

Zur Methode und Aussagekraft

Dabei stehen wir vor dem Problem, dass wir uns auf die Daten und Zahlen der bürgerlichen Wissenschaft stützen müssen, da wir heute noch nicht die Möglichkeit haben, selbst genaue quantitative Analysen der Gesellschaft anzustellen.

Bürgerliche Studien bringen hierbei, auch in Bezug auf die Jugend, einige Probleme mit sich. So werden sie oft von Monopolen wie Shell oder McDonald‘s in Auftrag gegeben und finanziert. Die Kapitalist:innen wollen jedoch möglichst günstige Ausbeutungsbedingungen schaffen und die Jugend an die bürgerliche Gesellschaft binden. Wir dagegen wollen die Jugend für ihre Befreiung in der sozialistischen Revolution organisieren. Unserer Beschäftigung mit dem Thema und den Studien, die zum Teil unsere Datengrundlage liefern, liegen also grundsätzlich entgegengesetzte Ziele zugrunde.

Des Weiteren arbeitet die bürgerliche Wissenschaft in ihren Arbeiten zur Jugend insbesondere bei Altersspannweiten nicht mit einheitlichen Kriterien. Mal untersucht sie 16- bis 25-Jährige, mal 14- bis 29-Jährige, mal 14- bis 25-Jbeährige. Bei Tabellen und Studien, in denen auf Unterschiede nach Geschlecht eingegangen wird, gibt es für die kapitalistisch-patriarchale Statistik außerdem nur Männer und Frauen. Uns ist bewusst, dass es nicht nur zwei Geschlechter gibt. Dennoch beschränkt sich die bürgerliche Wissenschaft, wenn überhaupt unterschiedliche Daten für Geschlechter separat aufgeführt werden, eben genau auf zwei, was wiederum unsere Möglichkeiten, in diesem Bereich zu genauen Erkenntnissen zu kommen, Grenzen setzt.

Es ist dabei klar, dass die Studien, auf die wir uns stützen können, gar nicht das Ziel verfolgen, eine klassenmäßige Einordnung der Jugend vorzunehmen. Vielmehr werden meist die gleichen statistischen Kriterien sehr schematisch auf eine ihrer Lebenslage nach extrem vielfältige Gruppe der Bevölkerung angewendet, die sich aus Angehörigen verschiedener Klassen zusammensetzt, das Einzige, was sie eint, ist ein bestimmtes Lebensalter. Dennoch können uns die Zahlen zumindest wichtige Hinweise darauf geben, wie sich die gesellschaftliche Situation der Jugend darstellt und vor allem welche Veränderungstendenzen es hier gibt.

Dabei sind auch bereits gemachte Erfahrungen in der politischen Jugendarbeit eine hilfreiche Unterstützung für diese Analyse und werden sie auch in Zukunft bereichern, wenn es darum geht, die Klassenanalyse zu aktualisieren, neue Aspekte und Untersuchungen hinzuzufügen und sie qualitativ zu vertiefen.

Die behandelten Aspekte müssen in künftigen Analysen einer tieferen Betrachtung unterzogen werden. Dabei ist für die politische Praxis insbesondere eine ausführlichere Analyse des deutschen Bildungssystems erforderlich.

Zur Jugend

Was ist die Jugend?

Der Begriff der Jugend entstand erst in der bürgerlichen Gesellschaft. So bezog er sich früher auf junge bürgerliche Menschen, da diese sich eine Phase des Nicht-Arbeitens leisten konnten.1 Heute werden ihr vor allem bestimmte Eigenschaften zugeschrieben. Im Allgemeinen jedoch können wir die Jugend als Phase bezeichnen, in der ein Kind zum Erwachsenen wird.

Für uns als Marxisten-Leninist:innen ist jedoch die Stellung im Produktionsprozess entscheidend für das Verständnis dessen, was die Jugend ausmacht. Zwar ist das Alter statistisch fassbar, doch bei der Frage, ob eine Person jugendlich ist, ist das eher ein Indiz als ein klares Kriterium. So würden wir einen 21-jährigen Industriemechaniker, der mit einer Partnerin und einem ersten Kind in einer eigenen Wohnung lebt, vermutlich nicht als Jugendlichen wahrnehmen, eine 21-jährige Studentin, die allenfalls in einem Minijob arbeitet und von Eltern und Bafög abhängig ist, wahrscheinlich schon.

Wir können die Jugend daher nicht schematisch als eine bestimmte Altersspanne definieren. Vielmehr verstehen wir sie vor allem als die Phase, in der Menschen auf ihre spätere Rolle in der bürgerlichen Gesellschaft vorbereitet werden, indem ihre Arbeitskraft ausgebildet wird (Schule, Universität, Ausbildung). Diese Eingliederung in die bürgerliche Gesellschaft wird angetrieben von der Eingliederung in den Produktionsprozess, wobei diese in enger Wechselwirkung mit Aufbau einer eigenen Existenz, Familiengründung, Unabhängigkeit von den Eltern usw. steht.

Die Jugend hat also gewissermaßen zwei Seiten: Als objektive Seite die stückweise Eingliederung in den kapitalistischen Produktionsprozess, und als subjektive das Alter und die Lebenslage (bspw. eigenes Einkommen, eigene Kinder, eigenen Haushalt oder Wohnen bei den Eltern) der einzelnen Person. Für eine aussagekräftige Analyse ist es wichtig, beide Seiten zu betrachten, da es aufgrund des fließenden Übergangs von Jugendlichen in das Erwachsenenleben zahlreiche Übergangsformen gibt. Dabei kann beispielsweise ein Jugendlicher relativ „alt“ sein, aber dennoch studieren, in Ausbildung sein oder zur Schule gehen. Andersherum kann ein Jugendlicher vergleichsweise jung sein und noch bei seinen Eltern wohnen, aber dennoch fertig ausgebildet und fest angestellt sein. Bei beiden kann es jedoch richtig sein, sie noch als Teil der Jugend zu begreifen und sie auch in der politischen Arbeit entsprechend einzubinden.

In dieser Phase der Eingliederung in das System erfolgt auch eine verstärkte Einwirkung der bürgerlichen Ideologie, da Jugendliche noch für das kapitalistische System geformt werden müssen. Gleichzeitig heißt das, dass sie ideologisch noch nicht gefestigt und in der Zeit vom Kind zum Erwachsenen in einer Periode zahlreicher Umbrüche sind und auch materiell noch nicht so stark an das System gefesselt sind (Familie oder andere Verpflichtungen, möglicherweise privilegierte Positionen im gesellschaftlichen Produktionsprozess). Das macht die Jugend keinesfalls automatisch revoluionär oder gar zu einer eigenen Klasse, aber es sind Faktoren, die den radikalen Bruch mit dem kapitalistischen System erleichtern können.

Zu welcher Klasse gehört die Jugend?

Wladimir Iljitsch Lenin definiert Klassen wie folgt: „Als Klassen bezeichnet man große Menschengruppen, die sich voneinander unterscheiden nach ihrem Platz in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion, nach ihren (größtenteils in Gesetzen fixierten und formulierten) Verhältnis zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in Pder gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der Größe des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, über den sie verfügen. Klassen sind Gruppen von Menschen, von denen die eine sich die Arbeit einer anderen aneignen kann infolge der Verschiedenheit ihres Platzes in einem bestimmten System der gesellschaftlichen Wirtschaft.“2

Lenins Definition schreibt drei Ebenen fest, über die wir eine Klasse definieren können. Diese Ebenen stehen dabei im Zusammenhang miteinander und bauen aufeinander auf. Aus dem Verhältnis zu den Produktionsmitteln eines Menschen (Eigentümer von Produktionsmitteln oder nicht), seiner Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit (leitende/ausführende Tätigkeiten), ebenso wie aus der Größe seines Anteils am gesellschaftlichen Reichtum und die Art wie er ihn erlangt (nämlich über Lohn oder beispielsweise als Unternehmensgewinn bzw. in Form von Aktienrenditen) ergibt sich seine Klassenzugehörigkeit.

Verhältnis zu den Produktionsmitteln

Um die Jugend klassenmäßig einordnen zu können, können wir uns diese Ebenen nacheinander ansehen. Zunächst das Verhältnis zu den Produktionsmitteln.

Auf dieser Ebene ist klar, dass nur ein verschwindend kleiner Teil junger Menschen tatsächlich eigene Produktionsmittel besitzt, was zunächst schon logisch daraus folgt, dass allgemein nur ein kleiner Teil der Gesellschaft als Kapitalist:in oder Kleinbürger:in Produktionsmittel besitzt. In der Regel sind bei Jugendlichen aber die eigenen Eltern noch am Leben und entsprechend die Eigentümer:innen eventuell vorhandener Produktionsmittel.

Die übliche Herangehensweise kapitalistischer Familien ist es zu versuchen, ihre Kinder zu würdigen Erb:innen heranzuziehen, die den Reichtum der Familie verwalten können. In großen Familienclans stellt sich dabei das Problem, dass eine Zersplitterung des Eigentums verhindert werden soll, weswegen die Eheschließung dort teilweise nur als Wiederaufleben der politisch motivierten Eheschließung im mittelalterlichen Adel bezeichnet werden kann: „Ehen entstanden vorzugsweise zwischen Unternehmerfamilien mit angrenzenden Geschäftsinteressen. Oft heiraten Cousins Cousinen, um der Zersplitterung der Familienvermögen und daraus entstehenden geschäftlichen Komplikationen entgegenzuwirken.“3

Tatsächlich spielt hier das Erbrecht bezeichnenderweise eine gewisse Sonderrolle im deutschen Rechtssystem und auch wenn befruchtete Eizellen allgemein keine Rechtssubjekte sind, hat ein Kind ab dem Zeitpunkt seiner Zeugung Rechtsanspruch auf einen Erbanteil, selbst wenn der Vater zum Beispiel kurz danach plötzlich verstirbt.

Ab einer bestimmten Größe des elterlichen Eigentums ist es also gar nicht so einfach zu verhindern, dass das Kind einen so beträchtlichen Teil des Kapitals erbt, dass es selbst zur Kapitalist:in wird; insbesondere da es nicht vollständig enterbt werden kann, sondern immer einen bestimmten Anspruch auf einen Pflichterbanteil erhält.

Besitzen die Eltern keine Produktionsmittel, tun das ihre Kinder logischerweise auch nicht. Ob die Eltern in einem Haus leben, dass sie über Jahrzehnte abbezahlen oder sogar selbst schon von ihren Eltern geerbt haben, spielt dabei keine Rolle für die Klassenzugehörigkeit, denn dabei handelt es sich nicht um ein Produktionsmittel. Anders verhält es sich nur dann, wenn durch die Vermietung des Hauses Einkommen generiert wird, von dem die Familie (teilweise) leben kann.

Betrachten wir das erste Kriterium (Verhältnis zu den Produktionsmitteln) lässt sich also festhalten, dass die Stellung von Kindern und Jugendlichen zu den Produktionsmitteln sich vollständig aus der ihrer Eltern ergibt.

Es wäre ebenfalls oberflächlich hier den Schluss zu ziehen, dass sich das Verhältnis zu den Produktionsmitteln am Ende der Jugend schlagartig ändern könnte, zum Beispiel, in dem das Kind einer Arbeiter:innenfamilie, nach der Ausbildung einen Kredit aufnimmt und sich formell selbstständig macht. Ökonomisch steht das Kind hochverschuldet und mit einem kleinen eigenen Betrieb, der aber fast vollständig der Bank gehört, der Arbeiter:innenklasse noch näher als dem Bürger:innentum. Ob es sich dauerhaft als Kleinbürger:in halten kann und tatsächlich ein bescheidendes Eigentum an Produktionsmitteln erlangen kann, muss sich erst noch erweisen. Ganz abgesehen davon, dass äußerst zweifelhaft ist, ob es überhaupt einen größeren Kredit bekommt, wenn es das Kind relativ mittelloser Eltern ist und auch sonst keine Garantien für die Unternehmensgründung vorweisen kann.

Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit

Die Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit jedoch ist für den größten Teil der Jugend und in der gesamten Kindheit eine besondere und andere, als die der Eltern. Dies gilt für Kinder aus allen Klassen.

Die Kinder und Jugendlichen werden in Schule, Ausbildungsstätten und Universitäten vor allem auf ihre spätere Rolle im gesellschaftlichen Produktionsprozess vorbereitet. Dies ist eine notwendige Phase des Lebens, sowohl für die:den Einzelne:n, der:die im Kapitalismus überleben will, als auch weil nur so die Klassen auf Dauer bestehen können.

Die Arbeiter:innenklasse muss nicht nur Tag für Tag ihre Arbeitskraft reproduzieren. Die Arbeitskraft wird auch gesamtgesellschaftlich reproduziert, indem Nachwuchs gezeugt, großgezogen und ausgebildet wird. Deshalb sind auch Arbeiter:innenjugendliche, unabhängig davon ob sie bereits arbeiten oder nur die Schule oder eine Universität besuchen, Teil des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses des Kapitals.

Dass das Kapital diesen Bereich des gesellschaftlichen Lebens allenfalls kurzzeitig ignorieren kann, kam unter anderem in der Corona-Pandemie in den ernsthaften Sorgen um eine „verlorene Generation“ zum Ausdruck.

Des Weiteren gehen viele ärmere Jugendliche einer beruflichen Tätigkeit auf Minijob- oder Teilzeitbasis nach. Sie sind dabei, vollständig in den Produktionsprozess überzugehen. Aus ihrer Rolle als Schüler:innen und Studierende ergeben sich jedoch einige Unterschiede zu ihren erwachsenen Kolleg:innen, da ihre Ausbildung noch nicht abgeschlossen (im Falle von späteren Arbeiter:innen somit die Arbeitskraft noch nicht voll „entwickelt“ ist) und die Stellung in der gesellschaftlichen Produktion (noch) nicht der Dreh- und Angelpunkt ihrer Stellung in der Gesellschaft ist. So unterscheidet sich das Bewusstsein von Studierenden, die auf Nebentätigkeiten angewiesen sind, oft qualitativ von dem Bewusstsein ihrer Kolleg:innen, weil sie mit dem Abschluss ihres Studiums die Hoffnung auf eine besser bezahlte Stelle verbinden.

Zuletzt gibt es Jugendliche, die vorrangig einer beruflichen Tätigkeit nachgehen. Dazu zählen auch Auszubildende, die meist ab einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Ausbildung genau die gleiche Arbeit wie ihre Kolleg:innen leisten – bloß für deutlich weniger Lohn. Diese Jugendlichen sind aufgrund ihres Alters und ihrer familiären Lage noch jung. Gleichzeitig sind diese jugendlichen Proletarier:innen auch im engeren Sinne Teil der Arbeiter:innenklasse. Dort zählen sie zu den besonders ausgebeuteten Bestandteilen. Dabei bekommen Jugendliche oft als Erste die verschärften Klassengegensätze von Morgen zu spüren. So bekommen sie schlechtere Löhne, während die besser bezahlten Arbeiter:innen mit alten Arbeitsverträgen im Zuge von Umstrukturierungsprogrammen in Rente gehen. Sie sind ebenfalls viel öfter atypisch beschäftigt, wobei atypische Arbeitsverhältnisse in immer mehr Bereichen über kurz oder lang zu den neuen Normalverhältnissen werden, wenn sie nicht durch den Widerstand der Beschäftigten abgewehrt werden.

Anteil der Jugendlichen am gesellschaftlichen Reichtum

Betrachten wir zuletzt den Anteil der Jugendlichen am gesellschaftlichen Reichtum. Im Falle von Arbeiter:innen gehen die Kosten für das Großziehen von Kindern in den Wert der Ware Arbeitskraft ein, denn auch sie sind notwendig, um die Arbeitskraft auf Dauer zu reproduzieren.

Der Anteil der Jugendlichen am gesellschaftlichen Reichtum und seiner Verteilung hängt also direkt von dem ihrer Eltern ab.

Statistiken zur Jugendarmut zeigen, dass Jugendliche in erhöhtem Maße von Armut gefährdet sind. 2018 waren es selbst nach bürgerlichen Statistiken 29,5 Prozent der 18- bis 24-Jährigen.4 Dies steht einem Anteil von 24 Prozent im gleichen Jahr in der Gesamtbevölkerung gegenüber.

Diese Statistik spiegelt einerseits die Tatsache wider, dass wer Kinder hat, mehr Mäuler zu stopfen hat, als andere Erwachsene, die keine haben, und deswegen pro Person in einem typischen Kleinfamilien-Haushalt tendenziell weniger Einkommen übrig bleibt, je mehr Kinder es gibt.

Die Löhne werden in den seltensten Fällen individuell von den Kapitalist:innen angepasst, um dieser Tatsache Rechnung zu tragen. Viel mehr sind die Kapitalist:innen ständig bemüht, die Löhne weiter unter den Wert der Arbeitskraft zu drücken, weswegen auch mit dem Kindergeld eine staatliche (aus den Steuern der Arbeiter:innenklasse finanzierte) Subvention der Löhne notwendig wurde.

Zum anderen lebt auch ein bedeutender Teil der Jugendlichen in diesem Alter nicht mehr zu Hause, sondern muss wahlweise mit einer Ausbildungsvergütung, niedrigen Löhnen, BaföG oder Unterhalt über die Runden kommen.

Kinder von Eltern, die zur Kapitalist:innenklasse oder zu bestimmten gesellschaftlichen Zwischenschichten gehören (Teile des Kleinbürger:innentums, Beamt:innen, Arbeiter:innenaristokratie) erhalten somit über ihre Eltern ebenfalls Zugang zu einem größeren Anteil des gesellschaftlichen Reichtums.

Nachhilfe, Privatschulen und -universitäten, sowie zahlreiche teure Freizeitaktivitäten sind für diese Kinder und Jugendliche verfügbar und verschaffen ihnen auf der kapitalistischen Karriereleiter ab dem Kindergartenalter handfeste Vorteile.

Die Jugend ist also insgesamt keine eigene Klasse oder gesellschaftliche Schicht. Jugendliche gehören vielmehr der Klasse ihrer Eltern an. Zwar ist es theoretisch denkbar, dass Jugendliche später im Leben eine andere Klassenzugehörigkeit als ihre Eltern erlangen. Dies ist aber die statistische Ausnahme. Wenn es geschieht, dann am häufigsten weil Kinder von Arbeiter:innen in andere Zwischenschichten aufsteigen oder Kinder aus kleinbürgerlichen Familien die elterlichen Betriebe eben nicht übernehmen und somit Teil der Arbeiter:innenklasse werden.

Das deutsche Bildungssystem ist für seine sogenannte geringe „soziale Mobilität“ ohnehin berüchtigt, das heißt, Jugendliche haben eine im internationalen Vergleich besonders schlechte Chance „aufzusteigen“, wobei sich dies aber meist sowieso nur auf den Aufstieg innerhalb der eigenen Klasse bezieht.

Es ist allerdings wichtig darauf hinzuweisen, dass eine höhere soziale Mobilität die Klassengesellschaft an sich keinen Deut besser macht. Ein durchlässigeres Bildungssystem würde höchstens zu mehr höheren Schulabschlüssen und Studienabschlüssen führen. Dies würde aber noch lange nicht bedeuten, dass es in der Wirtschaft eines Landes auch entsprechend mehr besser bezahlte Jobs gibt oder mehr Kleinbürger:innen gleichzeitig im knallharten Konkurrenzkampf überleben könnten.

Jugend in der BRD heute

Im folgenden Abschnitt wird es darum gehen, eine Analyse der Jugend in der heutigen Bundesrepublik Deutschland vorzulegen. Dabei wollen wir zunächst ungefähre Größenverhältnisse umreißen, also platt gesagt der Frage „Wer macht was?“ nachgehen und die verschiedenen Untergruppen der Jugend quantitativ voneinander abgrenzen.

Danach sollen die Lebensbedingungen dieser Untergruppen untersucht, also eine qualitative Abgrenzung vorgenommen werden.

Ungefähre Größenverhältnisse

2021 lebten in Deutschland rund 8,11 Millionen 14- bis 24-Jährige. Dies entspricht einem Anteil von genau 10 Prozent an der Bevölkerung.5 Die Größe dieser Bevölkerungsgruppe nimmt hierbei mit kleinen Ausreißern seit einigen Jahren stetig ab. Demgegenüber stehen eine wachsende Gesamtbevölkerung (wobei in Zukunft mit deren Absinken bzw. Verharren auf einem ungefähr gleichen Niveau ausgegangen wird6) und ein konstantes Anwachsen der älteren Bevölkerungsteile.7

Damit sinkt die absolute und relative Bedeutung der Jugend in der Gesamtbevölkerung zumindest in Zahlen. Einige bürgerliche Soziolog:innen gehen deshalb davon aus, dass in Zukunft nur noch für ältere Menschen Politik gemacht werde und auch die politische Bedeutung der Jugend sinke. Im Laufe dieses Artikels werden auch wir unseren Standpunkt hierzu darlegen.

Unter den 15- bis 25-Jährigen in Deutschland sind hierbei 29,5 Prozent Schüler:innen, wobei logischerweise von einem weit höheren Anteil unter den jüngeren Jahrgängen und einem weit niedrigeren unter den älteren Jahrgängen ausgegangen werden kann.

Unter den 16- bis 24-Jährigen erhalten 76,3 Prozent ein eigenes Einkommen. Auch unter den 16- bis 17-Jährigen sind es immerhin schon 28,7 Prozent. Das Einkommen kommt hierbei mehrheitlich aus einer Form der Erwerbstätigkeit und nur untergeordnet aus Arbeitslosengeld oder einer Rentenleistung. Fast vier Millionen der 8,43 Millionen 15- bis 25-Jährigen arbeiten mindestens eine Stunde pro Woche.8

Hieraus lässt sich ableiten, dass Jugendliche mit zunehmendem Alter in höherem Maße erwerbstätig werden und sich ihr Lebensschwerpunkt mehr und mehr vom Lernen zum Arbeiten verlagert. Dabei sind fast 5,7 Millionen der 15- bis 25-Jährigen in beruflicher oder schulischer Ausbildung, also Schüler:innen, Studierende und Auszubildende.9 Die restlichen 2,7 Millionen sind also entweder voll erwerbstätig in dem Sinne, dass sie sich nicht in Ausbildung befinden, oder arbeitslos (Teil der industriellen Reservearmee10). Rund zwei Drittel der Jugend in der BRD befinden sich damit in irgendeiner Form der Ausbildung und rund ein Drittel nicht.

Dabei ist sowohl die Anzahl der Schüler:innen an allgemeinbildenden Schulen als auch die der Auszubildenden rückläufig. Die Zahl der Studierenden steigt an, während die Anzahl der Schüler:innen an Berufsschulen relativ gleichbleibend ist.11

Jugendliche in Ausbildung

In diesem Teil wird es um jene Jugendliche gehen, die sich in einer Form der Ausbildung (in Schule, Uni, Betrieb) befinden. Schüler:innen, Auszubildende und Studierende sollen hier anhand ihrer Lebenssituation in der BRD voneinander abgegrenzt werden.

Schüler:innen

Wie bereits festgestellt befindet sich knapp unter ein Drittel der 15- bis 25-Jährigen in schulischer Ausbildung (2,49 Millionen). Von den Menschen in dieser Altersgruppe, die sich nicht mehr in schulischer Ausbildung befinden, hatten 2018 47,5 Prozent eine Fachhochschul- oder Hochschulreife (also Abitur oder Fachabitur), 32,2 Prozent einen mittleren Schulabschluss, 15,0 Prozent einen Hauptschulabschluss und 5,0 Prozent keinen Schulabschluss.

Anteil unter den 15-25 Jährige, die nicht mehr in schulischer Ausbildung sind
Hauptschulabschluss 15,0 %
Mittlerer Abschluss (Fachoberschulabschluss) 32,2 %
Fachhochschul/Hochschulreife 47,5 %
Ohne Angabe der Art des Abschlusses 0,3 %
Ohne Abschluss 5,0 %

Die Zahl der Schulabbrecher:innen ist dabei pro Jahrgang durchaus höher, sie lag in den letzten Jahren insgesamt bei über 6 Prozent, bei Nicht-Deutschen sogar bei über 18 Prozent. Viele der „Abbrecher:innen“ bemühen sich jedoch später darum, einen Abschluss nachzuholen.12 Die BRD zeichnet sich hier zudem dadurch aus, dass es ohne einen Schulabschluss quasi gar keine beruflichen Perspektiven mehr gibt, da selbst viele Ausbildungsberufe, wie zum Beispiel Krankenpfleger:in, einen Fachoberschulabschluss benötigen.

Dennoch werden pro Jahrgang ungefähr 15 Prozent der Jugendlichen zunächst ohne berufliche Ausbildung, also ohne Hochschul- oder Ausbildungsabschluss, auf den Arbeitsmarkt geworfen.13

Mehrgliedriges Bildungssystem

Eine weitere Besonderheit des Bildungssystems der BRD ist seine Mehrgliedrigkeit, das heißt, dass es nach der Grundschule, welche je nach Bundesland nach der vierten oder sechsten Klasse endet, mehrere Möglichkeiten des weiteren Schulbesuchs gibt, wie etwa Hauptschulen, Realschulen, Oberschulen, Gymnasien und nach der zehnten Klasse Oberstufenzentren. Hier ergeben sich aus dem föderalen Aufbau der BRD einige feine Unterschiede, da Bildung „Ländersache“ ist. Das mehrgliedrige Bildungssystem in der BRD entspricht dem Bedürfnis des Kapitals nach verschieden qualifizierter Arbeitskraft. Dabei war das Gymnasium anfangs vor allem für Ingenieur:innen, Ärzt:innen oder Stellen im Staatsapparat geschaffen worden. Heute umfasst es auch einen immer größeren Anteil späterer Arbeiter:innen. Gleichzeitig zeigen sich aber auch Tendenzen in Richtung einer Reform der starren Schulformen. Die schrittweise Abschaffung der Hauptschulen beispielsweise ist schon seit langem beschlossene Sache und setzt sich Stück für Stück durch. Auch werden in einzelnen Bundesländern mehr Gesamtschulen eingeführt, an denen man alle möglichen Abschlüsse machen kann. Eine detaillierte Analyse des deutschen Bildungssystems steht für uns noch aus. Dennoch wollen wir hier die Zusammenhänge zwischen den Schulformen und der Zusammensetzung der deutschen Arbeiter:innenklasse aufzeigen.

Je nach Abschluss steht den Absolvent:innen dann auch eine mehr oder weniger begrenzte Auswahl an Berufs- bzw. Ausbildungswegen offen. So sind fast alle Ausbildungsberufe an bestimmte Schulabschlüsse geknüpft und wer studieren möchte, benötigt ein Abitur oder Fachabitur.

Absolvent:innen von Hauptschulen haben so wenige Perspektiven im Leben. Hier ist es Alltag, den Schüler:innen das Ausfüllen von Anträgen auf Arbeitslosengeld beizubringen. Sie werden so darauf vorbereitet, einen großen Teil ihres Lebens in der industriellen Reservearmee oder in Gelegenheits- und Hilfsjobs zu verbringen.

Die Schulformen in der imperialistischen BRD entsprechen einer ausdifferenzierten Arbeiter:innenklasse, wie wir sie in unserer bisherigen Klassenanalyse dargelegt haben.14 Die Schüler:innen, die später Kapitalist:innen werden, sind klar in der Unterzahl und in den meisten öffentlichen Schulen findet man nicht viele von ihnen.

Vielmehr werden in den Gymnasien qualifiziertere Arbeitskräfte herangezogen, wie sie mit zunehmender Produktivkraftentwicklung immer notwendiger geworden sind, wohingegen in „niedrigeren“ Schulformen vor allem spätere Arbeiter:innen erzogen werden, die eher auf ausführende Tätigkeiten spezialisiert sind. Auch die Unterrichtsinhalte spiegeln das wider.

Das heißt, die Mehrheit der Schüler:innen werden später zu Arbeiter:innen, egal welche Schulform sie besuchen. Dennoch hat ihr Schulabschluss eine gewisse Aussagekraft über ihre spätere Stellung in der Arbeiter:innenklasse. So steigt mit dem Grad des Abschlusses auch die Wahrscheinlichkeit, einmal einen unbefristeten und gut bezahlten Arbeitsvertrag zu erhalten, wenngleich auch Akademiker:innen immer öfter zunächst in befristeten Verhältnissen arbeiten.15

Die Spaltung zwischen den verschiedenen Schichten der Arbeiter:innenklasse wird auch hier schon durch Lehrer:innen als Spaltung zwischen den verschiedenen Schulformen, zwischen den „Dummen“ und den „Schlauen“ gesät und muss in unserer politischen Arbeit überwunden werden.

Gleichzeitig ist es wichtig festzuhalten, dass proletarischen Kindern und Jugendlichen mit abnehmender Qualifizierung der Eltern auch immer weniger Türen im Leben offen stehen. So stellte 2019 lediglich bei 5,9 Prozent der Gymnasiast:innen der Hauptschulabschluss den höchsten Schulabschluss der Eltern dar, während es bei über 67 Prozent die Fachhochschul- oder Hochschulreife war.16 Da der Anteil der Gymnasiast:innen in der Bevölkerung ohnehin ständig wächst, müssen diese Zahlen ins Verhältnis zu den Bildungsabschlüssen der Eltern gesetzt werden, dies können wir hier nur näherungsweise leisten. Für das Jahr 2021 kann jedoch für die Alterskohorte der 35 bis 44-Jährigen, die zumindest einen statistischen Schwerpunkt der Elterngeneration heutiger Schüler:innen darstellen dürfte, gesagt werden, dass der Anteil der Menschen, deren höchster Schulabschluss ein Haupt- oder Volksschulabschluss war, bei 16,7 Prozent lag. Für ältere Generationen ist dieser Anteil sogar noch höher.17

Diese Bildungsungerechtigkeit gilt es in der bildungspolitischen Arbeit aufzugreifen, um das Märchen des deutschen Imperialismus von der gleichen Bildung und gleichen Chancen für alle zu entlarven.

Situation von Schüler:innen und Schulen

So verschieden die unterschiedlichen Schultypen auch sind, so ähnlich sind sich doch die Probleme, denen Schüler:innen während ihrer Schulzeit begegnen. So sind viele Schulen in marodem Zustand, Turnhallen sind nicht nutzbar, Wände schimmeln, Decken stürzen ein. Im April 2021 schätzte die staatliche Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), dass sich die Gesamtkosten für die Instandsetzung deutscher Schulen auf 34 Milliarden Euro belaufen würden.18

Hinzu kommen gesundheitliche Schäden, die Leistungsdruck und Hetze in den Schulen hinterlassen. Laut einer Studie der DAK aus dem November 2019 leiden rund zwei Prozent der Schüler:innen in Deutschland an Depressionen, wobei Ärzt:innen von einer deutlich höheren Dunkelziffer ausgehen. Darüber hinaus leide jedes vierte Schulkind unter psychischen Problemen.19 Mehr als weitere zwei Prozent leiden an einer Angststörung.20 In der Corona-Pandemie war dieses Thema erneut in aller Munde. Während der Maßnahmen wurde durch Studien ein Anstieg an depressiven Symptomen unter Jugendlichen um 75 Prozent nachgewiesen.21 Des Weiteren leidet ein Drittel der deutschen Schüler:innen unter Schlafstörungen, da die Last an Hausaufgaben und der Lernaufwand an den meisten Schulen für viele Schüler:innen keinen normalen Schlafrhythmus zulässt.

Politisch können wir hieraus die Konsequenz ziehen, dass es nicht nur in Betrieben Druck und Arbeitshetze gibt und dass wir auch um die Ausgestaltung des Unterrichts und die Arbeitsbelastung an Schulen Kämpfe führen müssen. Diese müssen jedoch immer auch über den Rahmen einer einzelnen Schule hinaus entwickelt werden, da ihr lokales Potenzial ebenso wie das Potenzial von isolierten Betriebskämpfen begrenzt bleibt.

Die Schule ist ebenso ein Ort, an dem Schüler:innen politische Arbeit machen können, ohne dass ihnen der Schulbesuch verboten wird und es für einen Rauswurf deutlich höhere Hürden als in einem Lohnarbeitsverhältnis gibt. Ähnlich wie im Betrieb kommen Schüler:innen in der Schule auch regelmäßig zusammen und diskutieren miteinander. Hier ist der Ort an dem wir einen besonderen Schwerpunkt unserer Arbeit unter Jugendlichen setzen müssen. Trotzdem ruft natürlich auch an den Schulen die politische Arbeit eine gewisse Repression durch Lehrer:innen, Sozialarbeiter:innen und dem Staatsschutz hervor.

Auszubildende

2017 gab es in Deutschland rund 1,3 Millionen berufliche Auszubildende, 63 Prozent davon Männer und 37 Prozent Frauen. Hierbei waren die meisten Auszubildenden in den Sektoren Verkauf (98.169 Azubis, 47 Prozent Männer, 53 Prozent Frauen) Fahrzeug-, Luft-, Raumfahrt- und Schiffbautechnik (83.520 Azubis, 95,9 Prozent Männer, 4,1 Prozent Frauen), Arzt- und Praxishilfe (77.289 Azubis, 2,2 Prozent Männer, 97,8 Prozent Frauen) und Büro und Sekretariat (72.219 Azubis, 26,8 Prozent Männer, 73,2 Prozent Frauen) tätig.22

Bereits hier zeigen sich sehr krasse Unterschiede bei der Wahl des Ausbildungsberufs nach Geschlecht, wobei die häufiger von Frauen gewählten Berufe in den meisten Fällen schlechter bezahlt sind.

Im Jahr 2020 ist die Zahl der angebotenen und abgeschlossenen Ausbildungsverträge gegenüber 2019 massiv abgesackt. Sie betrug mit etwa 467.000 rund 57.000 weniger als 2019. Seitdem hat sich diese Zahl nicht in nennenswerter Weise erholt: 2021 wurden etwa 473.000 und 2022 475.000 Ausbildungsverträge abgeschlossen. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um einen Sondereffekt der Corona-Pandemie, schon in einer der letzten großen Wirtschaftskrisen 2008/2009 war die Zahl der Ausbildungsverträge von einem Jahr aufs andere um 52.000 abgesunken.23

Der Ausbildungsmarkt ist also sehr stark an die konjunkturellen Schwankungen gebunden. Zumindest nach den offiziellen Statistiken war die Zahl der Jugendlichen, die ohne Ausbildungsplatz blieben, in den vergangenen 15 Jahren oft auch sehr gering und schwankte laut offiziellen Statistiken um 10.000 Personen.

Zu Beginn des Ausbildungsjahres 2019/2020 im September 2019 beispielsweise blieben jedoch 53.100 Lehrstellen frei, obwohl ein Nachfrageüberschuss bestand.24 Dies erklärt sich zum einen daraus, dass die Ausbildungsgehälter oft keinen Umzug erlauben und somit Jugendliche aus unterentwickelten und zunehmend deindustrialisierten Regionen in die Röhre schauen. Zum anderen steigt bei den Kapitalist:innen die Unzufriedenheit mit den Vorqualifikationen aus der Schule.25

Ausbildungsgehälter und Klassenkampf von oben

Auszubildende verdienen meist lediglich einen Bruchteil dessen, was die restliche Belegschaft im Betrieb bekommt. Die Ausbildungsgehälter reichen in vielen Fällen nicht dafür, unabhängig von den eigenen Eltern zu werden. Dennoch erheben die Kapitalist:innen immer wieder ein schrecklich wehleidiges Gejaule darüber, was für ein riesiges Verlustgeschäft Auszubildende doch angeblich seien.

Natürlich entspricht das nicht der Wahrheit. Auszubildende zählen zu den im Betrieb besonders ausgebeuteten Arbeiter:innen. Ihnen obliegt es oft, die Drecksarbeit zu übernehmen. Dabei kommt das Unternehmen billiger weg, als wenn es etwa noch eine zusätzliche Reinigungs- oder Bürokraft ausbeuten würde. Des Weiteren erhöht es sowohl Produktivität der anderen Arbeiter:innen als auch die Spaltung im Betrieb, wenn die Auszubildenden Aufgaben für diese erledigen, ihnen zuarbeiten. Mit Fortschreiten der Ausbildung erledigen die Lehrlinge dann in zunehmendem Maße die gleiche Arbeit wie die älteren Kolleg:innen – bloß für viel weniger Geld. Wie bereits gesagt, sind sie ganz selbstverständlich ebenfalls Teil der Arbeiter:innenklasse.

Dennoch arbeiten die Kapitalist:innen darauf hin, auch aus den Auszubildenden einen höheren Mehrwert zu quetschen. Sie arbeiten deshalb vor allem in zwei Richtungen: 1. Die Verkürzung der Zeit in der Berufsschule und 2. die Übernahme der Ausbildungsgehälter durch den Staat, also in letzter Konsequenz durch die Arbeiter:innenklasse selbst. Ebenso wurden 2016 nur rund zwei Drittel der Azubis direkt übernommen.26

Dazu müssen wir aber ebenfalls anmerken, dass sich Gehälter in der Ausbildung sehr unterschiedlich gestalten können. In Ausbildungen, mit denen man später zur Stammbelegschaft großer Monopole zählt, beispielsweise bei VW oder der Bahn, kann man durchaus hohe Ausbildungsgehälter erhalten, die mit Einstiegsgehältern in ähnlichen Berufen bei kleineren Betrieben vergleichbar sind.

Für uns muss es darum gehen, gegen diese Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen der Arbeiter:innenklasse in der Betriebsarbeit anzukämpfen. Diese sind letztendlich ein Angriff auf die gesamte Klasse, da sie auch den Druck auf die restliche Belegschaft erhöhen.

Ebenso müssen wir gegen die Spaltung nach Generationen im Betrieb ankämpfen und die Kolleg:innen über juristische Grenzen hinweg, unabhängig von ihrem Alter und Beruf gemeinsam organisieren.

Studierende

Im Wintersemester 2022/23 studierten in Deutschland knapp 2,92 Millionen Menschen an Hochschulen und Fachhochschulen – nachdem über mehr als ein Jahrzehnt die Zahl der Studierenden beständig angewachsen war, ist diese Zahl nun erstmalig leicht zurückgegangen.27 Der Anstieg seit 1991 liegt dennoch bei gut 60 Prozent. Heute beginnt mehr als jeder zweite Jugendliche nach der Schule ein Studium. Damit sind die Studierenden die am schnellsten wachsende Gruppe innerhalb der Jugend. 2022 lag die Studienanfänger:innenquote bei 54,7 Prozent, auch hier scheint gegenüber dem Spitzenwert von 2019 mit 57,6 Prozent ein gewisses Plateau erreicht zu sein. Die Studienanfängerquote gibt den Anteil eines Jahrgangs an, der ein Studium aufnimmt28.

Wie bereits in unserer bisherigen Klassenanalyse ausgeführt, bedeutet dieser Anstieg der Anzahl an Studierenden keineswegs ein Schrumpfen der Arbeiter:innenklasse. Vielmehr rührt diese Entwicklung daher, dass die Arbeiter:innenklasse wächst und in ihrer Breite immer mehr und verschiedene Qualifikationen benötigt werden, um den Bedürfnissen der kapitalistischen Produktion gerechtzuwerden. Zentrale Ursachen hierfür sind die Entwicklung der Produktivkräfte in der industriellen Produktion, der wachsende Anteil von „immateriellen Waren“, wie Software oder IT-Dienstleistungen, und der wachsende Finanz- und Dienstleistungssektor. Das bringt ebenso Proletarisierungstendenzen in den vormals eher kleinbürgerlich geprägten Intellektuellen-Zwischenschichten mit sich.

Diese Proletarisierungstendenzen zeigen sich auch bei den Studierenden, die während ihres Studiums arbeiten. So ergab eine Studie aus dem Jahr 2023 von ver.di, der GEW und der bundesweiten Vernetzung der Initiativen für einen Tarifvertrag für studentische Beschäftigte (TV Stud), dass für studentische Beschäftige an Hochschulen und Forschungseinrichtungen Kettenbefristungen und Dumping-Löhne zum Alltag gehören. 16,7 Prozent der 11.000 Befragten gaben sogar an, im Durchschnitt 4,9 Wochen vor oder nach dem Vertragsbeginn ohne Bezahlung zu arbeiten. 39 Prozent sagten, monatlich unbezahlte Überstunden zu leisten.29 Darüber hinaus sind Praktika in zahlreichen Studiengängen Pflicht und „freiwillige“ Praktika gehören in zahlreichen Studienfächern zum Standard eines „vollständigen Lebenslaufs“. Für verpflichtende Praktika besteht keine Pflicht zur Vergütung, bei „freiwilligen“ Praktika erst ab einer Dauer von 3 Monaten.30 Dabei arbeiten Praktikant:innen an ihren Stellen oft voll. Nicht zu Unrecht sprechen selbst bürgerliche Kommentatoren von der „Generation Praktikum“.

An schlecht bezahlte und unsichere Arbeitsbedingungen werden Studierende also bereits während des Studiums gewöhnt. Viele von ihnen können sich aber mit dem daraus entspringenden geringen Verdienst nicht von ihren Eltern komplett unabhängig machen. In der Wirtschaftskrise konnte man bisher außerdem besonders anschaulich sehen, dass vor allem Jugendliche (und damit auch und in dieser Krise gerade Studierende) zu den Ersten zählten, die von Massenentlassungen betroffen sind. Das war insbesondere eine Folge der staatlichen Lockdown-Maßnahmen.

Es sind also insbesondere junge Akademiker:innen, die in derartigen unsicheren Beschäftigungsverhältnissen stecken. Sie werden besonders stark von den Proletarisierungstendenzen getroffen, die infolge des Anwachsens der Arbeiter:innenklasse auftreten. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung und der Notwendigkeit einer wissenschaftlich mehr und mehr und so schnell wie möglich qualifizierten Arbeiter:innenklasse richtet die herrschende Klasse auch ihre Bildungspolitik im Bereich der Universitäten aus. Ziel ist dabei vor allem die Verkürzung der Studienzeit und die schnellere Schaffung brauchbarer Arbeitskräfte. Die Studierenden sollen das Gleiche oder mehr in geringerer Zeit lernen, um möglichst schnell ausgebeutet werden zu können. Ein Beispiel hierfür sind die Bologna-Reformen, gegen die die Bildungsstreikbewegung 2008/2009 ankämpfte. Damals wurde das System der Bachelor- und Masterabschlüsse in Deutschland eingeführt. Dies passierte unter anderem, um die neu ausgebildeten Arbeitskräfte mit einheitlichen europäischen Universitätsabschlüssen auszustatten, um sie nach den Notwendigkeiten des Kapitals frei in Europa einsetzen zu können.

Andererseits wurde vor über 50 Jahren auch das Berufsausbildungsförderungsgesetz (BAföG) von der sozialliberalen Koalition in den 70ern eingeführt, um Arbeiter:innen die Möglichkeit zu geben, zu studieren. Dies war jedoch keine Wohltat der Bourgeoisie, sondern zwingend notwendig, um die Arbeiter:innenklasse auf das für die kapitalistische Produktion nötige Qualifikationsniveau zu bringen und zugleich eine sozialstaatliche Maßnahme, um die Jugendbewegung im Nachgang der 68er zu beschwichtigen. Bis zu 10.000€ müssen dabei ohnehin nach Abschluss des Studiums zurückgezahlt werden.

Die Studierenden als besonders stark gewachsende Gruppe, die zu großen Teilen in die Arbeiter:innenklasse übergehen wird und auch historisch immer wieder eine politisch vorantreibende Rolle gespielt hat, muss somit stärker in den Fokus unserer Aufmerksamkeit als Kommunist:innen rücken und darf nicht allein der Bourgeoisie und ihren bürgerlich-idealistischen Theorien überlassen werden.

Unabhängig von ihren Zukunftsaussichten ist die relative Armutsquote unter Studierenden traditionell jedenfalls sehr hoch. Im Jahr 2021 galten 37,9 Prozent der Studierenden als armutsgefährdet, das heißt, ihr Einkommen lag bei weniger als 60 Prozent des gesellschaftlich mittleren Einkommens. Unter denjenigen, die allein oder ausschließlich mit anderen Studierenden zusammenlebten, lag diese Zahl mit 76,1 Prozent sogar noch deutlich höher.31

Eine detailliertere Analyse der Lage der Studierenden wird im Zuge einer Analyse des Bildungssystems der Bundesrepublik Deutschland noch erfolgen müssen.

Voll erwerbstätige Jugendliche

Als besonders flexibler und gedanklich offener Teil der Arbeiter:innenklasse ist das junge Proletariat für uns Kommunist:innen von großer Wichtigkeit. Jugendliche Arbeiter:innen besitzen keine Produktionsmittel, sie gehen fast ausschließlich einer hauptsächlich ausführenden Tätigkeit nach und ihr Anteil am gesellschaftlichen Reichtum entspricht im Wesentlichen den Kosten der Reproduktion ihrer Arbeitskraft. Auch wenn wir bereits gesehen haben, dass neben dem Alter noch weitere Faktoren berücksichtigt werden müssen, bevor wir eine:n Arbeiter:in auf der Skala zwischen „Jugend“ und „Erwachsen“ einordnen können, so bleiben uns dennoch nur Statistiken, die zwischen diesen beiden Polen eine mechanische Trennung vollziehen, je nach Erhebung mit der Vollendung des 24., 25. oder 27. Lebensjahrs. Zu diesem Problem treten noch weitere Mängel der bürgerlichen Statistik hinzu, die bereits in den früheren Artikeln zur Klassenanalyse in Kommunismus #13 und #14 umrissen wurden. Die Frage, wie viele jugendliche Arbeiter:innen es denn nun gibt, kann hier also nur ansatzweise beantwortet werden.

Mit 4,3 Millionen zählen über die Hälfte der 8,4 Millionen 15- bis 24-Jährigen zur Erwerbsbevölkerung, das heißt sie sind für den Arbeitsmarkt verfügbar. Darunter ist etwa eine Viertelmillion arbeitslos und die übrigen erwerbstätig. „Erwerbstätig“ bedeutet jedoch lediglich die Ausübung von mindestens einer Stunde bezahlter Arbeit pro Woche und keineswegs, dass durch die eigene Erwerbstätigkeit der ganze Lebensunterhalt bestritten werden kann. In dieser Zahl inbegriffen sind also auch z.B. Schüler:innen und Studierende mit Minijobs, auch wenn diese zum Beispiel ansonsten von Unterstützung ihrer Eltern leben. Unter den erwerbstätigen 15- bis 24-Jährigen sind nur etwa 64.000 „selbstständig“ oder scheinselbstständig.32

Insgesamt galt im Jahr 2022, dass unter den 15- bis 24-Jährigen 50,5 Prozent ihr Auskommen vor allem durch Unterstützung von Angehörigen bezogen, 38,3 Prozent lebten hauptsächlich von ihrer eigenen Erwerbstätigkeit und 10,4 Prozent von staatlichen Transferleistungen oder öffentlichen Geldern. Gut 1,6 Millionen Menschen in dieser Alterskohorte galten laut dem statistischen Bundesamt als „kernerwerbstätig“, das heißt, sie befanden sich nicht in der Ausbildung oder in einem freiwilligen Dienstjahr.33

Wie viele Jugendliche also bereits hauptsächlich Teil des Produktionsprozesses sind, ist für uns aus den zur Verfügung stehenden Statistiken nicht exakt festzustellen.

In den folgenden Abschnitten wollen wir auf die Lebensbedingungen der jugendlichen Arbeiter:innen eingehen, mit Fokus auf Jugendliche, die sich nicht mehr in irgendeiner Form der Ausbildung befinden.

Löhne und Arbeitszeit

Geht man vom sogenannten normierten Standardeinkommen aus dem Jahr 2015 aus, bei dem der Lohn auf vierzig Stunden hochgerechnet wird, verdienten 15- bis 25-Jährige laut DGB damals 1.491 Euro Brutto monatlich.34 Bei diesem statistischen Wert wird der durchschnittliche Stundenverdienst auf 160 Arbeitsstunden im Monat hochgerechnet, um die Entlohnung auch bei unterschiedlichen Arbeitszeiten vergleichbar zu machen. 2015 betrug also das durchschnittliche Stundeneinkommen von Jugendlichen in diesem Alter 9,31 Euro. Dies liegt lediglich 81 Cent über dem damaligen Mindestlohn von 8,50 €.

Wie wir später sehen werden, sind Jugendliche öfter in Teilzeit oder atypisch beschäftigt, weswegen das tatsächlich durchschnittliche Einkommen in Wirklichkeit wohl um einiges darunter liegt. Dazu passt, dass 2010 ein Drittel der deutschen Erwerbstätigen im Niedriglohnsektor35 beschäftigt war, wobei darunter 715 000 Jugendliche waren. Zum damaligen Zeitpunkt war das die Hälfte der Jugendlichen, die sich nicht in irgendeiner Form der Ausbildung befanden.36

Je nach Verdienst ergibt sich bei vielen Jugendlichen eine große Unzufriedenheit über den eigenen Lohn. So gaben in der besagten DGB-Studie fast 40 Prozent der Jugendlichen, die bis zu 800 Euro verdienen, an, Belastungen aufgrund ihres Einkommens zu empfinden. Unter denen, die zwischen 801 und 1500 Euro verdienen, sind es sogar mehr als die Hälfte. Dieses auf den ersten Blick paradoxe Ergebnis ist so zu erklären, dass in die Gruppe der Jugendlichen mit einem Einkommen bis 800 Euro auch zahlreiche Jugendliche fallen, die nur als Nebentätigkeit arbeiten, also durch Eltern oder BAföG noch andere Einnahmequellen haben.

Dabei gaben fast 16 Prozent der jungen Beschäftigten an, außerhalb der regulären Arbeitszeit unbezahlt für ihren Betrieb zu arbeiten. Bei nur 39,1 Prozent der jungen Beschäftigten stimmte die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit überhaupt mit der tatsächlichen Arbeitszeit überein. Der Rest leistet also regelmäßig Überstunden.

Atypische Beschäftigung

Wie aus unserer bisherigen Klassenanalyse hervorgeht, sind die atypischen Arbeitsverhältnisse auf bestem Wege, die künftigen normalen Arbeitsverhältnisse zu werden. So bekommen heute 44 Prozent der neu eingestellten Arbeiter:innen nur noch einen befristeten Arbeitsvertrag.

Unter den Jugendlichen als besonders ausgebeuteter und unterdrückter Teil der Arbeiter:innenklasse sind atypische Beschäftigungsverhältnisse besonders stark verbreitet. So sind fast die Hälfte der 15- bis 25-Jährigen atypisch beschäftigt, während diese Zahl in den darüber liegenden Altersklassen auf rund 20 Prozent zurückgeht.37 Von den atypisch beschäftigten 15- bis 25-Jährigen arbeiten hierbei mehr als 90 Prozent länger als zwanzig Stunden in der Woche. Rund ein Viertel der Arbeiter:innen unter 35 war im bisherigen Berufsleben ausschließlich befristet beschäftigt.38

Proletarisierungstendenzen

Auch heute wird noch immer das Märchen verbreitet, mit der richtigen Idee oder der richtigen Arbeitseinstellung könnte man es als Selbstständige:r oder Kleinunternehmer:in in Deutschland durchaus zu etwas bringen. Gerade diejenigen, die die Lebensrealität der Kleinbürger:innen von klein auf miterlebt haben, scheinen dieser Perspektive jedoch keinen rechten Glauben schenken zu wollen.

So ist es auch kaum verwunderlich, dass die Selbstrekrutierungsrate bei kleineren Unternehmen, die meist in der Hand von Kleinbürger:innen sind, seit 1976 drastisch zurückgegangen ist. Dieser Wert gibt an, wie hoch der Anteil der in einer bestimmten Position aktiven Menschen ist, deren Eltern die gleiche Position innehatten. Bei männlichen Unternehmern ist diese Selbstrekrutierungsrate von 1976 bis 2018 von 36 auf 19 Prozent gefallen, bei Frauen von 21 auf 15 Prozent.39

Da diese kleinen Betriebe zwischen den großen Weltmonopolen in der BRD aufgerieben werden, nimmt auch ihre Überlebensfähigkeit ab. Die Chance, einen intakten Betrieb zu übernehmen, sinkt für die Kinder des Kleinbürger:innentums. Die Proletarisierung schreitet auch hier voran und viele Kinder von Kleinbürger:innen gehen nach Abschluss ihrer Ausbildung in die Arbeiter:innenklasse über. Wohl aber nehmen sie bei ihrer Proletarisierung kleinbürgerliche Einflüsse mit in die Klasse und gegebenenfalls auch einige zehntausend Euro Starthilfe aus dem ehemaligen elterlichen Geschäft. Beides verschwindet erst allmählich.40

Jugendarbeitslosigkeit

Auch in Deutschland ist die Jugend stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als die restlichen Bevölkerungsteile. So sind die 15- bis 20-Jährigen (2018: 7,5 Prozent) die am stärksten und die 20- bis 25-Jährigen (2018: 5,7 Prozent) die am zweitstärksten von Erwerbslosigkeit betroffene Altersgruppe.41 Dennoch ist die Jugendarbeitslosigkeit im Vergleich zu anderen Ländern in Europa, wie zum Beispiel Spanien oder Griechenland, sehr gering. Das hat mehrere Gründe. So ist Deutschland als starke imperialistische Macht krisenfester und konnte einen drastischen Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit bisher vermeiden. Dazu kommen diverse Tricksereien des Arbeitsamtes, die eine verdeckte Jugendarbeitslosigkeit entstehen lassen, die nicht von den offiziellen Statistiken erfasst wird. So zählen zum Beispiel Jugendliche, die eine Ausbildung suchen, nicht als arbeitslos.42

Ein nicht zu vernachlässigender Faktor ist hierbei auch das deutsche Ausbildungssystem, in welchem Jugendliche viel längere Zeiträume verbringen als in anderen Ländern. Sogar zwischen Schule und Ausbildung gibt es sogenannte „ausbildungsvorbereitende Maßnahmen“ an deren Ende eine „Qualifikation“ steht, mit der man in keinem Betrieb seine Chancen auf Anstellung verbessert. Auf diese Weise wird die Jugendarbeitslosigkeit verdeckt und über die verschiedenen Altersgruppen gestreckt.43 Dabei gelten unter 25-Jährige als besondere Zielgruppe, die verstärkt in verschiedene Maßnahmen des Arbeitsamtes gesteckt wird.

Dies hat zum Beispiel dazu geführt, dass 2008 nur 18,3 Prozent der unter 25-jährigen Leistungsbezieher:innen als arbeitslos erfasst waren. Zu den Nicht-Erfassten zählen neben Schüler:innen und Azubis, die Zusatzleistungen brauchen, auch Jugendliche in Integrationsmaßnahmen wie 1-Euro-Jobs oder mit Jobs, die nicht ihr Existenzminimum sichern.

Es ist also klar, dass der Schein der zurückgehenden und niedrigen Jugendarbeitslosigkeit in der BRD trügt, obwohl sie auch unverdeckt nicht so hoch wäre wie in Südeuropa. Schaut man auf Statistiken zu jungen Leistungsbezieher:innen, springt der Unterschied zu den offiziellen Arbeitslosenzahlen klar ins Auge. Im Juli 2017 waren 420.000 Leistungsbezieher:innen in Ausbildung, Schule oder Studium und tauchten deswegen nicht in der offiziellen Arbeitslosenstatistik auf.44 Dem gegenüber waren im Januar 2018 290.000 Jugendliche unter 25 offiziell erwerbslos.45

Ebenso hat sich während der Wirtschaftskrise gezeigt, dass vor allem die Zahl der jungen Arbeitslosen sehr abrupt in die Höhe schnellen kann. Sie stieg in der Wirtschaftskrise von 242.832 (August 2019) auf über 324.139 (August 2020), den bisherigen Höhepunkt in dieser Krise, und sank bis August 2022 wieder auf 248.395, was fast genauso hoch wie im August 2021 ist.46 Insbesondere in ohnehin schon stark deindustrialisierten Regionen wird die Lage sich besonders verschärfen. Bereits jetzt liegt die Jugendarbeitslosenquote in Ostdeutschland, wo es viele dieser Regionen gibt, mit 8,4 Prozent deutlich über der im Westen (4,6 Prozent).47 Solche Regionen, in denen sich die Perspektivlosigkeit der Jugend ballt, gibt es aber nicht nur im Osten: Das Bundesland mit der höchsten Arbeitslosenquote war im August 2021 Bremen.

Unterschiede nach Geschlecht

Bereits in der Jugend machen sich deutliche Unterschiede zwischen den Arbeitsbedingungen der Geschlechter bemerkbar. Aufgrund der Schranken, die unserer Erkenntnis durch die bürgerliche Wissenschaft gesetzt werden, können wir hier nur auf die Unterschiede zwischen Männern und Frauen eingehen.

Der Gender Pay Gap, also der Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen, fällt zwar geringer aus als bei älteren Beschäftigten. So liegt er bei unter 35-Jährigen bei „nur“ rund sechs Prozent, darüber bei etwa 23 Prozent.48 Jedoch lässt sich platt sagen, dass man von einem eh schon viel zu geringen Lohn nicht soviel weg nehmen kann. Schließlich ist die Kapitalist:in darauf angewiesen, dass auch die junge Arbeiterin ihre Arbeitskraft reproduzieren kann. Auch werden einige typische „Frauenberufe“ in der Ausbildung noch vergleichsweise gut entlohnt (bsp. Pflegeberufe). Vor allem stützt sich der spätere statistisch nachweisbare Einkommensunterschied zwischen Frauen und Männern zu einem guten Teil darauf, dass Männer häufiger und schneller in höhere Positionen aufsteigen.

Wie wir bereits im Kapitel zu Auszubildenden gesehen haben, gibt es in vielen Ausbildungsberufen sehr große Unterschiede zwischen der prozentualen Aufteilung der Ausbildungsstellen unter die Geschlechter. Nach der Ausbildung landen Frauen dann mit einer um neun Prozent höheren Wahrscheinlichkeit im Niedriglohnsektor. Ihre Chance, in ein höheres Einkommenssegment „aufzusteigen“, ist dabei um rund 40 Prozent geringer. Frauen absolvieren ebenfalls weniger Fortbildungs- und Meisterprüfungen als Männer. Letztere absolvierten 2017 rund zwei Drittel dieser Prüfungen, im Handwerk sogar vier Fünftel.49

Dass proletarische Frauen aufgrund ihrer mehrfachen Unterdrückung verhältnismäßig öfter in Teilzeit arbeiten, um die Reproduktionsarbeit zu bewältigen, macht sich ebenfalls unter jungen Arbeiter:innen bemerkbar. Von den Erwerbstätigen unter 35 sind nur vier Prozent der Männer in Teilzeit beschäftigt. Unter den Frauen sind es neun Mal so viele. Besonders krass ausgeprägt ist diese Tendenz in Westdeutschland, wo nur 59 Prozent der arbeitenden Frauen in dieser Altersgruppe eine Vollzeitstelle haben. In Ostdeutschland sind es dagegen 86 Prozent. Die Zahlen der Männer sind in Ost und West gleich.

Wir sehen also, dass wir auch unter jugendlichen Arbeiter:innen den Kampf für gleichen Lohn für gleiche Arbeit führen müssen. Ebenso muss auch hier der patriarchalen Unterdrückung und der Spaltung der Arbeiter:innen nach Geschlecht entgegen getreten werden.

Migrantische Jugendliche

Je jünger der Jahrgang, desto höher ist der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Deutschland. Hatten 2020 in der ganzen BRD 26,7 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund, waren es bei den Menschen unter 5 Jahren 40,3 Prozent. Für diese Statistiken wird „Migrationshintergrund“ so definiert, dass eine Person oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt.

Nach dieser Definition ist insbesondere in vielen Großstädten ein großer Teil der Jugend migrantisch. So hatten 2020 in Bremen 64,3 Prozent der Jugendlichen einen Migrationshintergrund, in Hessen 51,5 Prozent und in Berlin 50,7 Prozent.50

Berücksichtigt werden muss bei diesen Zahlen jedoch, dass es einen deutlichen Unterschied zwischen West- und Ostdeutschland gibt. So lag die Zahl der Migrant:innen nach obiger Definition im Westen bei 31,9 Prozent, im Osten hingegen bei lediglich 10,3 Prozent.

Nach einer Befragung unter Ausbildungsbewerber:innen im Jahr 2021 erreichten deutlich mehr Bewerber:innen ohne Migrationshintergrund zum Jahresende einen Ausbildungsplatz (43 %) als solche mit Migrationshintergrund (29 %), besonders benachteiligt waren in dieser Gruppe die Jugendlichen, die als Geflüchtete nach Deutschland gekommen sind (26 %).51

Wir sehen also, dass bei migrantischen Jugendlichen zwei besondere Formen der Unterdrückung zusammenkommen und sich gegenseitig verstärken. Ihr wachsender Anteil an der Bevölkerung macht sie außerdem zu einer bedeutsamen Kraft. Für die kommunistische Jugendarbeit ist es unerlässlich, sich in Zukunft stärker auf diese Bevölkerungsgruppe zu stützen. Hier gibt es großen Nachholbedarf! Neben ökonomischen Kämpfen für den gleichen Lohn sind migrantische Jugendliche auch eine bedeutsame Kraft im Kampf gegen den Aufschwung des Faschismus und rassistische Demagogie.

Jugend auf dem Land

Unsere politische Arbeit findet derzeit vor allem in Großstädten statt. Die Lage der Jugend auf dem Land, das es strategisch ebenfalls zu erobern gilt, kommt dabei oft zu kurz. Deshalb wollen wir hier noch einmal kurz auf den Stadt-Land-Widerspruch eingehen, und wie dieser sich auf das Leben der Jugend auswirkt, welche Unterschiede er hervorbringt.

Grundsätzlich gilt auch hier das, was wir bereits in unserer Klassenanalyse der BRD zu diesem grundlegenden Widerspruch in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung herausgearbeitet haben.52

Zusammenfassend lässt sich dazu sagen:

  • Durch die Grundrente bleibt die Landwirtschaft hinter der Industrie und damit das Land hinter der Stadt zurück. Das Land wird durch die Städte ausgebeutet.

  • Auf dem Land werden durch die Dorfgemeinschaft eigentlich überkommene gesellschaftliche Verhältnisse, Traditionen etc. konserviert. Die klassenübergreifende Dorfgemeinschaft ist ein Hindernis bei der kommunistischen Arbeit auf dem Dorf. Dabei bewegt sich die Dorfgemeinschaft in einem Widerspruch von Zerfall und Selbstkonservierung.

  • Die BRD zeichnet sich gegenüber anderen imperialistischen Ländern unter anderem durch eine relativ ausgeglichene Bevölkerungsverteilung aus. Die Bevölkerung ist nicht allein in Großstädten konzentriert und schon gar nicht in wenigen Metropolen. Deshalb hat die Gewinnung von Provinzstädten und Dörfern hier eine besondere Bedeutung für den Erfolg des revolutionären Klassenkriegs.

Dementsprechend ist auch das Leben der Jugend auf dem Land ein anderes als in der Stadt. Das wollen wir hier analysieren.

Klassengesellschaft und Eingliederung in die bürgerliche Gesellschaft

Wie oben beschrieben gehen wir davon aus, dass die Jugend vor allem eine Phase der Eingliederung in die bürgerliche Gesellschaft ist. Aber wie sieht diese Eingliederung auf dem Land aus?

Zunächst einmal gehen wir davon aus, dass auch auf dem Land der Großteil der Bevölkerung zur Arbeiter:innenklasse zählt. Allerdings gibt es hier auch verhältnismäßig viel kleine Warenproduktion und klassenmäßige Zwischenformen. Beispielsweise ist in ostdeutschen Dörfern das landwirtschaftliche Halbproletariat eine sehr bedeutende Kraft, also Arbeiter:innen in Agrarunternehmen, die nebenbei auch selbst noch landwirtschaftlich tätig sind, was wiederum den Wert der Ware Arbeitskraft senkt.

Wenn Jugendliche hier in die Produktion eingegliedert werden, dann eben auch vor allem in die kleine Warenproduktion. Man beginnt beispielsweise auf dem Bauernhof der Nachbar:innen oder im Kleinbetrieb der Eltern zu arbeiten – und das meist nur durch Versorgung oder sehr gering vergütet. Auch das stärkt die klassenübergreifende Dorfgemeinschaft.

Auf der ideologisch-kulturellen Ebene ist man dann vor allem konservativeren Wertvorstellungen ausgesetzt, deren Einhaltung durch die Eltern oder die Dorfgemeinschaft durchgesetzt wird.

Freizeitangebote

Auf dem Land gibt es wenige Freizeitangebote – Tendenz weiter abnehmend. Die wichtigste Rolle spielen hier wohl Sportvereine und die Freiwillige Feuerwehr53. Vor allem im Osten gibt es noch Jugendklubs in einigen Dörfern, wobei auch hier die meisten seit der Annektion der DDR platt gemacht wurden.

Die Zahl der Vereine steigt dabei in den Städten an, während sich zwischen 2006 und 2017 mehr als 15.000 Vereine im ländlichen Raum aufgelöst haben.54

Auch die Jugendklubs sterben aus. Wenn sie existieren sind sie oft schlecht zu erreichen, da es auf dem Land einen deutlich schlechteren öffentlichen Nahverkehr gibt, gleichzeitig Jugendliche noch mehr auf ihn angewiesen sind.55

Abwanderung

Vor allem die Perspektivlosigkeit in vielen Regionen zwingt Jugendliche zur Abwanderung in die Städte, was wiederum zum Zerfall von Dorfgemeinschaften führt. Ausnahmen bilden hier Süddeutschland und die Dörfer im „Speckgürtel“ von Großstädten, in die viele Menschen aus der Stadt wegen der hohen Mieten abwandern und die faktisch ins Stadtgebiet eingegliedert sind.

Allerdings haben auch nicht alle Jugendlichen die Möglichkeit, das Land zu verlassen und sich eine eigene Wohnung zu suchen. Sie bleiben auf dem Land und reproduzieren die Dorfgemeinschaften.

Die Tendenz zeigt jedoch klar in Richtung der Abwanderung in die Städte. So sind zwischen 2014 und 2019 eine Viertelmillion mehr Menschen in die Städte gezogen, als von dort weg gezogen sind. Unter den 18- bis 29-Jährigen waren es sogar 460.000 Menschen.56 Wichtige Faktoren sind dabei höhere Löhne bzw. Arbeitsplätze. Wohnkosten spielen vor allem für 30- bis 49-Jährige eine Rolle, die größeren Wohnraum für ihre Familie brauchen.

Besonders von Abwanderung betroffen sind ländliche Regionen in Ostdeutschland mit Ausnahme des Berliner Speckgürtels, aber auch Regionen in Nordrhein-Westfalen, wie der Hochsauerlandkreis. Süddeutschland ist davon dagegen weitgehend unberührt bzw. verzeichnet sogar Zuzüge.

Die politische Ebene

Die politische Widerstandsbewegung in Deutschland interessiert sich für das Land wenig bis gar nicht. Andersherum sind auch die Menschen auf dem Land selten mit ihren Inhalten vertraut. Gleichzeitig haben auch die bürgerlichen Parteien hier Probleme, ihren Nachwuchs zu rekrutieren.57

Das begünstigt den Vormarsch der Faschist:innen, die diese Umstände ausnutzen und immer mehr in die Provinz vorstoßen, ihre Strukturen aufbauen und auch Angebote für Jugendliche schaffen. Das wird für uns ein Problem werden, wenn wir ins Land vorstoßen.

Für die kommunistische Jugendarbeit auf dem Land und in den Kleinstädten können wir noch festhalten, dass es sehr wichtig werden wird, in den Schulen und auch an den wenigen Orten, wo Jugendliche ihre Freizeit verbringen können, zu arbeiten. Dazu zählen Jugendklubs, die freiwillige Feuerwehr, Sportvereine etc.

Zusammenfassung

Fassen wir also die bisherigen Ergebnisse der Analyse der Stellung der Jugend noch einmal in gedrängter Form zusammen. Die jungen Arbeiter:innen (Auszubildende und junge Erwerbstätige) sind besonders ausgebeutete Bestandteile der Arbeiter:innenklasse. Die anderen Bestandteile der Jugend, wie die Schüler:innen und Studierenden, können den Klassen ihrer Eltern zugeordnet werden. Sie gehören also, wenn sie Kinder von Arbeiter:innen sind, ebenfalls dieser Klasse an.

Wie wir festgestellt haben, ist die Jugendarbeitslosigkeit zwar nicht so hoch wie in Griechenland oder Spanien. Sie ist aber definitiv um einiges höher, als vom Staat offiziell angegeben und wird durch die massive Arbeits- und Ausbildungsplatzvernichtung in der laufenden Wirtschaftskrise ansteigen.

Die Jugend ist dabei umso stärker den Angriffen der herrschenden Klasse ausgesetzt, ihr Lebensstandard verschlechtert sich ebenso. In vielen europäischen Ländern gelten die sogenannten „Millenials“ (Geburtsjahrgänge 1980-1999) als die erste Generation, der es schlechter geht, als ihren Eltern. Insbesondere steigende Lebenshaltungskosten, zum Beispiel bei Wohnungsmieten, werden von den stagnierenden Löhnen nicht ausgeglichen.58 Unsichere Beschäftigungsverhältnisse, in Form von befristeten Verträgen, Praktika etc. sollen zuerst bei der Jugend zur Normalität gemacht werden. Wie der Lebensstandard und die Arbeitsbedingungen in einigen Jahren in Deutschland aussehen, hängt also auch zu einem guten Teil davon ab, ob sich bei den Arbeiter:innen, die in neue schlechte Beschäftigungsverhältnisse gesteckt werden, Widerstand regt oder nicht.

Die bürgerliche Soziologie versucht diese Angriffe mit ihren Generationentheorien zu rechtfertigen. Heutzutage, meinen sie, sei die Jugend einfach mit weniger zufrieden. Sie sei eine Generation von Hedonist:innen und nur noch an „Freiheit“, Party und Drogen, nicht an einem guten Auskommen interessiert. Angeblich interessiert sich diese Generation nicht mehr für den Lohn und die Arbeitsbedingungen, wenn sie die Arbeit nur als interessant und „erfüllend“ empfinden kann.

Diese angebliche „Wissenschaft“ müssen wir als das entlarven, was es ist: Eine besonders geschickte Methode, die Interessen der herrschenden Klasse als die natürlichen Interessen einer neuen Generation von Arbeiter:innen auszugeben.

Klassenbewusstsein vs. Generationenkonflikt

Unter proletarischem Klassenbewusstsein verstehen wir im marxistisch-leninistischen Sinn das Bewusstsein über die Ausbeutung der Arbeiter:innenklasse in der kapitalistischen Klassengesellschaft und die historische Notwendigkeit, diese in der sozialistischen Revolution, geführt vom Proletariat und seiner Partei, zu beseitigen. Es ist klar, dass die Jugend dieses Bewusstsein nicht spontan aus sich selbst heraus entwickelt. So nehmen proletarische Jugendliche zwar unter Umständen auch Kampferfahrungen der Eltern und das daraus gewachsene Bewusstsein mit. Andererseits sind auch sie anfällig für die bürgerliche Ideologie, beispielsweise in Form des „Vom Tellerwäscher zum Millionär“-Märchens, welches zum Beispiel im Hip-Hop oder in Form von Youtuber:innen gerade seine Renaissance erlebt.

Ein weiteres Problem, vor das wir beim Herausbilden von Klassenbewusstsein gestellt werden, ist die Spaltung der Massen nach Alter in Form des sogenannten „Generationenkonflikts“ oder „Generationenkampfs“. Insbesondere in der Klimabewegung konnte man erleben, dass viele Jugendlichen einfach wütend auf die „Alten“ waren, die ihnen durch ihre angeblich unökologische Lebensweise die Zukunft geklaut hätten. Die Herrschenden geben sich ebenso Mühe, der Bevölkerung zu vermitteln, dass es den jungen Menschen gegenüber ungerecht sei, den älteren eine gute Rente zu zahlen. Ebenso mag es für viele junge Arbeiter:innen so scheinen, als seien die älteren Kolleg:innen die letztendlichen Nutznießer:innen und Schuldigen an ihrer besonderen Ausbeutung. An all diesen Konfliktherden müssen wir der Spaltung nach Generationen konsequent entgegentreten. Wir müssen der Jugend klar machen, dass die Kapitalist:innen es sind, die von ihrem Elend profitieren, dass sie unsere Zukunft klauen, und dass sie gefälligst einen ausreichenden Lohn zu zahlen haben, dass jede Generation noch eine Rente erhält. Die älteren Teile unserer Klasse und wir haben einen gemeinsamen Feind, die Kapitalist:innen. Wenn die Jugend ein sozialistisches Klassenbewusstsein erlangt, wird sie das umso besser erkennen und die Arbeiter:innenklasse wird sich nicht spalten lassen.

Auch sind die deutlich schlechteren materiellen Lebensbedingungen vieler jugendlicher Arbeiter:innen auf keinen Fall ausschließlich damit zu erklären, dass die Jugend eben besonders unterdrückt würde und in schlechte Arbeitsverhältnisse gedrängt wird, weil sie jung und unerfahren ist. Viel mehr sind diese Veränderungen als Ausdruck von langfristig geplanten Angriffen der Bourgeoisie auf die ganze Arbeiter:innenklasse zu betrachten. Entwickeln wir als Klasse keinen Widerstand, so werden die Niedriglöhne und unsicheren Arbeitsverhältnisse, die heute hauptsächlich der Jugend aufgezwungen werden, in ein paar Jahren die „normalen“ Arbeitsverhältnisse in der ganzen Klasse sein.

Wir Kommunist:innen müssen dieses Bewusstsein in die Jugendmassen tragen. Die Frage ist, wo wir ansetzen. Dabei können wir sowohl an die unterschwellig existierende Unzufriedenheit über die eigenen Lebensbedingungen als auch an spontane Jugendbewegungen (Lenin bezeichnete die spontane Bewegung in seinem Werk „Was tun?“ als die Keimform der Bewusstheit) anknüpfen.

Belastungen der Jugend

Oben sind wir bereits darauf eingegangen, dass sich in bestimmten Gruppen mit eher geringen Einkommen bis zu 56 Prozent der jungen Proletarier:innen durch ihre niedrigen Löhne belastet fühlen. In derselben Studie des DGB lässt sich ebenfalls erkennen, dass mehr als 60 Prozent der jungen Beschäftigten sich aufgrund der wahrscheinlich gering ausfallenden Rente psychisch belastet fühlen. Nach dem geringen Lohn rangieren Arbeitshetze und Zeitdruck auf den folgenden Plätzen der Belastungen ganz weit oben, die junge Beschäftigte vor allem im Gesundheitswesen und auf dem Bau erleben.

Ebenso wachsen in den letzten Jahren spürbar die Sorgen, die viele Jugendliche in Anbetracht globaler politischer Probleme empfinden. Insbesondere in puncto Klimawandel fühlen sich viele Jugendliche von der herrschenden Politik übergangen. Auch während der Corona-Pandemie konnte man das merken.

Gleichzeitig ging zwischen 1983 und 2010 die Wahlbeteiligung junger Erwachsener um 20 Prozent zurück. Auch bei der Bundestagswahl 2021 war die Wahlbeteiligung der 18- bis 20-Jährigen rund 10 Prozent niedriger als der Durchschnitt. Dies bringt sicherlich das besonders in der Jugend um sich greifende, richtige Gefühl zum Ausdruck, dass es keinen großen Unterschied macht, welche Partei die nächste Regierung bildet. Die Realität zeigt aber immer wieder, dass eine sinkende Wahlbeteiligung bei den bürgerlichen Parlamentswahlen eben gerade nicht mit politischem Desinteresse gleichgesetzt werden darf. Im folgenden Unterkapitel werden wir darauf eingehen, dass es wichtig ist, dass diese Gefühle nicht in die falschen Bahnen (z.B. Spontaneismus oder Generationenkampf) gelenkt werden.

Wie bereits angemerkt, sind des Weiteren junge Frauen, Migrant:innen und LGBTI+-Personen mehrfach von besonderer Unterdrückung und Ausbeutung betroffen.

Jugendbewegungen in Deutschland

In den letzten zwei Jahrzehnten gab es vor allem zwei Arten von Jugendprotesten und Bewegungen.59 Zum einen gab es Protestbewegungen mit klaren politischen Zielen, wie Fridays For Future oder die Bildungsstreikbewegung. Diese wurden vor allem von Jugendlichen aus dem Kleinbürger:innentum und besser gestellten Schichten der Arbeiter:innenklasse getragen, wie auch Umfragen unter Teilnehmer:innen an FFF-Veranstaltungen nahelegten. Jedoch gibt es hier dennoch qualitative Unterschiede. Während die Führung der FFF-Bewegung schnell durchsetzen konnte, dass Forderungen gestellt werden, die ohnehin auf der strategischen Linie des deutschen Staates liegen, wie eine neue Massensteuer auf CO2 oder ein Verbot von Verbrennermotoren, um der deutschen Autoindustrie Planungssicherheit zu geben; hat die Bildungsstreikbewegung immerhin mit dem Kampf gegen Studiengebühren oder gegen die gymnasiale Schulzeitverkürzung sehr klar die objektiven Interessen der Jugend gegenüber geplanten Reformen verteidigt.

Auf der anderen Seite gab es vor allem in anderen europäischen Ländern spontane, scheinbar unpolitische Aufstände von Jugendlichen in Großstädten, die Erfahrungen mit Armut, Chancen- und Perspektivlosigkeit, Rassismus und Unterdrückung im Allgemeinen gemacht haben. Beispiele hierfür gibt es immer wieder in den französischen Banlieus. 2020 sind diese Riots in Stuttgart und Frankfurt am Main nach Deutschland gekommen. Im Fokus stand dabei die Polizei. Jedoch fehlte eine politische Kraft, die die Proteste hätte bündeln und in eine dauerhafte organisierte Bewegung verwandeln können.

Beide Formen der Jugendproteste resultieren letztendlich aus einem Gefühl verschiedener Schichten der Jugend, übergangen zu werden und abgehängt zu sein. Die Gefahren des Generationenkonflikts und des Spontaneismus müssen jedoch durch eine systematische kommunistische Arbeit in beiden Formen der Jugendbewegung überwunden werden. Letztendlich muss das Ziel sein, aus beiden Protestformen Jugendliche für die sozialistische Revolution zu gewinnen und ebenso beide Protestformen durch das Aufstellen der richtigen Forderungen (z.B. Weltmonopole für Klimawandel zur Kasse bitten, Selbstschutz gegen Faschist:innen und Polizei aufbauen…) gegen den Kapitalismus zu richten.

Fazit

Revolutionäre Rolle der Jugend

Aus den von uns analysierten Zuständen folgt, dass die Jugend trotz ihres quantitativen Schrumpfens in Deutschland weiterhin eine besonders revolutionäre Rolle spielen kann. Dafür gibt es nach unserer Auffassung mehrere Ursachen:

Erstens werden jugendliche Arbeiter:innen besonders stark ausgebeutet. Die Angriffe auf die Arbeiter:innen erfolgen dabei unter anderem Generation für Generation, weshalb die Lebensbedingungen der Jugend sich in Anbetracht der verschärften Klassengegensätze verschärfen. Diese Position der Jugend in der Gesellschaft lässt Wut und Frust entstehen, fördert aber auch das Suchen nach Alternativen. Die Jugend hat ebenso weniger zu verlieren, wenn sie rebelliert.

Zweitens ist die Jugend ideologisch noch nicht in solch hohem Maße im Sinne des Imperialismus gefestigt, wie die älteren Bevölkerungsteile. Ihr fällt es verhältnismäßig einfacher, sich auch von gesellschaftlichen Verpflichtungen und Regeln zu lösen.

Zuletzt zeigt die Erfahrung, dass die Jugend auch in den letzten Jahren die Fähigkeit hatte, eigene Bewegungen hervorzubringen, eine eigene politische Kraft mit eigenen Forderungen zu sein.

Damit die Jugend diese revolutionäre Rolle aber spielen kann, muss sie von reaktionären Einflüssen gelöst werden, müssen die Kommunist:innen die Führung in den Jugendbewegungen erobern, Generationenkonflikt-Denken und andere bürgerliche Einflüsse (Beispiele sind hierfür das liberale Abfeiern der EU oder die Massensteuer auf C02, die in der FFF-Bewegung gefordert wurde) zurückdrängen und der Jugend in der alltäglichen Massenarbeit Klassenbewusstsein vermitteln. Doch wie geht das?

Schlussfolgerungen für die Jugendmassenarbeit – Thesen

Ziel unserer Massenarbeit ist es, die Massen zu aktivieren, zu politisieren und zu organisieren.60 Taktisch zielen wir dabei gerade auf die fortschrittlichen Teile der Massen ab. Diese wollen wir für den Kampf gegen den Kapitalismus, als sozialistische Aktivist:innen und letztendlich als Kader:innen für die Revolution und den Wiederaufbau der KPD als revolutionäre Kampfpartei gewinnen. Dafür wollen wir unter anderem möglichst ansprechende und niedrigschwellige Formen der Massenorganisation schaffen, die in Verbindung mit den Organisationsformen der Kommunist:innen stehen. Dies muss natürlich auch in der Jugend und ihren verschiedenen Bestandteilen, wie sie oben analysiert wurden, einen bestimmten Charakter einnehmen.

Allgemein

Auch heute noch ist die überwiegende Mehrheit der Jugend in der Bundesrepublik Deutschland ein Bestandteil der Arbeiter:innenklasse, mit besonderen Lebensumständen und psychischen Eigenheiten. Sie muss als solche in geeigneten Formen der kommunistischen Massenarbeit erfasst werden.

In Deutschland bilden sich immer wieder Jugendbewegungen, die vor allem von Schüler:innen und Studierenden getragen werden. In diesen müssen wir die bürgerliche Ideologie bekämpfen, sie mit den Kämpfen der Arbeiter:innen verbinden und die Spaltung überwinden sowie eine antikapitalistische Perspektive verbreiten. Hier gilt es ebenso, Aktivist:innen für Formen der Jugendmassenarbeit zu gewinnen, die möglichst allen Jugendlichen offenstehen.

Insbesondere der Generationenkonflikt, aber auch Märchen wie das des Tellerwäschers, der durch harte Arbeit zum Millionär wird, oder arbeiter:innenfeindliche Ansätze in gesellschaftlichen Bewegungen haben großen Einfluss auf Jugendliche. Gegen diese müssen wir eine besondere Propaganda entwickeln. Das Schüren des Generationenkonflikts und das Verharren im Antiautoritarismus sind die Hauptgefahren in der politischen Jugendarbeit und müssen durch Aufklärung und die Einheit der Arbeiter:innenklasse bekämpft werden.

Wie wir immer wieder sehen, kann es auch in Deutschland zu angeblich unpolitischen massenhaften Auseinandersetzungen mit der Polizei kommen, bei denen sich der Frust der Jugend vor allem an den staatlichen Repressionsbehörden entlädt. Als Kommunist:innen müssen wir in diese Aufstände politische Forderungen tragen, die der konkreten Situation angepasst sind. International hat es solche Aufstände wiederholt auch in Europa gegeben. Es ist damit zu rechnen, dass sie auch in Deutschland wieder vorkommen. Sie sollten nicht ins Leere laufen.

Migrantische Jugendliche bilden einen Großteil der Jugend und müssen je nach Situation in Schule, Uni und Betrieb organisiert werden. Gleichzeitig kommt ihnen eine entscheidende Rolle beim Kampf gegen Rassismus und die staatlichen Repressionsbehörden und ihre alltägliche Schikane gegen die Jugend zu. Bei der Organisierung migrantischer Jugendlicher hat die kommunistische Bewegung in Deutschland großen Nachholbedarf. Gerade in den Großstädten ist diese jedoch für die kommunistische Jugendarbeit unerlässlich.

Auch der Kampf gegen das Patriarchat muss in unserer Jugendarbeit besonders stark in den Fokus genommen werden, immerhin ist die Jugend einer der Lebensabschnitte, in dem sich Persönlichkeitsmerkmale und Sexualität am stärksten verändern und ausprägen. So wie der ideologische Bruch mit dem Kapitalismus in diesem Alter oft leichter fällt, stehen auch hier die Chancen besser, die vom Patriarchat je nach Geschlecht vorgesehene gesellschaftliche Rolle erfolgreich und nachhaltig in Frage zu stellen.

Wie wir in den folgenden Thesen feststellen werden, müssen Jugendliche perspektivisch in Betriebs- (mit den anderen Arbeiter:innen zusammen), Universitäts- und Schulstrukturen organisiert werden. Gleichzeitig ist es notwendig, diese Kämpfe zu verbinden und ihnen ein gemeinsames organisatorisches Dach zu geben.

Auch wenn der Anteil der Jugend an der Gesamtbevölkerung in Deutschland quantitativ sinkt, heißt das nicht, dass die Jugend als besonderer für die Organisierung jeder revolutionären Bewegung wichtiger Sektor der Gesellschaft an Bedeutung einbüßt.

Schüler:innen

Historisch haben Schüler:innen immer wieder zeitweise eine wichtige gesamtgesellschaftliche Rolle gespielt und Schüler:innenbewegungen haben sich oft als ergiebige Ausbildungsstätte für junge Revolutionär:innen erwiesen.

Auch an Schulen können Kämpfe um die konkreten Lehr- und Lernbedingungen geführt werden, bei denen die Kommunist:innen in erster Reihe stehen und diese mit politischen Forderungen verbinden sollten. (Zum Beispiel im Kampf gegen konkreten Leistungsdruck mit der Forderung nach Durchschnittsabschlüssen und Rückkehr zu G9 oder Kampf für eine Sanierung des Schulgebäudes mit der Forderung des Zusammenstreichens des Militäretats zugunsten der Bildung.) Hierbei muss stets die Erkämpfung einzelner Verbesserungen an einer Schule mit dem Kampf gegen das ganze Schulsystem in seiner heutigen Form verbunden werden.

Da die Schule neben der Produktion neuer Arbeitskräfte für die kapitalistische Produktion auch die Funktion erfüllen soll, die bürgerliche Ideologie tief in den Köpfen der Schüler:innen zu verankern, sind wir ständig mit ihr konfrontiert. Andererseits bietet dies aber auch einen ständigen Anlass zur grundlegenden Diskussion und Kritik wichtiger Eckpfeiler der bürgerlichen Ideologie. Erfahrungsgemäß sind viele Schüler:innen für solche Diskussionen noch verhältnismäßig offen.

Im Vergleich zu Betrieben droht in Schulen verhältnismäßig begrenzte Repression. Diese Freiräume müssen restlos ausgenutzt werden. (Nutzung von Räumlichkeiten, Halten von Vorträgen, etc.)

Durch das tägliche Zusammenkommen sind Schulen für eine langfristig angelegte Massenarbeit außerordentlich gut geeignet. Es steht an, in Zukunft Schulgruppen der Massenorganisationen sowie kommunistische Schulzellen zu bilden, die den politischen Kampf an den Schulen führen und planen können und dabei von Generation zu Generation an der Schule erhalten bleiben.

Studierende

Studierende sind historisch gesehen ein wichtiger Bündnispartner der Arbeiter:innen gewesen. Wie wir oben herausgearbeitet haben, gehören heute große Teile von ihnen selbst zur Arbeiter:innenklasse und sind mit prekären Arbeits- und Lebensbedingungen konfrontiert. Hier gilt bezüglich ökonomischer Kämpfe und dem Aufbau politischer Organisationen in der Uni grundsätzlich das Gleiche wie für Schüler:innen. Eine Hauptrichtung des politischen Kampfes an den Universitäten wird sich in Zukunft gegen die weiteren Versuche der Kapitalist:innen richten, die Zeit bis zur Nutzbarmachung der Arbeitskraft weiter zu verkürzen. Neue Bologna-Reformen müssen verhindert werden.

Da die modernen Universitäten die Orte sind, an denen die bürgerliche Ideologie in ihrer akademischen Form ausgearbeitet wird, bergen sie zugleich das Potenzial, Schauplätze des ideologischen Klassenkampfes zu werden. Wenn sich die Marxisten-Leninist:innen aber für eine solche Arbeit nicht organisieren und zusammenschließen, werden sie unweigerlich umzingelt von der bürgerlichen Ideologie unterliegen.

Neben der in sehr konzentrierter Form vermittelten bürgerlichen Ideologie stellen insbesondere die zersplitterter Struktur des Studiums und die längeren regelmäßigen Unterbrechungen des Unialltags zu lösende Herausforderungen beim Aufbau einer kontinuierlichen Studierendenarbeit dar.

Junge Arbeiter:innen

Junge Arbeiter:innen müssen, egal ob in Ausbildung oder nicht, gemeinsam mit den anderen Arbeiter:innen in ihrem Betrieb organisiert werden. Organisationsformen für Auszubildende nach dem Vorbild der historischen Lehrlingsbewegung in den 1970er Jahren können jedoch eine Ergänzung hierzu darstellen.

Der sogenannte „Generationenkonflikt“ in allen Erscheinungsformen muss überwunden werden, indem gemeinsame Kämpfe geführt werden. Zentrale Forderungen müssen sein, dass gleiche Arbeit gleich bezahlt wird, dass Auszubildende übernommen werden, unbefristete Verträge bekommen und dass die Berufsschulzeit nicht weiter verkürzt wird. Diese Forderungen müssen aber auch mit konkreten, an die Situation angepassten, politischen Forderungen verbunden werden.

Schluss

In den vorliegenden Ausarbeitungen haben wir dargestellt dargestellt, was Jugend eigentlich ist – der Lebensabschnitt der Eingliederung in die kapitalistische Produktion – und wieso Jugendliche eine Klasse haben. Anschließend haben wir uns mit den tatsächlichen Lebensbedingungen der, sich in Ausbildung oder Erwerbstätigkeit befindlichen, Jugendlichen beschäftigt und konnten daran nachweisen, weshalb es tatsächlich ein Potenzial der proletarischen Jugend gibt, eine besonders revolutionäre Rolle zu spielen. Nämlich deshalb, weil Jugendliche zum einen einen besonders ausgebeuteten Teil der Arbeiter:innenklasse darstellen, zum anderen weil die bürgerliche Ideologie noch nicht so fest in ihrer Persönlichkeit verankert ist. Wir haben aber auch dargestellt, dass sie diese Rolle nicht spontan einnehmen werden, sondern es eine besondere Arbeit unter Jugendlichen braucht, um sie von bürgerlichen Einflüssen loszureißen und für die Revolution zu gewinnen. Für eine solche Arbeit unter Schüler:innen, Studierenden und jungen Arbeiter:innen haben wir erste Ansatzpunkte benannt.. Nun gilt es diese Ausführungen zur Praxis werden zu lassen.

Das heißt ganz konkret, die Kämpfe für die drängendsten Bedürfnisse der proletarischen Jugendlichen an ihren Ausbildungs- und Arbeitsplätzen zu entfalten, unsere jugendlichen Klassengeschwister durch diese zu aktivieren, zu politisieren und zu organisieren und anhand praktischer Erfahrungen aufzuzeigen, wieso die einzige Lösung für die Probleme der Jugend die proletarische Revolution und der Sozialismus sein kann. Nehmen wir die Erkenntnisse dieser Ausarbeitung also als Basis, um das berühmte Zitat Karl Liebknechts zur Realität werden zu lassen und durch unermüdliche Arbeit die Jugend tatsächlich zur reinsten Flamme der Revolution heranzuziehen.

1vgl. Liebel, Manfred; Jugend in der Klassengesellschaft , Kapitel: Jugend als Gegenstand bürgerlicher Soziologie

2Zitiert nach: Lenin, W.I.: Die große Initiative, Dietz Verlag 1979, S. 34

3Stiftung Familienunternehmen: Familienunternehmen in Deutschland und den USA seit der Industrialisierung. S. 147

4Vgl. Monitor Jugendarmut in Deutschland 2020. Herausgegeben von der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit

5Statista Research Departement. 2.2.2022

6Statistisches Jahrbuch 2019, S. 57

7Ebd. S. 31

8Statistisches Jahrbuch 2019, S. 366

9Ebd.

10Die industrielle Reservearmee bezeichnet in der marxistischen Ökonomie die Masse der arbeitslosen Arbeiter:innen, da sie tatsächlich wenn die Konjunktur besonders gut läuft in die Produktion hineingezogen werden und in Krisenzeiten wieder abgestoßen werden.

11Statistisches Jahrbuch 2019, S.87

12INSM-Bildungsmonitor

13Dietrich, Hans: Erwerbsarbeit und Arbeitslosigkeit Jugendlicher, S. 3, 2017

14Vgl. Kommunismus #13 Struktur der ArbeiterInnenklasse

15Fußnote 15: Dietrich, Hans: Erwerbsarbeit und Arbeitslosigkeit Jugendlicher, S. 22, 2017

16Schüler nach Schulabschluss der Eltern. Bundeszentrale für politische Bildung. 5.6.22

17Bildungsstand der Bevölkerung in Deutschland nach Alter und Schulabschluss 2022. Bundeszentrale für politische Bildung.

18Vgl. https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/viele-schulen-in-deutschland-in-schlechtem-zustand

19Vgl. deutschlandfunkkultur.de/dak-studie-zu-psychischen-krankheiten-jeder-vierte-schueler-100.html

20Vgl.https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2019-11/psychische-erkrankung-depression-jugendliche-dak-krankenkasse-studie

21Vgl. spiegel.de/panorama/bildung/corona-mehr-depresionen-bei-jugendlichen-durch-schulschliessungen-a-2d9fcd20-7740-4060-93c2-46775f33cfad

22Vgl. Statistisches Jahrbuch 2019, S. 101

23 Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung Jugendarbeitshilfe

24Berufsbilundgsbericht der Bundesregierung, Mittwoch 6. Mai 2020

25Vgl. Eichhorst, Thode: Erwerbstätigkeit im Lebenszyklus, S. 15

26Dietrich, Hans: Erwerbsarbeit und Arbeitslosigkeit Jugendlicher, Seite 2

27Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts vom 30. November 2022

28Schnellmeldungsergebnisse der Hochschulstatistik zu Studierenden und Studiumsanfänger/-innen zum WiSe 2022/2023

29Hopp, Hoffmann, Zielke, Leslie, Seeliger – Jung, akademisch, prekär. Januar 2023

30Unicum.de/de/studendenleben/jobben/praktikum-waehrend-des-studium

31Pressemitteilung Nr. N066 des Statistischen Bundesamts vom 16. November 2022

32Zur Kritik an den „Selbstständigen“ in bürgerlichen Statistiken siehe Kommunismus #13 S. 48.

33Pressemitteilung Nr. N051 des Statistischen Bundesamts vom 11. August 2022

34DGB Studie Gute Arbeit 2015, S. 8

35Im Niedriglohnsektor befindet man sich, wenn man weniger als zwei Drittel des Durchschnittslohns verdient. In Deutschland gibt es einen der größten Niedriglohnsektoren in Europa.

36Vgl. Yvonne Ploetz, Jugendarmut – Beiträge zur Lage in Deutschland, „Jugendarmut – ein Problem neben vielen?“

37Vgl. DGB

38Vgl. Yvonne Ploetz, Jugendarmut – Beiträge zur Lage in Deutschland, „Jugendarmut im flexibilisierten Kapitalismus“

39Besetzung von Klassenpositionen nach sozialer Herkunft. Bundeszentrale für Politische Bildung. 10.3.21.

40Zur Frage des Bewusstseins bei der Proletarisierung des Kleinbürger:innentums ist J.W. Stalins „Anarchismus oder Sozialismus?“ zu empfehlen, in welchem er den philosophischen Leitsatz des Marxismus „Das Sein bestimmt das Bewusstsein.“ auf dieses Beispiel anwendet.

41Vgl. Statistisches Jahrbuch, S.367

42Vgl.Roth: Nebensache Mensch

43Vgl. Erwerbstätigkeit im Lebenszyklus, Seite 4

44O-Ton Arbeitsmarkt: Hartz-IV-Empfänger: Nicht einmal jeder Zweite ist offiziell arbeitslos. 8. Dezember 2017

45Monitor Jugendrmut 2018. Bundesgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit

46Zahlen aus den Monatsberichten der Bundesagentur für Arbeit. Personen zwischen 15 und 25 Jahren.

47Joscha Wagner: Jugendarbeitslosigkeit – Die Krise hält an. 05.05. 2021. jugend.dgb.de

48Vgl. DGB Gute Arbeit, Kapitel 3, Geschlechtsspezifische Unterschiede

49Vgl. Statistisches Jahrbuch 2019, S. 109

50Bundeszentrale für politische Bildung: Bevölkerung mit Migrationshintergrund nach Alter. 01.01.2022

51Bundesinstitut für Berufsbildung: Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2022. S. 296

52Siehe Kommunismus 19, Seite … ff.: Der Widerspruch zwischen Stadt und Land und Kommunimus 14 „Die räumliche Struktur der Klassengesellschaft in Deutschland“

53Die Freiwillige Feuerwehr auf dem Land https://www.lebensguthessen.de/2021/10/22/die-freiwillige-feuerwehr-auf-dem-land/

54Deutschlands Vereine sind auf Landflucht, ZEIT Online, 5. September 2018 https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-09/vereinssterben-vereine-land-laendlicher-raum-statistik

55Jugend auf dem Land: Vergessen, abgeschnitten, nicht geduldet, MDR, 5. Dezember 2021 https://www.mdr.de/nachrichten/thueringen/sued-thueringen/ilmenau-ilmkreis/jugend-auf-dem-land-100.html

56Die Landflucht der jungen Deutschen, Spiegel Online, 24. Oktober 2019 https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/deutschland-die-extreme-landflucht-der-jungen-und-ihre-gruende-a-1292981.html

57Die bürgerlichen Parteien haben im Allgemeinen ein Nachwuchsproblem. Auf dem Land sehen Politikwissenschafler:innen jedoch einen konkreten „Bewerbermangel“ auf Bürgermeisterposten, siehe „Niemand will mehr Bürgermeister werden – woran liegt das?“, Stuttgarter Zeitung, 2. Dezember 2019 https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.amt-in-baden-wuerttemberg-niemand-will-mehr-buergermeister-werden-woran-liegt-das.a686fda7-b0a0-401c-a0ae-f9c6a123928b.html

58OECD: Under Pressure: The Squeezed Middle Class

59Suterlüty: Jugendproteste, Handbuch Kindheits- und Jugendsoziologie, S. 749-760

60Dazu zu empfehlen: Unser Artikel zur kommunistischen Massenarbeit im Buch „Die Grundlagen kommunistischer Arbeit“

Neujahrsgrüße für 2024

Revolutionäre Neujahrsgrüße für 2024

Liebe Genoss:innen,

das Jahr 2023 neigt sich seinem Ende zu. Wie in vielen anderen Ländern auf der Welt begleitet auch die deutsche Bourgeoisie ihre Kriegsvorbereitungen mit einem Programm der inneren Militarisierung.

Während in verschiedenen Bundesländern Gesetze zur Einschränkung der Versammlungsfreiheit oder anderer demokratischer Rechte erlassen oder vorbereitet werden, stehen in diesen Wochen die Migrant:innen in Deutschland ganz besonders im Fokus der bürgerlichen, rassistischen Kampagnen.

Während der deutsche Imperialismus einer der Hauptverantwortlichen für die Zerstörung und Ausplünderung der Heimatländer vieler Geflüchteter ist, bemüht er sich gleichzeitig nach Kräften, sich mit Grenzzäunen und Patrouillen-Booten gegen die Konsequenzen seiner Verbrechen abzuschirmen. Die Angriffe auf die unterdrückten Völker der Welt, die auch im Namen des deutschen Imperialismus durchgeführt werden sind zahlreich.

Es ist klar, dass konsequenter Kampf gegen imperialistische Kriege, Armut und die Zerstörung der natürlichen Umwelt für uns Kommunist:innen in Deutschland bedeuten muss, dieses Monster zu Fall zu bringen.

Voller revolutionärer Ungeduld warten wir auf das Jahr 2024, denn wir wollen es zu einem Jahr noch größerer Erfolge und mutiger Schritte voran zu diesem Ziel machen.

Allen Genoss:innen, wo sie auch auf der Welt kämpfen mögen, ob in der Fabrikhalle, auf den Straßen, in den Schützengräben oder im Gefängnis senden wir dieses Versprechen.

Genoss:innen, euer Beispiel gibt uns täglich Mut und Zuversicht!

Auf ein erfolgreiches revolutionäres Kampfjahr 2024!


Revolutionary New Year’s greetings for 2024

Dear comrades,

The year 2023 is drawing to a close. As in many other countries around the world, the German bourgeoisie is accompanying its preparations for war with a programme of internal militarization.

While laws restricting freedom of assembly or other democratic rights are being passed or prepared in various federal states, migrants in Germany are a particular target of bourgeois, racist campaigns in these weeks.

While German imperialism is one of the main perpetrators of the destruction and plundering of the home countries of many refugees, it is simultaneously doing its utmost to shield itself from the consequences of its crimes with border fences and patrol boats. The attacks on the oppressed peoples of the world, which are also carried out in the name of German imperialism, are numerous.

It is clear that consistent struggle against imperialist wars, poverty and the destruction of the natural environment for us communists in Germany can mean nothing less than to bring down this monster.

Full of revolutionary impatience, we are waiting for the year 2024, because we want to turn it into a year of even greater successes and courageous steps towards this goal.

This we promise to all comrades, wherever they may be fighting in the world, whether on the factory floor, in the streets, in the trenches of revolution or in prison.

Comrades, your example gives us courage and confidence every day!

Here’s to a successful revolutionary year of struggle in 2024!

Auf zur LLL-Demonstration 2024: Luxemburg, Liebknecht, Lenin und die Held:innen von Hamburg zeigen uns den Weg!

Demonstration am Samstag 13.01. um 15 Uhr Schlesisches Tor und
Großdemonstration am Sonntag 14.01.  um 10 Uhr Frankfurter Tor!

Der Januar ist der Monat des Gedenkens an die beiden ermordeten Mtibegründer:innen der KPD, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht und den russischen Kommunisten Wladimir Iljitsch Lenin, dessen Todestag sich in Januar 2024 zum 100. Mal jährt. Aus diesem Grund werden tausende Kommunist:innen und fortschrittlich gesinnte Menschen am 14. Januar nach Berlin kommen, um an der traditionellen LLL-Demonstration teilzunehmen. Starten auch wir mit dieser Demonstration kraftvoll in ein neues Kampfjahr.

Blicken wir aus heutiger Sicht um 100 Jahre zurück, so befinden wir am Anfang des Jahres 1924. In Deutschland ist der in den ersten Jahren der Weimarer Republik wohl wichtigste Versuch, den Sozialismus zu erkämpfen mit dem Hamburger Aufstand gescheitert. Auch wenn die Kämpfe in dieser Stadt selbst moralisch ein großer Erfolg waren und zurecht in die Geschichte der deutschen revolutionären Arbeiter:innenbewegung eingegangen sind. Im Januar 1924 verliert die kommunistische Weltbewegung zu dem mit Wladimir I. Lenin einen ihrer wichtigsten Vordenker.

Luxemburg, Liebknecht und Lenin vereint die Einsicht in die Notwendigkeit der Kommunistischen Partei als notwendige Kampforganisation des Proletariats für die Organisierung und Durchführung der sozialistischen Revolution. Doch während Lenin diese notwendige Voraussetzung mit seinen Genoss:innen in Russland erfolgreich schaffen und später auch theoretisch Verallgemeinern konnte, so fehlte diese Voraussetzung aufgrund der späten und zögerlichem Aufbau und der nicht überwundenen sozialdemokratischen Traditionen und und ausgebliebenen Bolschewisierung sowohl im Revolutionsjahr 1918/19, als auch beim Aufstand 1923.

Wenn wir heute also in die Fußstapfen von Luxemburg, Liebknecht und Lenin, aber auch den Hamburger Barrikadenkämpfer:innen treten und in ihrem Andenken kämpfen, dann heißt das nicht nur ihren Heldenmut, ihre unerschütterliche Hingabe für den Kommunismus und ihren Internationalismus wiederaufleben zu lassen. Es heißt auch, dass wir gemachte Fehler klar erkennen und uns ihre Erfahrungen für den nächsten revolutionären Aufstand aneignen.

Während die herrschende Klasse sich in Deutschland mit Siebenmeilenschritten auf einen neuen, brutalen Weltkrieg vorbereitet, die Repression und Reaktion auf allen Ebenen antreibt und es vielen Teilen der Welt längst brennt, steht unsere Klasse ohne Partei und ohne vielfältige Formen von mit ihr verbundener Kampforganisationen weitgehend unbewaffnet dar. Diesen Rückstand gilt es aufzuholen und dafür müssen wir unsere ganze Energie auf diese Aufgabe konzentrieren, wenn wir erfolgreich sein wollen.

Es gilt mit Rosa Luxemburgs Mut, Karl Liebknechts Standfestigkeit und Lenins unerschütterlichen revolutionären Optimismus und Kampfeswillen diesen Kampf aufzunehmen. Dafür müssen wir alle noch bestehenden Grenzen aufsprengen. Seien es unsere persönlichen Grenzen, die uns vielleicht heute noch unüberwindlich und unantastbar erscheinen mögen, oder seien es die Grenzen sektiererischer Abgrenzung zwischen verschiedenen Teilen der revolutionären Bewegung und gegenüber großen Teilen unserer Klasse.

Nur mit der Kommunistischen Partei können wir den Kampf gegen die Kriegsvorbereitungen der Imperialisten effektiv aufnehmen! Nur eine starke und zielklare revolutionäre Arbeiter:innenbewegung kann eine Alternative zum herrschenden barbarischen System schaffen!

Hinein in den kommunistischen Block! Für den Aufbau der Kommunistischen Partei!

Bericht: „Ihr Kampf ist uns Verpflichtung“ – Gedenken an ermordete Kommunist:innen in Berlin

Anton Saefkow, Franz Jacob, Bernhard Bästlein, Judith Auer, Rudolf Seiffert – Für viele Menschen im Berliner Stadtteil Fennpfuhl sind diese Namen vertraut, sind doch nach ihnen zahlreiche Straßen benannt. Im September haben wir erfolgreich mehrere Veranstaltungen und Aktionen in Berlin durchgeführt, um das Andenken an diese Kommunist:innen auch über die Benennung von Straßen hinaus am Leben zu erhalten.

Saefkow, Jacob und Bästlein waren die führenden Köpfe des kommunistischen Widerstands gegen die Nazis in Berlin in den Jahren 1943 und 1944. Sie und viele weitere tapfere Kommunist:innen organisierten geheime Betriebsgruppen, sabotierten die deutsche Waffenproduktion, verteilten unter Einsatz ihres Lebens Flugblätter gegen die Nazis unter den Berliner Arbeiter:innen und Zwangsarbeiter:innen und versuchten so, den in ganz Europa mordenden Nazi-Faschisten in ihrer eigenen Hauptstadt in den Rücken zu fallen.

In den Jahren 1943 und 1944 entstand so die zu der Zeit größte Widerstandsgruppe der Kommunistischen Partei Deutschlands. Saefkow, Jacob und Bästlein stellten die operative Leitung der KPD in Deutschland wieder her und koordinierten die Verbindungen zu anderen Widerstandskämpfer:innen in Deutschland und dem Ausland, um den Kampf gegen die Nazis gemeinsam zu organisieren.

Nachdem ein Gestapo-Spitzel die Berliner Kommunist:innen im Sommer 1944 verraten hatte, wurden Saefkow, Jacob und Bästlein am 18. September 1944 im Zuchthaus Brandenburg-Görden durch die Faschist:innen hingerichtet.

Auch viele weitere Widerstandskämpfer:innen der Berliner Gruppe wie Judith Auer, Willi Sänger, Karl Ladé, Elli Voigt, Paul Zobel und Rudolf Seiffert wurden verraten und ermordet.

Den Mut und die Entschlossenheit der Kommunist:innen wieder ins Bewusstsein rufen

Um die mutigen Taten und die unbeugsame Entschlossenheit der Berliner Kommunist:innen den Menschen in Berlin-Fennpfuhl wieder in Bewusstsein zu rufen, hängten wir von Anfang September an zahlreiche Wandzeitungen und Plakate sowie ein Banner im Stadtteil auf.

Während eines Stadtteilspaziergangs durch die nach den Kommunist:innen benannten Straßen konnten wir uns außerdem mit Nachbar:innen und Interessierten zu den Biographien von Rudolf Seiffert, Willi Sänger, Franz Jacob, Karl Lade, Anton Saefkow, Judith Auer, Bernhard Bästlein, Elli Viogt und Paul Zobel austauschen. Sprecher:innen des Kommunistischen Aufbaus, der Kommunistischen Jugend und der Kommunistischen Frauen trugen Informationen und Erzählungen zu den Kämpfer:innen vor. Wir hatten so die Gelegenheit, gemeinsam die Lebenswege der Kommunist:innen kennenzulernen und über ihre Politisierung und ihre Entwicklung zu kommunistischen Kader:innen zu erfahren. Darüber hinaus haben wir uns aber auch gegenseitig Momente nähergebracht, in denen die Widerstandskämpfer:innen unter der Nazi-Herrschaft zweifelten und neuen Mut schöpfen mussten. Die Beweggründe, den Kampf für den Sozialismus bis zum Tod fortzuführen, hat alle Teilnehmenden sehr beeindruckt.

So begründete zum Beispiel Bernhard Bästlein seine kommunistische Überzeugung mit den folgenden Worten:

„Solange die kapitalistische Gesellschaftsordnung besteht, wird es immer wieder zu solchen alle humanitären Regungen der menschlichen Gesellschaft und ungeheure materielle Güter zerstörenden Kriegen kommen! Ich bin überzeugt, dass eine Gesellschaftsordnung, in der solche Dinge möglich sind, beseitigt werden muss.“

Am Ende des Spaziergangs wurden außerdem Ausschnitte aus einem Rundschreiben der von Saefkow, Jacob und Bästlein geleiteten KPD aus dem Jahr 1943 vorgelesen. In der Mitteilung an die gegen die Nazis kämpfenden Kommunist:innen hieß es damals:

„Es gibt in Deutschland keine siegreiche spontane Revolution. Nur geführt durch eine wahrhaft bolschewistische Partei wird die Arbeiterklasse am Ende dieses Krieges ihre historische Mission erfüllen können“.

Aus diesen Worten spricht der ungebrochene Wille, auch unter den schwersten Bedingungen die ganze eigene Kraft und Energie dem Aufbau der Kampfpartei des Proletariats zu widmen. Als Kommunist:innen in der heutigen Zeit und in einem Deutschland, in dem zwar nicht die Faschisten, wohl aber unverändert die Klasse der Kapitalist:innen regiert, gelten uns diese Worte auch in der Gegenwart als dringende Aufforderung.

Ihr Kampf ist uns Verpflichtung – Heute die Kommunistische Partei aufbauen!

Einige Tage später setzen wir das Gedenken fort und besuchten das Denkmal zu Ehren der ermordeten Widerstandskämpfer:innen im Zuchthaus Brandenburg-Görden. In der zu DDR-Zeiten neben dem ehemaligen Stadtkrematorium errichteten Anlage stehen in großen Lettern auf einer Nachbildung einer Mauer des Zuchthauses: „Ihr Kampf ist uns Verpflichtung“. Nach kämpferischen Ansprachen der Kommunistischen Jugend und des Kommunistischen Aufbaus legten wir gemeinsam einen Kranz nieder.

Einen Tag später griff eine Rednerin des Kommunistischen Aufbau zur Gedenkkundgebung am Todestag von Anton Saefkow, Franz Jacob und Berhard Bästlein in Berlin-Fennpfuhl die auf dem Denkmal stehende Losung auf. Sie sagte:

„Wir alle haben schon einmal gedacht: ‘Wir sind zu wenige’, ‚es bringt doch nichts‘, ‚wir sind nur ein kleiner Haufen von Leuten‘ – Wer kennt nicht Momente, in denen uns diese Gedanken mutlos machen? Doch die Entschlossenheit der Berliner Kommunist:innen, die in der Hauptstadt des Klassenfeindes unter dem Terror der Faschisten den Widerstand organisierten, soll uns in diesen Momenten den Weg weisen. Ihr Kampf ist uns Verpflichtung! Wenn wir heute den Berliner Kommunist:innen Saefkow. Jacob, Bästlein und vielen weiteren gedenken, dann tun wir das, um ihre Taten als Kämpfer:innen für die Freiheit der Arbeiter:innen hochleben zu lassen. Organisieren auch wir uns heute für die Zerschlagung der Herrschaft der Kapitalist:innen und die Errichtung einer Gesellschaft, in der alle Menschen frei von Ausbeutung und Unterdrückung leben können!“

In mehreren Gesprächen mit Anwohner:innen und Interessierten wurde deutlich, dass nicht nur unser Ruf nach einem Gedenken an die Berliner Kommunist:innen der 1940er Jahre sondern auch unsere Forderung nach dem Sturz der gegenwärtigen kapitalistischen Herrschaft auf offene Ohren und viel Zustimmung stießen. Das Gedenken an Saefkow, Jacob, Bästlein, Auer und alle anderen Kommunist:innen lebt in unserem alltäglichen Kampf gegen den deutschen Imperialismus und in unseren Anstrengungen für den Aufbau der Kommunistischen Partei in Deutschland.

Heraus zum 25.11.! Frauen kämpfen international! Frauenrevolution heißt Klassenkampf!

Gründe am Tag gegen Gewalt an Frauen, dem 25. November, auf die Straßen zu gehen gibt es für die Frauen auf der ganzen Welt mehr als genug. Wir erleben, wie sich die Lage der Arbeiter und Arbeiterinnen, die Lage unserer Klasse, über all auf der Welt zuspitzt. Jeden Tag erreichen uns die Nachricht über Kriege, die Verschärfung der Umweltkrise, die Krisenhaftigkeit der Weltweltwirtschaft und wie das alles auf dem Rücken der Arbeiter:innen ausgetragen wird. Die Arbeiter:innen, besonders die Frauen, sind dabei die Leidtragenden, während sich die Kapitalist:innen in ihren Villen zurück lehnen und die Profite von ihnen und ihren Konzernen in die Höhe schnellen.

Gewalt an Frauen ist Alltag – Das dürfen wir nicht zu lassen!

Gewalt an Frauen ist in dieser Gesellschaft Alltag. Viele von uns erleben sie jeden Tag zu Hause, auf der Arbeit oder beim Ausgehen mit Freund:innen. Andere von uns kommen vielleicht aus Regionen in denen Krieg herrscht. In diesen ist Gewalt an Frauen in all ihren Formen bis heute ein weit verbreitetes Mittel, um die eigene Vorherrschaft zu sichern, die Moral der Gegenseite zu brechen und die eigenen Interessen durchzusetzen.

Wir sehen nicht nur die Gewalt, sondern im Zuge dieser erkennen wir auch immer wieder wer auf unserer Seite steht und wer nicht. So sehen wir doch immer wieder wie vermeintlich fortschrittliche kapitalistische Politiker:innen „Feminismus“ predigen, dann aber weiterhin ohne mit der Wimper zu zucken Waffen in Kriegsgebiete schicken, in denen tausende unserer Klassengeschwister sterben und Frauen systematisch Gewalt erleben. Wie sie „Empowerment“ rufen und damit meinen, dass auch wir zum Dienst an der Waffe verpflichtet werden sollen, um dann „gleichberechtigt“ mit den anderen Teilen unserer Klasse im Krieg für ihre Profite zu sterben. Wie sie Gewalt an Frauen immer dann bemängeln, wenn sie von Staaten oder Akteuren ausgeübt wird, die nicht in ihrem Interesse handeln während sie sie selbst ausüben oder dazu schweigen, wenn es ihnen gerade nutzt. Wie sie selbst die Spaltung unsere Klasse nach Geschlecht oder Herkunft weiter voran treiben und von uns erwarten, dass wir es zurückhaltend und leise ertragen.

Frauenrevolution heißt Klassenkampf!

Doch wir werden uns nicht zurück halten. Wir wissen, dass uns niemand befreien wird außer wir selber. Um das kapitalistische System aufrecht zu erhalten ist das Patriarchat und damit Gewalt an Frauen unerlässlich. Möchten wir Gewalt an Frauen und der Ausbeutung und Unterdrückung unserer Klasse entgegentreten, dann müssen wir in der Konsequenz diesem System den Kampf ansagen.

Unsere Rolle in diesem Kampf ist nicht die eines Opfers, sie ist die starker Frauen, die sich und ihre Klasse befreien werden. Sie ist die derjenigen, die Wissen, dass die Geschichte auf ihrer Seite steht und dieses System, ein System welches auf Ausbeutung und Unterdrückung beruht, sein Ablaufdatum bereits überschritten hat. Ein System, welches der Sozialismus ablösen wird.

Wir wissen, dass wir diejenigen sind, die mit der Frauenrevolution eine Gesellschaft erkämpfen und erbauen werden, in der wir gleichberechtigt, ohne Unterdrückung des Menschen durch den Menschen leben können. In der Gewalt an uns der Vergangenheit angehört.

Schließen wir uns zusammen und setzen uns zur wehr!

Auf der ganzen Welt stehen Frauen auf und setzen sich zur wehr. Der Tag gegen Gewalt an Frauen ist einer der wichtigsten Tage für alle Frauen weltweit. Gerade in Zeiten der Krisen und Kriege wird uns immer wieder vor Augen geführt, wie wichtig es ist, die Kämpfe der Arbeiter:innen und Frauen weltweit zu verbinden und gemeinsam zu Millionen gegen Ausbeutung und Unterdrückung auf die Straßen zu gehen. Dabei muss immer im Vordergrund stehen, dass die Kapitalist:innen es nicht schaffen werden uns zu spalten. Nicht nach Herkunft, nach Religion oder Geschlecht. Die einzige Grenze, die wir kennen ist die zwischen unten und oben. Zwischen den Ausbeuter:innen und den Unterdrückten.

Stehen wir gemeinsam auf! Lassen wir keine Gewalttat an einer Frau ungesehen!

Erheben wir unsere Stimmen am Tag gegen Gewalt an Frauen so laut, dass niemand sie überhören kann!

Der Kampf gegen die israelische Besatzung ist legitim! Friede zwischen den Völkern, Krieg den Imperialisten! Freiheit für Palästina!

Am Morgen des 7. Oktober begann ausgehend von Gaza die größte Militäroperation des palästinensischen Widerstands der letzten Jahre. Neben dem konzentrierten Beschuss des israelischen Staatsgebiets mit Raketen drangen hunderte Kommandoeinheiten nach Israel ein, um Dörfer und militärische Ziele in der Nähe von Gaza anzugreifen.

Sowohl in Bezug auf die eingesetzten Mittel und Widerstandskämpfer:innen als auch in im Bezug auf die erreichten taktischen militärischen Erfolge sucht diese Operation in den letzten Jahrzehnten ihresgleichen.

Durchgeführt wurde sie von verschiedenen palästinensischen Widerstandsorganisationen gemeinsam; die Führung und den größten Einfluss hatte dabei der militärische Arm der islamistischen Hamas, die zugleich in Gaza regiert. Doch auch der Iran hat diese Operation offenbar gezielt mit vorbereitet und unterstützt.

Die aus kommunistischer Sicht offensichtlichen reaktionären Eigenschaften des bürgerlichen palästinensischen Nationalismus und islamischen Fundamentalismus haben sich hier zum Teil auch in den Aktionsformen niedergeschlagen, die zum Tod zahlreicher Zivilist:innen geführt haben. So verstellt ein Verständnis, nach dem es in Israel keine Zivilist:innen, sondern nur militärische Ziele für den bewaffneten palästinensischen Widerstand gibt, den Weg zu einer Annäherung und letztlich einem Bündnis zwischen allen Völkern und ethnischen Gruppen, der Region und einer revolutionären Lösung des Konflikts.

Der bewaffnete Kampf gegen den Zionismus ist legitim!

Zugleich muss aber mit aller Deutlichkeit gesagt werden, dass es sich hier nicht um einen Konflikt unter gleichrangigen bürgerlichen Regimen handelt, die schlicht und ergreifend ihre jeweilige Bevölkerung gegeneinander aufhetzen. Vielmehr wird das palästinensische Volk seit der Gründung Israels systematisch vertrieben, entrechtet und unterdrückt. Sein Kampf, auch sein bewaffneter Kampf gegen dieses rassistische, kolonialistische System ist grundsätzlich legitim und unterstützenswert. Hier stehen sich ein bis aufs äußerste militarisierter imperialistischer Staat mit einem großen Teil seiner rassistisch verhetzten Bevölkerung, dem unterdrückten und entrechteten palästinensischem Volk und seinem militanten Widerstand von Reaktionären bis Revolutionär:innen gegenüber.

Gerade in den letzten Jahren unter der besonders reaktionären israelischen Regierung, die offen das Ziel ausgibt, Israel die letzten Reste palästinensischer Gebiete einzuverleiben, haben sich die vor Ort herrschenden Bedingungen massiv verschärft. Sodass die Situation schon vor dem 7. Oktober zum Äußersten gespannt und von täglichen Übergriffen auf Palästinenser:innen geprägt war. Insbesondere haben sich in den vergangenen Monaten immer mehr Formen des bewaffneten palästinensischen Widerstands entwickelt, die nicht unter direkter Führung einer der großen und etablierten Organisationen der Palästinenser:innen standen.

Die Situation ist also hochdynamisch und ihre weitere Entwicklung ist noch kaum absehbar. Da Israel der Hamas den Krieg erklärt und beispiellose Vergeltung angekündigt hat, ist wohl zumindest klar, dass wir in den nächsten Wochen schwere Kämpfe in Gaza erleben werden, die von Bombardements bis hin zu einer Bodeninvasion durch die zionistische Armee reichen. In jedem Fall wird die israelische Kriegsführung die unmenschlichen Bedingungen, die in Gaza herrschen, ganz klar zeigen und aufs Äußerste verschärfen. Auch eine regionale Ausweitung der Kämpfe auf die umliegenden Länder ist dabei nicht ausgeschlossen. Die USA haben für diesen Fall bereits einen Flugzeigträger-Verband im östlichen Mittelmeer positioniert.

Gaza ist nicht nur das größte Freiluftgefängnis der Welt, sondern auch extrem dicht besiedelt und es ist somit schon jetzt sicher, dass die hochmoderne israelische Kriegsmaschinerie zahlreiche Zivilist:innen ermorden wird. Das ist jedoch in Palästina, dessen Befreiungskampf militärisch dem Kampf Davids gegen Goliath gleicht, keine grundlegend neue Situation. Es mehren sich vielmehr in den letzten Monaten die Anzeichen, dass die Palästinenser:innen ihre Angst vor dem militärisch weit überlegenen Gegner immer mehr verlieren.

Unsere Solidarität gilt dem palästinensischen Volk, nicht dem Führungsanspruch reaktionärer Kräfte

Als Kommunist:innen in Deutschland ist es unsere Aufgabe, diesen Krieg gegen die Palästinenser:innen ebenso wie ihre andauernde Unterdrückung zu verurteilen, denn die bedingungslose Solidarität mit dem israelischen Apartheidsstaat sind eine Heilige Kuh deutscher Außenpolitik und auch militärisch kooperiert Deutschland intensiv mit Israel.

Ob der nun mit ununterbrochenen Bombardements begonnene Krieg gegen Gaza, aber zu einem Flächenbrand in Palästina und der arabischen Welt wird und vor allem unter welchen politischen Vorzeichen ist nicht klar. Eine Entwicklung hin zu einer neuen Intifada scheint ebenso denkbar, wie eine weitere Eskalation der Lynchmorde und Progrome an Palästinenser:innen, die von zionistischen Siedler:innen gerade in den letzten Wochen im Westjordanland verübt wurden.

Während also noch äußerst ungewiss ist, ob die Kommandoaktionen des 7. Oktobers zu einem Funken für einen allgemeinen palästinensischen Volksaufstand werden; scheint schon jetzt klar zu sein, dass die herrschende Klasse sowohl auf palästinensischer als auch auf israelischer Seite politisches Kapital aus dieser Eskalation schlagen werden.

So haben zahlreiche israelische Oppositionsparteien bereits erklärt, dass sie in der aktuellen Situation ihre Oppositionsrolle aufgeben werden und dem Netanjahu-Regime die Treue im Krieg gegen Palästina geschworen. Die seit etwa mehreren Jahren anhaltende politische Krise in Israel und die auch in der israelischen Bevölkerung stark umstrittene, reaktionäre Justizreform dürften somit zunächst vom Tisch sein.

Außerdem hat die nun folgende Eskalation auch den Effekt, von der Unzufriedenheit der Bevölkerung in Gaza mit der Hamas-Regierung abzulenken. Sicherlich handelt es sicher hier ebenso um einen Versuch der Hamas, sich in Anbetracht vom vermehrten Auftreten politisch ungebundener Widerstandsaktionen wieder als Speerspitze des palästinensischen Befreiungskampfes zu inszenieren und ihren Führungsanspruch durchzusetzen. Dem iranischen Staat bietet sich hier ebenfalls die willkommene Möglichkeit, von seiner tiefen inneren Krise abzulenken und seine Position in der Region zu stärken und eine Annäherung Israels mit den Staaten der arabischen Halbinsel zu verhindern.

Als Kommunist:innen verteidigen wir das Selbstbestimmungsrecht der Nationen bis zur Lostrennung beziehungsweise ihrer freiwilligen Vereinigung in einer sozialistischen Föderation. Gerade im Anbetracht der aktuellen Situation betonen wir: Unsere Solidarität gilt zuallererst der palästinensischen Bevölkerung, nicht den bürgerlichen oder reaktionären, politischen Kräften, die sich an die Spitze ihres legitimen Widerstands setzen wollen.

Trotzkismus – eine marxistisch-leninistische Analyse

Der Trotzkismus als politische Strömung ist ein besonderes Phänomen, das einer Einordnung aus marxistisch-leninistischer Sicht bedarf. Auch wenn Größe und Ausdehnung der kommunistischen Bewegung und der Arbeiter:innenbewegung im letzten Jahrhundert in praktisch allen Ländern stark geschwankt haben, gewann der Trotzkismus im Verhältnis zur gesamten kommunistischen Weltbewegung nur begrenzt Einfluss. Durchaus eine Rolle spielt er in sehr vielen Ländern Europas, in den USA und in Lateinamerika.

Wie ist diese relative Stabilität des Trotzkismus zu erklären, zumal es nie zu einer trotzkistischen Revolution und noch viel weniger zu einem „trotzkistischen“ sozialistischen Aufbau gekommen ist? Warum ist der Trotzkismus allem Anschein nach noch immer attraktiv genug, um nicht ganz von der politischen Bühne zu verschwinden?

Die auf den ersten Blick paradoxe Antwort könnte lauten: Gerade deshalb. Der Trotzkismus musste seine Positionen zum Sozialismus nie in der Praxis unter Beweis stellen. Daher können sie in den Köpfen vieler Trotzkist:innen schön sauber und unbefleckt bleiben; unbefleckt von allen Widrigkeiten, Misserfolgen, Fehlern und vom Antikommunismus als undemokratisch verhetzten Maßnahmen im Klassenkampf, die ein Teil der kommunistischen Geschichte des letzten Jahrhunderts sind.

Dieser Gedanken ist ein wesentlicher Schlüssel sowohl zum Verständnis der Figur Trotzkis als auch der Bewegung, die bis heute seinen Namen trägt. Jedoch kann es hier nicht alleine um eine geschichtliche Analyse gehen. Vielmehr muss die politische Rolle des Trotzkismus heute eingeschätzt und bewertet werden.

Um dies zu tun, beginnt der Artikel mit einem biographischen Überblick über Trotzkis Leben. Betont werden sollen dabei die Aspekte, die nach unserer Einschätzung besonders prägend auf die heutige trotzkistische Bewegung wirken. Unser Anspruch ist dabei, Trotzkis Entwicklung ins Lager der Konterrevolution nachvollziehbar zu machen. Wichtig ist hierbei, die Faszination für die Figur Trotzki nicht noch zu erhöhen, indem man diesen entweder einfach dämonisiert oder als bewussten faschistischen Agenten darstellt, wie es in einem Teil der „anti-trotzkistischen“ Literatur geschieht.

Im mittleren Teil des Textes werden die charakteristischsten Merkmale des Trotzkismus kritisiert und ihre Wurzeln bei Trotzki aufgezeigt. Zwar kann viel, mehr oder weniger Interessantes über Trotzkis Leben, bis er die Sowjetunion verlassen hat, gesagt werden, die für seine Nachfolger:innen prägendsten Einfälle kamen Trotzki aber fast alle im Exil.

Der letzte Teil bemüht sich dann noch um eine Darstellung der wichtigsten Wendepunkte und Diskussionen in der trotzkistischen Bewegung nach Trotzkis Tod. Da der politische Stammbaum des Trotzkismus aber – zum Teil aufgrund der ausgeprägten Neigung zu Spaltungen – ein sehr breit gefächertes Blattwerk hat, müssen wir hier gleich ankündigen, dass keine umfassende Analyse aller trotzkistischen Strömungen und ihrer Kämpfe untereinander geleistet werden konnte. Dies ist auch nicht der Anspruch des Textes. Vielmehr legen wir im Abschlussteil des Artikels einen besonderen Schwerpunkt auf die konkrete Rolle des Trotzkismus in Deutschland.

Biographischer Überblick

In der Tat hat Trotzki erhebliche Anstrengungen unternommen, um sein Bild in der Geschichtsschreibung zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Trotzkis wichtigster Biograf Isaac Deutscher (1907 – 1967), der selbst zeitweise organisierter Trotzkist war, greift diesen Aspekt gleich zu Beginn seiner dreibändigen Biografie auf: „Trotzki war so auskunftsfreudig über sein Leben wie Stalin geheimniskrämerisch mit dem seinen umging.“ 1

Die vorhandene Literatur zu Trotzki oder dem Trotzkismus lässt sich nur allzu oft auf diese Leidenschaft Trotzkis für sich selbst ein: Entweder mit voller Begeisterung für den schillernden Revolutionär oder in Form von Bemühungen, Trotzkis Selbstbild in jedem einzelnen Aspekt zu widerlegen und ihn als schon immer kleinbürgerlichen, unzuverlässigen Konterrevolutionär zu kennzeichnen.

Wir wollen Trotzkis Biografie in zwei Teilen behandeln:

  • Seine Entwicklung zum Revolutionär und seine Rolle vor und in der Oktoberrevolution.
  • Seine Rolle in den Fraktionskämpfen nach der Oktoberrevolution und beim Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion bis zu seiner Verbannung.

Trotzki vor der Oktoberrevolution

Lew Dawidowitsch Bronstein, der spätere Leo Trotzki, wurde am 26. Oktober 1879 als Kind jüdischer Bauern in der Ukraine geboren. Seine Eltern brachten es nach und nach zu immer mehr Wohlstand und konnten schließlich der Klasse der Großbauern zugerechnet werden. Schulische Bildung genoss Trotzki ab seinem 9. Lebensjahr in der Großstadt Odessa, wo er schnell zum besten Schüler seiner Klasse wurde. Trotzki lebte zu diesem Zeitpunkt im Haushalt eines Verwandten und lernte über diesen zunächst bürgerlich-demokratische Ideen kennen. Mit 17 Jahren kam er nach eigenen Angaben zum ersten Mal mit revolutionären Ideen in Berührung und begann sie nach anfänglichem Widerstand schnell selbst energisch zu vertreten.2 Trotzki machte daraufhin eine politische Entwicklung durch, die für heutige Maßstäbe kaum vorstellbar ist, aber auch unter den Bedingungen der sich herausbildenden russischen Arbeiter:innenbewegung um die Jahrhundertwende außergewöhnlich war.

Er stieg schnell zur treibenden Kraft hinter einem lokalen ökonomistischen Zirkel auf: Dem Südrussischen Arbeiterbund. Deutscher führt verschiedene Aussagen von Trotzkis damaligen Weggefährten an, die ihn übereinstimmend als enorm charismatischen und energischen Anführer schildern. Mit Trotzki habe besagter Zirkel seine Hochzeit erlebt und ohne ihn seine alte Stärke nie wieder erreicht.3

Anfang 1898 wurde ein Großteil der führenden Genoss:innen dieses Zirkels verhaftet, auch der damals 18-jährige Trotzki. Er verbrachte zunächst einige Monate in Isolationshaft, wurde dann aber in ein anderes Gefängnis verlegt, in dem ein größerer Austausch mit anderen Gefangenen möglich wurde und sich seine marxistischen Überzeugungen festigen konnten. An die Zeit im Gefängnis schloss sich für Trotzki das Leben in der sibirischen Verbannung an. Deutscher zufolge entwickelte Trotzki hier zunächst von Lenin unabhängig die Idee, dass eine zentralisierte und disziplinierte Organisation der Revolutionäre notwendig sei.4

Trotzki in der Iskra und auf dem 2. Parteitag

Dass Trotzki ohne Zweifel ein außergewöhnlich talentierter Revolutionär war, wird schon daran deutlich, dass sich Lenin 1902 darum bemühte, Trotzki nach London zu holen, wo damals ein Großteil der Iskra-Redaktion lebte. Schnell traf Trotzki somit neben Lenin in Gestalt von Georgi Plechanow (1956 – 1918), Julius Martow (1873 – 1923), Pawel Axelrod (1850 – 1928) und Vera Sassulitsch (1849 – 1919) die intellektuelle Elite der damaligen revolutionären Arbeiter:innenbewegung von Russland.

Lenin setzte gegen erhebliche Widerstände u.a. von Plechanow, dem Mitglied der Redaktion mit dem zum damaligen Zeitpunkt zweifellos größten Prestige, Trotzkis Aufnahme in die Redaktion der Iskra, das Zentralorgan der Partei, durch. Er lobte dabei Trotzkis herausragende Fähigkeiten.5 Trotzki erlebte also einen raschen Aufstieg in seinem Ansehen. Folgerichtig nahm er auch als 23-Jähriger am zweiten Parteitag der SDAPR (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands6) im Jahr 1902 teil, bei dem sich die historische Spaltung in Menschewiki und Bolschewiki vollziehen sollte.

In den ersten Tagen des Kongresses wurde diese Spaltung zunächst nicht so sichtbar. Zu Beginn stand die Auseinandersetzung mit den Bundisten im Mittelpunkt der Debatte. Sie forderten eine organisatorische Selbstständigkeit für jüdische Arbeiter:innen in der SDAPR. Trotzki, der ja selbst aus einer jüdischen Familie stammte, vertrat hier besonders energisch die Kritiken der Iskra an dieser Forderung. Erst bei der Diskussion über den ersten Paragraphen des Parteistatuts traten die Widersprüche zwischen Bolschewiki und Menschewiki voll zutage. Trotzki schloss sich der menschewistischen Position an, die eine formlosere Partei vorschlug.7

In der Folge spielte sich die Spaltung zwischen Menschewiki und Bolschewiki ab. Die Bolschewiki um Lenin verloren, obwohl sie bei der Wahl der zentralen Parteiinstitutionen auf dem Kongress in der Mehrheit waren, bald den Einfluss über die Iskra. Entscheidend war hierbei, dass Plechanow die Seiten wechselte und sich den Menschewiki anschloss. Trotzki wurde von den Menschewiki dann schnell in ein Schatten-Zentralkomitee einbezogen, um die Bolschewiki zu bekämpfen. Wie Trotzkis Biograf Isaac Deutscher selbst schreibt, tat sich Trotzki in dieser Phase durch besonders heftige und persönliche Polemiken gegen Lenin hervor, dem er vorwarf, aus persönlicher Machtgier zu handeln.8

Deutscher gibt an der entsprechenden Stelle auch eine bemerkenswerte Einschätzung zu Trotzkis Persönlichkeit ab: „Hinter seinen polemischen Anschuldigungen und von Einbildungskraft geprägten Prognosen verbargen sich die aufgestauten Gefühle eines romantischen Revolutionärs, der – so sehr er auch selbst für die Notwendigkeit einer fest zusammengefügten und disziplinierten Partei eingetreten war – in individualistischen Protest gegen die Wirklichkeit dieser Partei ausbrach, als er mit ihr konfrontiert wurde.9

Trotzki wurde für seine besonders heftigen Attacken gegen Lenin von den Menschewiki nicht belohnt. Bald zerstritt er sich auch mit ihnen. Nach Angaben seines Biografen war er im Jahr 1904 schwer enttäuscht, dass die von ihm betriebenen Versuche zu einer Wiedervereinigung mit den Bolschewiki auch von Seiten der Menschewiki nicht ernst genommen wurden. Die Spaltung konnte nicht rückgängig gemacht werden und Trotzki blieb letztlich alleine mit einer kleinen Anzahl von Freunden zurück. Ab diesem Zeitpunkt stand er nicht mehr im Zentrum einer der beiden großen Fraktionen. Engere Verbindungen behielt er aber über Jahre zu den Menschewiki und schrieb lange für auch für ihre Zeitungen, weswegen er gemeinhin auch als Menschewik betrachtet wurde.10 Trotzki begab sich daraufhin nach München, wo er einige Zeit mit dem russischen Exilanten Alexander Parvus (1867 – 1924) erbrachte. Dieser soll Trotzki stark beeinflusst haben und einen beachtlichen Anteil an den Inhalten von Trotzkis „Theorie der permanenten Revolution“ haben.11

Trotzki in der Revolution 1905

Von Europa aus begab sich Trotzki im Jahr 1905 recht früh zurück nach Russland. Sein Biograf Deutscher stellt hier die These auf, dass Trotzki gerade deshalb in der Revolution von 1905 eine bedeutende Rolle spielen konnte, weil er sich unbedingt außerhalb der bolschewistischen und menschewistischen Fraktionen positionieren wollte, während sich diese Fraktionen noch nicht voll zu eigenständigen Parteien entwickelt hatten.12

Genau wie die Bolschewiki vertrat Trotzki in der Revolution von 1905 die Notwendigkeit eines bewaffneten Aufstands, während die Menschewiki schon damals deutlich zurückhaltender handelten. Die Rolle der Sowjets wurde jedoch früh von Trotzki erfasst, während sich die Bolschewiki anfangs skeptisch zeigten, ob sie sich an Organen mit unklarer politischer Ausrichtung beteiligen sollten.13 Im Petersburger Sowjet spielte Trotzki, sobald er in der Stadt eingetroffen war, eine führende Rolle. Er leitete die Sitzungen und hat viele der Erklärungen und Beschlüsse des Sowjets selbst verfasst. Diese Rolle trug ohne Zweifel zu seinem Prestige in der Arbeiter:innenklasse bei.

Nach dem Abflachen der revolutionären Welle wurde Trotzki gemeinsam mit anderen führenden Mitgliedern des Sowjets festgenommen und in der berüchtigten Peter-Paul-Festung eingesperrt. Unmittelbar im Nachgang der 1905er-Revolution soll die Atmosphäre dort noch relativ liberal gewesen sein. Die Gefangenen erhielten Literatur und konnten intensiv diskutieren. Hier arbeitete Trotzki auch theoretisch an seinem Text „Ergebnisse und Perspektiven“.14

Dieser Text gilt als erste Formulierung der Theorie der permanenten Revolution, die in den parteiinternen Auseinandersetzungen in den 20er-Jahren eine große Rolle spielen sollte. Trotzki formulierte in diesem Text einerseits, dass das Proletariat anstelle der Bourgeoisie die Macht ergreifen könne, um die Aufgaben der demokratischen Revolution zu erledigen. Andererseits prognostizierte Trotzki schon hier, dass sich die Bauernschaft nach anfänglicher Unterstützung früher oder später von der Revolution werde abwenden müssen und die russische Revolution dann allein von der Unterstützung aus dem europäischen Westen abhänge.15

Politischer Rückzug in Europa

Trotzki wurde im Anschluss zu lebenslanger Verbannung in Sibirien verurteilt, floh aber von dort im Jahr 1907 schon sehr bald nach seiner Ankunft nach Europa. Obwohl es in den Revolutionsjahren eine gewisse praktische Annäherung an die Bolschewiki gegeben hatte, blieb Trotzki Teil seiner eigenen, recht unbedeutenden Fraktion. Auch seine politische Feindschaft zu Lenin blieb bestehen. In Wien verbrachte Trotzki mit seiner Familie einige Jahre, die wohl als Zeitraum des politischen Rückzugs eingeschätzt werden müssen. Diese Entwicklungstendenz in Trotzkis politischer Aktivität deckt sich mit der krisenhaften Entwicklung, die die ganze russische revolutionäre Bewegung in diesem Zeitraum erlebte.

Isaac Deutscher zieht für diesen Zeitraum ein wenig vorteilhaftes Resümee: „Auf neue ‚theoretische Forschung‘ finden sich jedoch wenig Hinweise in seinen Schriften, die nach wie vor aus brillantem Journalismus und Literaturkritiken bestanden. Es lässt sich aber kein einziges bedeutendes Werk der politischen Theorie darunter finden. Selbst in seinem etwas apologetischen Rückblick macht Trotzki keinerlei praktische revolutionäre Errungenschaften für sich geltend. Lenin dagegen nutzte diese Jahre, unterstützt von seinen Anhängern, um seine Partei zu schmieden und Männer wie Sinowjew, Kamenew, Bucharin und später auch Stalin erarbeiten sich jeweils Stellungen, die später notwendig werden würden, um eine führende Rolle im Jahr 1917 zu spielen. Zu dem Ansehen, das Trotzki sich in den Jahren 1904 bis 1906 erarbeitet hatte, trug diese Phase also wenig oder nichts bei.16

Kontakt pflegte Trotzki in diesem Zeitraum insbesondere mit der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie, vor allem jedoch mit ihrem politischen Zentrum um Karl Kautsky (1854 – 1938). In dieser Zeit des Abflachens der revolutionären Welle mussten sowohl Bolschewiki wie auch Menschewiki viele Rückschläge hinnehmen. Das zaristische Regime antwortete mit brutaler Repression auf die nicht zu Ende geführte Revolution von 1905. In der politischen Bewegung entwickelten sich entsprechende Verfallserscheinungen. Am wichtigsten waren einerseits die sogenannten Liquidatoren als Teil der Menschewiki, die unter dem Druck der Repression jede illegale Arbeit einstellen wollten, andererseits die sogenannten Otsowisten im Lager der Bolschewiki, die die illegale Arbeit verabsolutierten und die Notwendigkeit der Ausnutzung aller legalen Spielräume nicht anerkannten.

Erwähnenswert erscheint aus dem Zeitraum bis zu Beginn des ersten Weltkriegs einzig eine weitere erfolglose Initiative zur Vereinigung von Bolschewiki und Menschewiki.17 Bei den entsprechenden Verhandlungen der russischen Sozialdemokratie kam es zum sogenannten Augustblock. Trotzki fand sich dabei in einem politischen Block mit ultralinken Bolschewiki und den rechtesten Menschewiki wieder, dessen Grundlage die gemeinsame Feindschaft zu Lenins Linie gewesen sein dürfte. Der Trotzkist Tony Cliff18 (1917 – 2000) selbst urteilt über diese Zeit folgendermaßen: „Aber als Versöhnler führte Trotzki keinen konsequenten Kampf gegen beide Abweichungen, und arbeitete tatsächlich mit den Vertretern beider Seiten zusammen.19

Trotzki im 1. Weltkrieg

Kurz nach Ausbruch des 1. Weltkriegs zog Trotzki von Wien nach Zürich in die neutrale Schweiz um, da er befürchtete, in Österreich festgenommen zu werden. Zwar nahm Trotzki anders als große Teile der internationalen Sozialdemokratie eine klare Position gegen den Krieg ein, er war darin aber weniger konsequent als Lenin.20 Insbesondere kritisierte er Lenin bis ins Jahr 1916 für die Losung, der Krieg müsse in einen revolutionären Bürgerkrieg umgewandelt werden und sprach von einer Weigerung der Leninisten, für „den Frieden“ einzutreten. Auch die Position des „revolutionären Defätismus“21 wollte Trotzki nicht annehmen, sondern stellte sich – wie zahlreiche andere – auf den Standpunkt, die Arbeiter:innenklasse soll für ein Kriegsende „ohne Sieg oder Niederlage“ eintreten.22

Weiterhin scheute er sowohl einen klaren Bruch mit den Menschewiki, also den russischen Sozialdemokraten, als auch mit den rechten Teilen der internationalen Sozialdemokratie. Hier lebten die engen Beziehungen zu Karl Kautsky aus Deutschland, Victor Adler (1852 – 1918) aus Österreich und nicht zuletzt zu den Menschewiki um Julius Martow fort. Mit der Losung, dass der Aufbau der Dritten Internationalen notwendig sei, blieb Lenin daher bei der Zimmerwalder Konferenz, dem ersten internationalen Treffen der sozialdemokratischen Kriegsgegner:innen, noch weitgehend isoliert. Trotzkis schwankende Position hingegen prägte die Abschlusserklärung deutlich mit. Gemeinsam mit diversen ehemaligen Menschewiki und Bolschewiki gab Trotzki aus Frankreich eine russische Emigrantenzeitung heraus. Diese wurde Ende 1916 schließlich ebenfalls verboten und Trotzki des Landes verwiesen, woraufhin er sich nach New York begab.

Trotzki im Jahr 1917

Im Jahr 1905 war Trotzki, wenn man seinem Biograf Deutscher folgen will, paradoxerweise gerade deshalb fähig, eine Rolle im revolutionären Petersburg zu spielen, weil er sich scheute, sich einer großen Organisation unterzuordnen. Dagegen war seine Ausgangssituation 1917 aus dem gleichen Grund eine deutlich schlechtere. Nicht nur, dass er einzig mit einem für damalige Verhältnisse kleinen Zirkel, der nur in der Hauptstadt des Zarenreiches aktiv war, verbunden war. Er befand sich zudem in New York, also im wahrsten Sinne des Wortes am anderen Ende der Welt. Nach einer Festnahme durch die britische Marine erreichte Trotzki Petersburg Anfang Mai und nahm offenbar kurz darauf Gespräche mit der Führung der Bolschewiki auf. Tony Cliffs biographischen Ausführungen zufolge soll Trotzkis Gruppe damals lediglich etwa 300 Personen gezählt haben, während die Zahl der Bolschewiki allein in Petersburg mit 16.000 angegeben wird.

Es ist bemerkenswert, dass die Führung der Bolschewiki einschließlich Lenin sich überhaupt um die Vereinigung mit Trotzki bemühte. Man muss dies wohl als Ausdruck der noch immer großen Popularität der Person Trotzkis werten. Dies wird auch darin deutlich, dass Trotzki seit seiner Ankunft regelmäßig als Redner im Petersburger Sowjet auftrat. Die bolschewistische Führung machte ihm den Vorschlag, dass er und seine Gruppe sich den Bolschewiki anschließen könnten und er unmittelbar ins Zentralkomitee sowie die Redaktion der Prawda kooptiert werden würde.23 Lenins Notizen zufolge lehnte Trotzki zu diesem Zeitpunkt das Angebot mit der Begründung ab, man könne unmöglich von ihm verlangen, sich Bolschewik zu nennen. Es bleibt aber festzustellen, dass Lenin Trotzki offenbar zu diesem Zeitpunkt für so einflussreich hielt bzw. seine Fähigkeiten so schätzte, dass eine Vereinigung sinnvoll wäre, um der kommunistischen Führung der Revolution zusätzliche Festigkeit zu verleihen. Einige Monate später nahm Trotzki das Angebot dann doch an und wurde ins ZK der Bolschewiki aufgenommen. In der Oktoberrevolution selbst spielte Trotzki dann eine bedeutende Rolle als bekannter Führer der Revolution: Er war unter anderem neben Stalin und anderen an der konkreten Ausarbeitung des Plans für den Aufstand beteiligt.

Zusammenfassung

Betrachtet man Trotzkis Entwicklung bis zu seinem letztlichen Eintritt bei den Bolschewiki im Sommer 1917, so ergibt sich das Bild eines Revolutionärs mit hervorragenden Fähigkeiten, die nicht zuletzt von Lenin selbst bezeugt wurden. Sie kommen auch in der zentralen Rolle zum Ausdruck, die Trotzki beispielsweise in der Revolution von 1905 spielen konnte. Anders wäre es ja auch gar nicht zu erklären, dass sich die Bolschewiki trotz zeitweise erbitterter Konflikte mit Trotzki immer wieder bemühten, eine organisatorische Einheit mit ihm zu erreichen; zuletzt dann durch die Aufnahme in die Partei der Bolschewiki, bei der Trotzki sofort ins Zentralkomitee aufgenommen wurde.

Ebenso zeigt sich jedoch ein ausgeprägter Widerwillen von Trotzki, sich anderen und einer Organisationsdisziplin zu unterwerfen. Er scheint sehr stark von seinen eigenen Gedanken und Fähigkeiten eingenommen gewesen zu sein. Er wählte im Zweifelsfall den Weg, alleine eine eigene Fraktion zu bilden, selbst wenn das bedeutet, dass sein praktischer politischer Einfluss Stück für Stück zurückging.24 Man kommt nicht umhin festzustellen, dass viele der heutigen Trotzkist:innen diese Neigung von Trotzki geerbt haben und bisweilen auf die Spitze treiben.

Lenins wütende Einschätzung von Trotzkis Schwankungen und seiner Selbstbezogenheit aus dem Jahr 1910 können wohl als kennzeichnend für die ganze Phase bis zur Oktoberrevolution gesehen werden:

Trotzki dagegen repräsentiert lediglich seine persönlichen Schwankungen und sonst nichts. […] Trotzki begeht heute ein Plagiat an dem geistigen Rüstzeug der einen, morgen an dem der anderen Fraktion, und darum gibt er sich als über beiden Fraktionen stehend aus. Trotzki ist in der Theorie in nichts mit den Liquidatoren und den Otsowisten einverstanden, in der Praxis dagegen ist er in allem mit den „Golos“- und den „Wperjod“-Leuten einverstanden.“ 25

Trotzki nach der Oktoberrevolution

Der Friedensschluss von Brest-Litowsk

Nach der erfolgreichen Revolution übernahm Trotzki zunächst das Amt des Volkskommissars für auswärtige Angelegenheiten, d.h. des „Außenministers“ der Revolutionsregierung. In dieser Funktion wird er unter anderem mit den Friedensverhandlungen mit dem deutschen Kaiserreich beauftragt.

Die Bolschewiki – gerade erst an die Macht gelangt – waren zutiefst uneins darüber, wie diese Verhandlungen zu führen seien. Die linksradikale Position wurde unter anderem vom späteren Rechtsabweichler Nikolai Bucharin (1888 – 1938) vertreten, der forderte, den Krieg weiterzuführen, um die deutsche Armee im Osten zu binden und somit die militärischen Bedingungen für eine Revolution in Deutschland zu verbessern.

Lenin hingegen trat für einen sofortigen Friedensschluss ein, da er davon überzeugt war, dass ein Hinauszögern die Bedingungen nur verschlechtern würde, zu denen am Ende doch ein Frieden geschlossen werden müsse:

Gewiß, der Frieden, den wir schließen werden, wird ein Schandfrieden sein, aber wir brauchen eine Pause, um soziale Reformen durchzuführen (man denke nur an das Verkehrswesen); wir müssen erstarken, dazu aber brauchen wir Zeit. Wir müssen die Bourgeoisie vollständig vernichten, dazu aber müssen wir beide Hände frei haben. Wenn wir das getan haben, so werden wir beide Hände freibekommen und können dann einen revolutionären Krieg gegen den internationalen Imperialismus führen. Die jetzt geschaffenen Marschabteilungen der revolutionären Freiwilligenarmee sind die Offiziere unserer künftigen Armee.“ 26

Wir haben an dieser Stelle absichtlich ein etwas längeres Zitat gewählt, um zu unterstreichen, dass Lenin zwar für einen Friedensschluss war, aber zugleich deutlich machte, dass dies nur die Funktion einer Atempause für die sozialistische Revolution in Russland darstellen würde. Auch Lenin, der 1918 die einzig realistische, aber auch „rechteste“ Position im ZK der Bolschewiki vertrat, lehnte keineswegs die Idee einer bewaffneten Ausweitung der Revolution in Richtung Westen grundsätzlich ab.27

Trotzki hingegen vertrat eine mittlere Position. Ihm schwebte vor, die Friedensverhandlungen so lange wie möglich hinauszuzögern. Zugleich sollte aber die Armee demobilisiert und der Krieg eingestellt werden. In der Sitzung des Zentralkomitees der Bolschewiki stimmten 32 Anwesende für die Fortführung des Krieges, 15 mit Lenin und 16 mit Trotzki.28 Da sich Lenins Position zunächst nicht durchsetzen konnte, einigte man sich im Zentralkomitee formell auf Trotzkis schwankende Position. In der Praxis jedoch erwies sich diese als falsch und nicht praktikabel. Die deutsche Delegation ließ sich trotz Trotzkis größten Bemühungen nicht ewig hinhalten. Schließlich ging die deutsche Armee wieder zur Offensive über, drängte die völlig zerrütteten Überreste der russischen Armee weiter zurück und zwang somit – ganz wie Lenin es vorhergesagt hatte – die junge Sowjetmacht dazu, einem noch schlechteren Friedensabkommen zuzustimmen.

Der ehemalige westdeutsche Revolutionär und heutige bürgerliche Historiker Alexander von Plato bewertet dieses Vorgehen als symptomatisch für Trotzkis Festhalten an höheren Zielen, die dann an der Realität krachend zerschellen:

(…) das revolutionäre Ziel – internationale Revolution – schien ihm gefährdet durch einen sofortigen Friedensschluß, obwohl eine größere Gefährdung eher darin bestand, dass die Revolution durch die Reichswehr liquidiert, zumindest aber geschwächt wurde.“29

Trotzkis hoher Stellung im jungen sowjetischen Staat tat diese Episode aber keinen Abbruch. Als die bitter erkaufte Atempause für die sozialistischen Revolution nach nur wenigen Monaten von den Interventionskriegen und dem russischen Bürgerkrieg beendet wurde, wechselte er an die Spitze des Kriegskommissariats. Dort erwarb er sich unzweifelhaft als wichtigster Organisator der Roten Armee große Verdienste um die Verteidigung der proletarischen Diktatur gegen die Konterrevolution.

Auch wenn eine ausführliche Analyse des Bürgerkriegs und Trotzkis Rolle darin hier nicht geleistet werden kann, soll ausdrücklich betont werden, dass wir die häufigsten Vorwürfe nicht teilen, die von bürgerlicher oder anarchistischer Seite gegen Trotzki erhoben werden: Er habe Terrormaßnahmen zur Unterdrückung der Konterrevolution durchgeführt. Vielmehr erscheinen diese im geschichtlichen Rückblick als angemessen und notwendig.

Es ist vielmehr eine Schwäche der Bewegung, die heute stolz Trotzkis Namen trägt, dass sie an nahezu jeder Irrung und Wirrung, die er in seinem Leben vollführt hat, einen Narren gefressen hat, eine seiner positivsten Eigenschaften aber links liegen lässt: Die Bereitschaft, revolutionäre Gewalt anzuwenden, strengste militärische Disziplin im Bürgerkrieg zu fordern und diese als Oberbefehlshaber auch durchzusetzen.

Von der NÖP zur „linken Opposition“

Nach den schweren Jahren des Bürgerkriegs war Russland wirtschaftlich noch zerrütteter als am Ende des ersten Weltkriegs. Auch große Teile der Bauernschaft und der Arbeiter:innenklasse, die die Revolution unterstützt hatten, waren moralisch am Boden und begannen, sich von der Sowjetmacht abzuwenden. Nachdem zuvor ein Großteil der Bolschewiki mehr oder weniger klar die Vorstellung hatte, man könne von der zentralisierten Kriegswirtschaft („Kriegskommunismus“) unmittelbar zum Sozialismus übergehen, setzte Lenin schließlich im Jahr 1921 einen Schwenk zur Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) durch, um dem Land eine erneute Atempause zu gewähren. Konkret wurden dabei kapitalistische Wirtschaftsformen mit gewissen Einschränkungen zugelassen, um eine Erholung der Wirtschaft zu ermöglichen.

Trotzki widersetzte sich dieser Politik nicht. Es bestand offenbar eine Einheit zwischen ihm und dem Rest der Parteiführung in der Analyse, dass ein zeitweiliger Rückzug auf wirtschaftlichem Gebiet notwendig sei. Nur die Erwartung, ob eine erneute Offensive hauptsächlich durch die Revolution im Westen eingeleitet werden würde oder auch aus den inneren Kräften des Landes hervorgehen könnte, war vermutlich schon damals zwischen Trotzki und beispielsweise Stalin unterschiedlich gelagert.

Nach Lenins Tod entwickelte sich in der Partei ein Streit darüber, wie die Wirtschaftspolitik des Landes fortzuführen sei.30 Die Mehrheit der Parteiführung, die sich durchsetzte, vertrat, dass eine bestimmte Fortführung der Maßnahmen der NÖP insbesondere auf dem Land notwendig sei. Als Voraussetzung für eine Kollektivierung der Landwirtschaft sah sie eine Teilindustrialisierung des Landes, sodass die Perspektive auf Kollektivwirtschaften mit konkreten materiellen Anreizen durch eine Mechanisierung der Arbeit mit Hilfe moderner Traktoren und landwirtschaftlicher Maschinen verbunden werden konnte. Außerdem war die wirtschaftliche Lage des Landes noch immer sehr schlecht. Die Menschen hatten jahrelang Hunger gelitten und waren im Falle vieler Bauern in Widerspruch zur Staatsmacht geraten. Diese hatte ja die Bauern während des Kriegskommunismus um einen bedeutenden Teil der Ernte enteignen müssen, um die Front und die Städte versorgen zu können. Die sowjetische Wirtschaft insgesamt erreichte erst in den Jahren 1925/26 wieder das Vorkriegsniveau von 1914.

Die so genannte „Linke Opposition“ hingegen verfolgte ein Programm der beschleunigten Industrialisierung, bei dem die Bauern stärker besteuert, die Industrie schneller aufgebaut und die Kollektivierung auf dem Land vorangetrieben werden sollte. Während die Parteiführung um Stalin davon ausging, dass eine Kollektivierung und stärkere Besteuerung der Bäuer:innen31 zu diesem Zeitpunkt eher dazu geführt hätte, die kleinen und mittleren Bauern in die Arme der Großbauern (Kulaken) zu treiben, beschuldigte Trotzki schon damals als Teil der Opposition die Parteiführung, sich von den sozialistischen Prinzipien abgewendet zu haben.

Block mit Sinowjew und Kamenew und Niederlage der Opposition

Im Jahr 1925 vergrößerten sich die Widersprüche zwischen den beiden alten Bolschewiken Grigori Sinowjew (1883 – 1936) und Lew Kamenew (1883 – 1936) auf der einen Seite und Stalin auf der anderen Seite, die alle drei zentrale Figuren der Parteiführung waren. Obwohl Sinowjew und Kamenew das Programm der „Linken Opposition“ ebenfalls bekämpft hatten, kam es zu schärferen Widersprüchen zwischen ihnen, als Stalin begann, die Theorie des „Sozialismus in einem Land“ zu entwickeln.

Hintergrund davon dürfte unter anderem gewesen sein, dass Sinowjew als wohl wichtigste Führungsfigur der Komintern nicht bereit war, zu akzeptieren, dass der Weltkapitalismus in eine Phase der relativen Stabilisierung eingetreten war. Damit war die Perspektive einer baldigen Revolution im Westen in noch weitere Ferne gerückt. Sogar Trotzki erkannte diese Tatsache an. Dennoch bildete sich kurz darauf, spätestens im Jahr 1926, ein fester Block zwischen Sinowjew, Kamenew und Trotzki. Die innerparteiliche Auseinandersetzung nahm in dieser Phase mehr und mehr den Charakter eines offenen Machtkampfes an. Trotzki schreibt selbst, dass die Opposition im Herbst 1926 in den Parteizellen in die Offensive ging und die Parteiführung mit administrativen Methoden darauf reagiert habe.32

Trotzki schildert diesen Moment so: „Je mehr die Partei sich dem Fünfzehnten Parteitag näherte, der für Ende 1927 angesetzt war, um so mehr fühlte sie sich an einem historischen Kreuzweg. Eine tiefe Unruhe durchzitterte ihre Reihen. Trotz dem ungeheuren Terror erwachte in der Partei der Wunsch, die Stimme der Opposition zu vernehmen. Das war nur auf illegalem Wege zu erreichen. An mehreren Stellen in Moskau und in Leningrad fanden geheime Versammlungen von Arbeitern, Arbeiterinnen und Studenten statt, wo zwanzig bis hundert und zweihundert Menschen zusammenkamen, um einen Vertreter der Opposition anzuhören. Im Laufe eines Tages besuchte ich zwei, drei mitunter auch vier solcher Versammlungen.33

Auf diese Weise bereitete sich die Opposition um Trotzki und Sinowjew auf einen Kampf um die Macht vor. Den Höhepunkt sollte dieser Kampf wohl am 7. November erreichen, dem 10. Jahrestag der Oktoberrevolution. Hierzu nahm die Opposition mit eigenen Blöcken an den Demonstrationen teil. Sie blieb jedoch relativ isoliert und wurde nach Trotzkis Angaben angegriffen. Der fünfzehnte Parteitag markierte die endgültige Niederlage im Meinungskampf. Das Programm für eine beschleunigte Industrialisierung wurde abgelehnt und Trotzki, Sinowjew und Kamenew aus der Partei ausgeschlossen. Die verzweifelten Versuche von Sinowjew, diese Konsequenz durch seine öffentlich bekundete Reue und einen offiziellen Verzicht auf Fraktionstreffen abzuwenden, konnten seinen Ausschluss nicht mehr aufhalten. Wenig später folgte Trotzkis Verbannung, während Sinowjew und Kamenew in die Partei zurückkehren durften.

Als die Parteiführung um Stalin im Jahre 1929 entgegen aller vorherigen Prognosen der trotzkistischen Opposition ihre Versprechen wahr machte und schließlich zur sozialistischen Offensive auf dem Land überging, war dies zugleich der politische Todesstoß für die Überreste dieser Opposition. „Damit brach die theoretische Grundlage der Politik der Opposition zusammen – 400 (führende) ‚Trotzkisten‘ kehrten in die Reihen der Partei zurück.“ 34

Permanente Revoltion“ oder Sozialismus in einem Land?

Die Frage, ob die Hoffnung auf eine Förderung der Revolution in Westeuropa wichtiger sei als das Überleben des Sozialismus in Russland blitzte schon bei der Diskussion um den Friedensschluss mit Deutschland in großer Deutlichkeit auf. Was Trotzki angeht, liegen ihre theoretischen Wurzeln aber deutlich tiefer. Schon 1906 schrieb Trotzki in „Ergebnisse und Perspektiven“, der ersten Darlegung seiner Theorie der permanenten Revolution: „Ihren eigenen Kräften überlassen, wird die Arbeiterklasse Rußlands unvermeidlich in dem Augenblick von der Konterrevolution zerschlagen werden, in dem sich die Bauernschaft von ihr abwendet. Ihr wird nichts anderes übrigbleiben, als das Schicksal ihrer politischen Herrschaft und folglich das Schicksal der gesamten russischen Revolution mit dem Schicksal der sozialistischen Revolution in Europa zu verknüpfen.“ 35

Stand Trotzki mit derartigen Gedanken alleine da? Keinesfalls, das haben die Ereignisse um den Friedensschluss mit Deutschland gezeigt. Auch die später von der bolschewistischen Partei im innerparteilichen Kampf vertretene Erzählung, Trotzkis Defätismus im Angesicht der ausbleibenden Revolution im Westeuropa hätte von Anfang an Lenins Theorie vom Sozialismus im eigenen Lande gegenübergestanden, ist eine sehr starke, tendenziöse „Interpretation“ der geschichtlichen Tatsachen.36

Wahr ist wohl vielmehr, dass Trotzki nie seine schon 1906 formulierte Fixierung auf eine internationale Revolution hinter sich lassen konnte. Als er im Jahr 1919 mitten in den schwersten Momenten des Bürgerkriegs anfing, die Aussichten auf die Revolution in Westeuropa pessimistischer einzuschätzen, machte er einen Schwenk und forderte, die junge Sowjetrepublik solle sich auf das Vorantreiben und die militärische Unterstützung von revolutionären Erhebungen im Rest Asiens zu konzentrieren, wie sein Biograf Deutscher schreibt. Dieser bescheinigt ihm allerdings auch: „Diese Vorschläge hatten wenig mit dem zu tun, was getan werden konnte und getan werden musste, um ein militärisches Debakel abzuwenden.“ 37

Lenin hingegen vertrat mehrmals im Jahr 1918 ebenfalls prinzipielle Positionen wie die folgende: „Wenn man den welthistorischen Maßstab anlegt, so kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Endsieg unserer Revolution eine hoffnungslose Sache wäre, wenn sie allein bliebe, wenn es in den anderen Ländern keine revolutionäre Bewegung gäbe.“ 38 Im Gesamtkontext des hier zitierten Referats wirkt es aber so, als sei diese Formulierung ein Zugeständnis an das dogmatische Festhalten großer Teile der Parteiführung an dem, was sie für Internationalismus hielten. Die ganze Schlagrichtung des Referats betonte, dass die deutsche Revolution nicht so schnell heranreift, wie es sich die Bolschewiki gewünscht hätten, und dass man diesen Tatsachen ins Auge schauen müsse. Insgesamt ist Lenins Methode also ein konkretes und realistisches Herangehen. Er versucht, seine Genoss:innen davon abzubringen, ihre ganze Politik von der Hoffnung auf die Revolution in Deutschland oder einem anderen Land abhängig zu machen, gesteht aber ebenso offen zu, dass eine isolierte Revolution in Russland vor den allergrößten Schwierigkeiten stehen wird.

Was Lenin nicht tat und was man auch nicht von Lenin verlangen kann, ist 1918 vorherzusagen, dass die Sowjetunion gezwungen sein würde, allein den Sozialismus aufzubauen und über mehr als 25 Jahre diese Rolle alleine zu spielen hätte. Das Verdienst, trotz aller enttäuschten Hoffnungen auf Revolutionen im Westen unbeirrt am sozialistischen Aufbau in einem Land festzuhalten und unter den widrigsten Bedingungen, die sich sicher kein Bolschewiki herbeigesehnt hat, die proletarische Diktatur zu behaupten und konkret den Sozialismus aufzubauen, gebührt im Wesentlichen der bolschewistischen Parteiführung nach Lenins Tod – allen voran Stalin.

Das ist der Kern des Konflikts zwischen der Mehrheit der Parteiführung und verschiedener oppositioneller Gruppierungen, die Trotzki in wechselnder Zusammensetzung um sich scharte. Zu seiner vollen Entfaltung kam er wohl erstmals im Jahr 1926, als unter anderem Stalin in seinem Text „Fragen des Leninismus“ ziemlich offen Selbstkritik dafür übte, dass seine Formulierungen zur Möglichkeit der Festigung der proletarischen Diktatur bisher ungenügend gewesen seien. Er hatte selbst im Jahr 1924 in „Grundlagen des Leninismus“ vertreten, dass zwar die Errichtung der proletarischen Diktatur zunächst in einem einzelnen Land möglich sei, der Aufbau des Sozialismus jedoch die Anstrengungen der Proletarier verschiedener fortgeschrittener kapitalistischer Länder erforderlich machte. Nun schlug er vor, diese Formulierung zu ändern, da der Aufbau des Sozialismus aus Sicht der Parteiführung auch den praktischen Aufgaben entsprach, vor denen die Sowjetunion stand. Stalin schreibt: „Was bedeutet die Möglichkeit des Sieges des Sozialismus in einem Lande? Das bedeutet die Möglichkeit, die Gegensätze zwischen Proletariat und Bauernschaft mit den inneren Kräften unseres Landes zu überwinden, die Möglichkeit, dass das Proletariat die Macht ergreifen und diese Macht zur Errichtung der vollendeten sozialistischen Gesellschaft in unserem Lande ausnutzen kann, gestützt auf die Sympathien und die Unterstützung der Proletarier der anderen Länder, aber ohne vorhergehenden Sieg der proletarischen Revolution in anderen Ländern. Ohne diese Möglichkeit ist das Bauen des Sozialismus ein Bauen ohne Perspektive, ein Bauen ohne die Überzeugung, dass man den Sozialismus aufbauen wird. Man kann den Sozialismus nicht bauen, wenn man nicht überzeugt ist, dass es möglich ist, ihn aufzubauen, wenn man nicht überzeugt ist, dass die technische Rückständigkeit unseres Landes kein unüberwindliches Hindernis für die Errichtung der vollendeten sozialistischen Gesellschaft ist. Die Verneinung dieser Möglichkeit bedeutet Unglauben an die Sache des Aufbaus des Sozialismus, Abkehr vom Leninismus.39

In der gleichen Schrift betonte er aber auch, dass es ohne Weltrevolution keine endgültige Festigung des Sozialismus geben könne, da der Gegensatz zwischen Sozialismus und Imperialismus auf Weltebene bestehen bleibe.

Diese Selbstkorrektur durch Stalin ist in der Tat objektiv auf theoretischem Gebiet ein Bruch mit der traditionellen und bis zu einem bestimmten Zeitpunkt auch überwiegend bei den Bolschewiki vertretenen Ansicht. Auch wenn Stalin sich bemüht – und es ihm auch gelingt – aufzuzeigen, wo die Perspektive des sozialistischen Aufbaus in einem Land schon in den letzten Schriften Lenins angelegt ist, handelt es sich um eine neue Position. Wobei es wohl nicht länger erläutert werden muss, dass die Frage, ob Lenin etwas vertreten oder abgelehnt hat, für sich genommen ohnehin nur eine begrenzte Beweiskraft hat.

Trotzki hingegen beharrte auf dem alten Standpunkt, der in seinen eigenen theoretischen Schriften immer mit einem grundlegenden Misstrauen gegenüber der Bauernschaft gepaart war, und blieb somit auch bei seiner Schlussfolgerung, dass das Schicksal der russischen Revolution vom Erfolg der Revolution in Westeuropa abhängen müsse: „Die weltumfassende Arbeitsteilung, die Abhängigkeit der Sowjetindustrie von der ausländischen Technik, die Abhängigkeit der Produktivkräfte der fortgeschrittenen Länder Europas von den asiatischen Rohstoffen usw. usw. machen in keinem Lande der Welt den Aufbau einer selbständigen nationalen sozialistischen Gesellschaft möglich.“40

Alle Schwächen des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion, alle Erscheinungen des Bürokratismus, kurz gesagt alles was Trotzki als Widerspruch zu seinen hohen Idealen einer sozialistischen Gesellschaft empfand, wurden von ihm auf das Ausbleiben der sozialistischen Revolution im Rest der Welt und bald auch auf die angeblich falsche Anleitung durch die Komintern zurückgeführt. Die Sowjetunion, die in den 20er-Jahren ihrem industriellen Entwicklungsniveau nach in praktisch allen Bereichen den führenden kapitalistischen Ländern weit unterlegen war, in der große Teile der Bevölkerung nach westeuropäischen Standards Armut zu erdulden hatten, diese Sowjetunion konnte und wollte Trotzki nicht mit dem Sozialismus in Verbindung bringen. Um seine eigene Utopie vom Sozialismus unangetastet zu lassen wurde der Sozialismus in einem Land‘ zu einer Utopie erklärt. Doch blieb auch Trotzkis Weg zum Ziel des Sozialismus – die Weltrevolution – zu seinen Lebzeiten eine nie realisierte Hoffnung.

Das also ist der zentrale Streit, der besonders in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre an Fahrt aufnahm, zwischen Trotzki und einigen Verbündeten auf der einen Seite und der Mehrheit der KPdSU auf der anderen Seite. Um zu verstehen, warum letztlich Trotzkis Position in diesen Fragen unterlag, wollen wir aus der Autobiographie von Harry Haywood (1898 – 1985) zitieren, einem afroamerikanischen Kommunisten, der in den 20er-Jahren in der Sowjetunion lebte und die damaligen Diskussionen schilderte. Er beschreibt, dass noch im Jahre 1924 ein Großteil der Student:innen an seiner Moskauer Universität für Trotzkis Opposition war, sich dies aber im Laufe der nächsten Jahre ändern sollte. Er betont, dass die Frage des sozialistischen Aufbaus aus seiner Sicht keine theoretische, sondern eine ganz praktische Frage war: „Im Angesicht der damaligen Lage der revolutionären Kräfte war diese Position [Trotzkis Position] gefährlich defätistisch. Das Jahr 1923 zeichnete sich zum Beispiel durch ein Abflauen der revolutionären Welle in Europa aus. Es war ein Jahr der Niederlagen für die kommunistischen Bewegungen in Deutschland, Italien, Polen und Bulgarien. Stalin fragte: Was soll unsere Revolution jetzt tun? Bleibt ihr nur, in ihren eigenen Widersprüchen fortzuvegetieren und in Erwartung der Weltrevolution auf dem Halm zu verfaulen‘? Auf diese Frage hatte Trotzki keine Antwort. Stalins Antwort bestand darin, den Sozialismus in der Sowjetunion aufzubauen.“ 41

Zusammenfassung

Unmittelbar nach der Oktoberrevolution steuerte Trotzki auf den Höhepunkt seines Einflusses zu. Er wurde zunächst Volkskommissar für Äußeres und bald darauf für Kriegswesen. In dieser Funktion war er während des Bürgerkriegs die wohl mächtigste Einzelperson im jungen Sowjetstaat und hat sich bleibende Verdienste als Revolutionär und militärischer Führer erworben.

Dass oftmals sehr platte Bild, dass Trotzki allein auf abenteuerliche Weise vertrat, man müsse die Revolution mit Waffengewalt exportieren und wenn das nicht gelänge, so könne man die Rote Fahne in Moskau auch gleich wieder abhängen, während Lenin und Stalin zu jedem Zeitpunkt eine kluge, realistische Politik vertreten hätten, die die Revolution in anderen Ländern nur als Ergebnis der dortigen Klassenkämpfe verstand, ist falsch.

Vielmehr vertrat die gesamte Führungsspitze der Bolschewiki, dass die junge Sowjetrepublik bei der Unterstützung der sozialistischen Revolution in anderen Ländern keinesfalls nur politische, sondern auch militärische Aufgaben habe. So erging auch 1923, als die Komintern auf die Vorbereitung der Revolution in Deutschland orientierte, was schließlich in den Hamburger Aufstand mündete, der Befehl, die Rote Armee verdeckt zu mobilisieren, um der Revolution in Deutschland zur Hilfe zu eilen.42

Nach dem Tod Lenins, der zeitlich eng mit der Niederlage der damaligen revolutionären Welle in Europa zusammenfiel, geriet Trotzki jedoch zunehmend in Konflikt mit bedeutenden Teilen der Parteiführung. Vermutlich wurde diese Tendenz einerseits verstärkt, weil Lenin einer der wenigen – wenn nicht der einzige – Bolschewik war, den Trotzki als sich selbst gegenüber ebenbürtig empfand. Andererseits, weil nach Trotzkis orthodoxem Verständnis der Theorie vom Sozialismus unvorstellbar war, dass ein relativ zurückgebliebenes Land wie Russland diesen aus eigenen Kräften aufbauen könnte. Als keine unmittelbare Hoffnung auf eine erfolgreiche Revolution im Westen mehr bestand, ging er daher zunehmend dazu über, die Wirtschaftspolitik der Partei von links zu kritisieren und eine schnellere Industrialisierung auf Kosten der Bauernschaft zu fordern.

Trotzki schloss hierzu verschiedene Bündnisse mit anderen Bolschewiki. Er begann eine illegal organisierte Arbeit gegen die Linie der ZK-Mehrheit. In diesen fraktionellen Kämpfen unterlag Trotzki aber letztlich – teilweise nach intensiven und breiten Debatten in der ganzen Partei.

Wie schon in einer früheren Phase in seinem Leben erscheint Trotzki eher orientierungslos bis gelähmt, sobald er sich von seinen vorherigen massiven Einflussmöglichkeiten abgeschnitten fühlt. Der Kampf darum, diese zurückzugewinnen, nahm dann zunehmend verzweifelten Charakter an. So ging er beispielsweise ein Bündnis mit Sinowjew und Kamenew ein, obwohl sich diese zuvor bei zahlreichen Gelegenheiten wie z.B. im Moment der sozialistischen Machtergreifung als vollkommen unzuverlässig erwiesen hatten und Trotzki selbst nach eigenen Angaben auch keine sehr hohe Meinung von ihnen hatte.

War Trotzki ein Konterrevolutionär?

Bevor wir die mehr oder weniger chronologische Darstellung von Trotzkis Leben beenden, drängt sich natürlich noch ein großer Bereich von Fragen auf, der in der vorherrschenden Diskussion über Trotzki als geschichtliche Figur eine zentrale Rolle einnimmt: Seine subjektive und objektive Rolle im Bezug auf die sozialistische Sowjetunion.

Zwei Anmerkungen hierzu vorweg. Erstens muss, wie auch immer man Trotzki als Person einschätzt, die Bewertung der politischen Strömung, die sich heute auf sein Erbe stützt, weitgehend getrennt von der Einschätzung seiner Person vorgenommen werden. Zweitens ist es politisch nicht möglich, die Frage der „großen Säuberung“ und der „Moskauer Prozesse“ im Zusammenhang mit der Bewertung der historischen Person Trotzki zu ignorieren. Diese stehen mit dem Trotzkismus offensichtlich in Zusammenhang: Schließlich wurden die meisten Angeklagten mit dem Vorwurf „trotzkistischer Tätigkeit“ verurteilt. Was genau sich in diesen Jahren zugetragen hat, muss noch viel tiefgehender analysiert und eingeschätzt werden, als es in diesem Artikel am Rande möglich wäre. Klar ist aber: Schon alleine die Ablösung, Verurteilung und Erschießung von zwei der drei NKWD-Leiter43 in diesem Zeitraum macht deutlich, dass es hier massive innere Widersprüche im Staatsapparat gab und es nicht plausibel ist, dass es sich hierbei lediglich um eine zugespitzte Auseinandersetzung mit dem Trotzkismus gehandelt habe.

Trotzkis oppositionelle Tätigkeit

Als erwiesen darf anhand von Trotzkis eigenen Äußerungen sowie aus denen von mit ihm stark sympathisierenden Biografen gelten, dass Trotzki ab 1921 nie völlig auf eine fraktionelle Tätigkeit in der KPdSU verzichtete. Ab 1923 nahm diese zunehmend festeren Charakter an. So schildert Trotzkis Biograf Deutscher selbst, dass sich aus Trotzkis Fraktionen in der innerparteilichen Diskussion wieder eine Art eigene Partei oder Partei in der Partei entwickelt hätte. In einem Nachruf für seinen Sohn Leo Sedow schreibt Trotzki, dass sein Sohn schon seit den frühen 20er Jahren die Methoden der illegalen Arbeit erlernt habe, was die Interpretation Deutschers stark unterstreicht.

Offenkundig ist auch, dass die Vereinigte Opposition im Jahr 1927 eine Ablösung der Parteiführung erzwingen wollte. So war eine ihrer Hauptparolen „Lasst uns das Testament von Lenin Wirklichkeit werden lassen“. Nach seinem zweiten Schlaganfall hatte Lenin seinem Privatsekretär einen Text diktiert, in dem er u.a. die Ablösung Stalins als Generalsekretär empfahl.44 Wie soll diese Parole also anders verstanden werden, als dass Stalin als Generalsekretär abgesetzt wird? Auch aus diesem Jahr stammen Zeugnisse von Trotzki selbst, dass man gezwungen gewesen sei, illegal zu arbeiten.

Nach Trotzkis Ausweisung wurde er zwar innerhalb der Sowjetunion zunehmend einflusslos, unter anderem deswegen spitzte sich aber auch seine Kritik an den sowjetischen Verhältnissen zu. Bis er schließlich selbst auch öffentlich den Schluss zog, dass nur noch eine neue Revolution der Arbeiter:innenklasse, dass nur noch Gewalt ein erfolgversprechendes Mittel sei: „Nur die revolutionäre Avantgarde des Proletariats kann das Sowjetsystem erneuern, wenn es ihr gelingt, die werktätigen Massen in Stadt und Land wieder um sich zu scharen.“ 45

Trotzki war aber kein simpler bürgerlicher Moralist, der bestimmte gewaltsame Mittel des politischen Kampfes prinzipiell ablehnte. Dieses Problem hat Trotzki wohl nie in seiner politischen Laufbahn gehabt. Vielmehr schreckte Trotzki vor Entwicklungen und Maßnahmen zurück, die aus seiner Sicht zu sehr mit dem versprochenen Ideal des Sozialismus brechen. Um dieses Ideal aber zur Wirklichkeit werden zu lassen, scheint Trotzki, wenn man sich beispielsweise konkret von ihm im Bürgerkrieg getroffene Maßnahmen ansieht (Erschießung von desertierten Kommunist:innen, obwohl die Schlacht gewonnen wurde), ganz im Gegenteil „jedes Mittel Recht“.46

So ist es auch nicht überraschend, dass Trotzki den Mord an Kirow, der den konkreten Auftakt für die sogenannte Große Säuberung darstellte, mehr oder weniger offen begrüßte: „Der ermordete Kirow, ein roher Satrap, erweckt keinerlei Sympathie. Unsere Beziehung zum Mörder bleibt nur deshalb neutral, weil wir die Motive, die ihn leiteten, nicht kennen. Wenn bekannt werden würde, daß Nikolajew bewußt für die von Kirow begangene Schändung der Arbeiterrechte Vergeltung übte, wären unsere Sympathien völlig auf Seiten des Mörders.47

Auch entsprechende Zitate im Angesicht der faschistischen Invasion machen leicht verständlich, dass Trotzki nicht einfach nur das „moralische Gewissen“ der russischen Revolution war, sondern schlicht um jeden Preis zurück an die Macht wollte. So schreibt er 1939 ziemlich unverhohlen über die „revolutionären Potenziale“, die angeblich in einem solchen Krieg liegen würden: „Moskau ist sich darüber im klaren, dass ein größerer Krieg eine Ära politischer und sozialer Erschütterungen einleitet. Wenn Stalin ernsthaft hoffen könnte, die revolutionäre Bewegung zu beherrschen und sich dienstbar zu machen, würde er sie natürlich begrüßen. Doch versteht er, dass die Revolution Antithese der Bürokratie ist und und mit dem privilegierten konservativen Apparat unbarmherzig aufräumen würde.“ 48

Krieg führt zu zugespitztem Klassenkampf und Revolution und das führt zum Ende der „stalinistischen“ Bürokratie: So einfach sah damals die Welt für Trotzki aus. Vor dem Hintergrund dieser kaum verhohlenen Spekulationen auf den Ausbruch eines Krieges gegen die Sowjetunion wird auch sehr schnell deutlich, warum in der Sowjetunion zu diesem Zeitpunkt ein so zugespitzter Kampf gegen den Trotzkismus geführt wurde. Von der sowjetischen Führung musste diese Positionierung so aufgefasst werden, dass Trotzki auf eine Schwächung der Sowjetunion durch die faschistische Invasion spekulierte und Teil des konterrevolutionären Lagers geworden war.

Man muss hier nicht groß über Trotzkis subjektive Motivation spekulieren. Es besteht wenig konkreter Anlass, daran zu zweifeln, dass er bis zu seinem Lebensende subjektiv davon überzeugt war, im Interesse des Sozialismus und der Weltrevolution nach seiner Lesart zu handeln.

Zugegebenermaßen zeugen öffentlich geäußerte Einschätzungen wie zum Beispiel, dass der Vormarsch der Nazis auf Moskau der Auftakt zu einer Entmachtung der Bürokratie durch die Arbeiter:innenklasse sein könnte, von einem gewissen Realitätsverlust und grenzenloser Selbstüberschätzung. Derartige Fehler tauchen allerdings nicht zum ersten Mal in Trotzkis Biografie auf.49

Trotzkis Weg ins Lager der Konterrevolution

Die bisherige Darstellung von Trotzkis Biografie hat gezeigt, dass Trotzki nicht etwa als Konterrevolutionär und Schädling geboren wurde. Vielmehr ist er Stück für Stück objektiv ins Lager der Konterrevolution gelangt.

Diese Entwicklung stellt ein gutes Beispiel dafür dar, was passiert, wenn Marxist:innen sich an allgemeinen Prinzipien festklammern, zugleich aber der Dialektik den Rücken kehren und so die Fähigkeit einbüßen, sich in einer konkreten Situation zu orientieren, die sich anders darstellt als von ihnen (und vielleicht auch vom ganzen Rest der Partei) erwartet.

Zentraler Punkt scheint dabei die politische Einschätzung der Sowjetunion zu sein. Trotzki beharrte in quasi-orthodoxer Weise darauf, dass das technologische Niveau des Sozialismus über dem der fortgeschrittensten kapitalistischen Länder liegen müsse. Als die erhoffte Revolution im Westen ausblieb, folgte daraus logisch, dass in Russland alleine auch der Aufbau des Sozialismus unmöglich war. Da Trotzki zunehmend die sowjetische Führung für das Ausbleiben der Weltrevolution verantwortlich machte – eine vom dialektisch-materialistischen Standpunkt aus betrachtet abwegige Position – wurde auch die Beseitigung dieser Führung, des „bonapartistischen Regimes“, zum einzig verbleibenden Weg zum Sozialismus.

Dass Trotzki mit den Positionen, die er in den 1930er-Jahren vertrat, objektiv zu einer Reserve der Konterrevolution und ihrer Speerspitze in Gestalt des Faschismus wurde, ist recht offensichtlich. So phantasierte er die Möglichkeit herbei, Hitler könne Stalin so sehr schwächen, dass sein Regime beseitigt werden könne. Daher ist es sicher kein Zufall, dass nach Angaben von Joseph Goebbels mindestens seit April 1938 ein Geheimsender der Nazis trotzkistische Propaganda verbreitete, um die Sowjetunion zu destabilisieren.50 Die Frage, inwieweit Trotzki oder Trotzkist:innen (wissentlich oder unwissentlich) direkt mit Faschist:innen kooperierten, kann an dieser Stelle nicht tiefgehend behandelt werden.

Trotzki war jedenfalls ein machtbewusster Politiker und militärischer Führer, der schon eine erfolgreiche Revolution mit angeführt hatte. Als solcher musste ihm bewusst sein, dass es für eine erfolgreiche Revolution notwendig ist, jede Schwäche im Lager des eigenen Feindes auszunutzen. Dieser Hauptfeind für die Trotzkist:innen war aber faktisch nicht etwa der deutsche Faschismus, sondern die sowjetische Führung, die den schon lang ersehnten weltrevolutionären Prozess nach trotzkistischer Lesart blockierte.

Trotzki im Exil – Der heutige Trotzkismus wird geformt

An dieser Stelle unserer Darstellung wollen wir aus einer gerafften biographischen Darstellungsweise ausbrechen. Zentral für den heutigen Trotzkismus sind nämlich überwiegend Trotzkis Schriften und seine Politik aus der Zeit ab seiner Verbannung im Jahr 1927.

Der Grund für diese Schwerpunktsetzung liegt darin, dass Trotzki selbst bei verschiedenen Gelegenheiten seine teils scharfen Angriffe auf die Position der Bolschewiki vor 1917 widerrief und deutlich aussprach, dass nicht er, sondern Lenin richtig gelegen habe – auch wenn er dies teilweise mit gewissen Rechtfertigungsversuchen verknüpfte. In der Konsequenz knüpft auch der internationale Trotzkismus in der Regel nicht ausdrücklich an die menschewistische Kritik am Kader:innenparteikonzept an.

Was die Auseinandersetzungen in den 20er-Jahren angeht, so kann gesagt werden, dass die Auseinandersetzung um den richtigen Weg zum Aufbau des Sozialismus unter heutigen Bedingungen neu gestellt und analysiert werden muss, insbesondere wenn diese Aufgabe konkret vor uns steht.

1928 war Trotzki gegenüber der ungeheuren Machtfülle aus der Zeit des Bürgerkriegs auf eine recht isolierte Position zurückgeworfen. Im Vergleich zu in vielen Ländern erst vor wenigen Jahren gegründeten Kommunistischen Parteien, die aber vielerorts bereits zu Massenparteien herangewachsen waren, war er ziemlich einflusslos und so wie in den gut zehn Jahren vor der Oktoberrevolution auf sich selbst und einige wenige besonders treue Anhänger:innen angewiesen. Natürlich ist das Prestige eines der bedeutendsten Führer der Oktoberrevolution hinzugekommen. Dieses grundsätzliche Problem prägte überhaupt viel von Trotzkis Politik und Ideen in den 30er Jahren bis zu seinen Tod: Er ist fest davon überzeugt gewesen, Recht zu haben und sowohl sein Andenken als auch die aus seiner Sicht richtige Auslegung des Marxismus gegen den „Stalinismus“ verteidigen zu müssen. Er hat aber kaum politischen Einfluss und sucht verzweifelt nach Methoden, diese Situation schnell aufzuheben und wieder in die Lage zu kommen, Weltpolitik zu machen.

Fraktionismus

Eine gewisse Ausnahme zu dem gerade Ausgeführten bildet die Frage des Fraktionismus, denn die Auseinandersetzung hierüber mit Trotzki begann deutlich vor seiner Zeit im Exil. Tatsächlich hat sich Trotzki seine ganze politische Karriere hindurch immer wieder fraktionell verhalten. Ehrlicherweise muss man allerdings sagen, dass er damit zumindest in der Zeit vor der Oktoberrevolution keinesfalls eine Ausnahme bildete. Vielmehr war das Fraktionieren innerhalb der russischen Arbeiter:innenbewegung weit verbreitet.

Das historische Fraktionsverbot

Historisch erstmals ausformuliert wurde der Widerspruch zwischen Marxismus-Leninismus und Trotzkismus in dieser Frage in den 1920er-Jahren. In der Vorbereitungsphase des 10. Parteitages der Kommunistischen Partei Russlands war die innerparteiliche Diskussion von mehreren Fraktionen oder Ansätzen zu Fraktionen geprägt. Die Hauptgefahr für die Einheit der Partei ging damals wohl von der sogenannten „Arbeiteropposition“ aus, der Trotzki nicht angehörte. Aber auch Trotzki verhielt sich unmittelbar vor dem Parteitag fraktionell, was von Lenin scharf kritisiert wurde, insbesondere da Trotzki ein wichtiges und hoch angesehenes Mitglied des Zentralkomitees der Partei war.51

Auf diesem Parteitag wurde ein ausdrückliches Fraktionsverbot zu den Regeln der Partei hinzugefügt. Trotzki ordnete sich dem zunächst unter, begann aber schon 1923 sich dagegen zu wenden. Vor allem in der späteren trotzkistischen Geschichtsschreibung setzte sich dann die Tendenz durch, dieses Verbot zu einer Ausnahmeregelung zu erklären, die nur wegen einer außergewöhnlich angespannten innenpolitischen Lage getroffen worden wäre. In Trotzkis Autobiographie „Mein Leben“ aus dem Jahr 1929 wird das Fraktionsverbot einfach ganz verschwiegen.

Was lässt sich dieser Darstellung entgegenhalten? Einerseits begründete Lenin als starker Verfechter des Fraktionsverbots tatsächlich die besondere Dringlichkeit von Maßnahmen, um die Einheit der Partei zu sichern, mit der enorm zugespitzten Lage im Land.52 Er zeigte sich aber auch ganz unabhängig davon, dass dieser formell das Recht zum fraktionellen Handeln gehabt habe, empört darüber, dass Trotzki davon Gebrauch gemacht hat.53 Vor allem die Resolution „Über die Einheit der Partei“, die auf dem X. Parteitag verabschiedet wurde, ist sehr grundsätzlich und prinzipiell formuliert und enthält keinerlei Andeutungen, dass es sich dabei um eine rein vorübergehende Maßnahme handeln sollte:

Es ist notwendig, dass alle klassenbewußten Arbeiter die Schädlichkeit und Unzulässigkeit jeder wie immer gearteten Fraktionsbildung klar erkennen, die selbst dann, wenn die Vertreter der einzelnen Gruppen den besten Willen haben, die Parteieinheit zu wahren, in der Praxis unweigerlich dazu führt, dass die einmütige Arbeit geschwächt wird und dass die Feinde, die sich an die Regierungspartei heranmachen, erneut verstärkte Versuche unternehmen, die Zerklüftung zu vertiefen und sie für die Zwecke der Konterrevolution auszunutzen.“ 54

Natürlich könnte man – wenn man der Argumentation der Bolschewiki für das Fraktionsverbot folgen will – fragen, welche Situationen es vor dem Übergang zum Kommunismus geben könnte, in denen „die Feinde“ nicht jede „Zerklüftung“ unter den Kommunist:innen „vertiefen“ und für „die Zwecke der Konterrevolution ausnutzen“. Man beantwortet diese Frage eigentlich schon, wenn man sie stellt: Eine Phase friedlicher Entwicklung, in der sich die Kommunist:innen leisten können, sich dauerhaft in fraktionellen Kämpfen zu verlieren, gibt es überhaupt nicht, weder vor noch nach der Revolution.

Die Rolle der Fraktionen im modernen Trotzkismus

Der moderne Trotzkismus stellt quasi als eines seiner Markenzeichen heraus, dass er eine dem entgegensetzte Haltung zu Fraktionen hat. Fraktionen sind für die Trotzkist:innen in der Regel ein vollkommen natürlicher Bestandteil des „Demokratischen Zentralismus“ (trotzkistischer Auslegung). So sei hier beispielhaft aus dem Statut der deutschen trotzkistischen Organisation Sozialistische Alternative (SAV) zitiert:

2. Minderheitenschutz und Fraktionsrechte

a. Grundsätzlich haben alle Mitglieder und Minderheiten das Recht, innerhalb der Organisation eine abweichende Meinung in Wort und Schrift zu verbreiten.

b. Darüber hinaus haben Unterstützer*innen einer bestimmten Position das Recht, sich zu einer Fraktion zusammenzuschließen, um die Diskussion und Weiterentwicklung ihrer Position zu ermöglichen und sie in die Diskussion zu tragen.

c. Fraktionsrechte umfassen:

1. das Recht, sich innerhalb der Organisation eigenständig zu organisieren,

2. das Recht, einen eigenen Finanzbeitrag zu erheben, das Recht, eigene Publikationen in der Organisation zu verbreiten,

4. das Recht auf Zugang zur Mitgliederzeitschrift,

5. das Recht, eine Debatte über ihre Positionen in einer Organisationsgliederung oder bundesweit zu beantragen, insbesondere die Berücksichtigung auf Tagesordnungen von Versammlungen und Konferenzen sowie die Verwendung von Einrichtungen und Arbeitsmitteln der Organisation für die Debatte (…)55

Kurz gesagt: Die Fraktion nach trotzkistischer Lesart ist eine Organisation in der Organisation, die sogar eigene Mitgliedsbeiträge und eigene Publikationen herausgeben darf. Es ist klar, dass solche Praktiken die Gefahr von Spaltungen in einer Organisation und damit auch der Zerstörung des erreichten Einflusses in der Arbeiter:innenklasse massiv erhöhen.

In der Praxis zeigt sich immer wieder das Problem, dass sich Lager herausbilden, die in verschiedenen Fragen unterschiedlicher Meinung sind. Die innere Disziplin der Fraktionen ebenso wie mögliche taktische Erwägungen führen dann zu einer natürlichen Tendenz, sich innerhalb der Organisationsdiskussionen immer an den gleichen Punkten zu widersprechen. Die Linie, entlang der es zu einer Spaltung kommen kann, wird somit vorgezeichnet. Der Fraktionismus ist also kein notwendiges Element der innerorganisatorischen Demokratie. Vielmehr untergräbt er die Einheit und Vereinheitlichung jeder Organisation. Statt das gesamte organisatorische Kollektiv weiterzuentwickeln, verteilt sich die Diskussion auf Fraktionen, die sich nur schwerlich gegenseitig beeinflussen und überzeugen können.

In der marxistisch-leninistischen Tradition wurde demgegenüber das Fraktionsverbot aufgenommen und ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Verständnisses des Demokratischen Zentralismus. Das widerspricht aber keinesfalls einer freien innerorganisatorischen Diskussion. Diese wird aber kollektiv zu bestimmten Gelegenheiten geführt und auf Beschluss der leitenden Organe eröffnet. Wesentlich ist auch, dass hierbei jede:r Genoss:in das Recht und die Pflicht hat, sich als Einzelperson in der Diskussion zu beteiligen. So kann die Tendenz zur Fraktionierung und Lagerbildung am effektivsten bekämpft werden. Da niemand durch eine Fraktionsdisziplin gebunden ist, sondern alle nur die Aufgabe haben, zu den für die sozialistische Revolution bestmöglichsten Schlussfolgerungen zu kommen, ist auch eine tatsächliche gegenseitige Beeinflussung möglich. Dass die trotzkistische Leidenschaft für das Fraktionieren durchaus sehr negative Effekte für diese Strömung selbst mit sich gebracht hat – insbesondere in Phasen, in denen sie besonders wenig politische „Erfolge“ erzielen konnte – wird von einzelnen Trotzkisten auch selbst eingestanden: „Da es darum zu gehen scheint, sich in sehr viel größeren Zusammenhängen zu verankern, um Tuchfühlung mit den Kämpfen und der Bewusstseinsentwicklung breiter Teile der Arbeiterklasse und der Jugend zu bekommen, erscheinen den Mitgliedern solcher vergleichsweise kleinen Gruppen ihre eigenen Organisationen oft nicht gerade als bedeutende Errungenschaft. Wenn jemand der Meinung ist, mit einer bestimmten Linie und mit einem bestimmten Aufbaukonzept bald qualitative Sprünge in Bezug auf den Einfluss und die zahlenmäßige Stärke seiner politischen Strömung erreichen zu können, trennt sich dieser vielleicht relativ leichten Herzens von ein paar Dutzend oder auch von ein paar Hundert GesinnungsgenossInnen, die auf dem viel versprechenden Weg nicht folgen wollen.56

Es ist klar, dass dieses von einem Trotzkisten selbst diagnostizierte Spaltungsproblem durch die Bildung von Fraktionen nur verstärkt werden kann. Schließlich dürfte es als deutlich geringeres Risiko für die eigene politische Existenz, im Falle von Funktionär:innen auch die wirtschaftliche Existenz sein, sich nicht alleine von einer Organisation zu trennen, weil man ihren Weg für unumkehrbar falsch hält, sondern gemeinsam mit einer Fraktion, die über Monate oder Jahre miteinander arbeitet.

Trotz dieser notwendigen und prinzipiellen Kritik am Fraktionswesen muss betont werden, dass das Fraktionsverbot natürlich kein Allheilmittel gegen Spaltungen darstellt. Am Ende bleibt die organisatorische Einheit etwas, das immer wieder bewusst auf politischer und ideologischer Ebene erkämpft werden muss. Weder das Fraktionsverbot noch der maoistische „Kampf zweier Linien“57 stellen sichere Konzepte dar, um Spaltungen zu verhindern. Der Trotzkismus hat ihnen jedoch den zweifelhaften Verdienst voraus, die organisatorische Spaltung bereits im eigenen Verständnis innerorganisatorischer Demokratie anzulegen.

Trotzkistische Analyse des Sozialismus

Die zentrale Quelle von Trotzkis Analyse der Verhältnisse in der Sowjetunion ist zweifelsohne das Buch „Verratene Revolution“ aus dem Jahre 1936. Hierin erkennt Trotzki zwar die enormen Erfolge der Sowjetunion an: Er spricht davon, dass die Sowjetunion alle Diskussionen bürgerlicher Ökonomen darüber, dass der Sozialismus ökonomisch nicht haltbar wäre, widerlegt hätte. Darauf folgt dann aber seine vernichtende Kritik der Verhältnisse in der Sowjetunion. Dreh- und Angelpunkt seiner Analyse ist dabei der niedrige Entwicklungsstand der Produktivkräfte und daraus folgende Mängel im Lebensstandard der Bevölkerung. Hieraus folgert Trotzki, dass in der Sowjetunion nicht vom Sozialismus, sondern lediglich von einem Übergangsregime zum Sozialismus die Rede sein könne:

Die heutige UdSSR überragt nicht das Weltwirtschaftsniveau, sondern holt erst die kapitalistischen Länder ein. Wenn Marx als unteres Stadium des Kommunismus die Gesellschaft bezeichnete, die auf Grund der Vergesellschaftung der Produktivkräfte des für seine Epoche am meisten fortgeschrittenen Kapitalismus entstehen sollte, so ist diese Bezeichnung augenscheinlich nicht auf die Sowjetunion zugeschnitten, die heute noch, was Technik, Lebensgüter und Kultur anbelangt, viel ärmer ist als die kapitalistischen Länder. Richtiger wäre darum, das heutige Sowjetregime in all seiner Widersprüchlichkeit nicht als sozialistisches, sondern als vorbereitendes oder Übergangsregime zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu bezeichnen.“ 58

Nach einem ähnlichen Muster untersucht er in seinem Werk verschiedene Aspekte der sowjetischen Gesellschaft und kommt jeweils zum Schluss, dass die Sowjetunion in dieser Hinsicht noch stark hinter den kapitalistischen Ländern zurückbleibe und daher vom Sozialismus nicht die Rede sein könne. So schreibt er zu den Methoden zur Steigerung der Arbeitsproduktivität:

Der Sozialismus bzw. das untere Stadium des Kommunismus erfordert zwar noch eine strenge Kontrolle über das Maß der Arbeit und das Maß des Verbrauchs, setzt aber jedenfalls menschlichere Kontrollformen voraus, als die vom Ausbeutergenius des Kapitals ersonnenen.“ 59

Trotzkis Analyse aus dem Jahr 1936 läuft darauf hinaus, dass es sich bei der Sowjetunion um einen degenerierten Arbeiterstaat handele, der entweder durch eine erneute Erhebung der Arbeiter:innenklasse von seinen bürokratischen Entstellungen befreit werden oder unvermeidlich früher oder später in den Kapitalismus zurückfallen müsse.

Kritik der trotzkistischen Auffassungen zur Sowjetunion

Die marxistische Haltung, die diesem Standpunkt entgegen gehalten werden muss, besteht darin, dass der Sozialismus als erste Stufe des Kommunismus grundsätzlich noch von Muttermalen des Kapitalismus geprägt ist. Somit muss auch der Klassenkampf in dieser Gesellschaft kontinuierlich weiter geführt werden. Gelingt es nicht, diesen Kampf konsequent fortzuführen und damit die Entwicklung der Gesellschaft in Richtung des Kommunismus voran zu treiben, dann droht tatsächlich die Herausbildung neuer Ausbeuterklassen, die Wiederherstellung neuer Ausbeutungsverhältnisse, wie es auch die spätere Entwicklung der Sowjetunion gezeigt hat.

Dass also die von Trotzki in „Verratene Revolution“ heraufbeschworene Gefahr einer „Degeneration“ der Arbeiter:innenstaaten besteht, ist keine Eigenheit der Sowjetunion, sondern eine Eigenschaft des Sozialismus als der noch unmittelbar vom Kapitalismus geprägten Form des Kommunismus.

Auch besteht diese Gefahr nicht etwa nur, wie Trotzki behauptet, weil die Sowjetunion in der Entwicklung ihrer Produktivkräfte hinter den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern zurückgeblieben ist. Dass sich nämlich eine Bürokratie im Sowjetstaat herausgebildet hat, ist aus Trotzkis Sicht dem niedrigen kulturellen Niveau der sowjetischen Arbeiter:innenklasse und Bauernschaft, sowie dem niedrigen technologischen Niveau anzulasten.

Die Schlussfolgerung, dass nur die Revolution in fortgeschritteneren Ländern die Sowjetunion dauerhaft retten könne, schließt hier unmittelbar an: Trotzkis Kampf gegen die Auffassung der Mehrheit der Bolschewiki an, dass es möglich sei, den Sozialismus zunächst nur in einem Land und auch in der Sowjetunion aufzubauen.

Zurecht wurde in der marxistisch-leninistischen Bewegung Jahre nach Trotzkis Tod der sowjetische Revisionismus in den 50er und 60er Jahren für die sogenannte Theorie der Produktivkräfte kritisiert, die den Weg zum Kommunismus einseitig zu einer Frage der Produktivkraftentwicklung erklärte. Sie ließ damit natürlich der neuen herrschenden Klasse und ihren politischen Vertreter:innen um Chruschtschow auf politischer Ebene freie Hand. Bei Trotzki finden wir gewissermaßen eine negative Theorie der Produktivkräfte. Er erklärt alle aus seiner Sicht in der Sowjetunion bestehenden Übel eben aus ihrer Unterentwicklung. Auch wenn Trotzki in seiner Arbeit „Verratene Revolution“ diverse Missstände und Fehlentwicklungen zurecht anprangert, wie zum Beispiel das allmähliche Absterben der Sowjetdemokratie oder enorme Einkommensunterschiede, sind seine Schlussfolgerungen, wie diesen Entwicklungen beizukommen wäre, für die kommunistische Bewegung unbrauchbar.

Denn auch ohne Weltrevolution hat die Sowjetunion den Zweifler:innen wie Trotzki zum Trotz die Riesenaufgabe bewältigt, ihre Produktivkräfte zu entwickeln und eine eigene Intelligenz, eigene Rote Spezialist:innen hervorzubringen. Nur: Dies hat das Problem der Bürokratisierung, der mangelnden politischen Aktivität der Massen und des dauerhaften Kampfes gegen die Muttermale der alten kapitalistischen Gesellschaft im gesellschaftlichen Bewusstsein nicht gelöst. Somit kann auch die Antwort auf dieses Problem nicht schlicht in einer möglichst schnell siegreichen Weltrevolution und dementsprechend entwickelteren Produktivkräften gesucht werden.

Im Ergebnis bleibt die Kritik vieler Trotzkist:innen an den Entwicklungen im Revisionismus recht halbherzig. Trotzki verurteilte zwar schon erste negative Erscheinungen der Bürokratisierung als Beweis seiner These, dass es in der Sowjetunion gar keinen Sozialismus geben könne. Seine Theorie der degenerierten Arbeiterstaaten wurde aber von seinen geistigen Erb:innen oftmals in überaus dogmatischer Weise angewandt. Für sie gibt es keine wesentlichen Veränderungen nach dem Ende der 20er Jahre mehr. Die revisionistischen Entstellungen der sozialistischen Länder, insbesondere nach Stalins Tod, sind für sie nur logische Fortführungen des „Stalinismus“. Paradoxerweise gerät ein Teil des Trotzkismus auf diesem Weg in eine seltsame Lage und sieht sich gezwungen, Länder wie das imperialistische China als „Arbeiterstaaten“ zu bezeichnen, die gegenüber den Machenschaften des westlichen Imperialismus zu verteidigen seien.

Gerade die zuletzt genannte Theorie von den degenerierten Arbeiterstaaten basiert auf einem starren Auseinanderreißen von Basis und Überbau. Während Trotzki die sowjetische Führung in den schwärzesten Farben malt und ganz offensichtlich für Verräter:innen an der Sache des Proletariats hält, klebt er an der Ansicht, dass die ökonomische Basis der sowjetischen Wirtschaft im Kern noch sozialistisch ist, da sie verstaatlicht sei. Und als einige Jahre nach Trotzkis Tod tatsächlich der sozialistische Staat mehr und mehr zu einem Staat einer neuen Ausbeuter:innenklasse wurde, führte dies im Lager der Trotzkist:innen zu keiner grundlegenden theoretischen Neubewertung mehr.

Dass diese gesellschaftliche Basis ihren Charakter ändern muss, wenn es der sozialistische Staat tut, kommt den meisten Trotzkist:innen nicht in den Sinn. Unter anderem hier zeigt sich eine erstaunliche Nähe zu den Standpunkten klassischer Verteidiger:innen der Existenz des Sozialismus in der Sowjetunion bis 1989, die ebenfalls darauf verweisen, dass die Produktionsmittel formell in Staatshand geblieben sind.

Die Staatsführung der Sowjetunion ging in den 1930er Jahren fälschlicherweise davon aus, dass alle sozialen Gegensätze und Klassenwidersprüche von nun an tendenziell evolutionär gelöst werden könnten und dem Sozialismus von innen keine Gefahr mehr drohe. Die Trotzkist:innen nehmen gewissermaßen die spiegelbildliche Position hierzu ein: Für sie kann es weder Sozialismus noch einen erfolgreichen Aufbau des Sozialismus geben, solange diese Gegensätze weiterbestehen. Daher die Notwendigkeit der mehr oder weniger gleichzeitigen Weltrevolution, die in der Vorstellung der Trotzkist:innen erlaubt, schnell zum notwendigen technologischen Niveau überzugehen.

Die Schlussfolgerung, dass der Klassenkampf im Sozialismus weitergeführt werden muss, da es sich eben um den mit kapitalistischen Muttermalen behafteten Anfang des Kommunismus handelt, nimmt in der trotzkistischen Theorie keine oder keine ausreichende Rolle ein.

Hingegen die Weltrevolution und somit eine schnellere Entwicklung der Produktivkräfte als „Lösung“ für das Problem der Bürokratisierung und letztlich der Entartung des sozialistischen Staatsapparats zu sehen, ist bis heute recht typisch für den Trotzkismus. So wie Trotzki selbst wünschen sich die Trotzkist:innen einen idealtypischen Sozialismus, der keine Kompromisse mit der harten Realität eingehen muss. Was dem nicht entspricht, wird auch nicht als sozialistisch eingestuft.60

Statt die bisherigen sozialistischen Erfahrungen auszuwerten und hieraus Schlussfolgerungen zu ziehen, wie negative Entwicklungen wie in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Aufbauversuchen verhindert werden könnten, jagen die Trotzkist:innen bis heute einer Utopie hinterher. Ob eine „feste Orientierung“ auf die Weltrevolution in absehbarer Zeit nach der proletarischen Machtergreifung zum Durchbruch führt, ist mit Blick auf die Geschichte fragwürdig. Vor allem aber spricht nichts dafür, dass die beispielsweise in der Sowjetunion aufgetretenen Phänomene nicht auftreten, wenn sich die Arbeiter:innen mehrerer führender imperialistischer Staaten gleichzeitig vom Kapitalismus befreien.

Üergangsforderungen

Im Laufe der 1930er-Jahre verschärfte sich wie oben dargestellt die Konfrontation zwischen Trotzki und seinen Anhänger:innen auf der einen Seite und den Bolschewiki und der Kommunistischen Internationalen auf der anderen Seite außerordentlich.

Trotzki war es zwar gelungen, sich in einer ganzen Reihe von Länder einen bestimmten Kreis von Anhänger:innen zu erhalten. Verglichen mit den Kommunistischen Parteien, die in vielen Ländern zu diesem Zeitpunkt hunderttausende Mitglieder zählten, war sein Einfluss aber eng begrenzt und die Trotzkist:innen befanden sich objektiv in einer einflusslosen und isolierten Situation.

Aus ihrer Überzeugung, dass die Bolschewistische Partei mitsamt des Sowjetstaats und mit der Komintern im Schlepptau degeneriert sei, folgte für Trotzki – analog zum Kampf der Bolschewiki für einen Bruch mit der 2. Internationale in den 1910er Jahren – die Notwendigkeit, eine neue Internationale zu gründen.

Im Jahr 1938 wurde die sogenannteVierte Internationale“, eine rein trotzkistische Internationale ins Leben gerufen. Ihr Gründungsdokument ist gewissermaßen das sogenannte „Übergangsprogramm“, das von Trotzki selbst verfasst wurde. Es stellt bis heute das wohl wichtigste und einflussreichste Dokument des Trotzkismus dar und beeinflusst die Politik aller trotzkistischen Organisationen sehr stark.

Auf der Erscheinungsebene in der politischen Arbeit in Deutschland lässt sich diese Tatsache anhand eines gewissen Fetischs feststellen, den einige trotzkistische Gruppen um das „Aufstellen der richtigen Losungen“ entwickelt haben. Nicht selten unterscheiden sich dabei die aufgestellten Forderungen höchstens unwesentlich von denen, die Trotzki selbst achtzig Jahre zuvor formuliert hat.

Es ist aufschlussreich, das Übergangsprogramm mit dem kurz zuvor beim VI. Weltkongress der Komintern beschlossenen Programm der Kommunistischen Internationale zu vergleichen. Beim Lesen des Übergangsprogramms wird nämlich deutlich, dass Trotzki es ganz bewusst in Abgrenzung zum zentralen Dokument der Komintern verfasst hat. Andersherum lesen sich einige Passagen des früher verfassten Kominternprogramms fast so, als wären sie vorweggenommene Kritiken an Trotzkis Übergangsprogramm. Einige Aspekte der besonderen trotzkistischen Strategie und Taktik werden daher auf diese Art sehr deutlich.

Wie sah Trotzki die Weltlage bei der Gründung der Vierten Internationale?

Das ganze Gerede, wonach die geschichtlichen Bedingungen noch nicht „reif“ genug seien für den Sozialismus, ist nur das Produkt der Unwissenheit oder eines bewußten Betrugs. Die objektiven Voraussetzungen der proletarischen Revolution sind nicht nur schon „reif“, sie haben sogar bereits begonnen zu verfaulen. Ohne sozialistische Revolution, und zwar in der nächsten geschichtlichen Periode, droht die ganze menschliche Kultur in einer Katastrophe unterzugehen. Alles hängt ab vom Proletariat, d. h. in erster Linie von seiner revolutionären Vorhut. Die historische Krise der Menschheit ist zurückzuführen auf die Krise der revolutionären Führung.“ 61 Trotzkis Schrift macht deutlich, dass er davon überzeugt war, der ganze Weltimperialismus befände sich in einer schwerwiegenden Krise und in den nächsten Jahren entscheide sich unmittelbar, ob die Menschheit in einer Katastrophe untergehe oder nicht. Im Gegensatz zum von ihm gescholtenen Programm der Dritten Internationale stellt das Übergangsprogramm daher diverse Übergangslosungen für alle kapitalistischen Länder auf, und begnügt sich mit einigen Anpassungen für faschistisch regierte Länder und Kolonien. Das Übergangsprogramm unterlässt es hingegen, die konkrete Situation in verschiedenen Ländern anhand ihrer Stellung im imperialistischen Weltsystem gründlich zu bewerten wie es das Komintern-Programm tut.

Was der Sinn dieser Übergangsforderungen ist, erklärt Trotzki selbst: „Man muß der Masse im Verlauf ihres täglichen Kampfes helfen, die Brücke zu finden zwischen ihren aktuellen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution. Diese Brücke muß in einem System von Übergangsforderungen bestehen, die ausgehen von den augenblicklichen Voraussetzungen und dem heutigen Bewußtsein breiter Schichten der Arbeiterklasse und unabänderlich zu ein und demselben Schluß führen: der Eroberung der Macht durch das Proletariat.“ 62

Übergangsforderungen sind dabei durchaus keine ureigene Erfindung von Trotzki. Die Bolschewiki gaben im unmittelbaren Vorfeld der Oktoberrevolution ebenfalls Übergangslosungen aus. Diese sollten den Massen nicht etwa den ganzen Marxismus vermittelten, sondern vielmehr lediglich bestimmte zentrale Ziele verkünden, die den direkten Interessen der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung entsprachen und sie auf die unmittelbare Eroberung der Macht vorbereiten sollten. Hierzu zählen zum Beispiel die Losungen „Alle Macht den Sowjets“ oder „Land, Brot, Frieden“. Die Losung „Land, Brot, Frieden“ hat an sich natürlich nichts Revolutionäres. Im Sommer 1917 hatten alle reformistischen politischen Kräfte aber vor den Massen deutlich gezeigt, dass sie nicht willens oder nicht in der Lage waren, diese Forderung zu verwirklichen. Die Revolution unter Führung der Bolschewiki wurde mehr und mehr zum einzigen realistischen Weg, die Losung „Land, Brot, Frieden“ zu verwirklichen. Dieser Zusammenhang machte sie im Sommer 1917 in Russland zu einer Übergangslosung.

Kritik am trotzkistischen Verständnis von Übergangslosungen

Das trotzkistische Übergangsprogramm stellt aber ganz andere Übergangslosungen auf und fasst sie in einem Programm zusammen, das internationale Gültigkeit beansprucht. So fordert Trotzki unter anderem die Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses der Kapitalist:innen, die Ausübung von „Arbeiterkontrolle“ und die Verstaatlichung zentraler Zweige der Industrie.

Dagegen müssen einige grundlegende Kritiken angeführt werden:

Erstens basiert das Übergangsprogramm implizit auf der Annahme, die Lage auf der ganzen Welt sei revolutionär, lediglich die aus Trotzkis Sicht „degenerierten Kommunistischen Parteien“ würden die Massen noch zurückziehen. Schon allein diese Grundvoraussetzung ist aber unvereinbar mit den grundlegenden Gesetzmäßigkeiten des Imperialismus. Dieser entwickelt sich, wie Lenin nachgewiesen hat, ungleichmäßig,63 und darauf aufbauend entwickelt sich auch der Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie in den verschiedenen Ländern mit unterschiedlicher Intensität.

Auch die Situation und Stabilität der bürgerlichen Regime (ob demokratische Republik oder Faschismus) ist somit zu jedem Zeitpunkt von starken Unterschieden gekennzeichnet. Dies ist auch der materielle Grund dafür, dass die linksradikale Hoffnung Trotzkis (und vieler anderer Revolutionär:innen) auf eine Vollendung der sozialistischen Weltrevolution innerhalb weniger Jahre sich nicht erfüllte.

Zweitens bleibt Trotzki in der Formulierung seiner Übergangsforderungen ganz bewusst nebulös in der Frage, ob diese Losungen jeweils erst nach der Errichtung der revolutionären Diktatur des Proletariats verwirklicht werden können oder nicht. An einigen Stellen wird sogar ganz deutlich gesagt, die Umsetzung dieser Forderungen müsse vor der Revolution beginnen: „Das sozialistische Programm der Enteignung – d.h. des politischen Sturzes der Bourgeoisie und der Beseitigung ihrer wirtschaftlichen Herrschaft – darf uns auf keinen Fall in der gegenwärtigen Übergangsperiode, wenn die Gelegenheit sich bietet, davon abhalten zu fordern, daß bestimmte Industriezweige, die für die nationale Existenz am wichtigsten sind, oder bestimmte Gruppen der Bourgeoisie, die am parasitärsten sind, enteignet werden.“ 64

Drittens muss angemerkt werden, dass viele von Trotzkis Übergangsforderungen nicht gar so revolutionär sind. So wurde eine seiner Forderungen, eine gleitende Skala der Löhne – also deren automatische Anpassung an die Inflation – in Italien und Frankreich nach 1945 jeweils für mehrere Jahre durchgesetzt. Auch das Betriebsrätegesetz in Deutschland zeigt, dass es für die Kapitalist:innen keinesfalls unvorstellbar ist, ein ständiges Gremium, das die Interessen der Arbeiter:innen vertreten soll, zu akzeptieren und dabei obendrein das „Geschäftsgeheimnis“ zumindest für diesen Kreis weitgehend aufzuheben.

Zumindest formell sind einige von Trotzki vorgeschlagenen Übergangsforderungen durchaus erfüllbar für die Bourgeoisie. Das macht sie nicht zu reaktionären Losungen und das heißt auch nicht, dass die Kapitalist:innen sie alle freiwillig und ohne vorherige Kämpfe erfüllen würden, aber sie erfüllen eben nicht zwingend die von Trotzki angedachte Funktion, dass „jede ernsthafte Forderung des Proletariats und sogar jede fortschrittliche Forderung des Kleinbürgertums unausweichlich über die Grenzen des kapitalistischen Eigentums und des bürgerlichen Staates hinausführt.65

Somit kann man also durchaus zum Schluss kommen, dass das Übergangsprogramm schon zu Trotzkis Zeiten von falschen Voraussetzungen ausging. Umso absurder wird aber die dogmatische Übernahme vieler dieser Übergangsforderungen und dieses Konzeptes durch die gesamte trotzkistische Bewegung in den mittlerweile gut 80 Jahren seit dem Tod ihres Vordenkers. In der Praxis vieler Trotzkist:innen heute haben die Übergangslosungen das offensive Eintreten für die sozialistische Revolution vollkommen verdrängt. Die vergebliche Hoffnung, dass die Arbeiter:innen endlich über die „Brücke“ marschieren, die das System von Übergangsforderungen zwischen ihrem Bewusstsein und der sozialistischen Revolution errichtet hat, ist zu einem Fetisch geworden.

Faktisch fallen die Trotzkist:-innen heute damit auf einen reformistischen Standpunkt zurück, in dem sie ganz in der Manier der unerfahrenen russischen Sozialdemokraten zu Beginn des letzten Jahrhunderts, den von Lenin heftig bekämpften Ökonomist:innen, hoffen, dass die Arbeiter:innen im Kampf um ihre unmittelbaren Interessen schon von alleine merken, dass ihnen der kapitalistische Staat und die Herrschaft der Kapitalist:innen dabei als Hindernisse im Wege stehen. Lenin hat diese „Idee“ schon in „Was Tun?“ überzeugend widerlegt:

Der ökonomische Kampf ‚stößt‘ die Arbeiter nur auf Fragen, die das Verhältnis der Regierung zur Arbeiterklasse betreffen, und wie sehr wir uns auch abmühen mögen mit der Aufgabe, ‚dem eigentlichen ökonomischen Kampf politischen Charakter zu verleihen‘, wir würden es nie zustande bringen, im Rahmen dieser Aufgabe das politische Bewußtsein der Arbeiter (bis zur Höhe des sozialdemokratischen politischen Bewußtseins) zu entwickeln, denn dieser Rahmen selbst ist zu eng.66

Einige Trotzkist:innen würden an dieser Stelle vielleicht erwidern, dass diese Entwicklung nicht Trotzki selbst anzulasten ist, sondern dem „trotzkistischen Zentrismus“, einem Etikett, mit dem sich die Trotzkist:innen mit Vorliebe gegenseitig belegen, wenn sie nicht einer Meinung sind. Aber von der Verantwortung, dass Trotzki der Bewegung, die bis heute stolz seinen Namen trägt, mit seiner letzten großen Schrift einen gewaltigen Stoß in Richtung Reformismus mitgegeben hat, darf man ihn nicht freisprechen. Denn die Kommunistische Internationale hatte in ihrem etwa zehn Jahre zuvor veröffentlichten Programm eine lange Passage zum taktischen Umgang mit verschiedenen Arten von Losungen in verschiedenen Situationen verfasst, von der sich Trotzki ja bewusst abgrenzen will:67

Wenn kein revolutionärer Aufschwung vorhanden ist, müssen die Kommunistischen Parteien, ausgehend von den Tagesnöten der Werktätigen, Teillosungen und Teilforderungen aufstellen und sie mit den Hauptzielen der Kommunistischen Internationale verknüpfen. Hierbei dürfen aber die Parteien nicht solche Übergangslosungen aufstellen, die das Vorhandensein einer revolutionären Situation zur Voraussetzung haben und in einer anderen Situation zur Losung des Verwachsens mit dem System kapitalistischer Organisationen werden (z.B. die Losung der Produktionskontrolle und ähnliche). Teilforderungen und Teillosungen sind die absolute Bedingung einer richtigen Taktik während eine Reihe von Übergangslosungen untrennbar an das Vorhandensein einer revolutionären Situation gebunden sind. Prinzipiell die Aufstellung von Teilforderungen und Übergangslosungen abzulehnen, ist jedoch ebenfalls mit den Grundsätzen des Kommunismus unvereinbar, da eine Taktik dieser Art die Partei praktisch zur Passivität verurteilt und von den Massen isoliert.“ 68

Der Unterschied zu Trotzkis Herangehensweise dürfte augenfällig sein. Das Problem an den trotzkistischen Übergangsforderungen ist also nicht, dass sie in nicht-revolutionären Situationen politisch zu weitgehende und nicht durchsetzbare Forderungen aufstellen würden. Das Problem ist vielmehr, dass sie diese Forderungen praktisch immer als Agitations- oder sogar Aktionslosungen aufstellen.69 Sie bleiben schwammig in der Frage, welche der Forderungen im Kapitalismus umsetzbar sind und welche Losungen erst im Sozialismus beziehungsweise im revolutionären Prozess sinnvoll zur Realität werden können.

Während die Trotzkist:innen somit faktisch auf kommunistische Agitation und Propaganda verzichten, erklären wir es zur Hauptaufgabe der Kommunist:innen, der Arbeiter:innenklasse bewusst zu machen, dass ihre grundsätzlichen Interessen (nämlich eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung) nur durch die Revolution und den Sozialismus verwirklicht werden können:

Die Revolution in Deutschland kennt daher kein Minimalprogramm. Ihr unmittelbares Ziel ist die Errichtung des Sozialismus. Die Kommunist:innen nehmen an den Tageskämpfen der Arbeiter:innenklasse teil und bemühen sich nach Kräften zu ihrem Erfolg beizutragen. Entscheidend ist jedoch, dass in diesen Kämpfen die politische Einheit der Arbeiter:innenklasse geschmiedet wird, die Arbeiter:innen von der Notwendigkeit der Revolution überzeugt werden und sie die für die erfolgreiche Revolution notwendigen Kampferfahrungen sammeln.“ 70

Vor diesem Hintergrund ist es auch grundsätzlich abzulehnen, wenn Trotzkist:innen und andere Kräfte, die von sich behaupten marxistisch zu sein, statt diese einfache Wahrheit offen auszusprechen und sich der schwierigen Aufgabe zu stellen, dieses Bewusstsein in die breitesten und am meisten niedergedrücktesten Teile der Massen zu tragen, sich mit einem „ausgefeilten“ System von Übergangsforderungen begnügen.

Etwas anderes ist es, wenn spontan entstehende antikapitalistische Stimmungen sich in der Arbeiter:innenklasse ausbreiten und Forderungen wie nach der Enteignung von Wohnungskonzernen eine gewisse Anhängerschaft finden. Das ist nämlich eine notwendige Erscheinung im Klassenkampf und nicht grundsätzlich negativ zu bewerten. Vielmehr ist es dann die Aufgabe der Kommunist:innen, die Halbheiten solcher Forderungen aufzuzeigen ebenso wie die Tatsache, dass sie in einer solchen Art und Weise, wie sie den Arbeiter:innen wirklich nützen, nur in einem anderen System möglich sind und der Weg zu diesem System über die Revolution und den Bürgerkrieg führt.

Ein aktuelles Beispiel für die Probleme bestimmter Übergangsforderungen in nicht-revolutionären Situation stellen die Diskussionen um das politische Nachspiel der Kampagne „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ aus Berlin dar. Mit dem Preisverfall der Immobilien- und Baugrundstückspreise und der damit einhergehenden ökonomischen Schieflage großer Immobilienkonzerne könnte die Umsetzung der Verstaatlichungsforderung unter diesen Umständen konkret den Effekt haben, dass Verluste kapitalistischer Unternehmen vergesellschaftet werden bzw. sie ihre Spekulationsgewinne trotz negativer Preisentwicklung am Markt realisieren können.

Entrismus

Die Entstehung des Entrismus

Noch stärker als das Übergangsprogramm prägt vermutlich der sogenannte Entrismus das in diesem Land vorherrschende Bild des Trotzkismus. Dieser Umstand wird unter anderem auch von trotzkistischen Autor:innen selbst bezeugt:

Die Politik des „Entrismus“ (von französisch „entrer“, hineingehen) hat nicht unbedingt zum guten Ruf des Trotzkismus beigetragen. Man assoziiert damit mehr oder weniger okkulte Praktiken, mit denen irgendwelche konspirativ organisierten Gruppen größere Organisationen „unterwandern“, von deren Prestige und materiellen Mitteln zehren und sie als Rekrutierungsfeld zur eigenen Stärkung nutzen. Die Mitglieder „entristisch“ operierender Organisationen geben ihre „eigentliche“ Identität als Trotzkisten oft nicht zu erkennen. Die Wirksamkeit ihrer Politik und die Glaubwürdigkeit ihrer Argumente wird dadurch eingeschränkt, dass um sie herum oft eine Atmosphäre von Misstrauen, Undurchsichtigkeit und Klatsch entsteht.“ 71

Im Unterschied zu Trotzkis Übergangsprogramm und der entsprechenden Herangehensweise, ist der Entrismus und seine Anwendung aber in der trotzkistischen Bewegung durchaus umstritten.

Der Entrismus entstand im Jahr 1934 in Frankreich, wo sich Trotzki zu diesem Zeitpunkt im Exil versteckt hielt. Er unterhielt Kontakte zu einigen französischen Intellektuellen, die dem Trotzkismus zugewandt waren. In der Arbeiter:innenklasse war der Trotzkismus aber zu diesem Zeitpunkt nicht von großer Bedeutung. Es ist die Zeit, in der eine antifaschistische Volksfrontregierung gebildet wurde. Die Massen der Arbeiter:innenklasse betrachteten die Sozialistische Partei (S.F.I.O.) und die Kommunistische Partei Frankreichs als ihre Parteien. In dieser Situation empfahl Trotzki den französischen Trotzkist:innen, der Sozialistischen Partei beizutreten und dort Anhänger:innen für den Trotzkismus zu werben. Es ist die Phase, in der Trotzki und seine Anhänger:innen zum Schluss kamen, dass eine Vierte Internationale gegründet werden müsse, doch die realen Möglichkeiten dazu fehlten ihnen. Trotzki spekulierte daher, ob eine Vierte Internationale aus den Reihen der Zweiten Internationale gespalten werden könne, oder ob ihm sowohl aus der Zweiten wie aus der Dritten Internationale Anhänger:innen zuströmen könnten.

Schlussendlich kam er aber zum Schluss, dass die Trotzkist:innen in Frankreich viel zu schwach und einflusslos sind, um einen eigenen Anziehungspunkt zu bilden:

Wer sagt: Zweite wie Dritte Internationale sind erledigt, die Zukunft gehört der Vierten Internationale, der spricht einen Gedanken aus, dessen Richtigkeit die heutige Lage in Frankreich erneut bestätigt. Aber dieser richtige Gedanke an sich sagt uns noch nicht, wie, unter welchen Umständen und in welcher Zeit die Vierte Internationale geschaffen werden wird. Sie kann – theoretisch ist das nicht ausgeschlossen – aus der Vereinigung der Zweiten und der Dritten entstehen, vermittels einer Umgruppierung der Elemente und der fortgesetzten Säuberung und Stählung der Reihen im Feuer des Kampfes. Sie kann entstehen durch die Radikalisierung des proletarischen Kerns der sozialistischen Partei und durch den Verfall der stalinistischen Organisation. Sie kann Zustandekommen im Verlauf des Kampfes gegen den Faschismus und des Sieges über ihn. Aber sie kann auch sehr viel später entstehen, in mehreren Jahren, aus den von Faschismus und Krieg aufgetürmten Trümmern und Ruinen. […]

Selbstverständlich, wäre in Frankreich eine starke Organisation der Bolschewiki-Leninisten72 vorhanden, so könnte und müsste sie in den heutigen Verhältnissen zur selbständigen Kristallisationsachse der proletarischen Vorhut werden. Doch die Liga vermochte zu so einer Organisation nicht zu werden. […] Aber kann damit gerechnet werden, dass die Liga als Organisation imstande sein werde, in der Zeitspanne, die ihr vor den Entscheidungskämpfen noch bleibt, in der Arbeiterbewegung eine einflussreiche, wenn nicht die leitende Stellung einzunehmen? Heute diese Frage bejahend beantworten hieße entweder in den Gedanken diese Auseinandersetzung um einige Jahre verschieben, was der ganzen Lage widerspricht, oder einfach auf Wunder hoffen. Klar wie der Tag ist, dass der Sieg des Faschismus heißt: Zusammenbruch sämtlicher Arbeiterorganisationen. Ein neues Geschichtskapitel würde beginnen, in dem die Ideen der Bolschewiki-Leninisten sich eine neue organisatorische Form zu suchen hätten. Die Aufgabe von heute muss konkret und in ihrem unlösbaren Zusammenhang mit dem Charakter der Periode, in der wir leben, formuliert werden: wie ist mit den größtmöglichen Chancen der Sieg des Faschismus zu verhindern bei den vorhandenen Gruppierungen des Proletariats und bei dem gegebenen Kräfteverhältnis zwischen diesen Gruppierungen? Im Besonderen: welchen Platz soll die Liga, die kleine Organisation, die auf eine selbstständige Rolle in dem sich anbahnenden Kampfe keinen Anspruch erheben kann, aber mit einer richtigen Doktrin und einer kostbaren politischen Erfahrung ausgerüstet ist, – welchen Platz soll sie einnehmen, um die Einheitsfront mit revolutionärem Inhalt zu befruchten? Diese Frage klar stellen heißt sie im Wesen schon beantworten. Die Liga muss unverzüglich ihren Platz innerhalb der Einheitsfront suchen, um aktiv an der revolutionären Umgruppierung und Zusammenfassung von deren Kräften mitzuwirken. Dahin kann sie bei den gegebenen Verhältnissen nicht anders kommen als durch den Eintritt, in die Sozialistische Partei.“ 73

Das lange Trotzki-Zitat drückt die Lage, in der Trotzki zu diesem Schluss kam, hinlänglich aus. Die Taktik des Entrismus war von Anfang an ein verzweifelter Versuch, möglichst schnell Einfluss in der Arbeiter:innenklasse zu gewinnen. Die Idee, in der Kommunistischen Partei Entrismus zu betreiben, verwarf Trotzki im Übrigen ausdrücklich mit Verweis darauf, dass der Zentrismus der Stalinisten“ ein „ungemein stabiles politisches System“74 darstelle.

Diese Entwicklung wurde weltweit in der trotzkistischen Bewegung diskutiert. Isaac Deutscher beschreibt diesen Prozess:

Das war der Entrismus, alle trotzkistischen Gruppen diskutierten in den Jahren 1934/35 darüber und letztlich riet Trotzki in fast allen Ländern zu einem ähnlichen Vorgehen, d.h. als eigene, abgegrenzte Gruppe den Sozialdemokratischen Parteien beizutreten. Implizit erkannte er auf diese Art an, dass sein bisheriger Entwurf für eine neue Internationale unrealistisch war. Der Entrismus war der verzweifelte Versuch, diese Idee zu retten.“ 75

Schon in seiner geschichtlichen Form brachte der Entrismus aber selten die eigentlich beabsichtigten Ergebnisse. In Frankreich – seinem Geburtsland – führte diese Politik gleich zu mehreren Spaltungen in den ohnehin kleinen trotzkistischen Kreisen. Eine Führungsfigur des frühen Trotzkismus weigerte sich, die Politik des Entrismus mitzutragen, eine weitere spaltete sich mitsamt ihrer Anhänger zwei Jahre später, als man beschlossen hatte, nun mit den neu gesammelten Anhänger:innen die S.F.I.O. wieder zu verlassen. Im Ergebnis gelang die Spaltung mit neu gewonnenen Kräften kaum, lediglich etwa 600 Personen verließen die S.F.I.O., um eine eigene trotzkistische Organisation in Frankreich zu bilden. In den USA gelang es den Trotzkist:innen mit diesem Vorgehen einen gewissen Einfluss in der sozialdemokratischen Jugend zu erlangen, deren Masseneinfluss aber bei weitem nicht mit dem der europäischen Sozialdemokratischen Parteien zu vergleichen war.

Entrismus heute

Aus dem verzweifelten Versuch des gefallenen Revolutionärs Trotzki, sich irgendwie wenigstens begrenzten politischen Einfluss zu sichern ist aber der Entrismus, wo er heute noch praktiziert wird, zu einem prägenden Element trotzkistischer Politik geworden.

In Deutschland ist das bedeutendste Betätigungsfeld des trotzkistischen Entrismus die Linkspartei sowie ihre Jugendorganisationen Linksjugend Solid und der SDS. Heute nicht mehr von größerer Bedeutung sind einige trotzkistischen Splittergruppen, die am Entrismus in der SPD festhalten.

Innerhalb der Linkspartei und ihrer Jugendstrukturen ist dabei das Verhältnis zwischen den Trotzkist:innen enorm angespannt. Das trifft nicht nur zu, weil sie trotz eines gemeinsamen Lehrmeisters politische Widersprüche und Streitigkeiten entwickelt haben, sondern auch weil sie objektiv um die gleiche, begrenzte Zielgruppe konkurrieren, nämlich die Teile der Linkspartei-Basis, die offen für das trotzkistische Gedankengebäude sind.

Das Vorgehen der Trotzkist-:innen ist dabei durchaus kein reiner Parasitismus. Wenn man in der Sphäre der Biologie bleiben will, wäre wohl die Bezeichnung Symbiose angebrachter. Während die seit Jahrzehnten von Krisen geschüttelten sozialdemokratischen Strukturen das wichtigste Rekrutierungsfeld für die Trotzkist:innen darstellen, beleben und verjüngen die Trotzkist:innen mit einem für ihre Verhältnisse beträchtlichen Personalaufwand diese Strukturen.

Während die Parteiführung in Siebenmeilenschritten nach rechts wandert und eine Sozialabbau-Regierungskoalition nach der anderen mitmacht, stellen sie durch ihre linke Rhetorik zudem ein linkes Feigenblatt des Reformismus dar. Es kommt heute durchaus vor, dass ganze Ortsgruppen der Linksjugend oder des SDS fest in den Händen dieser oder jenen trotzkistischen Organisation sind. Die beiden größten in Deutschland sind dabei SAV und Marx21. Mit Janine Wissler stellt Marx21 nun sogar eine der beiden Bundesvorsitzenden der Linkspartei.

Der Entrismus führt in der Praxis dazu, dass eine politische Strömung, die die Revolution und die Rätemacht (wenigstens manchmal) auf den Lippen führt, einen beachtlichen Teil ihrer Zeit dafür nutzt, als offen reformistische Organisation Politik zu machen. Mag sein, dass die Linkspartei ohnehin ein buntscheckiger Haufen ist, und man als Mitglied der Linksjugend mehr oder weniger erzählen kann, was man will. Aber alleine, indem sie die Fahnen, Symbole und Materialien dieser reformistischen Organisation auf die Straßen tragen, sind diese Trotzkist:innen mit aller Deutlichkeit auf die Seite des Reformismus übergegangen.

Trotzkistische Kritik am Entrismus

Wie oben erwähnt ist der Entrismus in der trotzkistischen Bewegung nicht unumstritten. Es gibt durchaus Kräfte, die mit der Auslegung von SAV und Marx21 nicht einverstanden sind. Beispielhaft sei hier die Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO) (besser bekannt durch ihre Zeitung „Klasse gegen Klasse“) im deutschsprachigen Raum angeführt. Auf ihrer Website findet sich ein Artikel mit dem Titel „Was ist Entrismus?“. Darin heißt es unter anderem:

Erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Führung der Vierten Internationale unter Michel Pablo, als Produkt ihrer zentristischen Degeneration, einen langfristigen „Entrismus sui generis“ (der besonderen Art) zu befürworten. Die TrotzkistInnen agierten als geheime Gruppe und verschmolzen mit den linken Flügeln der reformistischen Parteien, um längerfristig in diesen arbeiten zu dürfen. Diese Politik wurde von der gesamten Führung der Vierten Internationale getragen. Während die Strömung um Ernest Mandel sich ab 1968 von der Sozialdemokratie ablöste und sich stattdessen den StudentInnen- und Guerilla-Bewegungen anpasste, blieb etwa die Strömung um Ted Grant insgesamt 40 Jahre in den reformistischen Massenparteien, in der Hoffnung, diese irgendwann komplett übernehmen zu können. Zahlreiche andere Strömungen führten ebenfalls einen „tiefen“ Entrismus durch.

Deswegen steht die Entrismus-Politik von der SAV und von Marx21 in Gegensatz zum Entrismus, wie Trotzki ihn vorgeschlagen hat. Ihre Politik ist vielmehr ein Produkt des trotzkistischen Zentrismus nach dem Zweiten Weltkrieg.“ 76

Wie das Zitat zeigt, sind nicht alle Trotzkist:innen mit der extremen Anbiederung an die Sozialdemokratie einverstanden. Was das Zitat und der ganze Text, aus dem es entnommen ist, aber auch zeigt ist, dass ein klares Verständnis fehlt, was das Problem am Entrismus im oben genannten Sinne ist. Der Kern des Problems besteht in der Fixierung auf die sozialdemokratischen oder wahlweise andere Organisationen mit kommunistischem Anspruch als Quelle von neuen Kräften. Ist nicht vollkommen offensichtlich, dass SPD und die Linkspartei, selbst zusammengenommen, nur einen kleinen Teil der Arbeiter:innenklasse in ihren Reihen organisieren?

Trotzdem scheint es den Trotzkist:innen weiterhin wichtig zu sein, genau diese Segmente der Klasse anzusprechen, die ja entsprechend schon in größerem oder geringeren Maße in der sozialdemokratischen Ideologie erzogen wurden. Jüngstes Beispiel hierfür ist wohl die sogenannte „Revolutionäre Bruch“-Konferenz, die Anfang 2023 mit 150 Teilnehmer:innen in Berlin stattgefunden hat.77

Treibende Kraft dahinter waren offenbar die beiden trotzkistischen Organisationen Gruppe ArbeiterInnenmacht/Revolution und RIO/Klasse gegen Klasse. Auch wenn man sich nicht auf eine gemeinsame Abschlusserklärung einigen konnten, scheint der gemeinsame Gedanke der beteiligten Kräfte gewesen zu sein, man müsse aus der Krise der Linkspartei politisches Kapital schlagen und könne sie als Anlass nehmen, den Gründungsprozess einer neuen Partei einzuleiten. Offenbar als Versuch, die Taktik des historischen Entrismus anzuwenden, wurde dieser Schritt damit flankiert, dass eine Reihe von trotzkistischen Linkspartei- und Linksjugendmitgliedern sich solidarisch mit diesem Ziel erklärten und demonstrativ austraten.

Da von der Initiative seither wenig mehr zu hören war, kann wohl getrost in Frage gestellt werden, ob der „Bruch“ mit der Sozialdemokratie gelungen ist. Einen Bruch – oder gar einen revolutionären Bruch – mit dem Kernproblem des Entrismus stellt diese Kampagne aber sicherlich nicht dar. Ganz im Gegenteil, dieses Kernproblem wird auf anderem Niveau reproduziert: Spekulation auf schnelle organisatorische Erfolge bei „geschickter Ausnutzung“ der notwendigen krisenhaften Entwicklung der Sozialdemokratie. Trotzkis historische Orientierung auf die Basis der sozialdemokratischen Parteien in den 30er Jahren ist ein dogmatischer Ballast an den Beinen seiner heutigen Schüler:innen, in welcher Form er auch auftreten mag. Ob sie es sich bewusst machen oder nicht, die Trotzkist:innen scheinen noch immer zu hoffen, dass aus den vollkommen auf die Seite der Konterrevolution übergangenen politischen Kadavern und Zombies der II. Internationalen die Vierte (oder Fünfte) Internationale hervorgehen möge, genau wie es sich ihr Gründungsvater erträumt hatte.

Es ist wahr, dass es immer auch in der Sozialdemokratie Menschen geben wird, die ehrlich für eine Welt ohne Unterdrückung und Ausbeutung kämpfen wollen und über diesen Weg schließlich in das Lager der Revolution gelangen. Wahr ist aber auch, dass die Menschen, aus denen eine revolutionäre Arbeiter:innenbewegung und eine leninistische Kommunistische Partei entstehen muss, heute bedeutend breiter in der Gesellschaft verstreut sind als die Basis der zerfallenden Sozialdemokratie und ihrer Gewerkschaften.

Trotzkismus nach Trotzkis Tod

Die Entwicklung des Trotzkismus nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird durch vier hauptsächliche, miteinander in Verbindung stehende Merkmale gekennzeichnet.

Erstens ist hier die starke Neigung zur Rechtsentwicklung praktisch aller trotzkistischen Strömungen zu nennen. Besondere Höhepunkte stellen hierbei die geläufigen Auslegungen der „Taktik der Übergangsforderungen“ und des „Entrismus“ dar.

Zweitens eine ausgeprägte Tendenz zur Verknöcherung und zum dogmatischen Umgang mit Trotzkis theoretischem Erbe, die, was beim gescheiterten Revolutionär Trotzki „nur“ politisch falsch war, in eine politische Tragikkomödie verwandeln.

Drittens die von vielen Trotzkist:innen selbstironisch kommentierte Vorliebe für Spaltungen unter den Trotzkist:innen.

Viertens das Schielen auf quantitativ und qualitativ weiter entwickelte politische Kräfte, denen man immer wieder das Potenzial zuschreibt, den Zielen des Trotzkismus doch noch zur Verwirklichung zu verhelfen. Eine logische Ergänzung dazu ist oftmals das Aufgeben ernsthafter Versuche, eine eigene Organisation mit Masseneinfluss zu werden.

Nach Trotzkis Tod: Die IV. Internationale ist orientierungslos

Nachdem Trotzki von einem NKWD-Agenten getötet wurde und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs standen die Überreste der IV. Internationale vor einer unangenehmen Situation. Politisch waren sie vermutlich noch einflussloser als zuvor, insbesondere im Verhältnis zur KPdSU, zur KPCh und den führenden kommunistischen Parteien der Volksdemokratien.

Zugleich hatte ihnen ihr Vordenker Trotzki gerade in den letzten Jahren seines Lebens ein gewaltiges Heilsversprechen hinterlassen. Der trotzkistische Theoretiker Tony Cliff stellt rückblickend vier zentrale Entwicklungen dar, auf deren Eintreten die Trotzkist:innen entsprechend der Prognosen im Übergangsprogramm und anderen Texten aus dieser Zeit warteten:78

  • Das „stalinistische Regime“ könne den 2. Weltkrieg nicht überleben.
  • Die wirtschaftlichen Verwerfungen seien das Todesröcheln des Kapitalismus. Es gäbe daher keine Möglichkeit mehr von sozialstaatlichen Reformen und Zugeständnissen an die Arbeiter:innenklasse.
  • Nur noch „proletarische Revolutionen“ (geführt von trotzkistischen Parteien) könnten die Aufgaben der demokratischen Revolution in abhängigen Ländern erfüllen.
  • Aufgrund des Scheiterns von „Stalinismus“ und klassischem Reformismus öffne sich ein großer Platz in der politischen Arena für den Trotzkismus.

Keine dieser Prognosen trat ein. Die KPdSU war mit einem enormen Prestigegewinn aus dem Krieg hervorgegangen. Auf den Krieg folgte in vielen imperialistischen Ländern ein relativ lang anhaltender wirtschaftlicher Aufschwung und es kamen in einigen Ländern sozialdemokratische Regierungen an die Macht. Das sozialistische Lager war nach dem 2. Weltkrieg enorm angewachsen und in einer Vielzahl von Ländern waren Aufgaben der demokratischen Revolution gelöst worden, vor allem verkündeten viele dieser Länder, sich an den Aufbau des Sozialismus wagen zu wollen. Am deutlichsten aber scheiterte die vierte Prognose, der Trotzkismus müsse an Einfluss gewinnen. In einem Text hatte Trotzki sogar vorhergesagt, dass zum hundertsten Jahrestag des Kommunistischen Manifests – also 1948 – die IV. Internationale zur „entscheidenden revolutionären Kraft auf der Welt“ geworden sein werde.

Der deutsche Trotzkist Manuel Kellner, der 2004 in der Reihe theorie.org die Möglichkeit bekam, seine eigene Denkschule vorzustellen, fasst die damalige Stimmung wohl sehr treffend zusammen: „Die Endzeitstimmung, die in den ersten Zeilen des Übergangsprogramms zum Ausdruck kommt, passt gut zum kommenden Zweiten Weltkrieg, in dem die genannten Krisenmomente explodieren. Was aber, wenn dieses „verfaulende“ kapitalistische System mehr oder weniger heil aus diesem Weltkrieg heraus und gar zu einer lang andauernden expansiven Periode kommt? Das überstieg den Horizont der Gründer der IV. Internationale.“ 79

Auch der organisatorische Zustand von Trotzkis „Weltpartei“ war ernüchternd. Im Frühjahr 1946 fand eine erste internationale Konferenz mit Vertreter:innen aus zwölf Ländern statt, die feststellte, dass die IV. Internationale aus einigen Propandazirkeln bestand, die zu „Massenparteien“ ausgebaut werden müssten.80

Hierbei muss betont werden, dass die IV. Internationale in der damaligen Form zwar sicherlich der bedeutendste internationale Zusammenschluss der Trotzkist:innen war, aber schon zu diesem Zeitpunkt bei weitem nicht mehr den Trotzkismus als Ganzes repräsentierte. Die zahllosen Spaltungen des Trotzkismus hatten schließlich schon zu Trotzkis Lebzeiten eingesetzt, unter anderem im Hinblick auf die Auslegung der Taktik des Entrismus (beispielsweise in Frankreich, siehe oben).

Auch die POUM in Spanien ging aus dieser Auseinandersetzung hervor. Weil sie den Entrismus in der sozialdemokratischen PSOE ablehnten, gründete ein Teil der spanischen Trotzkist:innen diese neue Partei als Sammlungsversuch marxistischer Intellektueller gemeinsam mit Anhänger:innen der rechten Opposition in der Sowjetunion um Bucharin.

Auch in den USA kam es bereits 1940 zu einer größeren Spaltung, als etwa 40 Prozent der dortigen Mitglieder der IV. Internationale ihre Sektion verließen, weil sie die Analyse der Sowjetunion als degenerierten Arbeiterstaat ablehnten.

Wesentliche Auseinandersetzungspunkte im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg waren der Entrismus, die Frage, ob die kapitalistische Wirtschaft sich erholen könne sowie die Frage der Einschätzung der Sowjetunion und anderer Länder mit kommunistischen Parteien an der Macht.

Die Mehrheit der Trotzkist:innen übertrug dabei schließlich die Theorie der „bürokratisch degenerierten Arbeiterstaaten“ auf den Rest des sozialistischen Lagers. Eine Minderheit um Tony Cliff81 erklärte all diese Staaten hingegen relativ früh für „staatskapitalistisch“ und widersprach dabei auch ausdrücklich den Ausführungen Trotzkis.

Zwischen 1953 und 1963 schloss sich eine Phase an, in der die IV. Internationale gespalten war und sich zwei internationale Führungsgremien bildeten. Zentral in dieser Auseinandersetzung war die Anwendung der Taktik des Entrismus. Michel Pablo82 (1911 – 1996) kam 1951 zu dem Schluss, dass die kommunistischen und sozialdemokratischen Parteien die einzige Chance darstellen würden, die Arbeiter:innenklasse vor den Angriffen des Imperialismus zu verteidigen. Sein Schluss hieraus wurde als Entrismus sui generis (etwa: Entrismus der besonderen Art) bekannt. Er schlug ein dauerhaftes Eintreten der trotzkistischen Sektionen in die bestehenden Parteien vor, auch wenn dies bedeuten würde, das Ziel einer eigenen trotzkistischen Organisation aufzugeben. Um diese Politik durchzusetzen wurden auch einzelne Sektionen der IV. Internationale wie zum Beispiel in Frankreich mehrheitlich ausgeschlossen und eine Minderheit eingesetzt, die der Politik Pablos zu folgen gewillt war.

Anbiederung an den Titoismus und den Guevarismus

Ebenfalls in diesen Zeitraum fällt eine bemerkenswerte Entwicklung im Anschluss an den Bruch zwischen den Titoist:innen und der kommunistischen Weltbewegung. Die Kommunistische Partei Jugoslawiens wurde damals für chauvinistische Haltungen gegenüber Albanien, das es in das jugoslawische Staatsgebiet integrieren wollte, eine Offenheit für Kapitalinvestitionen aus dem imperialistischen Westen und nicht zuletzt für das revisionistische Konzept der Arbeiterselbstverwaltung kritisiert, das eine Art frühe Vorform der Wiederherstellung neuer Ausbeutungsverhältnisse darstellte, wie es sich später auch in der Sowjetunion vollziehen sollte.

Hier eine Schilderung aus trotzkistischer Sicht, wie die Trotzkist:innen hierauf reagierten: „Die ,Titoisten‘ wurden aus der offiziellen kommunistischen Weltbewegung nach ganz ähnlichem Muster ausgegrenzt wie zuvor die Trotzkisten. Die Trotzkisten selbst reagierten darauf mit einer Kampagne zur Verteidigung der Titoisten gegen diese Angriffe und zur Verteidigung der jugoslawischen Revolution. In einer Reihe von Ländern, in denen sie mehr oder weniger handlungsfähige Gruppen hatten, organisierten die Trotzkisten entsprechende Aufklärungs- und Solidarisierungskampagnen. Sie bemühten sich auch um praktische Solidarität als Antwort darauf, dass Jugoslawien nicht mehr auf die materielle Unterstützung der Sowjetunion rechnen konnte. Sie ergriffen die Initiative zur Schaffung von Jugendbrigaden, die nach Jugoslawien gingen, um sich vor Ort über die Lage zu unterrichten, Unterstützungsarbeit zu leisten und Straßen zu bauen.“ 83

Unter anderem die deutsche Abteilung der IV. Internationale nahm die damalige Situation zum Anlass, um sich das Ziel einer Sammlungsorganisation verschiedener „Linker“ außerhalb der KPD und der SPD zu setzen. Dies geschah im Bewusstsein, dass eine solche Organisation von Anfang an keine klare Orientierung auf den Sozialismus und schon gar nicht auf den „Sozialismus trotzkistischer Lesart“ haben würde. Die Organisation galt den Internationalistischen Kommunisten Deutschlands (IKD) aber als Vorstufe zu einer echten trotzkistischen Massenorganisation. Wir sehen hier ein Politikmuster, das sich noch vielfach in den kommenden Jahrzehnten und bis heute wiederholen wird, aber doch fruchtlos geblieben ist.

Diese Orientierung wurde wohlgemerkt von der Internationalen Führung der IV. Internationale vorgegeben: „Die Situation in der Westlichen Besatzungszone erlaubt lediglich bestimmte Formen halblegaler Aktivitäten, wie die Fraktionsarbeit in Arbeiterparteien und -jugendorganisationen, den Aufbau organisierter linker Flügel in den Gewerkschaften, die Organisation von Diskussionsgruppen auf relativ breiter politischer Basis und das Eindringen in die zentristischen Organisationen. All diese Möglichkeiten müssen gründlich untersucht und vielfältig angewendet werden.“ 84

Wirklichkeit wurden diese Pläne mit der Gründung der Unabhängigen Arbeiterpartei Deutschlands (UAPD) im Juli 1950, die schnell auch finanziell aus dem titoistischen Belgrad unterstützt wurde. Doch die finanzielle Unterstützung aus Jugoslawien versiegte bald. Es gelang von Anfang an nicht, einen nennenswerten Teil der SPD- und KPD-Basis abzuspalten. Die Trotzkist:innen in der UAPD wurden zusätzlich noch vor dem offiziellen Ende der Organisation 1951 ausgeschlossen.85

Die Hoffnung der Trotzkist:-innen, im Windschatten einer „echten Revolution“ wieder zu Einflussmöglichkeiten und Bedeutung zu gelangen, wiederholten sich gute zehn Jahre später erneut im Angesicht der kubanischen Revolution: „Der VII. Weltkongress von 1963 sprach insbesondere die Hoffnung aus, mit der neuen guevaristisch-castristischen Führung könnten sich neue Möglichkeiten des Aufbaus einer breiten revolutionären Strömung ergeben, die auch ein Abgleiten nach „rechts“ wie im Falle des Titoismus unwahrscheinlicher machen würde.“ 86

1963 gelang es auf einem gemeinsamen Kongress, einen gewissen Teil der vorher gespaltenen IV. Internationale wieder zu vereinigen. Es waren aber vergleichsweise große trotzkistische Organisationen und Strömungen, die diese Wiedervereinigung nicht mitvollzogen. So verließ der Vorsitzende des Lateinamerika-Büros, der Argentinier Juan Posadas (1912 – 1981) im Jahr 1962 die IV. Internationale, um sich in seinen späteren Lebensjahren der UFO-Forschung zuzuwenden.

Ähnlich verhielten sich Pierre Lambert (1920 – 2008) (Frankreich) und Gerry Healy (1913 – 1989) (Großbritannien), auch wenn diese wenigstens als Urväter für trotzkistische Splittergruppen gelten können, die bis heute bestehen.

Die 68er als Hoffnungsschimmer des Trotzkismus

Auch der Trotzkismus blieb vom durch das Jahr 1968 eingeläuteten zwischenzeitlichen Aufschwung fortschrittlicher bis revolutionärer Organisationen und politischer Strömungen nicht unberührt. Gerade in den Zentren des europäischen Imperialismus nahmen nun die Studierendenbewegung und ihre Ausläufer für die Trotzkist:innen die Rolle einer neuen politischen Kraft ein, auf die sie ihre Hoffnungen projizieren konnten.

Erneut setzte sich in der IV. Internationale die Orientierung darauf durch, sich mit den „neuen Avantgarden“ der Arbeiter:innenklasse zu verschmelzen. In Kellners Worten: „Die Mehrheit, weniger ,orthodox‘ und lehrbuchtreu als die Minderheit, dämpfte ihre selbstkritische Bilanz des bewaffneten Kampfs in Lateinamerika und vertrat insbesondere für Europa die Perspektive eines Durchbruchs: Aufsteigende Klassenkämpfe, bis sich in wenigen Jahren die Machtfrage stellt, Aufbau schlagkräftiger revolutionärer Vorhutparteien durch Verschmelzung mit den neuen Avantgarden in entsprechend kurzer Frist.“ 87

In dieser Phase entstand folgerichtig ein größeres Selbstvertrauen der Trotzkist:innen und viele Organisationen wagten sich aus dem Schatten des Entrismus sui generis und setzen die Arbeit als eigenständige Organisation auf die Tagesordnung. Kellner gibt an, dass sich infolgedessen innerhalb weniger Jahre die Mitgliederzahl der IV. Internationalen verzehnfacht hätten. Er schätzt allerdings auch ein, dass ein wesentlicher Faktor dabei die Anziehungskraft einer in Aussicht gestellten baldigen Weltrevolution für die radikalisierten Studierenden gewesen sein dürfte.88

Nach dem Höhepunkt der 68er-Bewegung trat auch im Trotzkismus die Frage auf, wie man sich neu orientieren könne. Zwar hatte diese Phase zu einem quantitativen Wachstum vieler trotzkistischer Organisationen geführt, aber sie hatte auch zusätzliche Spaltungen mit sich gebracht und die Zahl politischer Organisationen verschiedenster Strömungen insgesamt erhöht. Längst war die sogenannte „IV. Internationale“ nicht mehr die bedeutendste Kraft des Trotzkismus.

Als Nachtrag zu den enttäuschten Hoffnungen in die von der Kulturrevolution und dem Vietnamkrieg befeuerten Studierendenrevolten beschloss die IV. Internationale – Vereinigtes Sekretariat89 bei ihrem XII. Weltkongress im Januar 1985 die Vereinigung mit anderen „revolutionär-sozialistisch orientierten Kräften“.90

Dieses Ziel wurde wenig später unter anderem in Deutschland in die Tat umgesetzt. Die Gruppe Internationaler Marxisten (GIM, Teil der IV. Internationale) betrieb hier die Vereinigung mit der KPD (ehemals KPD/ML). Betrachtet man heute die Dokumente dieses Vereinigungsprozesses zur Vereinigten Sozialistischen Partei (VSP) erscheint es überaus offensichtlich, dass diese Vereinigung zum Scheitern verurteilt war, beziehungsweise faktisch von Anfang an den Charakter trug, dass die KPD von ihrer damaligen Führung91 mit Vollgas in den Trotzkismus geführt wurde.

So legten die Gründungsdokumente der vereinigten Partei unter anderem fest, dass offene Fragen wie zum Charakter der Sowjetunion und anderer nominell sozialistischer Staaten noch geklärt werden müssten. Dem zuvor von der GIM festgelegten Wunsch, dass Fraktionen explizit gestattet werden müssten, wurde insofern entsprochen, dass hierzu im neuen Statut einfach gar nichts festgelegt wurde und zu guter Letzt wurde für die Trotzkist:innen der GIM das Recht festgehalten, weiterhin „individuell“ Teil der IV. Internationalen zu bleiben, aber sich auch als Mitglieder der IV. Internationalen regelmäßig zu treffen.92

Diese Episode zeigt einerseits eindrücklich, wozu die für trotzkistische Politik scheinbar charakteristische Neigung, immer wieder neue Sammelbewegungen oder Einheitsinitiativen vom Zaun zu brechen, führt. Nicht nur erfüllen sich die Hoffnungen der Trotzkist:innen, es so endlich zu etwas mehr „Masseneinfluss“ zu bringen nicht, sondern die in derartige Projekte investierten Kräfte werden ebenfalls verschwendet und verwüstet. Das gilt aber nicht nur für die trotzkistischen Organisationen und Kräfte, sondern auch für ihre ausgewählten „Projekte“. Diese Zersetzung anderer politischen Parteien und Organisationen durch den trotzkistischen Entrismus ist die materielle Ursache für die Einschätzung des Trotzkismus als zersetzende Kraft, die nicht nur von uns Marxisten-Leninist:innen, sondern auch in anderen politischen Strömungen geteilt wird.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die jüngere Vergangenheit

Kellner schildert zwar in seinem Buch über den Trotzkismus, dass die von Gorbatschow in der Sowjetunion eingeleiteten Reformen und die Solidarnosc-Bewegung in Polen als ihr Vorbote erneut eine gewisse hoffnungsvolle Stimmung unter einem Teil der Trotzkist:innen auslösten. Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das „offizielle Ende“ des Sozialismus in Osteuropa ein Problem für die Trotzkist:innen darstellte, immerhin war dies auch für sie ein zentraler, wenn auch negativer Bezugspunkt.93

Mit der Vollendung der kapitalistischen Restauration war überdies eine zentrale theoretische Annahme Trotzkis durch die Praxis widerlegt worden, nämlich, dass die „Bürokratie“ in diesen Ländern nur entweder durch die Arbeiter:innenklasse oder durch die alte Kapitalist:innenklasse gestürzt werden könne. Andererseits hatte die trotzkistische Bewegung selbst für ihre eigenen bescheidenen Verhältnisse nie eine bedeutende Verankerung in den revisionistischen Staaten gehabt. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass es den Kernen verbliebener trotzkistischer Organisationen recht schnell gelang, sich der neuen Lage „anzupassen“.

Das Aufkommen der Antiglobalisierungsbewegung mit der Gründung von Organisationen wie Attac stellte auch in Deutschland eine Gelegenheit für eine Reihe von Trotzkist:innen dar, wieder eine politische Heimat zu finden. Aus jüngerer Vergangenheit lässt sich bemerken, dass die grundsätzlichen Probleme des Trotzkismus sowohl in Deutschland als auch international anhalten. Für eine gewisse Aufbruchstimmung hatte die offiziell 2009 in Frankreich gegründete Nouveau Parti anticapitaliste (NPA) gesorgt. Führend in dieser Sammelbewegung war die für trotzkistische Verhältnisse recht große Ligue communiste révolutionnaire (LCR), eine der beiden größten französischen trotzkistischen Organisationen. Der weitere Gang der Entwicklung war dann allerdings erneut ein gutes Beispiel für die Unfähigkeit der Trotzkist:innen, die zwischen ihnen bestehenden Unterschiede auch nur so gut zuzukleistern, dass sie es in einer Organisation aushalten. Das Projekt begann nach eigenen Angaben mit über 9.000 Mitgliedern und hatte sich 2015 auf gut 2.000 Mitglieder „heruntergespalten“. Dabei trat fast jedes Jahr eine größere Fraktion oder Gruppierung aus dem Sammlungsprojekt aus.

Die Neue antikapitalistische Organisation (NaO-Prozess) in Deutschland und insbesondere in Berlin orientierte sich ganz offensichtlich an diesem Vorbild. Sie gelangte aber gar nicht erst bis zur Gründung einer gemeinsamen Organisation, bevor das Projekt 2016 für beendet erklärt wurde. Stärker noch als beim französischen Vorbild scheint es sich stark um eine Verzweiflungstat von Kleinstorganisationen und Einzelpersonen gehandelt zu haben, um irgendwie eine überlebensfähige Organisation hinzukriegen.

Jedenfalls ist der offiziell strömungsunabhängige Einigungsprozess schnell zu einer Diskussion zwischen der Gruppe ArbeiterInnenmacht, der isl, dem RSB und einigen noch kleineren trotzkistischen Zirkeln geworden. Er scheiterte nach den im Kern übereinstimmenden Auswertungen verschiedener Teilnehmer:innen letztlich daran, dass die Gruppe ArbeiterInnenmacht samt ihrer Jugendorganisation mit mehr Ernsthaftigkeit und Disziplin an diesem Prozess teilnahm als die anderen, im Zweifelsfall aber auch nicht davor zurückschreckte, mit knappen Mehrheiten ihre Positionen durchzudrücken.94 Bemerkenswert ist, wie nüchtern das Scheitern hier von Seiten der Gruppe ArbeiterInnenmacht ausgewertet wird: „Dass die NaO wieder zerfallen ist, auch wenn wir, was für eine kleine kämpfende Propagandagruppe nicht unwichtig ist, einige Kader näher an uns ziehen konnten, spricht nicht gegen diese Taktik. Erstens ist die Gewinnung oder das Heranziehen von Kadern für eine kleine Gruppierung durchaus ein wichtiger Schritt vorwärts. Zweitens ist die Chance des Scheiterns bei jedem Umgruppierungsprozess größer als die seines Gelingens, wie auch die Erfahrung der trotzkistischen Bewegung in den 30er Jahren zeigt.“ 95

Offenbar ist man zufrieden damit, einige Einzelpersonen für die eigene Organisation zu gewinnen, mit einem Erfolg hatte man sowieso nicht unbedingt gerechnet. Dies unterstreicht unfreiwillig, aber eindrücklich, wie gewöhnt die Trotzkist:innen an erfolglose Einheitsversuche und Spaltungen sind. Das Gespenst einer neuen „antikapitalistischen Partei“ (unter trotzkistischer Vorherrschaft versteht sich) wird aber vermutlich auch in Deutschland präsent bleiben. Zumindest erscheinen in den letzten Jahren wieder vermehrt Aufrufe in der trotzkistischen Szene, die genau das zum Ziel ausgeben. Aber bisher wirken Initiativen wie die „Revolutionärer Bruch“-Konferenz noch viel weiter von diesem Ziel entfernt als seinerzeit der NaO-Prozess.

Eine andere aktuelle Begebenheit mit gewisser Bedeutung ist die Spaltung der SAV im Jahr 2019, bei der die in Deutschland neue trotzkistische „Sozialistische Organisation Solidarität“ (Sol) entstand. Der Ausgangspunkt dieser Spaltung lag in einem Konflikt der leitenden Gremien des ehemaligen internationalen Zusammenschlusses, zu dem die SAV gehörte. Die Diskussion entzündete sich dabei an der Praxis der irischen Sektion und drehte sich um die Frage, wie stark die Verbindung zu feministischen und anderen sozialen Bewegungen gesucht werden oder ob eine Orientierung auf Betriebs- und Gewerkschaftarbeit im Fokus stehen solle.

Wir hatten für diesen Artikel nicht das Ziel, unzählige Seiten Spaltungsdokumentation durchzuarbeiten und wollen gar keine inhaltliche Position zu dieser Spaltung beziehen. Von außen ist es schwierig zu beurteilen, ob es derartige Widersprüche schon vor der internationalen Diskussion in der SAV gab und wie tief sie waren. Aufgrund des Ablaufs liegt es aber nahe zu unterstellen, dass es ohne trotzkistische Fraktionen und ohne den traditionellen Anspruch trotzkistischer „Internationalen“, Widersprüche auch international auszutragen, nicht zu dieser Spaltung der SAV gekommen wäre.

Der Trotzkismus heute

Wie durch den kurzen geschichtlichen Abriss unterstrichen wurde, zeichnet sich der moderne Trotzkismus durch folgende vier miteinander zusammenhängenden Merkmale aus: Spaltertum, Dogmatismus, Reformismus und politischen Parasitismus.

Merkmale des Trotzkismus

Spaltertum

Für die besonders ausgeprägte Tendenz zu Spaltungen unter Trotzkist:innen gibt es zwei wesentliche Gründe. Erstens ist hier die Vorliebe für, ja die Verherrlichung des Fraktionismus durch die Trotzkist:innen zu nennen. In dieser Herangehensweise ist die Tendenz zur Spaltung bereits angelegt, wie oben beschrieben wurde. Dies fällt aber zusammen mit der Fetischisierung einer internationalen Organisation, auch wenn dies ganz und gar nicht dem Entwicklungsstand und den Möglichkeiten der einzelnen Mitgliedsorganisationen entspricht. Im Ergebnis kommt es immer wieder zu Spaltungen ganzer internationaler trotzkistischer Zusammenschlüsse an mehr oder weniger taktischen Fragen, die zunächst nur in einem einzelnen Land diskutiert worden waren.

Dogmatische Verknöcherung

Der Trotzkismus als politische Strömung ist seit seiner Entstehung in einer Dauerkrise gefangen. Seine ganze Geschichte ist vom Kampf gegen das vollkommene Verschwinden in der politischen Bedeutungslosigkeit geprägt. Eine richtige Lösung hierfür konnte nicht entwickelt werden. Aber die trotzkistischen Theoretiker:innen erwiesen sich als verhältnismäßig fleißige Schreiberlinge, die viele Seiten Papier und somit auch viele „gute Gründe“, sich zu zerstreiten, geschaffen haben. Ganz abgesehen davon, dass diese trotzkistischen Überlieferungen direkt in den Reformismus geführt haben, muss man die Frage stellen, ob sich dieses „Erbe“ wirklich positiv auf die Handlungsfähigkeit der Trotzkist:innen auswirkt oder es eher eine Art theoretischen Ballast darstellt.96

Reformismus

Seit einigen schnell gescheiterten Versuchen in den 70er-Jahren gibt es unseres Wissens nach keine ernsthaften Versuche trotzkistischer Organisationen mehr, die Frage des bewaffneten Kampfes anzugehen. Dies allein mag man den wenig entwickelten Klassenkämpfen in vielen Ländern der Welt zuordnen. Aber ihrer ganzen Organisationsstruktur nach sind alle uns bekannten trotzkistischen Organisationen in Europa nicht darauf ausgelegt, ernsthafte Repressionschläge zu überstehen. Die Taktiken des Entrismus und des Übergangsprogramms haben die Trotzkist:innen schnurrstracks in den Reformismus geführt. Sicherlich könnte man entgegnen, dass das „Überwintern“ so mancher Trotzkist:in vermutlich nur auf den relativ bequemen Posten von sozialdemokratischen Parteien oder Gewerkschaften möglich war. Unterm Strich sind diese Menschen aber eben selbst zu Sozialdemokrat:innen beziehungsweise Funktionär:innen der Gewerkschaft geworden. Das ursprüngliche Ziel dieser trotzkistischen Taktiken, einen schnellen Einflusszuwachs bis hin zur Gründung von trotzkistischen Massenparteien zu erreichen, konnte jedenfalls nirgendwo erfüllt werden.

Politischer Parasitismus

Auch wenn wir weiter oben eingeschränkt hatten, dass die Beziehung von Trotzkist:innen zu sozialdemokratischen Organisationen, in denen sie „Entrismus“ praktizieren, nicht als rein parasitär gekennzeichnet werden kann, bleibt auffällig, dass die trotzkistische Weltbewegung sich eigentlich nie – selbst zu Trotzkis Lebzeiten nicht – als eigenständig handlungsfähige politische Kraft betrachtet hat.

Wie wir dargestellt haben, ist die Geschichte des Trotzkismus in den letzten gut 80 Jahren davon geprägt, dass immer wieder neue, bestehende oder entstehende politische Subjekte als Leinwand für trotzkistische Wunschträume herhalten mussten. Im Ergebnis tendieren die Trotzkist:innen dazu, mit scheinbar erheblicher taktischer Flexibilität Einheitsinitiativen, dauerhafte Bündnisse oder „soziale Bewegungen“ loszutreten, um dann in diesen ihre politischen Positionen durchzusetzen und zu resignieren, wenn das nicht gelingt. In der Tradition ihres Vordenkers versuchen sie stets, aber bislang auch stets erfolglos, im Windschatten einer größeren und stärkeren politischen Kraft aus ihrer Krise herauszukommen.

In Deutschland schlägt sich diese Politik heute in der Regel in einer starken Fixierung auf die Linkspartei nieder; entweder in der Form des direkten Entrismus oder im Versuch, mit verschiedenen taktischen Manövern die „Basis“ gegen die Führung dieser Organisation aufzubringen. Gerade der Entrismus, mit dem ja auch Funktionärsfunktionen in Gewerkschaft und Sozialdemokratie einhergehen, dürfte zur relativen organisatorischen Stabilität des Trotzkismus beigetragen haben.

Die Faszination des Trotzkismus

Zwar gelingen dieser Strömung in Europa und insbesondere in Deutschland aus den gerade angeführten Gründen keine „großen Sprünge“, ganz von der Bildfläche verschwunden ist der Trotzkismus deshalb aber nicht. Er konnte immer wieder neue Generationen junger Aktivist:innen gewinnen und sich so trotz zahlloser Spaltungen organisatorisch reproduzieren. Woraus erklärt sich vor dem im vorherigen Abschnitt dargelegten Hintergrund das Überleben des Trotzkismus?

Der Trotzkismus erlaubt es, sich als Sozialist:in zu verstehen und sich zugleich von Stalin, Mao und der DDR abzugrenzen, also den hierzulande wichtigsten Verkörperungen antikommunistischer Vorstellungen vom Sozialismus. Zusätzlich ermöglicht er seinen Anhänger:innen unbeirrt an der Vorstellung von einem „menschlichen Sozialismus“ festzuhalten,97 der nach dem Sieg der Weltrevolution schnell zum Kommunismus übergeht. In der Vorstellung der Trotzkist:innen ist das ein Sozialismus, der sowohl ohne langwierige gewaltsame Auseinandersetzungen auskommt, wie auch ohne Unterdrückungsmaßnahmen und erst recht ohne heftigste Kämpfe innerhalb des sozialistischen Staates und der kommunistischen Partei.

An die Stelle dieser Kämpfe sollen ja in ihrer Vorstellung durch die Bildung von Fraktionen als Vorbedingung der innerparteilichen Demokratie ganz demokratische und friedliche Diskussionen treten. Kurz gesagt: Der trotzkistische Sozialismus ist eine Utopie und eine Utopie wird er bleiben, weil auch die organisatorischen und politischen Mittel des Trotzkismus nicht dazu geeignet sind, ihn zu erkämpfen.

Während den Bolschewiki um Stalin die historische Leistung gebührt, eine über Jahrzehnte isoliert gebliebene Revolution nicht nur zu verteidigen, sondern unter schwierigsten Bedingungen konkrete Schritte des sozialistischen Aufbaus zu gehen, gewinnt der Trotzkismus gerade Attraktivität, weil er die meisten dieser konkreten Schritte, insofern sie als „Umwege“ zum eigentlichen Ziel erscheinen, als „Verrat“ verurteilt: „Von den ‚befleckenden‘ kapitalistischen Umwegen, die Stalin immer wieder als Atempause für die spätere Offensive bezeichnete, konnte Trotzki seine Hände rein halten.“ 98

Nicht zuletzt bietet der Trotzkismus aufgrund seiner besonderen geschichtlichen Ausprägung – zumindest in Deutschland und Europa – die Möglichkeit, das „moralisch Richtige“, nämlich den Sozialismus zu vertreten, sich dabei aber nicht den harten Realitäten und Erfordernissen des revolutionären Klassenkriegs zu stellen.

Die heutige Rolle des Trotzkismus in Deutschland

Was zeichnet nun den Trotzkismus heute in Deutschland aus? Auch wenn insbesondere einige trotzkistische Jugendorganisationen durchaus bemüht sind, aktuelle politische Themen zu behandeln, ist die trotzkistische Ideologie als Ganze vor allem durch Dogmatismus und Verknöcherung gekennzeichnet. Die dogmatische Weiterführung von Trotzkis Lehren bedeutet für einen Teil seiner Bewegung offenen Reformismus.

Andere schwanken zwischen revolutionärer Rhetorik und einer Praxis, die vor den konkreten Bedürfnissen der Revolution zurückschreckt. Ihnen muss dann konsequenterweise die Arbeit von Organisationen, die schon heute – unter bürgerlich-demokratischen Bedingungen – den Aufbau verdeckter Organisationsstrukturen für zwingend erforderlich halten, als linkes Abenteurertum erscheinen.99

Mit dem Marxismus-Leninismus ist der Trotzkismus daher grundsätzlich nicht zu vereinbaren. Dies wird nicht nur durch einen Blick – gerade in die deutsche – Geschichte unterstrichen, sondern springt auch ins Auge, wenn man sich die Unterschiede in Theorie und Praxis beider Strömungen vor Augen führt.

Da sowohl Arbeiter:innenbe-wegung als auch die kommunistische Bewegung in diesem Land extrem schwach entwickelt sind, ist auch der unlösbare Gegensatz zwischen Marxismus-Leninismus und Trotzkismus, der in der jeweiligen Ideologie angelegt ist, auch erst in Keimform erkennbar. Im Ergebnis bieten sich zumindest heute auf taktischer Ebene vergleichsweise viele Gelegenheiten zur konkreten Zusammenarbeit. Strategisch kann der Trotzkismus aber nicht den Weg zur sozialistischen Revolution finden.

Die Marxisten-Leninist:innen können und müssen aus der Geschichte lernen. Eine bestimmte Vorsicht ist gegenüber Trotzkist:innen stets geboten. Da deren eigenständige Lebensfähigkeit schwach ist, hat sich bei ihnen eine ausgeprägte Kultur des Abwerbens aus anderen Organisationen oder des gezielten Spaltens von Bündnissen und Organisationen ausgeprägt, wenn es dem Wachstum der eigenen Organisation zu dienen scheint. Auch ist es keineswegs ausgeschlossen, dass Trotzkist:innen in der Tradition des Entrismus versuchen werden, in kommunistische Organisationen einzudringen, dort ihre Identität zu verbergen und schließlich Kräfte um ihre Positionen zu sammeln.

Unsere Aufgaben im Kampf gegen den Trotzkismus

Die Tatsache, dass der Trotzkismus objektiv den Weg zur Revolution verstellt und daher ideologisch und politisch von Revolutionär:innen bekämpft werden muss, bedeutet nicht, dass einzelne Trotzkist:innen als bewusste Konterrevolutionäre, als moralische Nachfolger des Konterrevolutionärs Trotzki oder ähnliches zu behandeln sind. Viel mehr gehen wir davon aus, dass der Trotzkismus – nicht zuletzt wegen unserer eigenen Schwäche als Kommunist:innen – noch immer einen bestimmten Anziehungspunkt insbesondere für fortschrittliche Jugendliche und Intellektuelle darstellt.

Um einen erfolgreichen Kampf gegen den Trotzkismus führen zu können, stellen sich auch den Kommunist:innen in Deutschland noch zahlreiche Aufgaben. Dazu gehören heute unter anderem:

Es muss eine theoretische Arbeit geleistet werden, um gewisse Lücken in der marxistisch-leninistischen Theorie zu schließen. Hierzu gehört unter anderem eine tiefgreifende Analyse der Klassenkämpfe in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern, um auf dieser Grundlage den trotzkistischen Erklärungen für ihr Scheitern eine wissenschaftliche marxistische Analyse gegenüberstellen zu können.

Es gilt zahlreiche historische Streitfragen, die zwischen den Bolschewiki und den Trotzkist:innen standen, heute erneut zu klären. Dies betrifft insbesondere die revolutionäre Strategie, die Verbindung der Revolution in einem Land mit der Weltrevolution und das Bündnis mit unterdrückten Völkern sowie kleinbürgerlichen Schichten in der Bevölkerung. Ein simple Wiederholung der bolschewistischen Politik aus den 20er-Jahren reicht hier offensichtlich nicht aus.

Vor allem aber muss der Parteiaufbau zielgerichtet und unbeirrt vorangetrieben werden, um ganz praktisch die Korrektheit marxistisch-leninistischer Organisationsprinzipien und unserer Politik gegenüber den verschiedenen Varianten des Trotzkismus zu beweisen.

1Isaac Deutscher, „The Prophet Armed“, S. VI (Eigene Übersetzung)

2Trotzki, „Mein Leben“, Abschnitt: „Das Jahr der Wende“, www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1929/leben/index.htm

3Isaac Deutscher, „The Prophet Armed“, 1954, Oxford University Press, S.32 f.

4Ebd., S. 45 ff.

5Ebd., S. 62 ff.

6Erst nach der Oktoberrevolution nannte sich die Partei um und gab sich den heute bekannteren Namen KPdSU(B).

7Isaac Deutscher, „The Prophet Armed“, S. 80 ff.

8Ebd., S. 92 ff.

9Ebd, S. 93 (Eigene Übersetzung)

10Ebd., S. 107

11Ebd., S. 102 ff.

12Ebd., S. 117 f.

13Ebd., S. 126

14Ebd., S. 145

15Ebd., S. 155 ff.

16Ebd., S. 176 (Eigene Übersetzung)

17Ebd., S. 178 ff.

18Tony Cliff war ein aus Palästina stammender Trotzkist, der nach Trotzkis Tod eine zentrale Rolle bei der Entstehung der „International Marxist Tendency“ spielte.

19Tony Cliff, „Trotzky: Towards October 1879-1917“, Abschnitt: „10. Wasted Years 1906-1914“ (eigene Übersetzung), www.marxists.org/archive/cliff/works/1989/trotsky1/index.html

20Vgl. Tony Cliff, „Trotzky: Towards October 1879-1917“, Abschnitt: „11. The First World War“

21Revolutionärer Defätismus bezeichnet die am klarsten von den Bolschewiki formulierte Position, dass die Kommunist:innen und die Arbeiter:innenklasse der imperialistischen Länder im imperialistischen Krieg für die Niederlage ihrer eigenen Armee beziehungsweise für die Umwandlung des Krieges in einen Bürgerkrieg zur Machtergreifung arbeiten müssen.

22Besonders hervorzuheben ist hier ein Teil der Begründung dieser Positionierung Trotzkis, da diese rückblickend betrachtet wie eine Vorwegnahme seines späteren, erklärten Misstrauens in die Möglichkeiten der russischen Revolution wirkt, sich auch ohne die Hilfe technologisch entwickelterer Länder zu behaupten: „[…] eine Revolution, die aus einer Niederlage entsteht, erbt ein vom Krieg zutiefst zersetztes Wirtschaftsleben, erschöpfte Staatsfinanzen und extrem angespannte internationale Beziehungen. […] die militärische Katastrophe, da sie die ökonomischen und geistigen Ressourcen der Bevölkerung erschöpft, hinterlässt nur begrenzte Möglichkeiten, Empörung, Protest und revolutionäre Aktivität zu entfachen.“, zitiert nach: Tony Cliff, „Trotzky: Towards October 1879-1917“, Abschnitt: „11. The First World War“ (eigene Übersetzung)

23Vgl. Tony Cliff, „Trotzky, Towards October 1879-1917“, Abschnitt: „12. May and June 1917“

24In seinem Tagebuch liefert Georgi Dimitroff (1882 – 1949) mit einer von Stalin überlieferten rückblickenden Betrachtung eine zusätzliche Erklärung für diesen abschmelzenden Einfluss: „Die Hauptsache sind die mittleren Kader. Generäle können ohne ein gutes Offizierskorps nichts ausrichten. Warum haben wir uns gegen Trotzki und die anderen durchgesetzt? Trotzki war, wie wir wissen, nach Lenin der beliebteste Mann in unserem Land. Bucharin, Sinowjew, Rykow, Tomski waren alle beliebt. Wir waren damals wenig bekannt, ich selbst, Molotow, Woroschilow und Kalinin. Wir waren zu Lenins Zeiten Feldarbeiter, seine Kollegen. Aber die mittleren Kader unterstützten uns, erklärten den Massen unsere Positionen, während Trotzki diese Kader völlig ignorierte.“ Stalin, 7.11.1937, Zitiert nach: Banac, „The Diary of Georgi Dimitrov 1933 – 1949“, Yale University Press 2003, S. 66, (eigene Übersetzung)

25Lenin, „Der Historische Sinn des innerparteilichen Kampfes in Rußland“, LW 16, S. 398. Die Zeitung „Golos Sozialdemokrata“ war das damalige ideologische Zentrum der Strömung der Liquidatoren, die Zeitschrift „Wperjod“ vertrat die Position der Otsowisten. Beide Strömungen wurden von den Bolschewiki um Lenin bekämpft, weil sie die legale und illegale Arbeit nicht richtig verbanden.

26Lenin, „Reden über Krieg und Frieden“, LW 36, S. 458 f.

27So schreibt Trotzki in seinen Memoiren über die Auseinandersetzung bezüglich des polnisch-sowjetischen Krieges am Ende der Interventionskriege, als die Rote Armee die polnische Armee in Richtung Warschau zurückgeworfen hatte: „Jedenfalls entstand in Lenin der feste Plan: die Sache bis ans Ende durchzuführen, das heißt in Warschau einzumarschieren, um den polnischen Arbeitermassen zu helfen, die Regierung Pilsudskis zu stürzen und die Macht zu ergreifen. Der eben erst im Stadium der Erwägungen befindliche Entschluß der Regierung übertrug sich mühelos auf die Einbildungskraft des Oberkommandos und des Kommandos der Ostfront. Im Augenblick meines fälligen Eintreffens in Moskau fand ich im Zentrum eine sehr feste Stimmung zugunsten der Kriegführung ‚bis ans Ende‘. Ich widersetzte mich dem entschieden.“ (Trotzki, „Mein Leben“, Abschnitt: „Meinungsverschiedenheiten über Kriegsstrategie“). Auch in Lenins Werken finden sich keine Hinweise, die mit dieser Darstellung im direkten Widerspruch stehen. Lenin hatte aber zuvor versucht, einen Krieg gegen Polen zu verhindern.

28Lenin, „Reden über Krieg und Frieden“, ebd., S. 457

29Alexander v. Plato, „Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik: KPD und Komintern, Sozialdemokratie und Trotzkismus“, Oberbaumverlag Berlin 1973, S. 40

30Ebd., S. 50 ff.

31Kulake ist die allgemein übliche Bezeichnung für die Großbauern im zaristischen Russland.

32Leo Trotzki, „Mein Leben“, Abschnitt: „Die letzte Periode des Kampfes innerhalb der Partei 1929“

33Ebd.

34Alexander v. Plato, „Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik“, ebd., S. 129

35Leo Trotzki, „Ergebnisse und Perspektiven“, Abschnitt: „9. Europa und die Revolution“

36Vgl. beispielsweise Stalin, „Zu den Fragen des Leninismus“, Abschnitt: „VI Die Frage des Sieges des Sozialismus in einem Lande“, www.marxists.org/deutsch/referenz/stalin/1926/fragen/index.htm

37Isaac Deutscher, „The Prophet Armed“, S. 457 (Eigene Übersetzung)

38Lenin, „Siebenter Parteitag der KPR(B), Referat über Krieg und Frieden“, LW 27, S. 81

39Stalin, „Fragen des Leninismus“, SW 8, S. 54 ff.

40Leo Trotzki, „Die Permanente Revolution“, Abschnitt: „Was ist nun die Permanente Revolution?“, www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1929/permrev/index.htm

41Harry H. Haywood, „Black Bolshevik“, Liberator Press Chicago, Illinois 1978, S. 180

42Siehe dazu: „100 Jahre Hamburger Aufstand – Geschichtliche Mythen und revolutionäre Lehren“, Unterkapitel: ‚Was so alles zu einem Aufstand dazu gehört‘ und ’Heranreifen der revolutionären Situation, Vorbereitungen der KI und KPD und der Zeitpunkt des Aufstandes’ in diesem Heft.

43NKWD ist die Abkürzung für das Volkskommissariat für innere Angelegenheiten, das ab den 30er-Jahren zunehmend auch die Funktionen des sowjetischen Geheimdienstes übernahm und eine zentrale Rolle bei den „großen Säuberungen“ in den 30er-Jahren spielte.

44Isaac Deutscher, „Stalin – Eine politische Biografie“, Bechtermünz Verlag, 2. Auflage 1966, S. 324 ff. Auch wenn „Lenins Testament“ nie offiziell veröffentlicht wurde, gibt es wohl so einen Text. Aber er ist – wie auch Isaac Deutscher einräumen muss – so allgemein und vorsichtig formuliert, dass er die Anforderungen an ein politisches Testament als ausrichtendes Dokument nicht erfüllt und Anhaltspunkte für alle möglichen Sichtweisen und Interpretationen gibt.

45Leo Trotzki, „Arbeiterstaat, Thermidor und Bonapartismus, www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1935/02/index.htm

46Vgl. Alexander v. Plato, „Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik: KPD und Komintern, Sozialdemokratie und Trotzkismus“, Oberbaumverlag Berlin. 1973. S. 317 sowie die Ausführungen S. 62f

47Leo Trotzki, „Schriften. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur“, H. Dahmer u.a. (Hrsg.), Rasch und Röhring, Hamburg. Zitiert nach Domenico Losurdo: „Kritik einer Schwarzen Legende“, 2012 Papyrossa Verlag. S. 85

48Leo Trotzki, „Das Zwillingsgestirn Hitler-Stalin“, 1939, www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1939/12/zwilling.htm

49Hier sei nur kurz auf die zahlreichen erfolglosen Versuche, Bolschewiki und Menschewiki als Führungsfigur vergleichsweise kleiner, unabhängiger Zirkel zu vereinigen oder auf den gescheiterten Machtwechsel im Jahr 1927 verwiesen, die jeweils mit bitteren Enttäuschungen endeten.

50Domenico Losurdo, „Kritik einer Schwarzen Legende“, Papyrossa Verlag 2012, S. 106

51Inhaltlich ging es Trotzki damals um die Frage, welche Rolle die Gewerkschaften im Sozialismus zu spielen hätten. Trotzki plädierte damals dafür, die Gewerkschaften zu militarisieren und sie zu einem Teil des Staatsapparats zu machen, der vor allem die Aufgabe hätte, die Arbeiter:innen zu höheren Leistungen zu motivieren und die vorhandene Arbeitskraft zu mobilisieren. Lenin und die Mehrheit des Zentralkomitees vertraten demgegenüber einen anderen Kurs, bei dem sie betonten, dass die Gewerkschaften a) als Transmissionsriemen der kommunistischen Politik in breitere Teile der Arbeiter:innenklasse, aber b) auch zum Schutz der Arbeiter:innen vor gewissen „bürokratischen Auswüchsen“ des jungen Sowjetstaats notwendig wären.

52Vgl. Lenin, „X. Parteitag der KPR(B), Bericht über die politische Tätigkeit des ZK des KPR(B)“, LW 32, S. 176f.

53Lenin, „Noch einmal über die Gewerkschaften, die gegenwärtige Lage und die Fehler Trotzkis und Bucharins“, LW 32, S. 59 f

54Lenin, „X. Parteitag der KPR(B). Ursprünglicher Entwurf der Resolution des X. Parteitags der KPR über die Einheit der Partei“, LW 32, S. 245

55Statut der Sozialistischen Alternative in der Beschlussfassung der 20. Bundeskonferenz im Juni 2021. S. 8f.

56Manuel Kellner, „Trotzkismus“, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2004, S. 137

57Siehe auch: „Der Maoismus – Ein revolutionärer Bündnispartner – Was wir von ihm lernen können und was nicht“, Kommunismus 18, S. 4 ff.

58Leo Trotzki, „Verratene Revolution“, Abschnitt: „III. Sozialismus und Staat“, www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1936/verrev/index.htm

59Ebd., Abschnitt: „IV. Kampf um die Arbeitsproduktivität“

60Ziemlich gut wird diese Haltung zum Beispiel in einem Artikel der SAV mit dem Titel „Stalinismus: Ein Irrweg der Geschichte“ deutlich, darin heißt es unter anderem bezüglich der negativen Entwicklungen in der Sowjetunion: „Diese Entwicklung war nicht vorgezeichnet. Angenommen, in Deutschland hätte die Revolution 1918 gesiegt, der Kapitalismus wäre auch in Deutschland abgeschafft worden. Dann wäre keine deutsche Militärhilfe gegen die junge Sowjetunion eingesetzt worden. Ein revolutionäres Deutschland hätte sofort mit Aufbauhilfe für die revolutionäre Sowjetunion begonnen. Es hätte Wissenschaftler geschickt, beim Aufbau von Universitäten geholfen, die neuesten Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung kostenlos zur Verfügung gestellt. Die Front der imperialistischen Länder gegen die Sowjetunion wäre auseinander gebrochen. Statt in einem vom Ausland unterstützten Bürgerkrieg auszubluten, hätte die Sowjetunion mit dem Ausbau von Industrie und Landwirtschaft beginnen können.“, www.sozialismus.info/2007/06/12172

61Leo Trotzki, „Das Übergangsprogramm“, www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1938/uebergang/index.htm

62Leo Trotzki, „Das Übergangsprogramm“

63Lenin, „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, LW 22, S. 300: „Die Stärke der Beteiligten aber ändert sich ungleichmäßig, denn eine gleichmäßige Entwicklung der einzelnen Unternehmungen, Trusts, Industriezweige und Länder unter einzelner Industriezweige und einzelner Länder kann es unter dem Kapitalismus nicht geben.“

64Leo Trotzki, „Das Übergangsprogramm“

65Ebd.

66Lenin, „Was tun?“, LW 5, S. 435 (Hervorhebungen von Lenin)

67Vgl. Leo Trotzki, „Das Übergangsprogramm“: „Die Kommunistische Internationale hat den Weg der Sozialdemokratie in der Epoche des faulenden Kapitalismus beschritten, […]“

68Programm der Kommunistischen Internationale, 1928 (Hervorhebung von uns)

69Vgl. zur Unterscheidung und korrekten Anwendung von verschiedenen Typen von Losungen (Agitationslosung, Aktionslosung, Propagandalosung, Direktiven) sowie verschiedener Rollen von Losungen (Endlosung, Teillosung und Übergangslosung): „Revolution und Tageskampf – wie stellen wir richtige Losungen auf?“, in: Kommunismus 22, Mai 2022, https://komaufbau.org/revolution-und-tageskampf-wie-stellen-wir-richtige-losungen-auf/

70Kommunistischer Aufbau, Kommunistisches Programm (Beschlossen beim 4. Kongress 2023).

71Manuel Kellner, „Trotzkismus“, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2004, S. 98

72Als „Bolschewiki-Leninisten“ bezeichnet Trotzki sich und seine Anhänger:innen in Abgrenzung zu den „Marxisten-Leninisten“

73Leo Trotzki, „Der Ausweg: SFIO und SFIC“, https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1934/leo-trotzki-der-ausweg-sfio-und-sfic

74Ebd.

75Isaac Deutscher, „The Prophet Outcast“, 1963, Oxford University Press, S. 220 (Eigene Übersetzung)

76Klasse gegen Klasse: „Was ist Entrismus?“, www.klassegegenklasse.org/was-ist-entrismus

77https://revolutionaererbruch.wordpress.com

78Tony Cliff, „Trotskyism after Trotzky“ (1999), www.marxists.org/archive/cliff/works/1999/trotism/index.htm

79Manuel Kellner, „Trotzkismus“, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2004, S. 87

80Ebd., S. 88

81Tony Cliff verbrachte den Großteil seines Lebens in Großbritannien und spielte eine zentrale Rolle bei der Entstehung der „International Marxist Tendency“. Ein deutscher Ausläufer dieser trotzkistischen Strömung ist die Organisation „Marx 21“.

82Michel Pablo war das Pseudonym eines griechischen Trotzkisten, der während der griechischen Militärdiktatur in den 30er-Jahren nach Frankreich floh und sich dort an der Gründung der IV. Internationalen beteiligte. Nach dem 2. Weltkrieg wurde er zu einem bedeutenden, wenn auch umstrittenen Führer der IV. Internationalen.

83Ebenda, S.91

84„Resolution of the Second World Congress on the Reorganization of the German Section of the Fourth International“(1948) (Eigene Übersetzung), www.marxists.org/history/etol/document/fi/1938-1949/fi-2ndcongress/1948-congress09.htm

85Manuel Kellner, „Trotzkismus“, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2004, S. 92 f.

86Ebd., S. 96

87Ebd., S. 111

88Ebd., S. 107ff.

89Zum damaligen Zeitpunkt gab es bereits mehrere internationale Zusammenschlüsse, die für sich in Anspruch nahmen die Tradition der IV. Internationalen fortzuführen. Dieser Zusammenschlussging aus der Wiedervereinigung zweier großer trotzkistischer Flügel im Jahr 1963 hervor.

90Kellner, S. 117

91Im ZK der KPD hatte Hans Dieter Koch, der selbst politisch und ideologisch ein Trotzkist war, auf dem IV. Parteitag 1983 durch einen Putsch den langjährigen Vorsitzenden Ernst Aust an den Rand gedrängt, selbst den Vorsitz übernommen und so den Weg für die spätere Vereinigung mit der GIM frei gemacht.

92„Vereinigung statt Spaltung — Dokumente zur Vereinigung von GIM und KPD“ (April 1986), Link: https://www.mao-projekt.de/BRD/ORG/GRM/KPDML_1986_Dokumente_zur_Vereinigung_von_GIM_und_KPD.shtml

93Manuel Kellner, „Trotzkismus“, Schmetterling Verlag, Stuttgart 200, S. 119f.

94Manuel Kellner, „Die Neue antikapitalistische Organisation (NaO) ist aufgelöst – Woran ist sie gescheitert?“, Juni 2016, https://intersoz.org/die-neue-antikapitalistische-organisation-nao-ist-aufgeloest-woran-ist-sie-gescheitert

95Wilhelm Schulz, „5 Jahre NaO – Bilanz und Lehren eines Umgruppierungsprojekts“, https://arbeitermacht.de/rm/rm48/naobilanz.htm

96Manuel Kellner beispielsweise schreibt hierzu selbst: „Aufgrund dieses Urteilens über aktuelle Prozesse nach Analogien, die aus der Vergangenheit geschöpft sind, erscheinen Akteure, die sich auf diese ‚trotzkistische‘ Tradition berufen, oft als kostümierte Nachspieler einer heroischen Vergangenheit gewisser idealisierter Vorbilder.“ Manuel Kellner, „Die Neue antikapitalistische Organisation (NaO) ist aufgelöst – Woran ist sie gescheitert?“, Juni 2016

97Vgl. Alexander v. Plato, „Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik: KPD und Komintern, Sozialdemokratie und Trotzkismus“, Oberbaumverlag Berlin 1973, S. 315

98Alexander v. Plato, „Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik“, S. 61

99Gut illustriert wird dieser Aspekt durch den etwa einstündigen Vortrag, der im Jahr 2022 auf dem Sommercamp von Klasse gegen Klasse gehalten wurde und online verfügbar ist. Neben den Genoss:innen von Perspektive Kommunismus dient dabei insbesondere der Kommunistische Aufbau als Objekt der Kritik.